Extracted from World Lutheranism of Today: a Tribute to Anders Nygren, 15 November 1950, p. 112-136.

published here;

NB: E. Klug, Church and Ministry: The Role of Church, Pastor and People from Luther to Walther (CPH 1993) made the following comment, p. 347: “A great amount of effort has been expended on the question of whether Luther used the distinction between the invisible and visible church, a distinction very often attributed to St. Augustine first of all. In spite of the fact that Luther himself saw no clash in speaking of "Die Zwo Kirchen" and upholding at the same time the unity and integrity of the una sancta catholica Christiana, there has been considerable debate over the source and justification for doing so. Some Lutherans counsel that the usage should be jettisoned in view of the fact that it is taken from Calvinism. So Theo. Graebner apparently claimed, according to Richard R. Caemmerer and Erwin L. Lueker in their book, Church and Ministry in Transition.4 Yet the same authors note that C. F. W. Walther, who was heavily dependent upon Luther, did employ the distinction, though it is missing in so many words in the Lutheran Confessions.5” (4  St. Louis: Concordia Publishing House, 1964, p. 51. ;  5  Cf. op. cit, 40.48.)  

See especially p. 116-117 below for Graebner’s departure from Walther’s (and Luther’s) teaching.

= = = = = = = = = = =

THEODOR GRÆBNER

Kirche und die Kirchen

Wer sich mit dem Artikel von der Kirche befasst, wird sich dessen bald bewusst, dass es kaum ein anderes Lehrstück gibt, in dem die Christenheit so weit von einander abweichende Meinungen hat, wie dieses. Vom Totalitätsbegriff der römischen Theologie bis zur völligen Erweichung des protestantischen Kirchenbegriffs in der Ritschlschen Auffassung von der Kirche als einem Mittel, durch welches das Gesetz Christi auf die menschliche Gesellschaft einwirken soll, — von den Bestimmungen der Augsburgischen Konfession bis zu Harnacks Darstellung von Kultus, Episkopat und Gesamtkirche treffen wir die verschiedensten Auffassungen von »Kirche». Dazu kommt »das Ereignis» Barths. Dazwischen liegen alle Schattierungen metaphysischer und schließlich epistemologischer Voraussetzungen. Alles dieses spielt hinein in die Diskussion über Kirche und Kirchen.

Ich wage mich nur mit Zagen an die Literatur, die hier in Betracht kommt. In einem Aufsatz über die Barmer Sätze redet Christian Stoll (1946) von Konzil, Synode, Kirche, Landeskirche, Provinzialkirche, Gemeinde. Es wird hier von der Kirche gesagt, dass sie »das Amt des Dienstes, das Evangelium zu lehren und die Sakramente darzureichen, oder das Predigtamt» habe, die Synode aber habe kein Lehramt. Eine grundlegend wichtige Unterscheidung, — aber was haben wir hier unter »Synode» zu verstehen? Nach amerikanischem Sprachgebrauch ist sie eine Körperschaft, wie die Missourisynode oder die Augustanasynode

112


KIRCHE UND DIE KIRCHEN

u. a. Nur ausnahmsweise reden wir etwa von der allgemeinen Versammlung der Missourisynode als von der »Delegatensynode». Auch Konzil bedeutet bei uns eine Körperschaft wie »Föderalkonzil» (Bund protestantischer Kirchen), »Ev. Luth. Nationalkonzil», usw. Jedoch diese Körperschaften sind nicht Kirchen.

Vielleicht kommen wir dem Problem etwas näher, wenn wir H. Asmussen in den Ev. Zeitstimmen, wie folgt, hören (1948): »Das Neue Testament kennt keine Christenheit neben der Kirche und keine Kirche neben der Christenheit. Wir Theologen sind darum in einer schwachen Position, wenn wir Gewicht darauf legen, dass Christenheit und Kirche heute nicht gleichgesetzt werden können und dürfen.» Ich halte diese Aussage gegen die folgende von Herbert Krimm (1948): »Nicht von ungefähr gibt es im Neuen Testament nur einen einzigen Ausdruck für ’Kirche’ und ’Gemeinde’. In jeder Gemeinde ist die ganze Kirche gemeint und die ganze Kirche steht für alle ihre Gemeinden. Oder sollte die durch den Glauben an denselben Herrn im Gehorsam gegen dasselbe Bekenntnis verbundene Gemeinschaft, auch wenn sie die Grenzen eines einzelnen Ortes oder Landes überschreitet, nicht ebenso denselben Namen Kirche verdienen dürfen?»

Es wird nicht immer leicht sein zu entscheiden, wo und wiefern es sich hier um Abweichungen in der Lehre von der Kirche, und wiefern es sich um Traditionen in der Terminologie und um semantische Auffassungen handelt.

P. Althaus (Chr. Wahrh. II, S. 319) betont den Gegensatz zwischen der wahren Kirche und dem geschichtlichen Kirchentum. Die Kirchentümer in aller ihrer Menschlichkeit sind ihm doch die Kirche Christi, aber nicht einfach und geradezu, sondern paradox, »durch das Wunder Gottes, der durch sie und in ihnen seine Gemeinde schafft, seine Wahrheit und sein Leben kommen lässt».

In seiner Abhandlung »Das Wesen der Kirche als Gesetz ihrer äußeren Gestalt» (in »Um Kirche und Lehre», Gesammelte Aufsätze,

113


THEODOR GRAEBNER

1936, S. 215 ff.) legt Fr. K. Schumann zunächst mit Nachdruck auf den eben berührten Widerspruch den Finger. Die heute den Namen Kirche tragenden Körperschaften seien nicht zu der Gestalt der Kirche zu rechnen, die notwendig aus ihrem wesentlichen Sein hervorwachse. »Die Kirche, welche in der Reformation wieder zum Verständnis ihrer selbst gelangt ist, will sich nicht zur Körperschaft und Rechtspersönlichkeit entwickeln, weil sie es von sich aus nicht kann und nicht darf» (S. 218). »Zur äußeren Gestalt der Kirche, wie sie durch ihr inneres Wesen gefordert ist, gehört nicht die sogenannte Rechtskirche, der körperschaftliche Rechtsverband mit mehr oder weniger weitgehender Selbstverwaltungsfreiheit» (S. 222). Zwar seien solche Organisationen notwendig geworden, seitdem sich der Staat von seinen Fürsorgeverpflichtungen (?) zurückziehe, doch bedeuteten sie nach der Art und Weise ihres Entstehens in der neueren Zeit eine Gefahr für die Kirche Christi. Worin diese Gefahr genauer zu erblicken ist, dass sie bis ins Innerste reicht, wird in einem anderen, früheren, Vortrag, »Vom Sinn evangelischen Bekennens», klarer hervorgehoben, doch mit einem völlig überraschenden Schluss (S. 75 f.). Was das Bekenntnis für die Kirche sei, das gehe in seiner Geltung und Gewalt unmöglich einfach in die menschlichen Körperschaften ein, die wir unglücklich genug Kirche zu nennen uns gewöhnt hätten. (Georg Wehrung, Kirche nach ev. Verständnis, S. 288.)

Hierzu kommt noch, wie Carl Stange betont, dass in den Kirchen unterschiedslos alle Grade zwischen bewusster Kirchlichkeit und Unkirchlichkeit nebeneinander leben und die gleichen Rechte geniessen. Die Abgrenzung der Gemeinde gegenüber der Welt ringsum fehlt der Volkskirche völlig. Das ist der Grundton in seiner Klage. Infolgedessen, so argumentiert er, kommt es in der gegenwärtigen Kirche auch kaum zu intimem religiösem Gemeinschaftsleben. Die lebendigen Elemente werden herabgezogen auf den niedrigen Durchschnittsstand der Massenkirche. Ebenso fehlt es den Grosskirchen an gestaltender, sozialer Kraft.

114


KIRCHE UND DIE KIRCHEN

Nach innen nicht tief genug, ist gleichzeitig das kirchliche Leben nach außen hin nicht stark genug. Der bewusste Christ findet weder die intime Gemeinschaft noch den kraftvollen Bruderbund, wenn er nicht die Kirche verlassen und zur Sekte gehen will. Schließlich ist es nur eine neue Seite an demselben Tatbestand, wenn Stange auch die missionarisch-evangelistische Energie an der Volkskirche vermisst.

Der Glaube an das Wunder Gottes, der die Kirchen in ihrer Fehlerhaftigkeit und Sündigkeit doch benutzt, Sein Volk zu sammeln, bedeutet keinen Quietismus gegenüber der Sünde der Kirchen. »Es ist dem Glauben an die Kirche Christi aufgegeben, den Kampf mit der Sünde und Krankheit des Kirchentums zu führen.» (Althaus, a. a. O. S. 317.)

Wir können sagen, Synode, Landeskirche, ein Gebilde wie die EKiD gehören zur Christenheit, sind ein Teil von ihr, sind aber nicht Kirche. Nur dass eben in jeder Betätigung der Christenheit, in jedem Zusammenschluss von Christen, nichts von dem Gehalt der Wahrheit, wie wir sie erkannt haben, preisgegeben wird oder Momente der christlichen Lehre als ihrer Art nach indifferent behandelt werden. Das heisst nicht, das jeder Bund oder Verein, jede organisierte Gruppe von Christen durch das Bekenntnis normiert sein muss; es heisst aber, dass, wenn oder sofern Bekenntnis dabei im Frage kommt, kein Übereinkommen getroffen werden kann, diese oder jene Lehre für eine offene Frage zu erklären, über die das Recht der Entscheidung dem einzelnen zugestanden würde. Das wäre religiöser Indifferentismus.

Bilden einzelne Christen Verbände unter sich, die besondern Zwecken dienen, so handeln sie als solche, die alles besitzen (I Kor. 3, 21.22), als Priester und Könige vor Gott (1 Petr. 2, 9). Aber was sie bilden, sind nicht Kirchen.

Für unsere Darstellung ist nach dem bisher Gesagten soviel gewonnen, dass wir einen Verband von Gemeinden, der keine Stellung zum Bekenntnis nimmt, sondern nach praktischen Gesichtspunkten

115


THEODOR GRAEBNER

organisiert ist, nicht Kirche nennen. Eine Lebensversicherungsgesellschaft für Lutheraner ist keine Kirche. Ein Verband lutherischer Gemeinden zur Pflege kirchlicher Musik ist nicht Kirche. Eine Gruppe von lutherischen Gemeinden, die sich elternloser oder verwahrloster Kinder annimmt und zwecks solcher Ziele vom Staate etwa inkorporiert ist, ist nicht Kirche. Ein Verein für Flüchtlingshilfe ist nicht Kirche. Aber auch ein Bund von Provinzialkirchen oder Landeskirchen verschiedener Bekenntnisse zur Abwehr von Behelligungen von seiten der Regierung oder für effektive Massnahme gegen Zeitübel oder Volksgefahren ist nicht Kirche. Bei einer Besprechung mit dem seligen Dr. Long wurde uns auf das Bestimmteste versichert, das lutherische Nationalkonzil sei nicht Kirche, und nach unserer (»missourischen») Auffassung ist es nicht Kirche. Wir sehen dagegen eine Stellung zum Bekenntnis als unerlässlich an für die Bezeichnung einer Vereinigung oder eines Zusammenschlusses als »Kirche». Auch andere Momente kommen noch in Betracht, auf die wir unsere Umschau jetzt ausdehnen.

1. Von sichtbarer und unsichtbarer Kirche

Die Unterscheidung von sichtbarer und unsichtbarer Kirche stammt nicht aus der Schrift, auch nicht von Luther oder den Bekenntnisschriften unserer Kirche, sondern ist aus dem Calvinismus übernommen. Die Apologie redet von Kirche proprie und improprie sic dicta. Nach Luther ist die Kirche fide percipibilis; Melanchton, sich an die Schweizer anlehnend, geht weiter und fasst die Kirche als ein Gebilde des öffentlichen Lebens. (Siehe H. Sasse, Quartalschrift, Wisconsin, Jan. 1950). In der Missourisynode ist es im Anschluss an C. F. W. Walther noch gebräuchlich, die unsichtbare Kirche der Una Sancta des 3. Artikels gleichzusetzen, dagegen unter sichtbarer Kirche im eigentlichen Sinne die Ortsgemeinde, im uneigentlichen, die Grosskirche (Synode, Landeskirche, usw.) zu verstehen. Man ist der Gefahr unsauberen Denkens, die eine solche Unterscheidung enthält,

116


KIRCHE UND DIE KIRCHEN

nicht ganz entronnen, indem man nun etwa die unsichtbare Kirche doch (trotz Apologie VII u. VIII) als Abstraktion (wie den Platonischen Staat) fasst, mit der wir weiter nichts zu tun hätten, als dass sie eben in der Dogmatik stehe. Wir hätten, schließt man, aufs Praktische gesehen, gar nichts zu schaffen mit den Christen sagen wir in der Methodistenkirche, die zwar auch Glieder des Leibes Christi sind, mit denen wir aber nur eine »Verbindung» in abstracto haben. Die ökumenische Betrachtungsweise wird dann als »Unionismus» verurteilt. Mit Gliedern anderer Kirchen, als den mit uns in Altar- und Kanzelgemeinschaft stehenden lutherischen Synoden, hätten wir demgemäß nichts zu tun. Die wahren Gläubigen in diesen anderen Kirchen werden wohl ihrem Zeugnis gemäss in abstracto als Brüder anerkannt, kommen jedoch in concreto nur unter dem Aspekt ihrer publica doctrina in Betracht. Sie sind als Anhänger einer Irrlehre zu meiden, und damit erschöpft sich unsere Pflicht ihnen gegenüber. Es ist diese Dialektik der Unterscheidung von sichtbarer und unsichtbarer Kirche, mit ihren offenbaren Paralogien, die es veranlasst hat, dass man diese Aufspaltung des Begriffs »Kirche» auch in Missouri auf ihre Berechtigung von Schrift und Bekenntnis her neu untersucht. Der culter Occami, auf diese Abstraktionen angewandt, hätte uns auch diese Kontroverse erspart.

Der Begriff der Una Sancta steht im Zentrum der Kirchenlehre von der Ortsgemeinde. Als unsichtbar ist die Una Sancta bezeichnet worden, insofern die Personen, aus denen sie besteht, uns nicht als solche erkennbar sind. Und doch muss ihr ein Wesen, eine Erscheinungsform zugestanden werden, die nicht nur dem Gläubigen, sondern auch der Welt erkennbar ist. Gewiss redet der Herr in dem Bericht Joh. 17, 21 b (»Dass auch sie in uns eins seien, auf dass die Welt glaube, du habest mich gesandt») von seiner Gemeinde der Gläubigen, der communio sanctorum, — aber diese besteht und treibt ihr Werk auf eine solche — sichtbare — Weise, dass auch die Welt von der Einheit

117


THEODOR GRAEBNER

ihrer Glieder mit einander und mit ihrem Herrn durch die Erweisungen der Liebe (die sich hierbei in ihrem Wesen offenbart), Kenntnis nehmen muss (vgl. V. 23: »auf dass sie vollkommen seien in eins und die Welt erkenne, dass du mich gesandt hast, und liebest sie, gleichwie du mich liebest»). Sichtbar ist auch der Welt das Werk der Kirche, und die zeitliche und örtliche Form, in der sie das Evangelium und die Werke der Liebe treibt. Ich finde hier die Lösung für das Problem, das Reinhold Seeberg einmal in dem Satz gestellt hat: »Es ist ein ungelöstes Problem geblieben, wie die Kirche äussere Form annehmen konnte, ohne um ihr Wesen zu kommen.» Weit davon enfernt, den Kirchenbegriff, um mit Seeberg zu reden, in zwei Teile auseinanderfallen zu lassen, in Wesen und äußere Form, betonen wir, dass es nur eine Kirche gibt, nicht zwei Kirchen, die Una Sancta, die communio sanctorum, die aber in der christlichen Verkündigung und demgemäß dann auch in der Lokalgemeinde in Erscheinung tritt. Das bringt uns auf eine wichtige Beobachtung. Es kann niemand die Schriftstellen vergleichen, in denen von der Ortsgemeinde die Rede ist, ohne die Beobachtung zu machen, dass von dem Wesen der lokalen Gemeinde, ihrer Bestimmung, ihrem Ursprung und Zweck, nichts ausgesagt wird, das nicht von der Kirche gilt, die Christus durch sein Erlöserleiden geschaffen hat. Man darf sogar noch weiter gehen und behaupten, dass wir die Una Sancta nur kennen, wenn wir beachten, was von den Christengemeinden des Neuen Testaments ausgesagt wird, dort wo ihr Verhältnis zur Welt und zu ihrem Herrn zur Sprache kommt. Die Kirche zu Ephesus wird angeredet (Eph. 1,1) als die »Heiligen zu Ephesus und Gläubigen an Christum Jesum». Da tritt die Gemeinde der Heiligen in Erscheinung in einer Form, die wir als die ephesinische Gemeinde kennen. »Liebe Brüder», redet Paulus die Gemeinde zu Thessalonich an (1. Thess. 1, 4), »wir wissen, wie ihr auserwählt seid», und diese Erwählung wird zurückgeführt auf die Kraft des Geistes im Evangelium.

118


KIRCHE UND DIE KIRCHEN

Von der Kirche ist also ein Doppeltes auszusagen: Sie ist kein Phantom, keine leiblose, unsichtbare Idee, sondern sie hat eine wahrnehmbare, reale Leibhaftigkeit auf Erden. Und: Sie ist wohl in der Welt, aber sie ist nicht von der Welt. Die Kirche Jesu Christi ist ein Artikel des Glaubens: »credo unam sanctam ecclesiam». In diesem Satz liegt beschlossen, dass sie weder »sichtbar» ist im Sinne der Wahrnehmbarkeit eines konkreten Gegenstandes der realen Seinswelt, noch dass sie »unsichtbar» ist im Sinne der Nichtwahrnehmbarkeit einer gestaltlosen Idee. Dieser »Schwebezustand» ist nicht gleichbedeutend mit »nicht gegenwärtig» oder gar »nicht wirkungskräftig». Auch Christus ist bis zu seiner verheissenen Wiederkunft in Herrlichkeit »nicht sichtbar»; und doch ist er nach seiner Verheissung gegenwärtig und wirkungskräftig bei den Seinen. (Hierüber Weiteres bei Keller-Hüschemenger im »Jahrb. d. M. L. Bundes» 49/50 S. 43 ff.).

Die Kirche ist Objekt des Glaubens. Glaubensgegenstand ist aber ein Gegenstand, der eine verborgene, geheimnisvolle Seite hat, der in die wunderbare Welt Gottes hineinragt und von dieser Welt Gottes ebenso wunderbar getragen, bewegt und erfüllt ist. Glaube, sagt Luther in Erinnerung an Hebr. 11, 1 wiederum oft genug, bezieht sich auf unsichtbare Dinge (res non apparentes), nicht auf Dinge, die man greifen oder messen oder zählen kann. (»Was man glaubt, ist nicht leiblich noch sichtlich». WA 6, 300.) Wir müssen aber in seinem Sinne sofort hinzufügen: bezieht sich auf unsichtbare Dinge, die uns in sichtbaren Dingen als die in diesen verborgene Wahrheit und Kraft entgegentreten. Oder umgekehrt: auf sichtbare Dinge, sofern sie auf unsichtbare hinweisen, ja sie in sich bergen und geradezu an uns heranbringen, »wie dem Glauben allzeit ein leiblicher Anblick wird fürgestellet, darunter er doch ein andres verstehe und begreife» (Abendmahlsschrift von 1528; WA 26, 436. S. auch Georg Wehrung, Kirche nach evangelischem Verständnis, S. 30).

Eine wichtige Äußerung Luthers auf der von ihm geleiteten

119


THEODOR GRAEBNER

Disputation von 1542 (Drews, 655 f.) lautet: »Ex confessione cognoscitur ecclesia ... est visibilis scilicet ex confessione.»

Die Gemeinde der Gläubigen, wie inhaltreich und lebendig wird für ihn dieser Name! Sie ist die Mutter der Gläubigen (Gr. Kat. II. pars, 42). Ihr verdanken sie Ursprung und Förderung ihres Glaubens. Sie ist vor allen einzelnen Gliedern gegeben und doch nur in ihnen lebendig und gegenwärtig; Sie ist die »Braut Christi und sein geistlicher Leib». (Vom Abendmahl Christi. Bekenntnis. WA 26, 506.)

»Die Wahrheit oder Heiligkeit der Kirche ist verborgen, zunächst schon, weil ihr Lebensgrund Christus (Kol. 3,4), bis zu seiner Endzukunft verborgen ist; dann in verstärktem Mass wegen der Flecken und Runzeln, die ihr noch anhaften. Überhaupt wird die Kirche, die so manche Blössen bietet, dem Glauben an wichtigen Zügen sichtbar. Sie wird nicht darin wahrnehmbar, dass der Heiligungsernst nachweislich fortschreitet, einen gewissen Höhengrad erreicht oder behauptet. Das Neue Testament sieht das nicht als das sichere Kennzeichen der Zugehörigkeit zur Gemeinde Christi an, wie es keine gesetzlich festgelegten Merkmale kennt, nach denen dies sich abgrenzen ließe. Aber die Kirche wird dort erkennbar, wo sie sich versammelt und Gott preist, ja wo nur zwei oder drei sich um das Wort und den Tisch des Herrn vereinen; nicht etwa daran, dass ein befugter Amtsträger das Abendmahl leitet, vollends nicht an einem Amtskollegium, einem Klerus, — ein solcher Klerus ist dem Neuen Testament schlechterdings fremd, er würde die Gemeinde auf die Stufe von Laien herabdrücken (was dann im ersten Clemensbrief geschieht). Fassbar wird die Kirche Gottes ferner im gemeinsamen Gebet und Bekenntnis: im Gebetsruf Abba-Vater derer, die den Geist der Kindschaft empfangen haben (Röm. 8, 15); im bekennenden Zeugnis ’Herr ist Jesus,’ das man nur im Heiligen Geist sprechen kann (1. Kor. 12,3).» (Wehrung, a. a. O. Zu dieser ganzen Frage siehe auch Edmund Schlink, Theologie der luth. Bekenntnisschriften, 1948, S. 295 f.).

120


KIRCHE UND DIE KIRCHEN

2. Von der Kirche als Wirklichkeit

»Es weiß, Gott Lob, ein Kind von sieben Jahren, was die Kirche sei, nämlich die heiligen Gläubigen und die Schäflein, die ihres Hirten Stimme hören.» (Schmalk. Art. III, 12). So stellt sich bei Luther selber dar, was der 7. Artikel der Augustana mit der Aussage meint, dass die Kirche sei »die Versammlung aller Gläubigen, bei welcher das Evangelium rein gepredigt und die heiligen Sakramente laut des Evangelii gereicht werden».

Das erste ist, dass Christus regiert und dadurch Gemeinschaft mit sich stiftet, das zweite, dass dadurch Gemeinschaft unter den Gliedmaßen entsteht. »Ut exponeretur, quid significet ecclesia, nempe congregationem sanctorum, qui habent inter se societatem eiusdem evangelii seu doctrinae et eiusdem Spiritus Sancti, qui corda eorum renovat, sanctificat et gubernat.» »Welches noch klarer, deutlicher auslegt, was die Kirche heisst, nämlich den Haufen und die Versammlung, welche ein Evangelium bekennen, gleich ein Erkenntnis Christi haben, einen Geist haben, welcher ihre Herzen verneuert, heiliget und regieret» (Apol. VII, 8). »Immer ist er der Herr, immer bestimmt er alles durch sein Wort und durch seinen Geist; nie ist die Kirche von solcher grundsätzlich wichtigen Leitung durch sein Wort freigesprochen». (G. Merz, Jahrb. d. M. L. Bundes 49/50. S. 24.)

Den Begriff der Wirklichkeit fasste 0. Dibelius soziologisch. Er schreibt: »Was ist eine Kirche? Sie ist ein Organismus, der als eine in sich selbständige Form religiösen Lebens eine Gesamtheit von Menschen umfassen will, ein Organismus, der sich auf ein Bekenntnis und auf einen Kultus gründet, ein Organismus, dessen Einheit und Tradition sich zusammenfassen in einem bischöflichen Amt.» Erich Stange fasst das Element Wirklichkeit anders auf als Dibelius. Er rückt psychologische Betrachtungen in den Vordergrund. Die »kommende Kirche» hat ein betontes »Eigenbewusstsein», das sich in vier Formen äußert:

121


THEODOR GRAEBNER

als Abstandsgefühl »gegenüber der Welt ringsum», als intim religiöse Gemeinschaft, als sozialer Lebensbund und als evangelistisch-missionarische Arbeit am »heillosen Volk».

Grundgedanke der protestantischen Auschauung ist die Ablehnung, irgend einer bestimmten Verfassung als eines Wesensmerkmals der Kirche. Paul Althaus drückt das (1949) so aus: »Die Kirche bedarf freilich einer ihrem Wesen gemäßen Ordnung. Diese hat Sinn und Ziel darin, die rechte Verkündigung sowie das Hören des Evangeliums und den rechten Gebrauch der Sakramente zu ermöglichen und zu sichern. Ihre konkrete Gestaltung ist Sache vernüftigen menschlichen Ordnens in der jeweils besonderen geschichtlichen Lage. Die Ordnung kann in den verschiedenen Teilen der Kirche verschieden sein und im Laufe der Geschichte sich wandeln. Keine konkrete Gestalt der Ordnung ist göttlichen Rechtes, nur das Gegenüber von Evangelium, in Verkündigung und Sakrament, und Gemeinde. Demgemäß gibt es auch für die Zugehörigkeit zur Kirche von menschlicher Seite keine andere Bedingung als den Glauben an das Evangelium, der sich im Hören des Wortes, im Brauchen der Sakramente erweist; also nicht auch die Anerkennung einer bestimmten Verfassung als göttlichen Rechtes, als unbedingt bindend, wesens- und heilsnotwendig. Durch den sich bekennenden Glauben an das in Verkündigung und Sakrament dargobotene Evangelium sind wir Glieder der Kirche». (A. a. O., S. 291.)

Der lutherischen Kirche ist diese Betonung des Wesensverhältnisses der Kirche zum Wort eigen. Grossartig kommt das heraus in der Erklärung zum III. Artikel im Großen Katechismus. Das ganze Phänomen der Kirche wird hier von Gott her entwickelt als die Stätte der immerwährenden Wirksamkeit des Geistes im Wort. Was auf Erden als Wirkung sichtbar wird, ist nur eine der vielen Erscheinungsformen des schöpferischen Willens Gottes. So tritt dem Christen die Kirche entgegen als seine geistliche »Mutter». Ihr Dasein und ihre Wirksamkeit ist eine

122


KIRCHE UND DIE KIRCHEN

Analogie zu Schöpfung und Erlösung, also reiner Ausfluss göttlichen Tuns.

Unsere lutherische Kirche weiß, dass sie nichts anderes in dieser Welt hat als das Wort, dies Wort des Herrn, der ihre Säulen festhält. Daran, dass sie dies Wort, wie es ihr in der Heiligen Schrift gegeben ist, neu versteht und im lebendigen Glauben neu bekennen lernt, daran hängt ihre Vollmacht zum Dienst. Vielleicht darf man unter dem Eindruck alles dessen, was heute die Kirche der Reformation Martin Luthers in der Welt durchzukämpfen hat, so sagen: Es ist ihre kirchengeschichtliche Sendung, daran zu erinnern, dass eine Kirche sterben muss, wenn sie das Wort Gottes nicht mehr hat.

Das gilt auch für die Kirche als das Corpus Mysticum Christi in der Welt. In ihr ist der Christus Gottes ganz und gar real da. In, mit und unter ihrer irdisch-welthaften Gestalt ist er gegenwärtig nicht nur in sinnbildhafter Bedeutung des »als ob», sondern in voller Seinsrealität. Um mit Keller-Hüschemenger zu reden: »Seine reale Präsenz ist für die Glieder seines Leibes erkennbar dort, wo die Kirche ihre von ihrem Haupte gegebene Aufgabe seinem Befehl gemäss übt: wo sie sein Wort lauter predigt und die Sakramente gehorsam seinem Befehl austeilt und verwaltet. In, mit und unter diesem Handeln verheißt Christus seine wirksame Gegenwart in der Welt: wo so gehandelt wird, dürfen die Glieder des Leibes Christi in der Welt in der Gewissheit leben, dass ihr Haupt mitten unter ihnen ist.»

Die Kirche hat und ist also Einheit, sofern sie »die Versammlung aller Gläubigen», nämlich der an Christus Glaubenden ist. »Christus selbst wirkt und bedeutet ihre Einheit. Denn er ist der eine Christus, der die Seinen durch das eine und selbe Evangelium, die eine und selbe Taufe in die Gemeinschaft des einen und selben Vaters beruft.» (Althaus, a. a. O.)

Man wird Luthers Gedanken gerecht, wenn man die verschiedenen Darstellungsweisen so ausgleicht: der objektive, konstitutive Faktor der Gemeinde wie der Kirche ist das Wort. Dieses

123


THEODOR GRAEBNER

Wort aber samt der Taufe und allen andern Handlungen der Kirche, die auf dem Wort beruhen, erzeugt Glauben. Für Gemeinde Christi darf sich jede Versammlung halten — auch wenn sie nur aus zweien oder dreien besteht —, die das Evangelium anerkennt und nach seinen Normen handelt. Was sie in Christi Namen tut, dazu bekennt sich Christus selbst (WA 12, 191; Zeile 28 ff.). Es kommt nicht darauf an, dass die ganze Gemeinde im Evangelium einig ist, sondern nur darauf, dass eine Anzahl Evangelisch-Gläubiger in ihr lebt und auf Grund des Evangeliums handelt. Sie stellen dann eben die Gemeinde Gottes dar, weil sie seinem Wort folgen. So ist also die Einzelgemeinde einfach ein Abbild, eine Erscheinungsform, ein Kompendium der allgemeinen Christenheit.

Das Bekenntnis spielt eine bedeutsamme Rolle in einer der ersten Bezugnahmen auf die Kirche, Matt. 16, 17—19. Ohne die Probleme zu unterschätzen, die bei der Auslegung dieser Stelle uns entgegentreten, so bleibt auf jeden Fall soviel gesichert: 1) Das Bekenntnis zur Wahrheit in Bezug auf Christi Person und Sendung steht in einem Wesensverhältnis zu der Gemeinde oder Kirche. 2) Kirche ist hier die Gesamtheit derer, die Christus angehören. 3) Ihnen ist alle geistliche Vollmacht geschenkt.

Das Wesen der Kirche nach Gabe und Aufgabe als Leib Christi in der Welt ist oftmals missdeutet, verkürzt und verdunkelt worden. Solcher Art Entstellungen wurden sowohl von aussen wie auch von innen an sie heran getragen. Hier setzt die positive Aufgabe der Bekenntnisse ein. Sie bekennen vom Zentrum der Heiligen Schrift her die Kirche als den Leib Christi und legen die Beziehungen dieses Leibes dar. Das Haupt ist Jesus Christus. Vom Haupte her wird die Gliedschaft der Glieder untereinander bestimmt.

Und sie beschreiben — schriftgemäß — die Gemeinsamkeit und das gegenseitige Verstehen der verschiedenen Ortsgemeinden als Kirche.

»Das Bekenntnis will gehört werden in seiner organischen

124


KIRCHE UND DIE KIRCHEN

Ganzheit als die Antwort der Kirche auf die Anrede ’Gottes in Jesus Christus für uns’ an sie; es will verstanden werden von diesem Zentrum aus, und von dort her werden den Einzelheiten der Bekenntnis-Antwort Inhalt und Bedeutsamkeit verliehen» (Keller-Hüschemenger, a.a.O., S. 47—52).

Walter Künneth kennt nur die quia-Unterschrift des lutherischen Bekenntnisses, es besteht nach ihm ein solcher Sach-Konsensus zwischen inspirierter Schrift und Symbol, dass die Schrift- Autorität in und mit dem Symbol zur Geltung kommt. Daher kommt auch Künneths starke Betonung des Bekenntnisses in seiner Verbindlichkeit für Leben und Lehre und für die Kirche in allen ihren Funktionen. Das Damnamus ist in Geltung gegen jede Trübung der Kirchenlehre durch Privatmeinungen. (Vortrag in Bad Boll, 1949.)

Das Thema Bekenntnis und Kirche ist wieder aufgerollt worden durch die Deutung von AC VII als nur verwendbar als Waffe gegen den Unionismus. Adolf Blanke argumentiert (Ev. Luth. Kztg. Nr. 12 und 13, 1949), dass der Satz von der reinen Predigt nicht als Erweiterungs-, sondern nur als (analytischer oder) Erläuterungssatz zu fassen sei. In einer Replik weist Adolf Ortenburger (Nr. 3, 1950) darauf hin, dass die reine Lehre und Sakramentsübung in der Apologie Melanchtons fehlt, weil sie für ihn ganz selbstverständlich zum Wesen der Kirche als der Una Sancta gehört.

Es steht fest, dass für unsere Reformatoren Kirche und Gnadenmittel unlöslich miteinander verbunden waren, ganz gleich, ob sie sich diese Verbundenheit analytisch oder synthetisch dachten. Jul. Kaftan sagt: »Lutherischerseits ist stets die grundlegende Bedeutung der Gnadenmittel (Wort und Sakrament) für alles, was Kirche heisst, betont worden ... Im Gegensatz zur schwärmerischen Anschauung, die Wort und Sakrament verachtet und alles auf das innere Licht gründet, wird die Predigt des Evangeliums und die rechte Sakramentsverwaltung zum Wesen und Bestand der Kirche gerechnet.» Die Frage, welchen

125


THEODOR GRAEBNER

von beiden die Priorität gebühre, der Kirche oder den Gnadenmitteln, wird verschieden beantwortet. Kaftan z. B. sagt: »Es gehört zum Wesen der Kirche, die wir glauben, Erzeugnis der Gnadenmittel zu sein», Luthardt dagegen behauptet: »Nicht etwas Äußeres macht die Kirche zur Kirche . . . aber auch nicht die Mittel der Heilsordnung, also nicht die Gnadenmittel und ihre Verwaltung gründen sie. Denn diese haben die Kirche selbst schon zur Voraussetzung und sind eine Betätigung der Kirche.» Ortenburger erinnert diese Meinungsverschiedenheit an die Rätselfrage, was früher sei, die Eiche oder die Eichel.

Das Neue Testament lässt kaum die Frage aufkommen, ob der Zusammenschluss am Tisch des Herrn ein Charakteristikum der Kirche ist. Doch muss uns auffallen, dass nirgends in der Apostelgeschichte oder in den Briefen auch nur eine Andeutung davon sich findet, dass das Abendmahl von gelegentlich lokal versammelten Gruppen gefeiert wurde (etwa von den ephesinischen Ältesten oder den Mitarbeitern des Paulus). Es ist innerlich verbunden mit dem Begriff der Gemeinde als solcher. Und zwar als Bekenntnismahl nicht weniger denn als Gnadenmittel. Es ist jedoch etwas zurechtzustellen an den Sätzen vom Pf. Hopf: »Gleichzeitig muss gegenüber etwaigen Kommunikanten, die aus anderen Teilen der Christenheit stammen, klar und offen zum Ausdruck gebracht werden, ’dass von allen, welche am heiligen Abendmahl teilnehmen, die Willigkeit, der lutherischen Kirche mit Herz und Mund, Wort und Tat anzugehören, erwartet wird und verlangt werden muss’ (Franz Delitzsch, 1852). Dagegen dürfen Christen, denen die Zustimmung zum lutherischen Abendmahlsbekenntnis unmöglich ist, an den Altären unserer Kirche nicht zum Sakrament zugelassen werden.» Der letzte Satz stimmt mit amerikanischer Überzeugung überein. Ist er aber so absolut zu fassen, wie er lautet? Wie steht es mit denen, die mit uns die Realpräsenz und den Charakter des Abendmahls als Gnadenmittel bekennen, aber nicht im Stande oder nicht willens sind, sich unsern Gemeinden anzuschliessen? Der Satz von Franz

126


KIRCHE UND DIE KIRCHEN

Delitzsch geht zu weit. Zwei Fälle sind denkbar, in denen wir auch ohne solchen Anschluss kommunizieren können. 1) Man denke an unsere Mannschaften in der Flotte. Ein protestantischer Kaplan befindet sich auf dem Schiff, und ein Dutzend Denominationen. Wir haben sie nach vorhergehendem Unterricht im Abendmahl alle kommuniziert. 2) Die Menschen kommen zu uns in den riesenhaft angeschwollenen Kriegsindustriestädten. Wir haben Lutheraner jeder Schattierung zur Kommunion angenommen und keinen Übertritt von Synode zu Synode gefordert. Die Flüchtlingssituation in Westdeutschland bietet einen ganz parallelen Fall. Schliesslich, wie schon eingangs betont, gibt es im Reiche Gottes weder Synoden noch Landeskirchen noch Denominationen. Es gibt Christen und es gibt Gemeinden. Manchmal müssen wir mit Christen handeln ohne Beziehung auf das kirchliche Bekenntnis. Synoden bestehen hauptsächtlich zu dem Zweck, das Anrecht auf das Abendmahl an unsern Altären leicht bestimmbar zu machen, nicht, es einzuschränken. Die Leute, denen Christus die Gnadenmittel geschenkt hat, das sind seine Nachfolger, das ist die una sancta.

Damit ist nicht der »offenen Kommunion» das Wort geredet. Wir haben zwischen Abendmahlzulassung und Abendmalsgemeinschaft zu unterscheiden. Bei der Gründungsversammlung der Evangelischen Kirche in Deutschland, in Eisenach 1948, machten die Lutheraner geltend, dass es unmöglich sei, gemeinsam mit Nicht-Lutheranern am Tische des Herren zu erscheinen, solange ein verschiedenes und sogar gegensätzliches Verständnis des Abendmahls die verschiedenen Kirchen beherrsche; dass jeder, der wirklich erkannt hat, was uns am Tische des Herren gereicht wird, mit verletztem Gewissen Gottes Gast sein würde, sofern auch solche Gäste zugegen seien, die ein anderes Verständnis des heiligen Mahles hätten.

Der Begriff »Christliche Kirche» ist in unserer Theologie nie reines Gedankending. Immer steht die Una Sancta in einem Verhältnis zur Ortsgemeinde, und nie ist die Gemeinde vollständig

127


THEODOR GRAEBNER

ohne das Amt. Mit E. Schlink sagen wir, »Das Amt hat keine selbständig bestehende Realität» (in Bad Boll 1949, gegen die Löhesche Auffassung).

Das Neue Testament spricht von einem Amte des Zeugnisses, das der ganzen Gemeinde Christi gegeben ist und damit allen ihren Gliedern: die Christen haben zu »verkündigen die Tugenden des, der sie von der Finsternis berufen hat zu seinem wunderbaren Licht» (1. Petr. 2,9), nicht nur durch ihr neues Sein, sondern durch das Wort.

Melanchthon, der das priesterliche Recht des einzelnen Christenmenschen feiert und damit allem Klerikalismus absagt, hat sich mit noch stetigerer Leidenschaft um die Einheit der Kirche bemüht und hat den Stand der Prediger so hoch geachtet, dass er im 13. Artikel der Apologie die Frage erwägt, inwiefern man die Ordination ein Sakrament nennen könne, sowie auch Luther unbefangen die Frage erörtert, unter welchen Umständen man die Ordination eines römischen Bischofs anerkennen könne, und sich ungleich mehr um den Dienst von theologischen Ordinatoren kümmert als um das Recht der Gemeinde, junge Theologen abzuordnen. »Die Bekenntnisschriften kennen hier weder ein Recht der Gemeinde noch ein Recht des Pfarrerstandes, sie wissen nur von der Pflicht, Sorge zu tragen, dass das Wort gepredigt wird, also auch zu sorgen, dass ministri verbi divini da seien.» (Weiteres bei G. Merz im Jahrbuch d. M. L. Bundes 49/50, S. 30.)

Die Prediger stehen nur solange und nur insofern in der apostolischen Sukzession, als sie das Wort bezeugen. Sie verfügen nicht über das Wort, das Wort ist Herr über sie. Ein Wort wie Joh. 16, 12: »Ich habe euch noch viel zu sagen; aber ihr könnt es jetzt nicht tragen», darf nicht missbraucht werden, als ob die Zeugen Jesu künftighin ein Recht hätten, über die Grenzen hinauszugehen, die ihnen durch das Wort des Herrn gezogen sind. Das Wort des Herrn darf nicht in dem Wort seiner Stellvertreter untergehen. Die Kirche des Wortes ist nicht nur in dem

128


KIRCHE UND DIE KIRCHEN

Sinn Kirche des Wortes, dass sie das Wort zu verkündigen hat und in ihrer Geschichte vom Worte ausgeht, sondern auch in dem Sinn, dass sie immer an das Wort gebunden ist.

3. Die Kirche als Ortsgemeinde gesehen

Wenn Sohm sagt, »Die geistliche Kirche erzeugt mit Notwendigkeit Versammlungen (denen heute diese, morgen andere angehören können), aber keine Körperschaft (keine rechtlich verfasste Gemeinde)» (Weltl. und geistl. Recht, 1914), wird er weder Luther noch der Urkirche gerecht. Die Lokalgemeinde ist notwendiges Erzeugnis des durch das Wort in Christo wirkenden Reichs der Gnade. So Luthers Erklärung des 3. Artikels.

Alles was der Una Sancta nach neutestamentlicher Darstellung zukommt, findet sich in der Lokalgemeinde als bleibendes Gut und wirkende Kraft, eben weil sich in ihr der Urgrund geistlichen Lebens findet, das persönliche Verhältnis zu Christus, der rechtfertigende Glaube, 1. Kor. 1,2. Somit befremdet es uns nicht, wenn die Schrift kurzweg die Glieder der Kirche Christi mit den Auserwählten identifiziert. 1. Petr. 2, 9; 1, 2; 1. Thess. 1, 4; Eph. 1, 3—10; Röm. 8, 30. C. F. W. Walther nennt deshalb die Kirche im uneigentlichen Sinn »die sichtbare Gesamtheit derer, die berufen sind», und die einzelnen Teile derselben die Lokalgemeinden (K. und A. These 6). Sie sind genannt Matth. 18, 17; Apg. 14, 23; 20, 28; Röm. 16, 16; 1. Kor. 1, 2, und im N. T. überhaupt etwa hundertmal. Dass die wahrhaft Gläubigen diejenigen sind, um derentwillen diese Ortsgemeinden »Kirche» genannt werden, ergibt sich aus dem Zusammenhang aller dieser Stellen, denn nur Christen können die Werke verrichten, die hier den Lokalgemeinden zur Pflicht gemacht werden.

Wir halten (gegen Höfling und die Wisconsinsynode) dafür, dass die Lokalgemeinde nicht ein mehr oder weniger auf Zufälligkeiten aufgebauter Begriff ist, so dass die Rechte, die der Kirche zugestanden werden, jederzeit von zufälligen Versammlungen auszuüben wären — auch die Berufung von Dienern am

129


THEODOR GRAEBNER

Wort und die Exkommunikation —, sondern wir glauben, dass der Ortsgemeinde eine göttliche Stiftung zuzuerkennen ist. Anders ausgedrückt, das zwischen Pfarramt und Gemeinde bestehende Verhältnis ist iure divino, ist göttliche Stiftung.

Es ist den Gliedern nicht überlassen, sich zusammenzufinden. »Zwei und drei, und einer spricht Trost zu, das ist die göttliche Einrichtung» (G. Merz, Bad Boll, 1949).

In erster Linie sind hier die Aussagen des Neuen Testaments zu nennen, die es den Gläubigen zur Pflicht machen, zu gemeinsamem öffentlichem Gottesdienst zusammenzukommen (Heb. 10, 25; Apg. 2, 42—47), eine Pflicht, der die ersten Gemeinden in vollem Sinne nachgekommen sind (so die Apg.; die Korintherbriefe). Dass es sich hier um Gruppen handelt, die gewisse Personen als die ihnen von Gott gesetzten geistlichen Lehrer und Hirten anerkennen, ist nicht nur Voraussetzung, sondern wird mit aller Klarheit ausgesprochen (Tit. 1, 5. Apg. 14, 23; 20, 28). Im Neuen Testament sind »Pastor» und »Gemeinde» korrelate Begriffe.

Warum bedarf es des besonderen Amtes? Weil das Ziel des Evangeliums eine Gemeinde ist, eins im Glauben. Die Einzelnen sollen miteinander das Wort hören, damit die Einheit einer Gemeinde entstehe, bestehe, wachse. So bedarf es neben dem Zeugnis von Mensch zu Mensch einer öffentlichen Verkündigung durch einen, der von der Gemeinde berufen ist, ihr das Wort zu sagen und sie damit immer aufs neue als Gemeinde zu begründen.

Ihr, der Lokalgemeinde gehören die Sakramente und das Recht, an diesem und jenem Ort das Predigtamt aufzurichten. Sie allein kann im letzten Grunde Prediger und Lehrer bestellen. Andere Inhaber kirchlicher Ämter haben ihren Beruf iure humano, aber auch Ämter solcher Art gehören zur christlichen Gemeinde und zu ihr allein. (Das gilt auch von Berufungen durch die Repräsentativkirche).

Die Kirche besteht aus Personen. Was sind das für Personen? Kurt Plachte sagt (in Das Kreuz unserer Tage und das Myste

130


KIRCHE UND DIE KIRCHEN

rium Christi) sehr schön: »Die Ekklesia ist die Schar der Herausgerufenen. Es ist die Schar der Beter, die nun schon durch die Jahrtausende wandert, die sich herausgerufen weiss aus ihrer Umwelt, um sich dann senden zu lassen in die geschichtliche Welt: in je ihrem Ort, in je ihrer Zeit, damit die Menschen den Ruf aus der Ewigkeit hören, damit sie wieder aufhorchen und gehorchen. Die Kirche — die Ekklesia — ist die Schar der Menschen, die den Ruf aus der Ewigkeit gehört und die von Stund an eine geschichtliche Sendung haben.»

Kirchen sind die Gruppen von Personen, die sich um Wort und Sakrament sammeln, um die Verwaltung der Schlüsselgewalt unter sich aufzurichten. Wir nennen das wohl auch eine sichtbare Kirche, nicht um ihnen einen Bestand neben oder auch unter der »unsichtbaren» zu geben, sondern weil ihr das charakteristisch ist, dass sie gesehen, besucht, gehört werden kann, als eine Größe permanenter, lokal gebundener Art.

Kirche ist demnach das Evangelium, in Verkündigung und Sakrament dargeboten, im Glauben aufgenommen, bekannt, weitergetragen. Oder: Kirche ist die um das Evangelium, in Verkündigung und Sakrament gesammelte Gemeinde — und wären es zwei oder drei. Unser erster Satz geht von dem Objektiven, von Evangelium aus, unser zweiter vom Subjektiven, von der glaubenden Gemeinde. Aber beide besagen das Gleiche. (Althaus, Chr. Wahrheit, II S. 287.)

»Wer macht den Glauben?» fragt Leonhard Fendt in »Der Wille der Reformation im Augsburgischen Bekenntnis», 1930, und seine Antwort lautet: »Der heilige Geist durch das Wort der Verkündigung (wozu auch die Sakramente gehören).» Er fährt fort: »Dann ist ’Kirche’ zunächst die wirkliche Versammlung im Namen Jesu, die aktuelle Versammlung zur Verkündigung des Wortes und zum Hören des Wortes, zur Spendung und zum Empfang der Sakramente. In dieser wirklichen Versammlung wirkt der heilige Geist, gibt den Glauben, reisst in den neuen Gehorsam hinein; das aber sind ’Heilige’, die unter dem neuen

131


THEODOR GRAEBNER

Herm stehen, die Sklaven des Christus sind. Darum ist die Versammlung eine ’Versammlung der Heiligen’. Man kann aber nicht immer versammelt bleiben; und so sind die Besucher der aktuellen Versammlungen auch ’Versammlung’, wenn sie sich wieder in ihre Häuser, an ihre Arbeit begeben, wenn sie sich wieder in alle Winde zerstreut haben, sind ’Heilige’ und eine ’Versammlung der Heiligen’ auch in dieser Zerstreuung, weil sie den Glauben haben, weil sie Christus haben» (A.a.O., S. 45).

Luther drückt das folgendermaßen aus:

»Die Kirche muss in der Welt erscheinen, aber sie kann nur erscheinen in einer Vermummung (larva), einer Person, einer Umhüllung, einer Schale und irgendeinem Kleid, damit man sie darin hören, sehen, fassen kann; anderswie könnte sie niemals gefunden werden. Aber solche Vermummungen sind ein Ehemann, ein im öffentlichen oder häuslichen Leben Stehender (politicus, domesticus), Johannes, Petrus, Luther, Amsdorf usw., während doch keiner von ihnen die Kirche darstellt, welche weder Mann noch Weib, weder Jude noch Grieche ist, sondern allein Christus.» (Enders 14, 175 aus einem Briefe Luthers an Amsdorf 1542.)

Aufs engste verknüpft mit dem Gedanken des Evangeliums war für Luther die Lehre von der Gewalt der Schlüssel. Schon in den Resolutionen zu den 95 Thesen kam Luther zu dem Ergebnis, dass eigentlich Schlüsselgewalt und Evangelium zusammenfallen. Wie sollte auch aus dem Evangelium eine Herrschergewalt hervorfließen? Es sollen doch die Schlüssel ein Trost sein, und sie gehören mir und dir, jedem, der Sündenvergebung bedarf, und sind dem entsprechend zu handhaben. Die Klerisei hat hier nicht eigentlich ein Recht, sondern eine Pflicht. Mit großem Gewinn an Klarheit wird dieser Gedanke in späteren Schriften Luthers weiterentwickelt. Was findet sich denn von Herrschergewalt in Matth. 16? Eignet Petrus die Schlüssel für seine Person? Man sehe doch Matth. 18 und Joh. 21 und man wird finden, dass die Schlüssel der Gemeinde übergeben sind. Die Gemeinde — und das kann nur die Ortsgemeinde sein —

132


KIRCHE UND DIE KIRCHEN

ist Inhaberin des Rechts, so gewiss jede Gemeinde im Besitz des Evangeliums ist.

Das Kirche-Sein konkretisiert sich für Luther stets in äusserlich wahrnehmbaren, sichtbaren, spürbaren Akten, die Gemeinschaft ist die eines Leibes und seiner Glieder. Von diesen Gedanken her wird denn auch gegen den Vorwurf der Platonisierung des Kirchengedankens Einspruch erhoben. »Da ich die Christliche kirch ein geystlich vorsamlung genennet het, spottistu meyn, als wolt ich ein kirch bawen wie Plato ein statt, die nyndert were, Und lest dyr deyn zufall so hertzlich wol gefallen, als habstu es fast wol troffen.» (Antwort auf das überchristlich . . . Buch W. A. VII 683, Zeile 9 ff.)

Luther umschreibt diese Seite der Kirche am besten mit den Worten sola fide perceptibilis, oder auch »geistlich», an einer Reihe von Stellen als »unsichtlich». Von vornherein können wir eine Missdeutung abweisen, als ob diese Prädikate gegen die Sichtbarkeit und Erfahrbarkeit der Kirche ausgespielt werden dürften. Denn die Kirche ist für Luther gerade die konkreterfahrbare Glaubensgrösse in dem Sinne, dass ihr Wesen und ihr telos sich nur dem in der Gemeinschaft des Glaubens Stehenden offenbart. Deshalb spricht Luther so gern von der »Christenheit», der Schar derer, die aus allen möglichen weltlichen Gemeinschaften zur Gemeinschaft unter dem Kreuze Jesu Christi ausgesondert sind.

Unsere Umschau darf Karl Barths Darstellung nicht übersehen. Er fragt (»Die Evangelische Kirche in Deutschland nach dem Zusammenbruch des Dritten Reichs» Zürich 1945 S. 48): »Wo geschieht denn das Wirkliche, das wir mit dem Wort Kirche’ bezeichnen? Je da und dort offenbar, wo Christen sich versammeln zum Gebet, zur Verkündigung und zum Hören des Wortes, zum Lobe Gottes, zu Taufe und Abendmahl, je da und dort, wo der prophetische Geist der Schrift sich vernehmen lässt durch die Gaben der Leitung, der Seelsorge, der Diakonie, des Unterrichts?» Es ist also die Kirche etwas, das geschieht. Sie

133


THEODOR GRAEBNER

wird als das Medium des Handelns Gottes mit dem Menschen, »Die Versammlung der auf Gottes Ruf Antwortenden und der Raum, in dem Theologie als zeitgemäßrelevante Besinnung auf Gott, Welt und Mensch getrieben wird,» verstanden. »Indem Menschen da und dort durch den Heiligen Geist mit Jesu Christus und so auch untereinander Zusammenkommen, entsteht da und dort sichtbar christliche Gemeinde.» (Dogmatik im Grundriss. Zürich 1947. S. 166). »Die Kirche Jesu Christi ist ein Haufe, eine Schar, eine Versammlung . . . die nicht durch gemeinsame Interessen zusammengehalten ist, auch nicht durch gemeinsames Blut, und nicht einmal durch gemeinsame Überzeugungen und Meinungen, wohl aber dadurch, dass in ihr immer wieder, nicht zum Schweigen zu bringen und nicht zu verfälschen und mit keinem anderen Ton zu verwechseln, diese (Gottes) Stimme ertönt.» (Theol. Ex. H. 5, 11). Hieraus erhellt: dass Barth die Kirche primär als Ereignis versteht, als das im Zusammenkommen von Menschen unter Gottes Wort kraft Heiligen Geistes sich vollziehende Ereignis des »Kirche Seins.» So kann er geradezu (a. a. O. 166) sagen: »Es wird heute eher zuviel als zuwenig über Kirche geredet. Es gibt etwas Besseres: Lassen Sie uns Kirche sein.» Also ist auch die »Kirche», oder wie er lieber sagt: die »Gemeinde» ganz und gar und je und wieder im Ereignis des Hörens und Verkündigens Schöpfung Gottes, des Heiligen Geistes. Ob Barth demgemäß allein in der Lokalgemeinde »Kirche» im eigentlichen Sinn sieht, und damit unsere eigene Ansicht vertritt, (in Amerika würde nur die Wisconsinsynode, die Hoefling folgt, hiervon Abstand nehmen), wird uns wieder fraglich, wenn uns Kirche in ihrer Wirklichkeit eben nur als Ereignis — also nur in actu befindlich, nie in statu — beschrieben wird. Eine Einheit einer solchen Kirche kann es deshalb nur als eine irreale Möglichkeit geben. Der Satz »Man glaube an die Einheit der Kirche, die Einheit der Gemeinden, wenn man je an die Existenz seiner konkreten Kirche glaubt» macht dies ganz deutlich.

134


KIRCHE UND DIE KIRCHEN

3. Ökumene und Luthertum

In dem ersten Jahrgang des »Lutheraner» (1844, St. Louis) fragte Prof. C. F. W. Walther, in welchem Sinne wir uns eigentlich Lutheraner nennen, und antwortete (S. 5):

»Hierauf antworten wir kurz: damit soll nichts anderes ausgedrückt werden, als dass wir Christen seien, welche diejenige Lehre für die rechte halten, die durch den Dienst Luthers in dieser letzten Zeit aus Gottes Wort wieder an den Tag gebracht worden ist. Wer diese Lehre mit dem Munde bekennt, den nennen wir einen Lutheraner; für einen wahren Lutheraner halten wir den, der sie durch Wirkung des Heiligen Geistes auch von Herzen glaubt und das Geheimnis des Glaubens in reinem Gewissen hat. Ein wahrer Lutheraner und ein wahrer Christ, die lutherische Kirche und die christliche Kirche, Gottes Wort und Luthers Lehre, dies alles ist uns darum eins und dasselbe.»

Haben wir in Luthers Werk den Ort erkannt, an dem göttliche Dynamis mit neuer, lebenweckender Kraft in die Geschichte des Christentums und der Menschheit hereingebrochen und hereingeströmt ist, dann kommt dem Luthertum und in seinem Gefolge dem Protestantismus im Leben der Völker eine entscheidende Bedeutung zu. Und das ist allerdings allem gegenteiligen Ansehen zum Trotz unser unerschütterlicher Glaube.

Echtes Luthertum ist im Gegensatz zu aller natürlichen Religion das Wissen um die Wahrheit, dass nur Gott vom Jenseits, von der Ewigkeit her, aus Gnade, die Gemeinschaft herstellt (Lehre vom Zorn und der Gnade Gottes, von der Zerstörung des Ebenbildes im Menschen, von der Unfreiheit des Willens, der Unmöglichkeit, Verdienste vor Gott zu erwerben).

Erzbischof Erkki Kaila von Finnland sagte auf dem lutherischen Weltkonvent in Paris 1935: »Das Luthertum muss gegen sich selbst treu sein. Als seine größten Schätze sind ihm Wort und Sakramente vom Herrn anvertraut. Diese Gnadenmittel müssen voll und rein bewahrt werden. Die Heilige Schrift ist die einzige Richtschnur, nach der alle Lehrer und Lehren gerichtet

135


THEODOR GRAEBNER

werden sollen. Alle neuen Anschauungen und Methoden sollen wir nach diesem Maßstab prüfen. In dieser kritischen Zeit müssen wir achtsam sein. Wenn wir davon überzeugt sind, dass Gott, der Herr, Martin Luther zum Reformator erkoren und berufen hat, sollen wir auch seinen Grundanschauungen Treue halten. Das ist auch Treue gegen den Herrn.»

Über diesen ökumenischen Charakter des lutherischen Bekenntnisses macht Bischof Anders Nygren in einer noch in neuester Zeit in Benagaris, Indien, gehaltenen Ansprache eine feine Bemerkung. Unsere Bekenntnisse, so sagt er, haben den Zweck und die Absicht, die in der Schrift überlieferte Wahrheit in allen Stücken unversehrt und rein zu erhalten. Dann aber weist er auf einen merkwürdigen Sachverhalt hin. Gewiss sollte doch ein Bekenntnis das enthalten, was eine Kirche zum Unterschied von anderen auszeichnet. Nun ist das aber bei der lutherischen Kirche durchaus nicht der Fall. Im Gegenteil, was wir bekennen, ist genau das, was alle Christen in der ganzen Welt glauben, sofern sie überhaupt Christen sind — das sola scriptura, das keine Beimischung von Menschenwört veträgt; das sole fide, und vor allem, das solus Christus, denn es ist Christus, im Wort erfasst, Christus, im Glauben angeeignet, Christus, uns aus Gnaden geschenkt, der das Objekt des Glaubens und des Bekennens der ganzen Christenheit ist.

Ich schliesse diese Gedenkenreihe über das Thema Kirche und die Kirchen mit einem Hinweis Ernst Kinders (Ev. Luth. Kztg, 29 Dez. 1947) auf die Vollmacht unserer Kirche, das Wort zur »Lage» in den zwei Reichen zu sprechen:

»Neben den Fragen um das wahre Wesen der Kirche ist es — menschlich gesehen — eine Zukunftsfrage für die lutherische Kirche, ob es ihr geschenkt wird, aus rechten geistlichen Tiefen zu den sogenannten ’Fragen des öffentlichen Lebens’ gegen viel kurzschlüssigen, halbwahren und kurzlebigen Enthusiasmus das rechte Wort für die arme, bis ans Letzte bedrohte und heillose Welt zu sprechen.»

136