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LuW35-Pieper- Schriftwort als Quelle und Norm (Unity of Faith response)
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Lehre und Wehre.

Jahrgang 35. September und October 1889. No. 9. u. 10.

Das Schriftwort als Quelle und Norm aller christlichen Lehren, festgehalten gegen die Kritik Herrn P. Lieberknechts und die Grundsätze der modernen Theologie.

Die Verhandlungen der letzten Synodalconferenz über die Einigkeit im Glauben haben in den von Herrn P. [A.] Lieberknecht herausgegebenen „Zeugnissen aus der ev.-lutherischen Kirche" eine eingehendere Besprechung gefunden.

Zunächst müssen wir bemerken, daß der Bericht über die Verhandlungen nicht bloß das Referat des Unterzeichneten enthält, wie der Herr Rezensent anzunehmen scheint, sondern auch die Ausführungen der anwesenden Delegaten. Wir erinnern dies nicht deshalb, als wollten wir nicht Alles und Jedes, was in dem gedruckten Bericht vorliegt, vertreten, sondern um falsche Vorstellungen über die Form unserer Verhandlungen abzuwehren. Die Lehrverhandlungen wurden in der Weise geführt, daß zunächst zwar der Referent die einzelnen Teile der von ihm gestellten Thesen erläuterte, dann aber die anwesenden Delegaten die Verhandlungen weiterführten. Und der Bericht umfaßt beides, nicht nur die Ausführungen des Referenten, sondern auch die der Delegaten. Doch dies nur beiläufig.

Was nun den Inhalt des Berichts anlangt, so spricht der Rezensent mit „vielen Stücken" desselben seine Übereinstimmung aus. Aber er macht auch mehrere Stücke namhaft, denen er die Zustimmung versagen zu müssen glaubt. Hierüber möchten wir mit Herrn P. Lieberknecht uns des Weiteren aussprechen. Und zwar aus einem doppelten Grunde. Einmal, weil Herr P. Lieberknecht zu den in unserer Zeit so seltenen Theologen gehört, welche eine Einigkeit in der Lehre anstreben; sodann, weil der Punkt, welcher von ihm hauptsächlich beanstandet wird, von weittragender prinzipieller Bedeutung ist. Es handelt sich um nichts Geringeres als das Erkenntnis-prinzip der christlichen Theologie. Es kommt der Punkt in Frage, an welchem sich einst die Wege Luthers von denen Zwingli's und aller Schwärmer


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schieden und — setzen wir sofort hinzu — an welchem sich die Wege der heutigen treulutherischen Kirche von denen der modernen Theologie scheiden.

Der ersten im Bericht vorgelegten Thesis, welche die Einigkeit im Glauben als die Übereinstimmung in allen Artikeln der in der heiligen Schrift geoffenbarten christlichen Lehre definiert, will Herr P. Lieberknecht die Zustimmung nicht versagen. Er äußert aber seinen Dissensus bei der zweiten Thesis, in welcher die Möglichkeit der so definierten Glaubenseinigkeit damit begründet wird, daß alle Artikel der christlichen Lehre in der heiligen Schrift klar geoffenbart sind. Und zwar erhebt sich Herrn P. Lieberknechts Widerspruch sonderlich da, wo es im Bericht heißt: „Wir brauchen in allen Lehren nur nachzusagen, was Gottes Wort uns so deutlich vorsagt.” Es soll daher auch nicht richtig sein, wenn weiter unten gesagt ist: „Alle Ungewißheit und alles Abirren in Sachen der christlichen Lehre kommt nur daher, daß man das klare Wort Gottes beiseite liegen läßt und, was Gottes Wort sagt, nicht nachsagen will.” Daß man nur nachsagen solle, was Gottes Wort vorsagt, kommt Lieberknecht sehr sonderbar vor. Er nennt es nicht nur eine leichte und wenig werthe Kunst, sondern er kann cs auch nicht unterlassen, darüber ein wenig der Ironie die Zügel schießen zu lassen.

Wie ist das Nachsagen der in Gottes Wort geoffenbarten Lehre gemeint? Herr P. Lieberknecht kann uns nicht die Torheit beimessen, als wollten wir lediglich in Worten der Schrift von geistlichen Dingen geredet wissen. Wollte er dies thun, so geschähe es im Widerspruch mit unseren eigenen im Bericht ausführlich wiedergegebenen Erklärungen. Wir reden von einem bloßen Nachsagen dessen, was in Gottes Wort geoffenbart ist, in dem Sinne, daß kein Prediger oder Lehrer bei Vorlegung der christlichen Lehren aus seinem Eigenen etwas dazu zu thun, sondern lediglich das im klaren Wort Geoffenbarte vorzulegen habe; mir reden so sonderlich auch, im Gegensatz zu der modernen Theorie und Praxis, daß man die einzelnen Artikel der christlichen Lehre nicht aus den die Lehre offenbarenden klaren Worten der Schrift entnehmen, sondern aus gewissen allgemeinen christlichen Principien auf dem Wege der Construction erst finden müsse. Wir erlauben uns, die einschlägigen Ausführungen aus dem Bericht hierherzusetzen. Im Bericht steht zu lesen: „Wenn es sich um Übereinstimmung in dunkeln Menschenmeinungen oder in schwer zu erfassenden philosophischen Problemen handelte, da wäre eine Einigung unmöglich. Aber es handelt sich hier um Übereinstimmung in den Artikeln der in der heiligen Schrift von Gott selbst geoffenbarten Lehre. Und wie ist nun diese Lehre offenbart? Nicht dunkel und unverständlich. Es bedarf keiner großen menschlichen Künste, die geoffenbarte Wahrheit zu erkennen. Hier ist nur nötig der einfältige Glaube an Gottes Wort. Wer dem Wort der Schrift glaubt, hat die Wahrheit. Es steht nicht so, daß in Gottes Wort nur dunkle Andeutungen, nur Ansätze zu den Glaubenswahrheiten


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sich fänden, und daß die Menschen mit ihrer Klugheit und Kunst die eigentlichen Glaubenslehren selbst konstruieren müßten. Es steht nicht so, daß Gott der HErr in seiner Offenbarung nur A sagt und der Klugheit der Menschen überlassen hätte, B und C zu sagen und also das Alphabet der christlichen Lehre selbst zu finden. Nein, alle Artikel der christlichen Lehre liegen in der Schrift in klaren Worten geoffenbart vor. Gott hat in der heiligen Schrift das ganze Abece der christlichen Lehre vorgesagt. Es bedarf nur der Hinnahme des Geoffenbarten, des Nachsagens dessen, das vorgesagt ist, des einfältigen Glaubens. . . . Man beschuldigt uns auch wohl der Hinneigung zur papistischen Unfehlbarkeitslehre, wenn mir behaupten, daß wir in allen Artikeln der christlichen Lehre die Wahrheit haben und somit in völliger Einigkeit des Glaubens stehen. Aber diesem Vorwurf kann nur große Unwissenheit oder Bosheit zu Grunde liegen. Der Papst behauptet, er für seine Person sei unfehlbar ohne, neben, ja, wider Gottes Wort. Wir gestehen zu, daß mir persönlich irren können, ja, daß mir, wenn es auf uns ankommt, in geistlichen Dingen nur irren können. Aber in der Lehre irren wir nicht, sondern sind mir unfehlbar, insofern und weil wir auf Gottes Wort stehen, wie eö lautet. Wir reden, wie Gottes Wort redet. Wir brauchen in allen Lehren nur nachzusagen, was Gottes Wort uns so deutlich vorsagt; das ist unsere ganze Kunst. Die lutherische Kirche behauptet nur deshalb, im Besitz der gewissen ganzen Wahrheit zu sein, weil sie das gewisse ganze Wort Gottes annimmt, wie es lautet.

„Die Wahrheit, daß uns ja noch das sündliche Fleisch anhängt, bildet keine Instanz. Trotzdem daß wir noch Sünder sind, ist doch unsere Lehre recht und göttliche Wahrheit. Unser Lehren besteht eben darin, daß wir nachsagen, was Gott uns vorsagt. Das in der Schrift Geoffenbarte geht nicht in der Weise durch uns hindurch, daß wir aus unserem Eigenen etwas Hinzutun müßten, so daß das von uns Gelehrte nun etwa halb göttlich und halb menschlich, halb wahr und halb falsch märe, sondern die Prediger sind, wenn es durch Gottes Gnade recht bei ihnen steht, nur der Mund Gottes. Sie legen nicht ihre eigenen Gedanken, sondern die in der Schrift klar geoffenbarten Gedanken Gottes vor. Ein Prediger soll sagen können: ,Was ich euch gesagt habe, das ist göttliche Wahrheit.' Luther erinnert, daß wer nicht so sprechen könne, das Predigen nur anstehen lassen solle. Wir dürfen daher Fehlbarkeit im Leben und Fehlbarkeit in der Lehre nicht verwechseln. Aus der ersteren folgt nicht die letztere, weil die Lehre infolge der Deutlichkeit der heiligen Schrift aus unserer Hand genommen ist. Alle Ungewißheit und alles Abirren in Sachen der christlichen Lehre kommt nur daher, daß man das klare Wort Gottes beiseite liegen läßt und, was das Wort Gottes sagt, nicht nachsagen will. Man folgt den Traditionen der Kirche oder der menschlichen Vernunft oder feiner vorgefaßten Meinung und läßt sich dadurch von der göttlichen Offenbarung der Schrift abwenden.


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Es ist ein großer Selbstbetrug, wenn man sagt: ,Aus der Schrift kann man doch nicht sicher alle Artikel der christlichen Lehre entnehmen.’ Es liegt nicht an Gottes Wort, sondern daran, das; man sich mehrt gegen Gottes Wort. Die Irrlehrer wollen nicht einfach glauben, was Gottes Wort sagt. Aus ihrem Unglauben dem Worte Gottes gegenüber kommt ihr Irrtum und ihre Ungewißheit. Ihre Stellung ist gekennzeichnet durch das Wort: ,Die Botschaft hör' ich wohl; allein mir fehlt der Glaube.'

„Gottes Wort ist so beschaffen, daß man aus demselben die rechte Lehre nicht bloß entnehmen kann, sondern entnehmen muß, wenn man beim Worte bleibt. Will jemand irren, so muß er erst den klaren Wortlaut der Schrift hinter sich werfen und den Sinn mit menschlichen Glossen sich verdecken." So weit der Bericht. Wir meinen, daß hier in These und Antithese klar vorliege, wie das „Nachsagen" der in der Schrift geoffenbarten Lehre gemeint sei. Herr P. Lieberknecht hätte daher auch nicht den Vorwurf erheben sollen: „Prof. Pieper verwechselt die nachsagenden Pastoren mit denen, welchen das Wort eingegeben morden ist, wenn er sagt: ,Die Prediger sind, wenn es recht bei ihnen steht, nur der Mund Gottes.'". Der Vorwurf hätte um so mehr unterbleiben sollen, als Herr P. Lieberknecht selber gesteht: „Wohl muß das Wort des HErrn, daß wer die Apostel höre, ihn höre, auch auf das apostolische Wort im Munde aller Prediger angewandt werden." Denn gerade in dieser bestimmten Beziehung, insofern nämlich das inspirierte Wort der Apostel „im Munde aller Prediger" ist und sein soll, sagten mir, daß es sich bei allem Lehren in der christlichen Kirche nur um ein Nachsagen der in der heiligen Schrift geoffenbarten Wahrheit handele. So tritt auch Herr P. Lieberknecht mit sich selber in Widerspruch, wenn er sagt, daß der Prediger nur bei Verlesung des Bibeltextes das Wort Gottes nachsage. Der Prediger thut dies bei der ganzen Predigt, wenn sein Predigen rechter Art ist, wenn er nämlich von Gottes Wort nichts abtut und auch nichts aus seinem Eigenen zu demselben hinzu thut, wenn er der apostolischen Ermahnung nachkommt: „So Jemand redet, daß er es rede als Gottes Wort" (xx xxx xxxxx xx xxxxx xxxx). Gerade auch durch dieses Wort der Schrift, welches nicht bloß vom Lehren der inspirierten Apostel, sondern von allem Lehren in der Kirche auf Grund der Offenbarung handelt, wird unsere Redeweise vom Nachsagen des Wortes Gottes als eine biblische erwiesen. Auch kirchlich ist sie. So schreibt z. B. Luther in Bezug auf die Lehre vom Abendmahl und das Entnehmen dieser Lehre aus der Schrift: „Wir werden gewißlich fehlen, wo wir nicht einfaltiglich ihm (Gott) nachsprechen, wie er uns fürspricht, gleichwie ein jung Kind seinem Vater den Glauben oder VaterUnser nachspricht. Denn hie gilt's im Finstern und blinzling gehen, und schlecht am Wort hangen und folgen. Weil denn hie stehen Gottes Worte ,Das ist mein Leib' dürre und helle, gemeine gewisse Worte, die nie kein Tropus gewesen sind, weder in der Schrift noch einiger Sprache, muß man


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dieselbigen mit dem Glauben fassen, und die Vernunft so blenden und gefangen geben, und also, nicht wie die spitze Sophistria, sondern wie Gott uns fürspricht, nachsprechen und dran halten.” So ist es nur ein „Nachsagen" der Worte der Einsetzung, wenn Luther im kleinen Katechismus auf die Frage: „Was ist das Sacrament des Altars?” antwortet: „Es ist der wahre Leib und Blut unsers HErrn JEsu Christi unter dem Brod und Wein, uns Christen zu essen und zu trinken von Christo selbst eingesetzt."

Was will denn Herr P. Lieberknecht eigentlich? Was ist sein Gegensatz? Wiewohl er Neigung zeigt, den Ausdruck „Nachsagen” unter Nichtachtung des Zusammenhangs zu mißbrauchen, so kommt doch sein sachlicher Gegensatz ziemlich klar zum Ausdruck. Er stößt sich an dem Nachsagen des Wortes Gottes, weil nach seiner Meinung nicht das Wort der Schrift, sondern das „innere Verständnis” und die „Erfahrung" die Sache zum Austrag bringe. Er meint: „Bei dem besten Willen, immer nur das Wort nachzusagen, werden doch die Einen richtige Gedanken, die Anderen unrichtige Gedanken oder teils richtige, teils unrichtige Gedanken und die Einen tiefere, die Andern oberflächlichere Gedanken vorbringen. Ebenso wird es auch bei der Anwendung des Textes gehen. Es kommt eben auf ein richtiges Verständnis der Lehren an, und diesem Verständnis liegt wieder ein neuer gewisser Geist, den der Heilige Geist schaffen muß, zu Grunde. Auch wird sich's zeigen, ob man im Glaubensleben erfahrener oder unerfahrener ist.” Deshalb, — weil es nämlich auf das innere Verständnis ankomme —, soll es eine „gewagte Sache” sein, wenn im Bericht behauptet ist, daß man in der Lehre nicht irren könne, wenn man auf Gottes Wort stehe, wie es laute. Herr P. Lieberknecht bringt also das äußere Wort Gottes und das innere Verständnis desselben in Gegensatz zu einander. Nicht das äußere Wort soll's thun, sondern das innere Verständnis, der Geist. Daß dies seine Ansicht sei, erhellt auch aus den von ihm angeführten Beispielen. Er meint, die Missourier und ihre Gegner sagten in der Lehre von der Gnadenwahl wohl dieselben Sprüche der Schrift nach, ohne in der Lehre übereinzustimmen. Auch Zwingli habe beim Colloquium zu Marburg dieselben Worte (der Schrift) wie Luther gesprochen. So könne es denn unmöglich recht sein, daß alle Ungewißheit und alles Abirren in Sachen der christlichen Lehre nur daher komme, daß man das klare Wort Gottes bei Seite liegen lasse, und was Gottes Wort sagt, nicht nachsagen wolle. Herrn Lieberknechts Ausführung über diesen Punkt gipfelt schließlich in der modernen Theorie von der allmählichen Entstehung der Glaubensartikel. Nicht durch die klare Schrift, sondern durch die geistliche Erfahrung der Kirche im Laufe der Zeiten soll man der Glaubensartikel recht gewiß werden. Herrn P. Lieberknechts Ansicht ist diese: Augustinus hat über mehr

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1) Bekenntnis vom Abendmahl Christi.  1528. E. A. 30, 293.


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Glaubensartikel Gewißheit gehabt als Athanasius, und Luther wiederum über mehr als Beide. Vielleicht sendet Gott der Kirche noch einmal einen Zeugen wie Luther, der uns zu unerschütterlicher Gewißheit über noch mehr Lehren verhilft; vielleicht — aber auch nicht. Darum muß man — trotz der klaren Schrift — ein Gebiet der Ungewißheit in der Lehre anerkennen, wie z. B. in der Lehre von der Kirche. Beim besten Willen können wir die Ausführungen Herrn P. Lieberknechts nicht anders verstehen. So schreibt er nämlich: „Zur Zeit des Athanasius konnten sie (die Menschen) vorerst nur Athanasianer sein. Nachher wurden sie Augustiner, und Luther selbst märe nicht ein Lutheraner geworden, wenn er nicht zuvor ein Augustiner gewesen wäre und an Augustinus gelernt hätte. Nun wissen wir nicht, ob nicht Gott vor dem jüngsten Tage noch einen Zeugen wie Luther senden wird, der einen Artikel des Wortes Gottes uns so aufschließe, daß wir darüber unerschütterlich gewiß werden, wie über die Artikel, die uns der Heilige Geist bisher so völlig aufgeschlossen hat. Die Artikel von der Heilsordnung sind uns ja aufgeschlossen. Wie steht es aber mit dem Artikel von der Kirche? Wäre der uns ganz klar, dann märe die rechte Kirche heute in einer anderen Verfassung.”

So Herr P. Lieberknecht. Was er über prophetische Stellen der heiligen Schrift sagt, deren Erfüllung noch in der Zukunft liegt, so gehört das zunächst nicht hierher.

Wir müssen vor allen Dingen Herrn P. Lieberknechts Ansicht vom Verhältnis des äußeren Wortes zu dem inner« Verständnis des Worts zurückweisen. Daß ein rechtes inneres, geistliches Verständnis des Wortes da sein müsse, ist außer Frage und auch in dem Bericht ausdrücklich gesagt, wenn es S. 16 heißt, daß die Artikel der christlichen Lehre nicht etwa nur mit historischem Glauben zu erfassen seien, sondern mit lebendigem Glauben geglaubt werden müssen. Ebenfalls außer Frage ist, was Herr P. Lieberknecht betont, daß uns fehlbaren Menschen das rechte Verständnis von Gott kommen müsse. Aber äußeres Wort und inneres, von Gott gewirktes Verständnis sind nicht zwei von einander irgendwie unabhängige Größen. Das innere Verständnis ist das verstandene äußere Wort. Das äußere Wort ist und bleibt doch immer das Objekt des inneren Erkennens. Oder noch anders ausgedrückt: Mit dem inneren Verständnis und der geistlichen Erfahrung sagen wir nur das äußere Wort Gottes nach. Mit innerem Verständnis von Gottes Wort reden heißt die Gedanken aussprechen, welche im äußeren Wort ausgedrückt vorliegen. Bringen wir mehr und anderes vor, als in den Worten der Schrift ausgesprochen vorliegt, so ist insofern.weder ein inneres noch auch ein äußeres Verständnis, sondern lediglich ein Mißverständnis des Wortes Gottes vorhanden und nicht wird Gottes Wort nachgesagt, sondern die eigenen Gedanken werden vorgebracht. Und die letzteren geben sich vor dem klaren Wort auch sofort als solche zu erkennen. Es kommt allerdings vor, daß zwei Parteien auf


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ein und dasselbe Wort für ihre einander widersprechenden Lehren sich berufen, aber nicht beide sagen dann wirklich nach, was Gottes Wort ihnen vorsagt, sondern nur die Partei thut dies, welche die Worte der Schrift auch wirklich stehen und gelten läßt. Jede Lehre des christlichen Glaubens ist in der Schrift mit klaren unmißverständlichen Worten offenbart und jede Irrlehre gibt sich daher als Abweichung von den Worten der Schrift zu erkennen. Nicht steht es so, daß sich rechte Lehrer und Irrlehrer gleicherweise auf die Worte der Schrift berufen können, sondern so steht es, daß die Irrlehrer durch die Worte der Schrift widerlegt werden. Daß die Irrlehrer sich ebenso wie die rechten Lehrer mit den Worten der Schrift decken können, ist die papistische und schwärmerische Ansicht von der Schrift. Papisten vergleichen die Schrift mit einer wächsernen Nase, die man nach jeder Richtung drehen, oder wie mit einer Scheide, in welche man jedes Schwert stecken könne. Schwärmer, wie Weigel, haben gesagt: „Die Schrift ist eine Beidefuest, man kann sie zu beiden Seiten brauchen; es sei einer so unrecht, als er wolle, dennoch kann er die Schrift führen gegen seinen Widerpart." Lutheraner dagegen bekennen von Gottes Wort, wie es in der Schrift aufgezeichnet vorliegt:

Dein Wort steht wie ein' Mauer fest,

Welch’s sich niemand verkehren läßt,

Er sei so klug er wolle.

Das bestätigt sich auch bei einem Blick auf die von Herrn P. Lieberknecht angeführten Beispiele. Es nimmt uns höchlich wunder, wie Herr P. Lieberknecht schreiben kann: „Zwingli sprach auf dem Colloquium zu Marburg dieselben Worte wie Luther, aber Luther antwortete ihm: ,Ihr habt einen andern Geist, als wir.'" Was Luther Zwingli und allen Schwärmern immer wieder vorhalten mußte, ist dies, daß sie nicht bei den Worten der Schrift blieben, sondern sich einen andern Text machten. Und wenn Luther von Zwingli und dessen Parteigenossen sagt: „Ihr habt einen andern Geist, als wir", so wollte Luther damit nicht sagen: es kommt nicht auf die Worte der Schrift an, sondern machte er seinen Gegnern damit gerade den Vorwurf, daß dieselben sich nicht einfältig den Worten der Schrift unterwarfen, nicht bei den Worten der Schrift blieben, nicht die Worte der Schrift in einfältigem Glauben nachsagen wollten (gerade auch diesen letzteren Ausdruck braucht Luther, wie wir oben gesehen haben). Weil Luther feine Lehre in den Worten der Schrift ausgesprochen und die Lehre der Schwärmer durch dieselben Worte der Schrift widerlegt wußte, schrieb er bei jenem denkwürdigen Colloquium die Worte der Schrift hoc est corpus meum mit Kreide vor sich auf den Tisch. Luther führt in seinen gewaltigen Streitschriften wider die Schwärmer immer wieder aus, daß sie (die Schwärmer) keinen „Text" der Schrift für ihre Lehre hätten. Er sagt z. B.: „Sie (die Schwärmer) irren allesammt und keiner unter ihnen hat bis auf diesen Tag den Text an diesem Ort, und


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müssen allesammt das Abendmahl halten ohne Text." 1) Nach Luther richteten die Schwärmer dadurch alles Unglück in der Kirche an, daß sie mehr und anders redeten als Gottes Wort. Er schreibt: „Wenn sie aber sich be» dächten zuvor und sähen zu, wie sie nichts reden wollten, denn Gottes Wort, wie St. Petrus lehret, und liehen ihr eigen Sagen und Setzen daheim; so richteten sie nicht so viel Unglücks an." 2) Luther sagt: Wenn die Schwärmer sich noch mit den Worten der Schrift abgeben, thun sie es so, daß sie „mit den heiligen Worten Christi Würfel spielen". 3) Luther zeigt, daß die Schwärmer nicht durch die Schrift, sondern nur durch ihre eigene Vernunft und Klugheit zu ihrer Lehre sich haben bewegen lassen; die Schrift habe nicht das Geringste mit der Lehre der Schwärmer zu thun. Er schreibt insonderheit wider Oecolampad: „Ist nun das nicht ein zarter, feiner Grund des Glaubens, wenn ein Mensch also spricht: Wiewohl Gottes Wort da stehet und sagt: ,Das ist mein Leib', doch, weil ich's nicht begreifen noch gläuben kann, und mich wider die Schrift sein dünkt, so ist's nicht wahr, und muh eine andere Deutung haben, unangesehen, wie helle Gottes Wort da stehet? Das ist Oecolampads ,Geist' und hochberühmte Wahrheit, daß Menschendünkel und Unglaube solle über Gottes Wort gelten und unfern Glauben gründen. Wer könnte desgleichen nicht auch thun in allen andern Artikeln? So tief soll der Satan solche Leute verführen... Das hat den guten Mann Oecolampad betrogen, daß Schrift, so wider einander sind, freilich müssen vertragen werden, und ein Teil ein Verstand nehmen, der sich mit dem andern leidet; weil das gewiß ist, daß die Schrift nicht mag mit ihr selbst uneins sein. . . . Aber ich will ihren rechten Grund, der sie zu solchem Irrtum bewegt, Keffer rühren und melden, und will drauf wetten um mein Leib und Seele (die ich auch nicht gerne verlöre), daß ich nicht fehlen will; denn ich armer Sünder kenne auch ein wenig vom Geist und ein groß Stück vom alten Schalk, der in uns tobet, ich meine das Fleisch. Das einige Stück bewegt sie am allerhöhesten, daß es für die Vernunft aus der Maßen närrisch ist, zu gläuben, daß wir Christus Leib und Blut sollen im Abendmahl leiblich esse» und trinken... Es ist aber schändlich, daß nicht so viel Redlichkeit und Ehrbarkeit in ihnen ist, solches frei heraus zu bekennen, das sie doch wünschen im Herzen, gern haben, sehen und hören, sondern wenden für, die Schrift zwinge sie, welchs sie wissen, daß nicht wahr sei, sondern greifen die Schrift mit List und Frevel an, sich damit zu schmücken für den Leuten, und unter der Schrift Namen ihre Gift unter die Leute bringen. Doch wiewohl sie solches bergen mit hohem Fleiß, noch kiekt der Schalk hervor und läßt sich weidlich merken. Der Zwingel bekennt so viel, daß er's sein Lebenlang nie geglaubt habe... Nun, aus solcher Bekenntnis ist gut zu merken, daß er solchen Dünkel nicht

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1) Bekenntnis vom Abendmahl Christi. 1528. E.A. 30, 154

2) E. A. 30, 52.          3) E.A. 30, 47


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aus der Schrift habe, welche er längest hernach hat funden, wie sein Buch Subsidium sonderlich und andere mehr beweisen; sondern lange zuvor, ehe er denn solche Schrift fand, hat er so geglaubt, und läuft nun allererst, sucht Schrift und zwinget sie auf solchen Dünkel. Dr. Carlstadt auch, ehe denn er schrieb, lange zuvor, sagt er zu einem: Lieber, du wirst mich nicht bereden, daß Gott im Brod und Wein sei. So fahren sie heraus unversehens, durch Gottes Gewalt. Desselbigengleichen Oecolampad, wenn er über die Schrift gehüpft hat, die ihnen fürgelegt wird: hilf Gott, wie leckt er, wie geil ist er, wie tanzt er in seinem Dünkel und fragt: Wozu es nütze sei? Warum die Jünger das Brod nicht haben angebetet? Warum die Schrift solches für kein Wunder anzeiget? Was es helfe, daß Christus unsichtbar da sei? Warum die Christen solch schwer Ding sollen glauben? Wie sich's reime, daß der König der Ehren so böse Buben so lasse mit sich spielen? Sonderlich aber die Lästerwort malen sein Herz wohl, da er unfern Gott heißt den gebacken Gott, den brödern Gott, den fleischern Gott, und deß über die Maßen viel. Wer sollt doch hie nicht greifen, was sie im Herzen denken? Wenn sie die Schrift bewegte, würden sie wohl solche Zoten lassen und mit Schriften umgehen. Es ist der Groll und Ekel natürlicher Vernunft, der will und mag dieses Artikels nicht; drum speiet er und köcket also dawider, und will darnach sich in die Schrift hüllen, daß man ihn nicht kennen solle." 1) So weit Luther. Alle Bemühungen der Schwärmer, sich mit den Worten der Schrift zu decken, erweisen sich Luther als so nichtig und kläglich, daher in das Dankgebet ausbricht: „Ich danke dir, JEsu Christe, mein HErr, daß du deine Feinde in ihren eigenen Worten also meisterlich sahen und zu Schanden machen kannst, zu stärken unfern Glauben in deinen einfältigen Worten." 2)

Es ist also nicht an dem, daß Zwingli ebensowohl als Luther in der Lehre vom Abendmahl den Text des Wortes Gottes nachsagte. So steht es auch, um auf das andere Beispiel zu kommen, zwischen den Misfouricrn und ihren Gegnern in Bezug auf die Lehre von der Gnadenwahl. Die Missourier und ihre Gegner führen allerdings entgegengesetzte Lehren von der Gnadenwahl. Die Gegner, zu denen sich auch Herr P. Lieberknecht zählt, lehren, „daß wir in Hinsicht auf den in uns von Gott vorausgesehenen Glauben erwählt sind", oder daß der Glaube der Christen, und zwar der bis an's Ende festgehaltene Glaube, der ewigen Erwählung derselben begrifflich vorhergehe. Das verwerfen die Missourier und lehren, daß der Glaube, wie überhaupt der ganze Gnadenstand, in welchem die Christen in der Zeit stehen und beharren, ihrer ewigen Erwählung als eine Frucht und Wirkung folge, oder, noch anders ausgedrückt: wir glauben, daß die ewige Wahl Gottes aus gnädigem Willen und Wohlgefallen Gottes in Christo JEsu sei „eine Ursach, so da unsere Seligkeit und was zu der

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1) E.A. 30, 51-54.            2) A.a.O. S. 170


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selben gehöret, schafft, wirkt, hilft und befördert", „daß Gott” (in seiner gnädigen Ermählung in Christo) „eines jeden Christen Bekehrung, Gerechtigkeit und Seligkeit so hoch.ihm angelegen sein lassen und es so treulich damit gemeinet, daß er, ehe der Welt Grund geleget, darüber Rath gehalten und in seinem Fürsatz verordnet hat, wie er mich dazu bringen und darinnen erhalten wolle". Das sind die zwei einander entgegengesetzten Lehren von der Gnadenwahl. Nun steht es aber nicht so, wie Herr Lieberknecht meint, daß wir dabei beiderseits „etwa ein und denselben Spruch der Bibel nachsagen". Alle Sprüche der Schrift, welche vom Verhältnis des Glaubens, den die Christen in der Zeit haben, zu deren ewiger Erwählung handeln, stellen die ewige Erwählung als eine Ursache des Glaubens dar, oder die Christen werden an allen bezüglichen Stellen angeleitet, ihren Glauben, wie ihren ganzen Gnadenstand, auf ihre ewige Erwählung als eine Ursache ihres Glaubens und Gnadenstandes zurückzuführen. Apost. 13, 48.: „Und wurden gläubig (von den Pauli Predigt hörenden Heiden), wieviel ihrer zum ewigen Leben verordnet waren." Eph. 1,3. ff.: „Gelobet sei Gott und der Vater unsers HErrn JEsu Christi, der uns gesegnet hat mit allerlei geistlichem Segen in himmlischen Gütern durch Christum. Wie er uns denn erwählet hat durch denselbigen, ehe der Welt Grund geleget war, daß wir sollten sein heilig und unsträflich vor ihm in der Liebe. Und hat uns zuvorverordnet zur Kindschaft gegen ihn selbst durch JEsum Christ." 2 Tim. 1, 9.: „(Gott) hat uns selig gemacht und berufen mit einem heiligen Ruf, nicht nach unseren Werken, sondern nach seinem Vorsatz und Gnade, die uns gegeben ist in Christo JEsu vor der Zeit der Welt." Röm. 8, 28. ff.: „Welche er zuvor versehen hat, die hat er auch verordnet, daß sie gleich sein sollten dem Ebenbilde seines Sohnes. ... Welche er aber verordnet hat, die hat er auch berufen, welche er aber berufen hat, die hat er auch gerecht gemacht, welche er aber hat gerecht gemacht, die hat er auch herrlich gemacht." Herr P. Lieberknecht mache die Probe. Er nehme einmal einen Christen her, der nichts von dem Streit zwischen Missouri und seinen Gegnern gehört hat, lese ihm diese einzelnen Schriftstellen vor und frage ihn bei jeder derselben, ob die Schrift die Christen hier lehre, den ganzen geistlichen Segen, welcher ihnen in der Zeit zu Teil wird, Berufung, Glaube, Rechtfertigung, Heiligung, Beharrung im Glauben, auf ihre ewige Erwählung als eine Ursache deß Alles zurückzuführen, oder ob im Gegenteil die Christen glauben sollen, daß ihre ewige Erwählung aus ihrem Glauben und ihrer Beharrung im Glauben fliehe. Der Christ wird Herrn P. Lieberknecht bald sagen, daß die Schrift ohne Zweifel das Erstere lehre und nichts von dem Letzteren sage. Ja, die Gegner Missouri's haben für ihre Lehre keinen „Text". Nicht die Schrift bewegt sie zu ihrer Lehre, sondern ganz andere Dinge. Wie den guten Mann Oecolampad das betrogen hat, „daß Schrift, so wider


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einander sind, freilich müssen vertragen werden und ein Teil einen Verstand annehmen, der sich mit dem andern leidet", so auch unsere Gegner. Oecolampad meinte, Christus zur Rechten Gottes und Christus im Abendmahl sei ein Widerspruch, der so zu lösen sei, daß Christus im Abendmahl geleugnet werde. So meinen auch die Gegner Missouri's, Bekehrung, Glaube, Seligkeit der Seligwerdenden eine Folge und Wirkung ihrer gnädigen Erwählung einerseits und Verwerfung der Verlorengehenden allein aus deren Schuld andererseits sei ebenfalls ein Widerspruch. So leugnen sie das Erster«, trotzdem alle einschlägigen Stellen der Schrift es lehren. „Wie reimt sich's, daß Gott bei der Erwählung nicht den Glauben angesehen haben sollte, während er doch bei der Verwerfung der Verlorengehenden auf den Unglauben geschaut hat? Wie reimt sich's, daß Gott bei der Erwählung nicht das gute Verhalten angesehen haben sollte, während er doch bei der Verwerfung das böse Verhalten ansieht? Da wäre Gott ja parteiisch. Da könnte man nicht mehr glauben, daß die Gnade Gottes in Christo allgemein sei": das sind die Gedanken, welche die Gegner Missouri's bewegen. Deshalb leugnen sie, daß die ewige Wahl Gottes in Christo JEsu sei eine Ursache der Seligkeit und alles, was dazu gehört, trotzdem alle einschlägigen Stellen der Schrift dies bezeugen. Nachdem sie sich ohne Schrift einen „Dünkel" geschöpft haben, so gehen sie nun nachher in die Schrift, um dieselbe auf den außer der Schrift geschöpften Dünkel zu drehen.

Was in unserer Zeit mitten in der evangelischen Christenheit fehlt, das ist Zutrauen zu der klaren Schrift. Wenn man auch noch mit dem Munde bekennt, daß die Schrift klar sei, praktisch behandelt man die Schrift als dunkel. Man glaubt nicht, daß alle Artikel der christlichen Lehre in den klaren Worten der Schrift geoffenbart und alle dagegen geltend gemachten Irrtümer durch die Worte der Schrift widerlegt seien. Herr P. Lieberknecht meint: „Wir sagen da etwa ein und denselben Spruch der Bibel Aach, und jeder von uns versteht ihn anders. Predigt ihn ein Pastor der Missourisynode, so legt er den nach seiner Überzeugung richtigen, nach der unsrigen aber falschen Sinn hinein und jede Gemeinde versteht dann den gehörten Spruch, wie ihre Kirche ihn auffaßt. So ist denn dies keine wahre Übereinstimmung, wenn es nur auf das Nachsagen ankommt." Es märe zum Verzweifeln, wenn im Vorstehenden die Sachlage richtig gezeichnet wäre! Da sollen zwei dieselben Worte der Schrift für sich anführen können und doch noch nicht in der Lehre übereinstimmen. Das wäre nur dann möglich, wenn ein und dieselben Worte in ein und demselben Zusammenhange mehr als einen Sinn hätten. So gewiß dies nicht der Fall ist, so gewiß wird jede Auslegung, die nicht wirklich eine Auslegung ist, das heißt, die nicht den einen, einzig möglichen Sinn wiedergibt, durch die Worte der Schrift als Irrtum gekennzeichnet. Es kommt ja leider vielfach vor, daß ein Prediger seinen falschen Sinn in ein Schriftwort hineinlegt, aber


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das Schriftwort protestiert dagegen. Auch das kommt leider vielfach vor, daß Gemeinden und Teile von Gemeinden sich den vom Prediger in ein Schriftwort hineingelegten falschen Sinn aneignen. Aber das kommt dann daher, daß diese sich das Schriftwort aus den Augen rücken lassen. Die Christen, welche auf die Worte der Schrift ihr Auge unverrücklich gerichtet halten, erkennen jede falsche Auslegung als Schriftverdrehung und lassen sie nicht als ein „Nachsagen" der Schrift gelten.

Herr P. Lieberknecht stellt die Klarheit der Schrift weiterhin da in Frage, wo er sagt, daß gewisse Artikel der christlichen Lehre, z. B. die Lehre von der Kirche, erst im Laufe der Zeit durch die Erfahrung von den Christen sicher erkannt werden können. Zwar will er die Klarheit der Schrift auch in Bezug auf diese Lehren festhalten: die Schrift sei auch hier klar, es fehle nur an dem rechten Ausleger. Aber was ist das anders, als ein Spiel mit Worten? Herr P. Lieberknecht hat einen ganz andern Begriff von der Klarheit der Schrift als den in der lutherischen Kirche geltenden. Die alten Theologen nannten die Schrift klar in dem Sinne, daß sie keines Lichtes von Außen bedürfe, sondern in ihrem eigenen Lichte leuchte oder, was dasselbe ist, daß die Worte der Schrift ihr Verständnis mit sich bringen, beziehungsweise sich gegenseitig beleuchten. Was Herr P. Lieberknecht Klarheit nennt, nämlich, daß zwar die Worte der Schrift klar seien, aber von den Christen nicht eher verstanden werden könnten, bis Gott zu seiner Zeit den rechten Ausleger sende — diese „Klarheit" würden die alten Lehrer Dunkelheit nennen. Herr P. Lieberknecht könnte seine Meinung auch so ausdrücken: Die Schrift ist dunkel und bleibt dunkel, bis sie von dem von Gott gesandten Manne ausgelegt wird. Auch die Papisten, die für gewöhnlich die Schrift dunkel nennen, wollen die Schrift als klar bezeichnen wegen des Auslegers, den sie in der Kirche, resp. im Papst finde.

Was bewegt denn Hrn. P. Lieberknecht, daß er den Worten der Schrift so wenig zutraut? Was bringt ihn zu der Behauptung: „So kann es denn nicht recht sein, was Prof. P. schreibt: ,Alle Ungewißheit und alles Abirren in Sachen der christlichen Lehre kommt nur daher, daß man das klare Wort Gottes bei Seite liegen läßt und, was das Wort Gottes sagt, nicht nachsagen will'"? Er schließt so: Weil viele gute Leute, so viele Christen, ja, so viele, die sich Lutheraner nennen, in gewissen Lehren uneins sind, so müssen nicht die Worte der Schrift über diese Lehren den genügenden Aufschluß geben, so müssen die Worte noch dunkel sein, weil es noch an dem rechten Ausleger derselben fehlt. Er schreibt: „Wie steht es aber mit dem Artikel von der Kirche? Wäre der uns ganz klar, dann wäre die rechte Kirche heute in einer andern Verfassung." Also der Umstand, daß Streit über gewisse Lehren ist und einander entgegenstehende Parteien sich gleicherweise auf die Schrift berufen, läßt ihm die Schrift untüchtig erscheinen zur Schlichtung des Streites und ihn nach einem Schriftausleger der Zukunft


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ausschauen. Hierher gehört, was Luther in einer geschichtlichen Betrachtung zu Anfang seiner Schrift „Daß diese Worte Christi, das ist mein Leib 2c., noch fest stehen" bemerkt: „Der Teufel machte viel Secten, Ketzerei und Rotten unter den Christen. Und weil eine jegliche Rotte die Schrift für sich zog und auf ihren Sinn deutete, ward das draus, daß die Schrift anfing nichts mehr zu gelten, und auch dazu endlich den Namen überkommen hat, daß sie ein Ketzerbuch heißt, als daraus alle Ketzerei entsprungen ist, weil alle Ketzer sich mit der Schrift behelfen. Also konnte der Teufel den Christen ihre Waffen, Wehre und Burg, das ist die Schrift, ablaufen, daß sie nicht allein matt und untüchtig wider ihn ward, sondern auch wider die Christen selbst streiten mußte, und sie bei den Christen so verdächtig macht, als wäre sie eitel Gift, wider welche sie sich wehren sollten. Sage mir, ist das nicht ein Kunststücklein des Teufels gewesen? Als nu die Schrift also ein zerrissen Netz mar worden, daß sich niemand damit ließ halten, sondern ein jeglicher bohret ihm ein Loch, wo ihm seine Schnauze hinstund, und fuhr seinem Sinn nach, deutet und drehet sie, wie es ihm gefiel: mußten die Christen der Sachen nicht anders zu thun, denn viel Concilia zu machen, darin sie neben der Schrift viel äußerlicher Gebot und Ordnung machten, den Haufen bei einander zu halten wider solche Zertrennung. Aus dem Fürnehmen — wiewohl sie es gut meinten — floß her, daß man spricht: die Schrift wäre nicht genug, man mühte der Concilia und Bäter Gebot und Auslegung auch haben, der Heilige Geist hätte es den Aposteln nicht alles offenbart, sondern etliche Dinge auf die Väter gespart, bis daß zuletzt das Papsttum draus ist worden, darin nichts gilt, denn Menschen Gebot und Glossen nach dem Herzenschrein des heiligen Vaters." 1)

Freilich, Herr P. Lieberknecht will die gewisse Erkenntnis nicht aller, sondern nur etlicher Lehren auf die Auslegung des Vaters oder der Väter der Zukunft stellen. Nur für einen Teil der christlichen Lehren, wie z. B. die Lehre von der Kirche (und Gnadenwahl?), will er sich Ungewißheit sichern. Die meisten christlichen Lehren will er für „aufgeschlossene", „unerschütterlich gewisse" halten. „Die Artikel von der Heilsordnung" — sagt er — „sind uns ja aufgeschlossen", und als solche Artikel, „welche uns unerschütterlich gewiß geworden sind", nennt er „die Lehre von der heiligen Dreieinigkeit, von der Gottheit JEsu Christi, von seinem stellvertretenden Strafleiden, von der Rechtfertigung allein durch den Glauben u. s. w." Aber das von ihm geltend gemachte Prinzip greift weiter, als er beabsichtigt. Durch dasselbe geraten schließlich alle Artikel der christlichen Lehre in's Schwanken. Er vindiziert sich für einen Teil der christlichen Lehren, z. B. für den Artikel von der Kirche, Ungewißheit, aus dem Grunde, weil man darüber unter denen, die sich Lutheraner nennen, heutzutage ungewiß ist. Letzteres ist aber auch in Bezug auf die von Herrn P. Lieberknecht angeführten

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1) E.A. 30, 16-17


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„Artikel der Heilsordnung" der Fall. Herrn P. Lieberknecht ist es sicherlich nicht verborgen, daß gerade die Stimmführer der heutigen lutherischen Theologie, die Lehrer der Diener der Kirche, in einem oder mehreren jener genannten Artikel der Heilsordnung ganz grob von der Wahrheit abirren. So müssen auch diese Artikel, weil sie innerhalb der lutherischen Kirche der Gegenwart noch in Frage gestellt werden, nach Herrn P. Lieberknechts Argumentation in die Rubrik der noch ungewissen Lehren geschrieben werden. Freilich sagt Herr P. Lieberknecht von jenen Artikeln, um ihre Gewißheit darzutun: „Wir haben diese Lehren in den Bekenntnisschriften unserer Kirche." Ist wohl wahr! Dagegen wird aber z. B. Luthardt bemerken, daß die lutherische Kirche, soweit ihr Erkenntnisstand in den Symbolen zu Tage trete, nicht immer die rechten, jedenfalls nicht die vollständigen Erfahrungen gemacht habe. Luthardt sagt von der Darstellung der Lehre von der Bekehrung in der Concordienformel: „Man muß allerdings anerkennen, daß sich die Darstellung der Concordienformel nicht vorsichtig genug innerhalb der Grenzen des nötigen Maßes hielt" (indem nämlich „die Darstellung der Concordienformel öfter" [!] „so lautet, als ob Gott allein Alles wirke"). 1) Und mir müßten nicht, wie Herr P. Lieberknecht von seinem Standpunkt aus, daß die Lehren erst durch die Erfahrung der Kirche im Laufe der Zeit ganz gewiß werden, Dr. Luthardt widerlegen konnte. Denn werden die Lehren erst durch das kirchliche Erleben gewiß, so bleibt stets die Frage offen, ob sie auch richtig und vollständig erlebt find und ob man sich daher nicht darauf legen sollte, sie noch einmal richtiger und vollständiger zu erleben. Kurz, durch seinen Grundsatz, durch welchen die Entscheidung über die Lehren aus den objektiven Worten der Schrift in das subjektive „innere Erkennen", in die Erfahrung, sei es Einzelner, sei es der Kirche, verlegt wird, macht Herr Lieberknecht sämmtliche Artikel der christlichen Lehre ungewiß. Damit ist der Grund gelegt für die Union, die er doch bekämpft, und zwar für eine Union, gegen welche die preußische reines Kinderspiel ist. Ja, unser geehrter Rezensent leugnet mit seiner Argumentation im Grunde, daß die Kirche auf das „Es stehet geschrieben" gegründet sei. Er hat sich auf das Gebiet Zwingli's drängen lassen, welcher unter Anderem sagte: „Die Kirche ist nicht gegründet auf das Wort, das zeredet und geschrieben ist, sondern auf dasjenige, das inwendig im Herzen leuchtet." 2)  Dahin treibt ihn die Bekämpfung unseres Satzes, daß alle Ungewißheit und alles Abirren in der Lehre nur daher komme, daß man das klare Wort Gottes bei Seite liegen lasse und nicht nachsagen wolle, was Gottes Wort vorsagt. Freilich ist Herr P. Lieberknecht nicht so ex abrupto zu seiner Stellung gekommen. Es ist der Sauerteig der modernen Theologie, welcher

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1) Die Lehre vom freien Willen, S. 276 f.

2) Commentarius de vera et falsa religione, Opp. lat. ed. Schuler et Schulthess, Vol. III, P. I, p. 138.  Bei Rudelbach, Reformation 2c., S. 121.


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bei ihm wirkt. Es ist der verhängnisvolle Irrtum der modernen Theologie, daß nicht das geschriebene Wort, sondern die „innere Erfahrung", die „erleuchtete Vernunft", „das christliche Bewußtsein" die nächste Quelle der christlichen Theologie sei. Die gesummte moderne „wissenschaftliche Theologie" ist wesentlich Enthusiasmus. Schwärmertum, Papsttum und moderne Theologie stehen, auch was das principium cognoscendi der Theologie anlangt, auf dem gleichen Boden.

Herr P. Lieberknecht erinnert daran, daß es nötig sei, „gegen die eigene Unfehlbarkeit vorsichtig zu machen". Diese Erinnerung ist immer am Platze. Auch die Svnodalconferenz hat sich daran erinnert. Es heißt ja in ihrem Protokoll: „Der Papst behauptet, er für seine Person sei unfehlbar, ohne, neben, ja, wider Gottes Wort. Wir gestehen zu, daß wir persönlich irren können, ja, daß wir, wenn es auf uns ankommt, nur irren können. Aber in der Lehre irren mir nicht, sondern sind wir unfehlbar, insofern und weil mir auf Gottes Wort stehen, wie es lautet. Wir reden, wie Gottes Wort redet." Aber Letzteres ist's nun gerade, was Herr P. Lieberknecht ansticht und ihn veranlaßt, uns vor unserer „eigenen Unfehlbarkeit" zu warnen. Doch welche Perspektive eröffnet er uns mit seiner Warnung? Wenn ein Christ dann noch nicht unfehlbar gewiß sein soll, daß er die Wahrheit habe, wenn er auf Gottes Wort steht, wie es lautet, dann, nun dann — hört eben Alles auf! Zweifeln, daß man die Wahrheit habe, wenn man auf Gottes Wort steht, wie es lautet, heißt daran zweifeln, ob Gottes majestätisches Wort Wahrheit sei. Jemand zum Zweifeln verführen wollen, ob er die Wahrheit habe, wenn er auf Gottes Wort steht, wie es lautet, heißt Jemand zum Zweifeln an Gottes Wort bewegen wollen. Nein, wer auf Gottes Wort steht, wie es lautet, der darf nicht nur, der soll gewiß, unfehlbar gewiß sein, daß er nicht irre. Es gibt hier nur eine Instanz. Diese würde lauten: „Ich gebe zu, daß Jemand der Wahrheit gewiß sein kann und soll, wenn er auf Gottes Wort steht. Aber Niemand kann ganz gewiß sein, ob er auf Gottes Wort stehe." Da hört wiederum nicht weniger als Alles auf! Dann gibt's überhaupt keine Gewißheit. Dann wollen wir wenigstens ehrlich sein und bekennen, daß Pilatus mit seiner Frage: „Was ist Wahrheit!" die rechte Religion bekannt habe. Wenn Niemand gewiß wissen kann, ob er auf der Schrift stehe oder nicht, dann ist uns die ganze Schrift nichts nütze. Dann ist die Schrift nicht unseres Fußes Leuchte und ein Licht auf unserem Wege. Dann hätte Gott in der Schrift den Menschen nicht das Heil offenbart, sondern in derselben den Menschen Rätsel aufgegeben, die Niemand sicher lösen könnte. Wollte Jemand trotzdem noch einer Anzahl Lehren, ja, wohl gar der meisten Lehren „unerschütterlich gewiß" sein, wie Herr P. Lieberknecht von sich behauptet, dann müsste er in sich selber eine Quelle der Gewißheit tragen, dann müßte er selber unfehlbar sein. So fällt der Vorwurf der „eigenen Unfehlbarkeit", welchen die moderne


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Theologie gegen die „Buchstabentheologie” erhebt, auf sie selbst zurück. Wir machen hier die alte Erfahrung: Diejenigen, welche nicht alle Fragen des Glaubens durch das klare Wort Gottes entschieden sein lassen wollen, müssen entweder vollständige Skeptiker werden oder aber für das unfehlbare Wort Gottes die eigene Unfehlbarkeit substituieren. Dagegen auf Gottes Wort stehen, wie es lautet, und deshalb die gewisse Wahrheit für sich in Anspruch nehmen, weil man nur nachsagt, was Gottes Wort vorsagt, heißt sich in direktesten Gegensatz zu allem papistischen und schwärmerischen und „wissenschaftlichen" Unfehlbarkeitswahn stellen.

Herr P. Lieberknecht meint, es sei eine unwerte und „geringe" Kunst, nur nachzusagen, was Gottes Wort vorsagt. Auch hierin irrt er. Es ist das die schwerste Kunst, die es gibt. Es kann sie kein Mensch aus sich selbst, sondern nur durch Wirkung des Heiligen Geistes üben. In geistlichen Dingen nur nachsagen, was Gottes Wort vorsagt, heißt nur reden, wo Gottes Wort redet, und schweigen, wo Gottes Wort schweigt, heißt an seinem eigenen Sinn und Verstand in geistlichen Dingen gänzlich verzagen, sich gänzlich unter Gottes Wort beugen, die Vernunft gefangen nehmen unter den Gehorsam des Glaubens. Das ist aber nicht eine geringe Kunst. Sie kann nur geübt werden, indem dem alten Menschen fortwährend das Handwerk gelegt wird. Dagegen ist es eine geringe Kunst, unter Absehung von dem Wort der Schrift allerlei „innere" Erfahrungen zu machen. Man braucht nur dem alten Menschen die Zügel schießen zu lassen, dann produziert er über alle Artikel der christlichen Lehre und noch über etliche mehr die unsinnigsten und sinnigsten Gedanken, und redet einem noch dazu ein, daß das alles in der Schrift stehe. Auch wir Amerikaner kennen diese Eigenschaft des alten Adam. Wenn man in Deutschland meint, wir amerikanischen Lutheraner drangen deshalb so auf den Buchstaben der Schrift, weil uns nebenbei nicht viel einfiele, so ist man im Irrtum. Uns fällt bei unserem Studium auch viel, sehr viel ein, vielleicht ebenso viel als den deutschen Theologen. Aber Gott hat uns hier die Gnade gegeben, daß wir die Worte der Schrift Richter sein lassen über alle sogenannten geistlichen Gedanken, daß mir alles als merthlose und schädliche Spekulation verwerfen, was nicht in den Worten der Schrift geoffenbart vorliegt, daß wir mit nichts vor die Kirche Gottes hinzutreten wagen, als wofür mir klares Zeugnis der Schrift beibringen können. In Deutschland herrscht in diesem Stück ein großer Leichtsinn. Man verlacht geradezu die Idee, daß die öffentlichen Lehrer der Kirche, die Professoren der Theologie, mit allen ihren Aufstellungen an die Worte der Schrift und durch die Worte der Schrift gebunden sein sollten. Vielmehr vindiziert man es den berufsmäßigen Theologen geradezu als ein Privilegium, unter Absehung vom Wort der Schrift durch sogenannte theologische Speculation „Theologie" treiben zu dürfen. Das ist es, was uns recht eigentlich von der modernen Theologie trennt. Das ist auch der Grund, warum die mit so vielen äußeren


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Hilfsmitteln ausgestattete moderne Theologie es zu nichts bringt, sondern die Ungewißheit und Zerfahrenheit in der Kirche nur vermehrt. Die moderne Theologie muh principiell umkehren. Sie muß wieder den Grundsatz anerkennen: ,,quod non est biblicum, non est theologicum." Sie muß die klaren Worte der Schrift wieder Richter sein lassen über alles, was in der Kirche geredet und geschrieben wird, so daß nur das als Wahrheit gilt, was die Worte der Schrift mit sich bringen, und als Irrtum verworfen wird, was sich als Abweichung von den klaren Worten der Schrift erweist. Um diese Praxis befolgen zu können, dazu gehört freilich, daß man die heilige Schrift für das irrthumslose, majestätische Wort Gottes halte, daß man mit der alten Kirche wieder glaube: πᾶσα γραφὴ θεόπνευστος (2 Tim. 3:16.). Diesen Glauben will ja Herr P. Lieberknecht mit uns und mit der christlichen Kirche wider die moderne Theologie festhalten. Er will, wie wir aus seinem Blatte sehen, alle Worte der heiligen Schrift für die unfehlbaren, majestätischen Worte unseres Gottes halten. Sollte er nun mit uns nicht auch dafür halten können, daß die heilige Schrift tatsächlich und ausreichend die Quelle und Norm der christlichen Lehre sei, daß alle Artikel der christlichen Lehre für alle Christen in der Schrift klar geoffenbart seien, von allen Christen zu allen Zeiten sicher aus der Schrift erkannt werden können, und daß daher alle Ungewißheit und alles Abirren in Sachen der christlichen Lehre nur daher komme, daß man das klare Wort Gottes bei Seite liegen laßt und, was Gottes Wort sagt, nicht nachsagen will?

F. P.