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55. Dana - Die Polyvagal-Theorie in der Therapie
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55.

Deb Dana

Die Polyvagal-Theorie in der Therapie - Den Rhythmus der Regulation nutzen

G. P. Probst Verlag, Lichtenau 2019, 27,00 €

Über ein Phänomen bin ich immer wieder erstaunt. Paare haben in der Regel große Schwierigkeiten, für die Lösung ihrer Verwicklungen und Verstrickungen, die kleinen und großen Katastrophen des Alltags the-rapeutische Hilfe zu suchen. Noch schwieriger fällt es ihnen dann, sich auf eine Gruppe, wie etwa die der Partnerschule (Sanders 2019) ein-zulassen. Da bedarf es schon großer Motivationskünste im Rahmen der Paargespräche, dass sie sich auf dieses „Abenteuer“ einlassen. Sind sie aber erst einmal in der Gruppe angekommen, so scheinen sie nach nur ein bis zwei Tagen wie verwandelt. Sie sind deutlich entspann-ter und neugierig, die Ursachen ihrer Probleme zu dechiffrieren. Sie gehen zunehmend wertschätzend und unterstützend mit sich selbst und den anderen Teilnehmern um. Arm oder reich, unterschiedliche kulturelle Prägungen oder nationale Herkünfte spielen nur, wenn über-haupt, eine marginale Rolle. Nicht selten schließen Menschen Freund-schaften, von denen man vorher nicht gedacht hätte, dass sie irgendet-was gemeinsam haben, etwas, das sie verbinden könnte.

Die Polyvagal-Theorie bietet mir einen Schlüssel, dieses Phänomen zu verstehen. Ausgangspunkt dieser Theorie ist das Verständnis des Au-tonomen Nervensystems (ANS). Dieses reagiert auf Empfindungen im Körper und auf Signale aus der Umgebung und nutzt dabei drei Reak-tionspfade. Diese werden in einer bestimmten Reihenfolge aktiviert und reagieren vorhersehbar auf Herausforderungen. Die drei Pfade und ihre Reaktionsmuster sind der dorsale Vagus, der Immobilisierung ein-leitet, das sympathische Nervensystem (SNS), das mobilisierend wirkt und der ventrale Vagus, der soziale Aktivitäten fördert und verbindet.

Reaktionen des ANS auf Signale, die aus dem Körper (etwa plötzlicher Druck in der Brust) oder aus der Umgebung (der Klang einer Stimme) stammen und durch Kontakte mit anderen Menschen hervorgerufen werden, werden als Neurozeption bezeichnet. Sie signalisieren entwe-der Sicherheit und Verbundenheit oder Gefahr. All dies geschieht als subkortikales Erleben tief unterhalb des bewussten Denkens.

So kann man das ANS als die Grundlage unseres Erlebens verstehen. Diese biologische Ressource ist die neuronale Plattform, die allem, was wir erleben, zugrunde liegt. Strukturen des Umgangs mit Gefahr und Sicherheit sind im 500 Millionen Jahre alten dorsalen Vagus-System verankert, das uns durch Immobilisierung und Abschaltung der Körper-systeme zwecks Energieeinsparung bei großer Gefahr schützt. Das SNS, das sich etwa vor 400 Millionen Jahren entwickelt hat, ermöglicht Kampf oder Flucht. Und das jüngste, das ventrale Vagus-System – etwa 200 Millionen Jahre alt – befähigt uns zu sozialem Austausch und Gefühlen der Verbundenheit. In Konsequenz dieser Erkenntnis gilt es in Beratung und Therapie Bedingungen zu schaffen, in denen wir eine Atmosphäre der Sicherheit und Verbundenheit ermöglichen.

So lässt sich in der Arbeit mit Paaren schnell erleben, dass es zu Stag-nation in der Beratung kommt, wenn Meinungsverschiedenheiten der Partner eskalieren und wenn Gefahrensignale zwischen den Nerven-systemen der Partner übermittelt werden, die bei beiden ein Schutzbe-dürfnis hervorrufen. Werden dann seitens der Beraterin Signale der Si-cherheit signalisiert, ist dies an das ANS der Partner eine Einladung zu sozialem Miteinander und zu Erfahrungen der Verbundenheit. Zusam-mengefasst lässt und die Polyvagal-Theorie die Hoffnung vermitteln, dass Menschen schützenden Muster, die sie in ihrer Isolation gefangen halten, hinter sich lassen können. Sie erlangen die Fähigkeit, diese so zu modifizieren, dass sie immer mehr Sicherheit und Verbundenheit empfinden. Uns Therapeuten und Therapeutinnen eröffnet sich damit eine Möglichkeit, unseren Klienten ihre Reaktion auf traumatische Er-eignisse in einem neuen Zusammenhang verständlich zu machen. Traumatisierungen müssen nicht mehr als „Opfergeschichten“ erzählt werden, sondern vielleicht als „Heldenepos“, in denen man Dank der klugen Reaktion des ANS überlebt hat. Für mich ist diese Theorie eine Entschlüsselung der neurobiologischen Mechanismen psychischer Störungen und damit eine weitere Fundierung der Konsistenztheorie von Klaus Grawe (2000, 2004) und seinen daraus abgeleiteten Emp-fehlungen für die Gestaltung von Beratungs-, Coaching- und Thera-pieprozessen.

In der therapeutischen Umsetzung wird aufgezeigt, wie man Klienten mit der Funktionsweise des ANS vertraut machen kann und wie ein Mapping des persönlichen Profils erstellt wird, um herauszufinden, was Trigger bzw. was Glimmer sind. Danach wird die Navigation mit dem ANS geübt, mit dem Ziel, es umzugestalten. Einsam machende Strate-gien werden entschlüsselt, um Verhaltensweisen des Miteinanders und der Verbundenheit zu entwickeln.

Grawe, K. (2000): Psychologische Therapie. Göttingen: Hogrefe.

Grawe, K. (2004). Neuropsychotherapie. Göttingen: Hogrefe.

Sanders, R. (2019): Partnerschule – Fokale Kurzzeittherapie für Paare im Integrativen Verfahren. In: POLYLOGE. Eine Internetzeitschrift für „Integrative Therapie“, 21.

Rezension von Dr. Rudolf Sanders