Extracted from Der Lutheraner, vol. 43 (1887), pp. 117-118 and the text was OCR’d by BackToLuther. English translation available at this blog post here;  Published here;

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Zur Geschichte der Zerstörung Jerusalems.

(G. Schaller.)

Es war am 10. August des Jahres 70 nach Christi Geburt, als der Tempel zu Jerusalem in Flammen aufging, worauf bald (am 7. September) die völlige Eroberung und Zerstörung der Stadt selbst erfolgte. Der Jahrestag des erstgenannten Ereignisses trifft mit dem 10. Sonntag nach Trinitatis nahe zusammen; so ward denn ganz passend das Evangelium von der durch Christum unter Thränen geweissagten Zerstörung auf diesen Sonntag verlegt. Zugleich ist es kirchliche Sitte geworden, am genannten Sonntag die Geschichte von der Zerstörung Jerusalems, die ja auch für uns Christen von außerordentlicher Bedeutung ist, nach dem Bericht des jüdischen Geschichtsschreibers Flavius Josephus in den Kirchen vorzulesen. Da nun aber bei dem Verlesen dieser Geschichte, wie dieselbe auch in unsrem St. Louiser Gesangbuch sich findet, den andächtigen Hörern hie und da etwas dunkel und unverständlich bleiben möchte, so wollen wir in dem Folgenden einige erläuternde Bemerkungen dazu geben.

Die Stadt Jerusalem war von drei Seiten, nämlich von Osten, Süden und Westen, durch tiefe Abgründe und Thalschluchten vor feindlichen Ueberfällen gesichert. Nur gegen Norden stieß sie an wellenförmiges Land; nur von dieser Seite war sie darum auch den Angriffen der Feinde ausgesetzt. Von Norden her kamen alle feindlichen Kriegsheere, zuletzt auch die Römer. Wenn es daher in unsrer Lection unter Anderem heißt: „Die Stadt Jerusalem war sehr fest an dem Ort, da man zur Stadt kommen konnte, und hatte drei Mauern", so ist damit eben die Nordseite der Stadt gemeint; denn von allen andern Seiten war sie unangreifbar. Wie verhält es sich aber mit den erwähnten drei Mauern der Stadt? Befanden sich dieselben auch auf der Nordseite und waren sie etwa dicht hintereinander aufgerichtet? Keineswegs. Diese drei Mauern durchkreuzten Jerusalem in verschiedenen Richtungen und schlossen je einen besonderen Stadtteil ein. Jerusalem umfaßte nämlich vier Hügel; im Südwesten lag der Berg Zion, nördlich <Seite 117, column 2> von ihm der Berg Akra, im Südosten der Berg Moriah mit dem Tempel und der Burg Antonia und nördlich von diesem der Hügel Bezetha. Die erste und älteste Mauer nun lief um den Berg Zion her und schloß auch den Tempelberg und die Burg Antonia mit ein. Sie hatte 60 Thürme und schützte so den höchsten und ältesten Teil der Stadt, den schon die Natur zu einer fast uneinnehmbaren Festung machte. Die zweite Mauer umschloß sodann die sogenannte untere Stadt auf dem Hügel Akra und war mit 14 Türmen bewehrt. Die dritte Mauer endlich, die äußerste nach Norden und die jüngste unter allen, lief in einem weiten Bogen um den Berg Bezetha und die auf demselben erbaute Neustadt; sie hatte 90 Türme, war 25 Ellen hoch und 10 Ellen dick. Ein Feind also, der Jerusalem erobern wollte, mußte erst diese starke Mauer durchbrechen, um sich in den Besitz der Neustadt zu bringen, hernach mußte er die zweite Mauer durchbrechen und die untere Stadt einnehmen. War das geschehen, so lag ihm noch das schwerste Stück Arbeit ob, die Burg Antonia, den Tempel, und die obere Stadt, die Stadt Davids auf dem Berg Zion, mit ihren gewaltigen Palästen und erstaunlich festen hohen Thürmen zu erobern. Daß dieses den Römern wirklich gelang, war ein Wunder vor aller Augen.

Das Kleinod Jerusalems und die Zierde des ganzen Morgenlandes war der Tempel, in dem der Sohn Gottes selbst aus- und eingegangen war. Herodes hatte ihn von Grund aus neu und prachtvoll aufgeführt. Es wurden tausend Wägen besorgt zum Anfahren der Steine; es wurden zehntausend erfahrne Arbeiter an gestellt und tausend Priester, die allein an dem inneren Heiligtum arbeiten durften, mit Priestergewanden von ihm geschmückt. Der alte Grund wurde aufgeriffen und ein neuer gelegt, auf welchem der Tempel aus weißem Marmor zu einer Länge von 100, und einer Höhe von 120 Ellen aufgeführt wurde. Die einzelnen Werkstücke waren gegen 25 Ellen lang, 8 hoch und gegen 12 Ellen breit. Daher die Verwunderung der Jünger: „Meister, siehe, welche Steine und welch ein Bau ist das!" (Marc. 13,1.) Das Dach war durchaus mit dichten Goldplatten belegt, und gab besonders bei Aufgang <Seite 117, column 3> der Sonne einen majestätischen Glanz. Dies war der eigentliche Tempel; rings um ihn herum wurden Säulenhallen von großer Ausdehnung und Pracht erbaut. Nur die äußersten Hallen durften Fremde (Heiden) betreten bis zu einer 6 Fuß hohen Scheidewand, wo ihnen durch Inschriften das weitere Eindringen bei Todesstrafe untersagt war. Auf 14 Stufen stieg man zu der zweiten Reihe der Säulengänge empor. Zwölf Stufen führten von da zu dem dritten innersten Raum, den nur die Priester betreten durften. Unter den Säulenhallen war die „königliche" auf der Südseite am bewundernswürdigsten. Sie bestand aus 4 Reihen, die zusammen 162 Corinthische Säulen umfaßten und 3 Hallen bildeten. Von den beiden äußersten Hallen war jede 30 Fuß breit, 600 Fuß lang und über 50 Fuß hoch; die mittelste aber war anderthalbmal so breit und doppelt so hoch. So ragte der mittlere Theil dieser Tempelhalle sehr hervor. Das ganze Gebäude stand auf einem hohen, steilen Felsen, dessen Seiten schon seit alter Zeit mit ungeheurer Mühe bis zum Gipfel ummauert worden waren. Stand man nun auf dem höchsten Dach (Zinne) dieser königlichen Halle, so glaubte man schwindelnd in einen Abgrund von unermeßlicher Tiefe zu blicken. Kam man aus der Ferne, und sah nach Jerusalem hin, so glänzte einem das große Marmorgebäude des Tempels auf seiner Felsenhöhe wie ein fernes Schneegebirge entgegen. „Dieser Tempel ist in 46 Jahren erbaut", hielten die Juden dem HErrn entgegen (Joh. 2, 20.). So lang also war es her, seit Herodes denselben neu aufführen ließ; es wurde aber noch fortwährend und zwar bis an die Zeit kurz vor der Zerstörung hin daran gebaut.

Da nun die Juden sich gegen ihre Gewalthaber, die Römer, insonderheit gegen die unsägliche Grausamkeit und Tyrannei des römischen Landpflegers Gessius (nicht: Cestius) Florus *) empört hatten und der Aufstand eine sehr drohende Gestalt anzunehmen begann, so sandte der Kaiser den Feldherrn Vespasianus mit einem starken Heer nach Palästina. Dieser erstürmte unter anderen festen Orten auch die

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*) Cestius Gallus ist der Name des gleichzeitigen Statthalters von Syrien, welchem Gessius Florus untergeordnet war.

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nördlich von Nazareth gelegene Felsenburg Jotapata, machte den Befehlshaber derselben, Josephus, zu seinem Gefangenen, tödtete viele Tausende der Empörer mit dem Schwert, verwüstete und verheerte ganz Galiläa und rückte endlich vor die Stadt Jerusalem. Von den Legionen zum Kaiser ausgerufen, begab sich hierauf Vespasianus nach Rom und überließ die Beendigung des jüdischen Krieges seinem Sohne Titus. Am 7. Mai gelang es dem letzteren, mit Kriegsmaschinen in die nördliche Stadtmauer eine große Bresche zu machen. Die Juden wichen zurück, die Römer zogen in die Neustadt hinein, rissen die genannte Mauer nieder und hatten nun den nördlichen Stadttheil inne. Titus schlug hier sein Hauptquartier auf und begann mit Erstürmung der zweiten Mauer, welche ihn von der unteren Stadt trennte. Die Belagerer durchbrachen schon nach 5 Tagen auch diese Mauer, und während die vielen Tausende zusammengedrängter Bewohner der unteren Stadt ihre letzte Zuflucht auf den Berg Zion d. i. in die obere Stadt nahmen und daselbst den Menschenknäuel und das ungeheuere Gewühl vergrößerten, zogen die Römer nun weiter in die verlassene untere Stadt ein. Titus ließ auch die zweite Mauer niederreißen und schritt hierauf zur Belagerung und Erstürmung der dritten Mauer, welche die Burg Antonia und den Tempelberg links, den Berg Zion oder die obere Stadt rechts umschloß.

Auf einen so kleinen und beschränkten Raum waren nun mehrere Millionen von Juden mit Weibern und Kindern und ihrer geflüchteten Habe zusammengedrängt. Der Hunger fing an, seine Macht zu beweisen. Die ungeheuren Vorräte von Getreide, mittels deren die Stadt sich Jahre lang hätte halten können, waren längst im inneren Krieg der ruchlosen und tyrannischen Parteiführer Johannes von Giscala auf dem Tempelberg und Simon in der oberen Stadt durch wahnsinniges Wüthen, aus gegenseitigem Neide, mit Feuer vernichtet worden. Natürlich fehlte es jetzt an Lebensmitteln. Nur die Reichsten konnten einige erlangen. Die Armen schlichen des Nachts durch die Thore und suchten in den Gärten und Feldern nach Wurzeln, um ihre verschmachtenden Weiber und Kinder damit zu ernähren. Die Zahl dieser nächtlichen Kräutersucher wurde zuletzt so groß, daß Titus eine Kriegslist argwöhnte, sie von Reitern überfallen und schaarenweise kreuzigen ließ, so daß die Kreuze wie ein Wald neben dem römischen Lager standen. „Kreuzige, kreuzige ihn! Sein Blut komme über uns und unsere Kinder!" hatten sie in höllischer Verblendung gerufen (Matth. 27:25.).

Die Belagerungsarbeiten waren schon nahezu vollendet, die römischen Wälle und Thürme erhoben sich drohend gegen die Burg Antonia; da zerstörten die Juden plötzlich alle Werke mit Feuer. Um Jerusalem stand kein Baum mehr, es war kein Holz in der Nähe zu finden. Den Römern entfiel fast der Mut. Da hielt Titus einen Kriegsrat und man beschloß, bevor man sich wieder an die Arbeit machte, die ganze Stadt Jerusalem dicht mit einer „Wagenburg", einem Wall, einer Ringmauer zu umzingeln, wodurch jedes Tor, jeder Zugang versperrt und die nächtlichen Streifereien verhindert würden. Binnen drei Tagen stand eine Ringmauer mit 13 festen Thürmen, von den Legionen erbaut, dicht um das gedrangsalte Jerusalem. Nun wütete der Hunger unter den Belagerten in entsetzlicher Weise. Die flachen Dächer, die inneren Gemächer, die Gassen, die öffentlichen Plätze der ganzen oberen Stadt waren mit Leichen bedeckt. Männer und Jünglinge schwankten gleich <Seite 118, column 2> Schatten einher. Stieß ihr Fuß nur an einen Stein, so fielen sie zu Boden und vermochten vor Schwäche nicht, sich wieder zu erheben; die Sterbenden streckten sich neben die Todten nieder und erwarteten ihr Ende. Die glühende Hitze des Sommers, der Pestqualm brütete über der Stadt. Da trug sich denn auch jene unerhörte Gräueltat zu, daß eine Mutter ihr eigenes Söhnlein schlachtete und sich zur Mahlzeit zubereitete.

Doch nun ging es mit der unglücklichen Stadt rasch zu Ende. Am 9. Juli fiel die Burg Antonia. Johannes von Giscala zog sich aus derselben in den befestigten Tempel zurück und wollte von Uebergabe nichts hören. Nun wurde der Tempel, dieses herrliche Wunderwerk, selbst belagert. Die Säulenhallen rings umher wurden eine nach der anderen ein Raub der Flammen. Endlich warf ein Soldat aus Ungeduld einen lodernden Feuerbrand durch ein Fenster in die Reihe der Gemächer, welche das Heilige umgaben. Aus dem Getäfel von Cedernholz schlug sogleich die lichte Flamme empor und ein ungeheures Wehgeschrei der Juden verkündete ihr allgemeines Entsetzen. Titus eilte herbei, befahl Ruhe, Ordnung, dem Kampfe und Feuer Einhalt zu tun. Umsonst, in dem Getümmel verhallte sein Befehl. Als Titus endlich sah, daß kein Mittel übrig war, die Raserei der Soldaten zu hemmen, so ging er in das Heilige, betrachtete dasselbe und sah, daß die Pracht und der Neichtum, der sich darin befand. Alles weit überstieg, was man ihm davon gesagt hatte. Kaum war er aus dem Tempel gegangen, so sank der glorreiche Bau in Schutt und Asche zusammen. Inzwischen raubte jeder Soldat, was er bekommen konnte; und so unermeßliche Schätze waren hier aufgespeichert, so groß war die Beute, daß jeder Soldat reich ward, und daß in ganz Syrien der Werth des Goldes auf die Hälfte herab sank. Die Juden im Innern des Tempels erlitten eine große Niederlage. Die Römer machten Alles nieder und kannten kein Erbarmen. Die Blutströme schienen die Macht des Feuers hemmen zu wollen. Berge von Todten lagen um den Brandopferaltar, Ströme von Blut flossen über die Stufen.

Mitten durch den heillosen Tumult brach sich Johannes von Giscala mit seinen Anhängern Bahn und entkam auf der Brücke über das sogenannte Käsemacherthal zu Simon in die obere Stadt. Hiernach verstehe man die etwas dunkeln Worte unsrer Lection, wo es heißt: „Die Juden, so den oberen Ort der Stadt (nämlich den Tempel und dessen hochragende Säulenhallen) inne hatten, sind zum Teil in die Stadt entflohen — (nämlich nicht etwa in die untere Stadt, die bereits eingeäschert und überdies in den Händen der Römer war — sondern in die allein noch eine kümmerliche Zuflucht bietende obere Stadt auf dem Berg Zion), aber viel mehr sind durchs Feuer und Schwert umgekommen."

Nun begann man aber mit allem Ernst und Eifer die Belagerung und Bestürmung der oberen Stadt. Da verzweifelten endlich die beiden gottvergessenen Führer Johannes von Giscala und Simon. Sie warfen sich aus Bestürzung auf die Erde und hielten einander ihre Torheit vor. Die sichere Schutzwehr ihrer Türme verließen sie und versteckten sich in unterirdische Gänge und Höhlen, wo alles voll Leichen Verhungerter lag. Johannes ergab sich, von Hunger genötigt, zuerst. Er flehte um Gnade, und wirklich wurde ihm das Leben geschenkt, mit lebenslänglicher Gefangenschaft. Simon dagegen hatte Steinmetzen und Lebensmittel mitgenommen und wollte sich einen <Seite 118, column 3> sicheren Ausgang bahnen. Aber bald gingen ihm die Lebensmittel aus; da zog er einen weißen Leibrock und purpurnes Oberkleid an, und wie ein Gespenst stieg er Ende Oktober, als Jerusalem schon längst ein großer rauchender Schutthaufen war, auf der Brandstätte des Tempels zum Entsetzen der wachthabenden Soldaten heraus, ward nun gefangen und mit Johannes und 700 andern Juden von den Römern in Ketten aufbewahrt. Titus feierte in Rom mit seinem Vater Vespasianus einen prächtigen Triumph über Judäa. In diesem wurden Johannes und Simon mit aufgeführt; Simon ward vor dem Dankopfer hingerichtet. Auch die heiligen Tempelgefäße, die goldenen Leuchter, Tische und Becher wurden zur Schau getragen. Ein so finsteres Ende nahm durch Gottes Gericht die heilige Stadt, in welcher der schöne Glanz Gottes anbrach, der Ort, welchen der HErr erwählt hatte, daß sein Name daselbst wohnen sollte, und welchen selbst ein heidnischer Schriftsteller (Plinius) die bei weitem berühmteste Stadt des ganzen Orients nennt.