1871-Central-Walther-True Visible- Thesis XVIII D- Adiaphora; OCR'd by BackToLuther, August 16, 2015.
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Verhandlungen der Synode.
Zum Hauptgegenstand der Besprechungen machte die Synode die achtzehnte These des vom Ehrw. Professor C. F. W. Walther verabfaßten Referats: „Die evangelisch - lutherische Kirche die wahre sichtbare Kirche Gottes auf Erden." Anknüpfend an die Besprechungen des Oestlichen Distrikts begann die Synode mit Lit. D.
These XVIII.
Die evangelisch-lutherische Kirche giebt jeder Lehre des Wortes Gottes die Stellung und Bedeutung, die dieselbe in Gottes Wort selbst hat: v. Die evangelisch - lutherische Kirche scheidet streng, was in Gottes Wort geboten und freigelassen ist (Adiaphora, Kirchenverfassung).
(Seite 123 des Referats.)
1. Beweissprüche.
Ist in den früheren Thesen dargelegt worden, daß die evang.-lutherische Kirche das Wort Gottes lauter und rein und ganz hat, so wird jetzt bewiesen, daß sie jeder Lehre des göttlichen Wortes auch die rechte Stellung und Bedeutung giebt, indem sie, wie schon gezeigt, a. die Lehre von Christo oder der Rechtfertigung allein aus Gnaden durch den Glauben zum Grund, Kern und Stern macht, b. zwischen Gesetz und Evangelium, als auch c. die fundamentalen und nicht fundamentalen Lehrartikel streng unterscheidet, und endlich, wie jetzt d. gezeigt wird, auch streng scheidet, was in Gottes Wort geboten und freigelassen ist. Dieß sind deutliche, untrügliche Merkmale der wahren, sichtbaren Kirche Gottes, und daß auch die strenge Unterscheidung
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zwischen dem, das von Gott geboten, und freigelassen ist, zu diesen Merkmalen gehöre, erhellt aus dem
Ersten Beweisspruch: Matth. 23, 8.: „Einer ist euer Meister, Christus; ihr aber seid alle Brüder." Also nur Einer allein kann gebieten und verbieten, und dieses einigen Meisters Wort allein müssen wir uns unterwerfen. Die Pabstkirche sagt zwar auch, man müsse sich dem Worte Gottes unterwerfen, setzt aber gleich hinzu: den Traditionen und Kirchengeboten auch, und gerade damit kennzeichnet sie sich als die abgefallene, die nickt mehr unter Christo, dem einigen Haupt und Meister, steht. Denn aus obigem Ausspruche Christi geht nur zu klar hervor, daß ein Christ als Christ sich weder einem Engel vom Himmel, noch irgend einem Menschen, noch einer Kirche unterthänig machen darf. Dieß muß uns durch den nachdenklichen Gegensatz: „Ihr aber seid alle Brüder" um so wichtiger werden, mit welchen Worten der HErr JEsus ja nicht etwa blos sagen will, daß wir freundlich und brüderlich gegen einander sein sollen; sondern vielmehr die Ordnung in Seinem Reich und Christenheit vorschreibt: nämlich daß bei Seinen Christen kein solcher Unterschied sei, daß die Einen zu befehlen, die -Ändern zu gehorchen hätten. Es verdammt demnach dieses Wort das ganze hierarchische Wesen in den sogenannten protestantischen Kirchen nicht weniger als das ganze Pabstthum.
Das Wovt des Apostels Ebr. 13,17.: „Gehorchet euern Lehrern und folget ihnen" rc. steht nicht im Widerspruch mit dem Worte Christi. Denn der Apostel redet hier von Sem Gehorsam gegen das verkündigte Wort, und so-ferne wir hierin unfern Lehrern folgen, die, wie St. Paulus, uns den Rath Gottes unverkümmert verkündigen, gehorchen wir ja nicht Menschen, sondern Gott selbst. Es darf daher ein Prediger keinen .Gehorsam fordern, außer wenn er in Wahrheit sagen kann: „So stehet geschrieben", — „das fordert dein Meister, Christus, von dir", — und Niemand soll sich durch frommes Reden, durch lange Beweisführungen, sondern allein durch das Wort zum Gehorsam bewegen lassen.
Wie werden aber auch durch obigen Spruch die schweren Sünden derjenigen aufgedeckt, die ihr Amt vorschützen, um in von Gott freigestellten Dingen Gehorsam zu erzwingen! Wie erbärmlich ist nach diesem Spruche die traurige Gefangenschaft derer, die gehorchen zu müssen meinen, wenn der Pastor „von Amtswegen" etwas fordert! Wie haben wir Ursache zu beten mit Luther und der ganzen lutherischen Kirche: „O HErr, behüt' für fremder Lehr', daß wir nicht Meister suchen mehr, denn JEsum Christ im rechten Glauben." Wollen wir Seine rechten Jünger sein, so laßt uns auch bleiben an dieser Seiner Rede: „Einer ist euer Meister, Christus ; ihr aber" rc...
Der zweite Spruch: Gal. 5,1.: „So bestehet nun in der Freiheit, damit uns Christus befreiet hat, und laßt euch nicht wiederum in das knechtische Joch fangen" — ist hier darum von ganz besonderer Wichtigkeit, weil der Apostel von göttlichen Geboten redet, die im Alten Testament gewissens-
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bindend gewesen, im Neuen Testament aber aufgehoben sind, was vom politischen sowohl als auch vom Ceremonial-, ja sogar vom Zwang des Moral-Gesetzes gilt. Unter das Ceremonial - Gesetz waren die Galater von falschen Lehrern gepreßt worden, und Paulus schreibt ihnen, daß, weil sie die Beschneidung angenommen, sie Christum verloren hätten. Können nun Christen durch die Unterwerfung unter ein göttliches, aber durch Christum aufgehobenes Gebot um ihre Seligkeit kommen, wie viel mehr müssen die Schaden leiden, die sich von Menschengeboten binden lassen! Wenn nun St. Paulus, im Heiligen Geist erleuchtet, alles das ein knechtisches Zock nennt, was Gott der HErr bis auf Christum eingesetzt hatte, und wenn es nach Apostg. 15,10. eine Versuchung Gottes war, als die Christen aus den Heiden mit solchen Ceremonien, die zwar göttliche Einrichtungen, aber im Neuen Testament aufgehoben waren, belastet wurden: wie viel mehr müssen wir von uns abschütteln und verdammen alles, was Menschen unserer christlichen Freiheit zuwider uns aufbürden wollen?
Hieraus folgt jedoch nicht, daß das Moralgesetz als eine Regel und Richtschnur uns nichts mehr anginge. Wohl aber hört der treiberische Zwang desselben auf. Denn wenn der Mensch zum Glauben kommt, so giebt ihm Gott ein neues Herz, das solch Moralgesetz will und den Willen Gottes thäte, wenn es auch kein Gesetz gäbe, wie ein guter Baum seine Früchte bringt, weil es so in seiner Natur liegt. Daher auch St. Paulus von sich und allen Gläubigen sagt: „wir haben nicht einen knechtischen ... sondern einen kindlichen Geist empfangen." Wer noch so steht, daß er sich von Gesetzeszwang muß treiben lassen, dessen Gewissen kann nie zur Ruhe kommen. Für ihn ist Christi Blut vergeblich geflossen.
Wiedas Herz eines wahrhaft Gläubigen gegen das Moralgesetz steht, und daß es nicht mehr durch dessen Zwang zum Gehorsam gegen Gott getrieben wird, davon schreibt Luther u. A.: „Wenn Er sagt: ,Du sollst den HErrn lieben', so erwecket er einen fröhlichen und freien Dienst Gottes. Denn wenn ich Gott wahrhaftig liebe, so will ich alles, was Gott will, und ist nichts süßeres, denn hören und thun, was Gott will."
Die Befreiung vom Zwang des Gesetzes erläutert Luther durch folgendes treffliches Gleichniß: „Also wenn dich ein Herr im Kerker gefangen hätte, und du aus der Maaßen ungerne darinnen wärest, möchte man dich zweierlei Weise daraus erlösen. Zum ersten, leiblich, daß der Herr den Kerker zerbräche und dich frei machte, leiblich, ließe dich gehen, wo dn hin wolltest. Zum ändern, wenn er dir so viel Gutes im Kerker thäte, machet dir denselben luftig, lichte, weit und aufs allerreichste gezieret, daß kein königlich Gemach und Reich so köstlich wäre, und bräche und wandelte dir also den Muth, daß du nicht für aller Welt Gut aus dem Kerker wärest, sondern bätest, daß der Kerker ja bleiben, und du drinnen sein möchtest, der dir nun kein Kerker mehr, sondern ein Paradies worden wäre. Sage mir, welche Erlösung wäre hier die beste? Zst's nicht wahr, diese geistliche wäre die beste? Denn
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in der ersten bliebest du ein armer Bettler, wie vorhin; aber hier hättest du einen freien Muth und alles, was du wolltest. Stehe, also hat uns auch Christus vom Gesetz erlöset, geistlich: nicht das Gesetz zerbrochen und abge-than, sondern unser Herz, das zuvor ungern darunter war, also verwandelt, so viel Gutes ihm gethan, und das Gesetz so lieblich gemacht, daß es keine größere Lust noch Freude hat, denn in dem Gesetz"... (Kirchen-Postille, Epistel am Neujahrs-Tag.)
Wie kann und darf aber nun Angesichts der in obigem Spruche (Gal. 5, 1.) gegebenen Warnung ein lutherischer Prediger seine Gemeinde ermahnen, die kirchlichen Festtage zu feiern?
Die kirchlichen Festtage sind nicht als eine gesetzliche Ordnung aufzudringen, wohl aber ist davon Unterrichtzu geben, daß sie (wie Luther davon sagt) „um des Textes oder Wortes willen" — sowie auch zur heilsamen Erinnerung und Erbauung gehalten werden, wie in Dietrichs Katechismus beim dritten Gebot auseinander gesetzt ist.
Wiedaszu erklären, daß die Gläubigen im Alten Testament Schaden litten an ihrer Seele, wenn sie auch nur einStückder göttlichen Vorschriften unerfüllt ließen, während wir im Neuen Testament, ohne Schaden zu leiden, den ganzen äußerlichen, alttestamentlichen Gottesdienst getrost unbeachtet
lassen?
1. Das Alte Testament war mit seinen Gottesdiensten ein Schatten und Vorbild auf Christum; ein Zuchtmeister auf Christum. Verwahret unter dem Gesetz, wurde das Volk Gottes zubereitet, daß es sich sehnte nach Dem, der das ganze Gesetz erfüllen und vom Gesetz erlösen konnte. So lange dieser, der verheißene Messias, noch nicht erschienen war, durste auch kein Tütel von den Schatten und Vorbildern dahin fallen, und unter dieser Last lernten sie dann seufzen: „Ach, daß die Hülfe aus Zion käme und der HErr sein gefangen Volk erlös'te rc.!" Also, weil Christus noch nicht erschienen war, darum nahmen die Schaden an ihrer Seele, die von dem einen oder anderen Gebot des Alten Testaments abwichen.
2. Christus aber, da die Zeit erfüllet war, hat sich unter das Gesetz gethan, dasselbe durch seinen leidenden und thätigen Gehorsam vollkommen erfüllt, und somit auch das Ceremonialgesetz— „den Schattenriß zu dem herrlichen Gemälde in Christo" aufgehoben. Sobald Christus erschienen war, mußten die Schatten und Vorbilder weichen; denn sie hatten ihren Zweck erreicht. Daher dürfen wir uns nicht mehr unter dieselben begeben.
3. Obgleich also Gott der HErr im Alten Testament Seine Vorschriften gegeben hat, so halten wir sie doch nicht, weil sie uns nicht gelten; wir müssen aus das sehen, was uns als Kindern des Neuen Testamentes vorgeschrieben ist. — Abraham empfing Befehl von Gott, seinen Sohn Zsaak zu
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schlachten. Hätte Gott die Ausführung dieses Befehls zugelassen, so hätte die Opferung Isaaks weder dem Abraham noch seinem Sohn Schaden an ihren Seelen gebracht. Gleichwohl war und blieb es ein Greuel vor Gott, daß die Heiden, ihrer Religion gemäß, ihre Kinder opferten, und wer dürfte es sich einfallen lassen, das thun zu wollen, was Abraham im Gehorsam gegen Gottes Gebot zu thun bereit war? —
Dritter Spruch: 2 Cor. 8, 8.: „Nicht sage ich, daß ich etwas gebiete." Der Apostel setzte sich nicht zum Herrn über die Gewissen. Selbst da gebietet er nicht, wo es sich um Werke der Liebe handelt. Welch ein schändlicher Mißbrauch ist es daher, wenn ein Pastor sich auf sein Amt beruft, um Gehorsam gegen seine Befehle zu erlangen. Das Amt ist ja nur ein Dienst (SraxovH) — nicht aber eine Gewalt zu herrschen! Ein Prediger kann allerdings sagen: Kraft meines Amtes gebiete ich, daß ihr Nicht stehlt, nicht sauft u. s. w. Denn alsdann führt er Gottes Wort im Munde. „Solches gebiete und lehre." 1 Tim. 4,11. Nimmermehr aber darf er also auf-treten in Dingen, die Gott nicht selbst vorgeschrieben hat. —
Vierter Beweisspruch: I Cor. 9,19.: „Wiewohl ich frei bin von jedermann, habe ich mich doch selbst jedermann zum Knechte gemacht, auf daß ich ihrer viele gewinne." — Auch dieser Spruch ist hier von großer Wichtigkeit, denn er lehrt uns den rechten Gebrauch der von Christo, dem einigen Meister, geschenkten Freiheit. Diese giebt uns kein Recht, wider die Liebe zu handeln. Derselbe Apostel, der so ernstlich vor dem knechtischen Joch warnt, so entschieden auf das Bestehen in der durch Christum erworbenen Freiheit dringt, ist in der Liebe jedermanns Knecht geworden. Wie dies geschehen, und wie weit er sich seiner Freiheit begeben, ist aus dem Zusammenhang dieser Stelle zu ersehen. An seinem Exempel sollen und können wir lernen, wie wir ohne Verletzung unseres Gewissens, um der Unwissenden, Irrenden und Schwachen willen, und in der Liebe auf unsere Freiheit Verzicht leisten sollen.
2. Zeugnisse.
Zum Zeugniß nun, daß die evangelisch-lutherische Kirche den unter Int. v. angegebenen Unterschied macht, ist zunächst der 7. Artikel der Augs-burgischen Confession angeführt, darin wir bekennen, daß die wahre Einigkeit der christlichen Kirche in der Eintracht der reinen Lehre und der richtigen Sacramentsverwaltung bestehe, die Einförmigkeit der Ceremonien und Mitteldinge aber nicht zum Wesen der Eintracht gehöre, wie auch der Apostel im beigefügten Spruche, Eph. 4,3., lehrt: „Seid fleißig zu halten die Einigkeit im Geist" rc., nicht aber: in einerlei Ceremonien und Aemter - Einrichtungen. Weil die lutherische Kirche erkennt, daß ein großer Unterschied zwischen göttlichen und menschlichen Dingen besteht, kommt es ihr auch gar nicht in den Sinn, eine Gleichförmigkeit in äußerlichen Dingen zu der Einigkeit der Kirche zu zählen, wie die Secten thun. Die Episkopalen z. E. sagen: „ihr müßt unsere bischöfliche Verfassung haben"; die Presby-
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terianer sagen: „zur Einigkeit der Kirche gehört, daß preSbyteriale Verfassung sei"; — die Congregationalisten machen die Annahme ihrer Verfassung zur Bedingung der Eintracht, und die Papisten fordern die Anerkennung eines sichtbaren Hauptes der Kirche in Rom. Bei allen Kirchen, außer der evangelisch-lutherischen, heißt's: Es ist nicht genug zur wahren Einigkeit der christlichen Kirche, daß da einträchtiglich nach reinem Verstand das Evangelium gepredigt rc. . Darum, so wünschenswerth es auch ist, daß die erbaulichen Ceremonien in allen christlichen Gemeinden Aufnahme finden möchten, so wäre es dennoch Thorheit, ihre Einführung und eine Gleichförmigkeit auf eine solche Weise zu erstreben, als ob die Ermangelung derselben die wahre Einigkeit der Kirche aufhebe. —
Die Union kann sich der wahren Einigkeit nicht rühmen! Sie steht ja nicht in der Einigkeit im Geist! Sie will ja nicht Eins sein in Einem Glauben, in Einer Lehre, in Einem Wort und Sacrament — sie hat sich nicht vereint „durch das Band des Friedens" — sondern will durch ein selbstgemachtes Band eines Scheinfriedens verschiedenartige Lehre verbinden, und wie einst Belsazar die heiligen Gefäße des Tempels bei seinem gottlosen Gastmahl schändete, so verunehren die Unirten Gottes Heiligthum, indem sie das Sacrament des Altars Jedermann reichen, zu welcher Kirchen-Gemeinschaft er auch gehören möge. Wir kehren uns daher auch nicht an den Borwurf, der uns vom Otturoü-Oouuoil gemacht wird, als überträten wir den 7. Artikel der Augsburgischen Conftsston. Die Sünde des Otnirek-Oounoil ist um so größer, da derselbe vorgiebt, die symbolischen Bücher zu unterschreiben, während er doch in mehreren Stücken gröblich gegen das Be-kenntniß unserer Kirche verstößt. Die Generalsynode ist doch noch ehrlich: sie sagt es offen, daß sie nicht alle Lehrartikel der symbolischen Bücher annimmt. —
Das zweite Zeugniß ist dem 28. Artikel der Augsburgischen Confession entnommen:
„Was soll man denn halten vom Sonntag und dergleichen anderen Kirchenordnnn-gen und Ceremonien? Dazu geben die Unfern diese Antwort, daß die Bischöfe oder Pfarrherrn mögen Ordnungen machen, damit es ord entlich in der Kirche zu gehe, nicht damit Gottes Gnade zu erlangen, auch nicht damit für die Sunde genug zu thun oder die Gewissen damit zu verbinden, solches für nothigen. Gottesdienst zu halten, und es dafir zu achten, daß sie Sünde thäten, wenn sie ohne Aergerniß dieselben brechen. Also hat St. Paulus zun Korinthern verordnet, daß die Weiber in der Versammlung ihr Haupt sollen decken; item, daß die Prediger in der Versammlung nicht zugleich alle reden, sondem ordentlich, einer nach dem ändern. Solche Ordnung gebühret der christlichen Versammlung um der Liebe und Friedens willen zu halten und den Bischöfen und Pfarrherrn in diesen Fällen gehorsam zu sein, und dieselben sofern zu halten, daß einer den ändern nicht ärgere, damit in der Kirche keine Unordnung oder wüstes Wesen sei. Doch also, daß die Gewissen nicht beschweret werden, daß man's für solche Dinge halte, die noth sein sollten zur Seligkeit, und es dafür achte, daß sie Sünde thäten, wenn sie dieselben ohne der Ändern Aergerniß brechen; wie denn niemand sagt, daß das Weib Sünde thur, die mit bloßem Haupt ohne Aergerniß der Leute ausgehet." —
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welchem Zeugniß eine wohl zu beachtende Bemerkung Carpzov's beigefügt ist, nämlich:
„ES ist wohl zu beachten, wenn die Augsburgische Confession hier dm Bischöfen das Recht zugesteht, Ceremonien zu ordnen, daß dieß geschehe 1. nach der Beschaffenheit jener Zeit, wo es ihnen nach menschlichen Rechten auch zukam ... 2. daß dem Rechte der ganzen Kirche nichts entzogen werde."
Es beweist dieser Abschnitt aus dem 28. Artikel aber eben dasselbe, was der 7. Artikel lehrt, nämlich: daß die Gleichförmigkeit der Ceremonieen nicht zur Einigkeit der Kirche gehöre, und zwar darum, weil sie nicht durch ein göttliches Gebot vorgeschrieben ist. Zwar mochten die Bischöfe nach der Beschaffenheit der damaligen Zeit Ordnungen einrichten: und „solche Ordnung gebührte der christlichen Versammlung um Liebe und Friedens willen zu halten." Wäre aber der Gehorsam gegen solche menschliche Einrichtungen ein von Gott befohlener, wie schrecklich wäre es dann gewesen, zu sagen: um Liebe und Friedens willpn wollen wir gehorchen. Läßt auch ein Christ um Liebe und Friedens willen sein Kind taufen? oder geht er um Liebe und Friedens willen zum heiligen Abendmahl? In Sachen, die Gott geordnet hat, müssen wir gehorchen, und wenn-lauter Krieg und Unfriede daraus entstünde.
Sehr wichtig ist es auch, daß die Lutheraner, die hier 1530 so redeten, nachgehends, nachdem sie der römischen Kirche gänzlich den Abschied gegeben hatten, ganz anders redeten. Denn so heißt es in der Concordienformel Artikel 10 (Erklärung): „Demnach glauben, lehren und bekennen wir, daß die Gemeinde jedes Orts und jeder Zeit, derselbigen Gelegenheit nach, guten Fug, Gewalt und Macht habe, dieselbigen ohne Leichtfertigkeit und Aergerniß ordentlicher Weise zu ändern, zu mindern und zu mehren." Also bei Einrichtung kirchlicher Ordnungen darf „dem Rechte der ganzen Kirche nichts entzogen werden". Darum ist hierbei auch wohl zu beherzigen, was Gerhard zu 1 Cor. 11, 34. (auf welchen Spruch nämlich die Papisten und ihre Geistesverwandte mißbräuchlich sich berufen) sagt: „Dieß hat der Apostel nicht durch eine unbeschränkte Gewa.lt; sondern mit Hinzukommen des Consensus der Gemeinde geordnet, 2 Cor. 8,8." (Siehe: Stimme unserer Kirche in der Frage von Kirche und Amt. Seite 386.)
Daß die lutherische Kirche streng scheidet, was in. Gottes Wort geboten und freigelassen ist, beweist
Das dritte Zeugniß aus Artikel 24 der Apologie:
„Die Widersacher ziehen den Daniel an, der da sagt: es werden Greuel und Verwüstung in der Kirchen stehen, und deutm diese- auf unsere Kirchen derhalben, daß die Altäre nicht bedeckt sein, nicht Lichter darinnen brennen und dergleichen. Wiewohl es nicht wahr ist, daß wir solche äußerliche Ornamente alle weg thun: dennoch, so es schon also wäre, redet Daniel nicht von solchen Dingen, die gar äußerlich sind und zur christlichen Kirche nicht gehören, sondern meinet viel eine andere greulichere Verwüstung, welche im Pabstthum stark gehet, nemlich von Verwüstung des nöthigsten größten Göttesdiensts, des Predigtamts, und Unterdrückung des Evangelii... Wo unsere Wider-
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sacher ihre Kerzen, Altartücher, Bilder und dergleichen Zier für uöthige Stück, und damit Gottesdienst, anrichten, sind sie des Antichrist- Gesinde, davon Daniel sagt, daß sie ihren Gott ehren mit Silber, Gold und dergleichen Schmuck."
Wir wissen und halten fest, daß der Charakter, die Seele des Lutherthums nicht in äußerlichen Gebräuchen, sondern in der reinen Lehre liegt. Wenn eine Gemeinde die schönsten Ceremonien in der allerbesten Ordnung hätte, hätte aber das reine Evangelium nicht, so wäre fie nichts weniger als lutherisch. Wir haben ja auch von Anfang ernstlich von guten Ceremonien geredet, doch keineswegs in dem Sinn, als läge das Gewicht in äußerlichen Formen, sondern uns unserer Freiheit in diesen Dingen zu gebrauchen. Denn rechte Lutheraner wissen, daß mandergleichen zwar nicht haben muß (weil kein göttliches Gebot da ist), aber dennoch haben darf, weil gute Ceremonien lieblich und schön und in Gottes Wort nicht verboten sind. Darum hat die lutherische Kirche die „äußerlichen Ornamente, Kerzen, Altartücher, Bilder und dergleichen Zier" nicht abgeschafft, sondern frei gelassen. Anders sind die Secten zu Werke gegangen, weil sie nicht zu scheiden wußten zwischen dem, was in Gottes Wort geboten, verboten und frei gelassen ist. Es sei nur an das tolle Verfahren Carlstadt's, seiner Anhänger und Nachfolger in Deutschland und in der Schweiz erinnert. Wir an unserm Theil haben die Ceremonien und den Ktrchenschmuck beibehalten, um mit der That zu beweisen, daß wir einen rechten Verstand der christlichen Freiheit haben und wissen, wie wir uns in Dingen, die von Gott weder ge- noch verboten sind, zu verhalten haben. Wir lassen uns auch nicht von denen bestimmen, die sich an unfern Kirchengebräuchen ärgern, und halten um so fester daran, wenn man uns um derselben willen ein .falsches Gewissen machen will. Das römische Antichristenthum knechtet die armen Gewissen, indem es dieselben mit seinem Gebot: du mußt das halten, unter die Menschensatzungen zwingt; die Secten knechten die Gewissen, indem sie denselben durch ihr Verbot: das darfst du nicht thun — zur Sünde machne, was Gott frei gegeben hat. Leider fehlt es auch noch gar manchem unserer lutherischen Christen an der rechten Erkenntniß ihrer Freiheit! Das beweiset ihre Scheu vor den Ceremonien. — Wahrhaft betrübend aber ist es, daß viele unserer Mitchristen den Unterschied zwischen Lutherthum und Pabstthum in äußerlichen Dingen finden. Erbärmlich und eine furchtbare Feigheit ist es, wenn man die alten, guten Kirchengebräuche den amerikanischen verblendeten Secten zu Lieb preis giebt, damit sie ja nicht veranlaßt werden zu sagen, man sei papistisch! Ei! Soll ich mich denn meiner guten Sache wegen vor einem das seligmachende Wort verkehrenden Methodisten fürchten oder schämen und mich nicht vielmehr freuen, daß die Secten auch an den Ceremonien sehen, daß ich nicht zu ihnen gehöre? —
Es ist auch Schade, daß in unserer Synode so ganz verschiedene Ceremonien herrschen und in manchen Gemeinden noch gar keine Liturgie eingeführt ist. Das Vorurtheil, besonders auch gegen das respondirende
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Singen des Pastors und der Gemeinde, ist bet Manchen freilich noch groß — aber sehr thöricht bleibt es doch. Der fromme Kirchenvater Augustinus hat gesagt: „Hui euntat, bis orst.", d. 1.: Wer singt, betet zweimal. Das findet auch auf die Liturgie seine Anwendung. Und warum sollten Gemeinden oder Einzelne in der Gemeinde ihre Dorurthetle behalten wollen? Wie thöricht wäre das! denn 1. geht aus den Worten St. Pauli, 1 Cor. 14,16., deutlich hewor, daß die Gemeinden seiner Zeit es ähnlich gehalten haben;
2. ist es in der lutherischen Kirche seit Vierthalbhundert Jahren Sitte gewesen;
3. macht es einen feierlichen Eindruck auf das christliche Gemüth, wmn man durch die Feierlichkeit des Gottesdienstes daran erinnert wird, daß man im Hause Gottes ist, wo die Kinder Gottes ihrer kindlichen Liebe gegen ihren himmlischen Vater, als auch ihrer geistlichen Freude in solch lieblicher Weise Ausdruck geben.
Es wird hiermit nicht behauptet, daß eine Gleichmäßigkeit der Empfindungen oder Gefühle und des Geschmackes bei allen gläubigen Christen obwaltet — es darf auch keiner verlangen, daß andere hierin gesinnt sein sollen wie er; — gleichwohl bleibt das wahr, daß die lutherische Liturgie 4. die lutherischen Gottesdienste von dmen der anderen Kirchen dermaßen unterscheidet, daß die Gotteshäuser der Letzteren nur als bloße Lehrsäle erscheinen, in denm die Zuhörer bloS angeredet und unterrichtet werden, während unsere Kirchen in Wahrheit Bethäuser sind, in welchen die Christen dem großen Gott öffentlich vor der Welt dienen.
Die Gleichmäßigkeit der Ceremonien (etwa nach der von der Synode herausgegebenen sächsischen Kirchenordnung, die unter den mannigfaltigen lutherischen Kirchenordnungen die einfachste ist) wäre wegen des damit verbundenen Nutzens auch sehr wünschenswerth. Ein armer Pabstknecht findet, wohin er auch kommen mag, ein und dieselbe Form des Gottesdienstes, woran er seine Kirche sogleich erkennt. Bei «ns sieht es anders aus! Wer ohne rechten Verstand der Lehre von Deutschland kommt, muß oft lange nach seiner Kirche suchen, und nicht Wenige sind unserer Kirche über diesem Suchen schon verloren gegangen. Wie ganz anders wäre es, wenn die ganze lutherische Kirche Eine Form des Gottesdienstes hätte! Darin läge zunächst allerdings nur ein äußerlicher, aber keineswegs gering zu schätzender Vortheil. Ist nicht schon mancher Lutheraner von den Secten fern geblieben, weil er bei ihrem Abendmahl das Brechen des Brodes statt Austheilung der Hostien sah? Auf den Einwurf: wozu eine gleichmäßige Ceremonie nütze? wurde mit der Gegenfrage erwidert, wozu eine Fahne auf dem Schlachtfelde nütze? Kann der Soldat auch den Feind damit nicht schlagen, so steht er doch an ihr, wohin er gehört. — Wir sollten uns nicht weigern, in die Fußstapfen unserer Väter zu treten. Schämten sie sich doch der guten Ceremonien so wenig, daß sie in der angeführten Stelle öffentlich bekennen: „es ist nicht wahr, daß wir solche äußerliche Ornamente alle wegthun." Hierbei wurde auch erwähnt, daß es keine gute Stimmung kund gebe, wenn die Leute bei der Beichte und
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Abendmahlsfeier nicht knieen wollen. Wer möchte denn seine Kniee nicht beugen vor dem großen Gott? Und wäre es Unrecht, die Christen darüber zu belehren? Luther sagt davon so trefflich, daß, wenn die Christen beim Empfang des Sacraments niederknieen, es ihn dünke, als hätte jeder sein Rauchfaß, womit er vor den Gnadenstuhl trete. — (Ps. 95, 6.)
(NB. Das Reinhalten der Gotteshäuser gehört auch zu den äußerlichen Ornamenten, zu guter Sitte und Ordnung!)
Das vierte Zeugniß befindet sich in den Schmalkaldischen Artikeln: „Wenn die Bischöfe wollten rechte Bischöfe sein und sich der Kirche und des Evan-gelti annehmen, so möchte man ihnen das um der Liebe und Einigkeit willen, doch nicht aus Noth, lassen gegeben sein, daß sie uns und unsere Prediger ordinirten und confirmirten." (Th. m, Art. 10.)
Diese Worte geben eine bündige Auslegung jener Worte der AugSbur-gischen Confession: daß der christlichen Versammlung um der Liebe und Friedens willen gebühre solche Ordnung zu halten: daß es nämlich nicht aus Noth geschehen müsse — als sei ein göttliches Gebot vorhanden, das uns dazu verpflichtete. Diese Stelle in unserm Bekenntniß ist ein köstliches Wort, ein Helles, herrliches Licht und ein Zeugniß, daß unsere Kirche die rechte, wahre sichtbare sei; denn es erhellt auch aus diesem Zeugniß, daß die lutherische Kirche alle Verfassungen des äußerlichen Kirchenregiments (sofern Mitteldinge in Betracht kommen) ertragen kann, wie denn seit der Reformation in den verschiedenen lutherischen Ländern episkopale, presbyteriale, con-sistoriale und congregationale d. H. communale Verfassungen bestanden. In letzterer, die zugleich der Ausdruck der Erkenntniß der christlichen Freiheit ist, übt die Gemeinde das höchste Gericht aus. Diese haben auch wir angenommen, und erklären demnach nicht nur in der Theorie, sondern auch in der Praxis, daß die Gemeinde das höchste und letzte Gericht habe, darin wir dem Exempel der heiligen Apostel folgen, die, wenn etwas zu beschließen war, „die ganze Menge" zusammen riefen. Äpostg. Kap. 1, Kap. 6, Kap. 15. Daß die lutherische Kirche jede Art der Verfassung ertragen kann, beweist ihr Bekenntniß sowohl als ihre Geschichte. Damit ist jedoch nicht gesagt, daß alle Arten gleich gut und zweckmäßig sind, sondern daß wir daran ein Zeugniß haben, daß die lutherische Kirche sich nicht trennt wegen der Verschiedenheit der Verfassung, solange nämlich nur die Lehre rein -leibt. Bei den Secten ist es umgekehrt: weil sie nicht streng scheiden, was in Gottes Wort geboten und freigelassen ist, so sehen sie nicht sowohl auf Reinheit und Einheit der Lehre, als auf gleichmäßige Verfassung. So haben sich die Episkopalisten, Congregationalisten, Methodisten, Albrechtsleute, Presbyterianer lediglich nur wegen ihrer Kirchenverfassungen getrennt und halten die Verschiedenheit der äußerlichen Formen für Kirchen trennend bis auf den heutigen Tag.
Welche ist denn die beste und zweckmäßigste?
Die, auch von Luther bevorzugte, Communal-Verfassung; denn sie folgt dem Exempel der apostolischen Kirche. — Hieraus läßt sich leicht schließen,
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aß das schlechte Besuchen der Gemeinde-Versammlungen eine traurige und beklagenswerthe Erscheinung ist. Die Folgen dieser Nachlässigkeit können so schrecklich werden, daß zuletzt eine ganz geringe Anzahl Glieder das Regiment der Gemeinde in die Hände bekommt! —
Fünftes Zeugniß:
„Von Ceremonien und Kirchen - Gebräuchen, welche in Gottes Wort weder geboten noch verboten sind, sondern guter Meinung in dir Kirche eingeführt worden, um guter Ordnung und Wohlstands willen oder sonst christliche Zucht zu erhalten, ist gleichermaßen ein Zwiespalt unter etlichen Theologen Augsburgkscher Confession entstanden... Was rechte Adiaphora oder Mitteldinge (wie die vor erkläret) sind, (so) glauben, lehren und bekennen wir, daß solche Ceremonien an ihnm und für sich selbst kein Gottes-dienst, auch kein Theil desselbigen, sondern von solchem gebührlich unterschieden werden sollen, wie geschrieben stehet: .Vergeblich dienen sie mir, dieweil sie lehren solche Lehre, die nichts denn Menschen-Gebote sein.' Matth. 15. Demnach glauben, lehren und bekennen wir, daß die Gemeine Gottes jedes Orts und jeder Zeit, dersel-bigxn Gelegenheit nach, guten Fug, Gewalt und Macht habe, diesel-bigen ohne Leichtfertigkeit und Aergerniß ordentlicher und gebührlicher Weise zu ändern, zu mindern und zu mehren, wie es jederzeit zu guter Ordnung, christlicher Discipltn und Zucht, evangelischem Wohlstand und zu Er-bauung der Kirche am nützlichsten, förderlichsten und besten angesehm wird. Wie man auch den Schwachen im Glauben in solchen äußerlichen Mitteldingen mit gutem Gewissen weichen und nachgeben könne, lehret Paulus Röm. 14, 21. und beweiset es mit seinem Exempel Apostg. 16, 3. 21, 26. 1 Kor. 9,19. Wir glauben, lehren und bekennen auch, daß zur Zeit der Bekenntniß, da die Feinde Gottes Worts die reine Lehre des heiligen Evangelii begehren unterzudrücken, die ganze Gemeine Gottes, ja, ein jeder Christenmensch, besonders aber die Diener des Worts, als die Vorsteher der Gemeine Gottes, schuldig sein, vermöge Gottes Worts die Lehre und was zur ganzen Religion gehöret, frei öffentlich und nicht allein mit Worten, sondern auch im Werk und mit der That zu bekennen, und daß alsdann in diesem Falle auch in solchen Mitteldingen den Widersachern nicht zu weichen, noch leiden sollen, ihnen dkeselbigen von den Feinden zu Schwächung des rechten Gottesdienstes und Pflanzung und Bestätigung der Abgötterei mit Gewalt öder hinterlistig aufdringen zu lassen, wie geschrieben steht Gal. 5,1. 2,4.5. .. Desgleichen ists auch zu thun um den Artikel der christlichen Freiheit, welchen zu erhalten der Heilige Geist durch den Mund des heiligen Apostels seiner Kirchen, wie jetzt gehöret, so ernstlich befohlen hat. Denn sobald derselbige geschwächt und Menschengebote mit Zwang der Kirche als nöthig ausgedrungen werden, als wäre Unterlassung derselben Unrecht und Sünde, (so) ist der Abgötterei der Weg schon bereitet, dadurch nach-mals Menschengebote gehäustt und für ein Gottesdienst nicht allein Herr Gebotm Gottes gleich gehalten, sondern auch über dieselbm gesetzet werden." (Concordiensormel Erklärung, Artikel 10.)
Zeigt uns der 28. Artikel der Augsburgischen Confession, wie es zur selben Zeit stand, was man sich in der Liebe um des Friedens willen gefallen ließ; so lehrt dieser Artikel, wie es sein soll und wie die Gewissen zu unterrichten sind. Von ganz besonderer Wichtigkeit, und mit keinem Gold zu bezahlen ist das Bekenntniß in diesem Artikel, „daß die Gemeinde jedes Ortes und jeder Zeit, derselbigen Gelegenheit nach, guten Fug, Gewalt und Macht habe, dieselbigen ohne Leichtfertigkeit und Aergerniß ordentlicher und gebührlicher Weise zu ändern, zu mindern und zu mehren, wie es jeder Zeit zu guter
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Ordnung, christlicher Diseiplin und Zucht, evangelischem Wohlstand und zu Erbauung der Kirche am nützlichsten, förderlichsten und besten angesehen wird." Auf diese Worte insonderheit wollen wir weisen, wenn man uns fragt, woher wir beweisen, daß wir die rechte lutherische Verfassung haben? Da stehts: jede Ortsgemeinde, sei sie auch noch so klein, hat so viel Gewalt wie die allergrößte, und hat demnach auch die größeste der kleinsten nichts vor-zuschreiben. Ja, was die Adiaphora betrifft, so kann eine menschliche Ordnung so wenig bindend sein, daß wir sogar das apostolische Verbot vom Blut-effen ganz unbeachtet lassen.
Wie ist denn dieses Verbot vom Blutessen wieder aufgehoben worden?
Es ist von selbst gefallen. Denn weil es 1. nur für jene Zeit und Umstände, unter welchen es gegeben war, galt, und 2. kein allgemeines war, sondern sich auf die Heidenchristen in Antiochien beschränkte, endlich 3. die Jüden-christen, denen die Heidenchristen kein Aergerniß geben sollten, in der Erkenntniß der heilsamen Lehre Christi auch immer mehr Zunahmen, so bedurfte es keines Beschlusses, dasselbe aufzuheben. Juden- und Heidenchristen hatten nachgehends ihre Regel in den Worten Pauli, Coloss. 2,16. „Die Apostel haben geheißen Apostg. 15., man soll sich enthalten des Blutes und Erstickten. Wer hält es aber jetzt? Aber dennoch thun die keine Sünde, die es nicht halten; denn die Apostel haben auch selbst die Gewissen nicht wollen beschweren mit solcher Knechtschaft, sondern Habens um Aergerniß eine Zeitlang verboten." (Augsb. Conf. Art. 28.)
Im Gebrauche der Gewalt, in äußerlichen Ordnungen etwas zu ändern, mindern oder mehren, darf jedoch die Gemeinde nicht außer Acht lassen, daß St. Paulus sagt: „Ich habe es alles Macht, aber es frommt nicht alles", 1 Cor. 6,12. Kap. 10,23. „Wir haben keine Macht zu verderben, sonder» zu bessern", 2 Cor. 10,8. Kap. 13,10. Darum giebt dieser Artikel auch zugleich Unterricht, wie die jeder Gemeinde inhaftende Gewalt zu handhaben sei. Nämlich:
1. ohne Leichtfertigkeit. Es ist etwas Trauriges, wenn es in einer Gemeinde alle Jahr anders gehalten wird. Die ganze Kirche soll in der ganzen Welt den Eindruck machen, daß sie bedächtig, vorsichtig und weise handelt, daß sie conservativ ist, d. H.: daß sie ohne Noth nichts ändert. Sonst giebt sie Veranlassung zu dem Gedanken, daß sie auch in der Lehre auf keinem festen Grunde stehe.
2. ohne Aergerniß: nämlich daß man weder bei der Nachbar-Gemeinde noch bei dm Einfältigen innerhalb der Gemeinde Anstoß errege. Wie zart die Gefühle in solchen Sachen oft sind, sieht man an dem Eindruck, den es macht, wenn der Pastor vor dem Altar oder auf der Kanzel einmal etwas vergißt. Darum darf allemal wohl gefragt werden, ob es auch recht sei, sein Recht zu gebrauchen?
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3. in ordentlicher, gebührlicher Weise—wederbestürmend,noch nach dem Kopf Einzelner; nicht aus Trotz mit Pochen auf das Recht, wie die Schwärmer, sondern aus Ueberzeugung, daß die Einführung oder Abänderung einer Ordnung nützlich ist, wie die Worte hier lauten: „wie es jederzeit.... am nützlichsten, förderlichsten und besten angesehen wird." Hierher gehört auch, daß man die alte Gottesdienst - Ordnung nicht etwa stück- und probeweise einführe; sondern daß man die Christen in Geduld unterrichte, ihnen das rechte Verständniß beibringe und dann die Form einführe, die -leiben soll.
Auf die Frage, wie die Einführung guter Ordnung auch „zuZchrist-licher Disciplin und Zucht" dienen könne? wurde geantwortet, daß die Kirchenzucht z. Ex. auf sehr verschiedene Weise gehandhabt werde; denn Christus habe zwar die Zucht Matth. 18. geboten, aber nicht die äußerliche Form derselben vorgeschrieben. Daher müsse ein Pastor oft zufrieden sein, wenn er einen unbußfertigen, halsstarrigen Sünder vom Sacrament suspen-dire, oder wenn es in der Gemeinde wenigstens so weit komme, daß ein Unbußfertiger von der Gemeinde für -ännisch erklärt werde, während, wo eine völlige Ordnung herrscht, der Ausschluß öffentlich von der Canzel abgekündigt wird. So verhält es sich auch mit der Buße und Abbitte nach einem schweren Fall und gegebenen Aergerniß. Die öffentliche Kirchenbuße dient zur heilsamen Disciplin und Zucht, weil die Anderen dadurch vor Sicherheit ge-warnt-werden und vor der Gefahr erschrecken, wie Paulus will, daß dir, so sündigen, vor allen gestraft werden, auf daß sich auch die Anderen fürchten. Darum, obgleich für den Bußfertigen selber die Privatabsolution gmügend wäre, so-leibt dennoch die öffentliche „Kirchenbuße", um des damit verbundenen Segens willen, alseine Ordnung, die zu christlicher Disciplin dient, höchst wünschenswerth. — Weiter soll auch der evangelische Wohlstand ins Auge gefaßt werden, d. H. das züchtige, sittsame Wesen, welches durch das Evangelium im Menschen gewirkt wird. — Zwar hindert das nicht an der Seligkeit, wenn z. E. Männer und Weiber in der Kirche durcheinander sitzen; wenn die Kirchstühle verkauft werden; wenn man in ungeschickter Haltung zum Tische Gottes tritt: aber es ist doch den Christen Phil. 4. gesagt: „ .. was keusch, was lieblich, was wohl lautet, ist etwa eine Tugend, ist etwa ein Lob, dem denket nach."
Zu dem Satze, daß wir an St. Paulo lernen, wie man den Schwachen im Glauben in Mitteldingen mit gutem Gewissen weichen und nachgeben könne, wurde bemerkt, daß man dabei zu allererst wissen müsse, wer die Schwachen seien, denen zu Gefallen auch einmal die Mehrheit weichen solle. Nämlich nicht diejenigen, die sich eigensinnig gegen gute kirchliche Ordnungen setzen und nicht hören und lernen wollen —diesen darf man nicht nachgeben, — sondern die, die gerne sich schicken wollten, aber Gewissens halben nicht können (weil sie fürchten, ihr Gewissen zu verletzen), — diesen soll man nachgeben, nach dem Vorbild des ersten Concils zu Jerusalem und nach dem Exempel St. Pauli, als welcher zwar den Timotheus, die Juden zu gewinnen
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(Apostg. 16.), beschnitt, dem Titus aber die Beschneidung — weil falsche Lehrer dieselbe forderten — durchaus verweigerte. Unsere Kirche hat uns hierin auch ein Exempel gegeben, indem sie um der Lutheraner willenJn der Pfalz Luther's Tauf - und Traubüchlein nicht in das Concordienbuch mit aufnahm. Denn die Pfälzer tasteten das lutherische Bekenntniß nicht an, sondern stießen sich damals noch am Exorcismus und an anderen ihnen bis dahin fremd gewesenen Ceremonien. — Das unterscheidende Kennzeichen, ob einer ein Schwacher sei oder nicht, ist eines Theils das irrende Gewissen bei ' einem redlichen Christen, der sich willig unterrichten läßt, und ändern Theils Eigensinn bei einem rechthaberischen Menschen, der keine Belehrung will. Man darf nur fragen: „Willst du das nicht? oder hast du einen Grund, weshalb du dich weigerst?" Wie dann zu verfahren, wenn man mit Schwachen zu thun hat, lehren die angeführten Schriftstellen: Röm. 14, 21. Apostg. 16,3. Kap. 21,26. (vergleiche den Zusammenhang dieses Kapitels,) 1 Cor. 9, 19—23. — Wenn ein Puritaner, den wir für die Wahrheit zu gewinnen suchten, uns an einem Sonntage besuchte, so wäre es recht, wenn wir alles streng vermieden, woran er in seinem befangenen Gewissen Anstoß nehmen könnte, damit wir ihn nicht von vornherein abstießen.
Warum man sündigt, wenn man daS thut, was zwar nicht
sündlich ist, von seinem irrenden Gewissen aber für Sünde gehalten wird?
Antwort: „Was nicht aus dem Glauben geht, das ist Sünde." Röm. 14, 23. Wer etwas thut, was in seiner Meinung Sünde ist, thut es mit bösem Gewissen und muß sich dabei vor Gott fürchten. Das kommt nicht aus dem Glauben. Denn aus dem Glauben etwas thun, heißt es aus-richten in der gewissen Zuversicht, daß die Person und das Werk Gott wohlgefalle. Wenn ein Falschgläubiger an einem lutherischen Gottesdienst oder Abendmahl Theil nimmt, denkt aber dabei, er thue Unrecht, so sündigt er. Wer dagegen ein Mittelding, das er in seinem irrenden Gewissen für sündlich hält, unterläßt, der thut ein gutes Werk. —
Von Bekenntniß - Ceremonien.
Es können Umstände eintreten, unter welchen lutherische Christen auch nicht im Geringsten in Mitteldingen weichen dürfen: nämlich wenn das Bekenntniß auf dem Spiel steht. Dieser, für alle Zeiten geltende Grundsatz ist in dem nun folgenden Abschnitt des lOten Artikels der Concordiensormel ausgesprochen: „Wir glauben, lehren und bekennen auch, daß zur Zeit der Bekenntniß ... . wie geschrieben steht Gal. 5,1. Kap. 2, 4. 5." — Weil die reformirten Secten mit dem Brechen des Brodes beim Abendmahl, und die Baptisten mit ihrem Untertauchen bei der Taufe ihre falsche Lehre verbinden und bekennen, so können und dürfen wir in diesen an sich untadeligen Dingen nicht nachgeben, sondern um des Bekenntnisses der reinen Lehre willen beim Gebrauch der Hostien und bei dem Begießen beharren, auf daß wir
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„den falschen Brüdern auch nicht eine Stunde weichen, ihnen unterthan zu sein, auf daß die Wahrheit unter uns bestehe". Daß also unsere Väter zur Zeit des Interims und der adiaphoristischen Streitigkeiten den Widersachern auch in Mitteldingen nicht wichen, auch der selige Arndt sich lieber verjagen ließ, als um der Reformirten willen den Exorcismus bei der Taufe („Ich beschwöre dich, du unreiner Geist, bei dem Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes, daß du ausfahrest und weichest von diesem Diener JEsu Christi — Amen") fallen zu lassen, war ganz dem Willen Gottes gemäß.
Wir haben hier also den Sitz der Lehre von den Bekenntniß-Ceremonien. Es wird uns immer vorgeworfen, wir handelten gegen unsere eigene Lehre von der Freiheit, weil wir, wenn es sich um das Bekenntniß handelt, auch, in Mitteldingen so strenge sind, und also einen Unterschied machen zwischen solchen, die man lassen kann, und solchen, bei deren Unterlassung oder Beibehaltung der falschen Lehre nachgegeben wird. Ehe wir z. B. um des Gebrauches des Brodes willen eine ganze Gemeinde zu Grunde gehen ließen, würden wir in diesem Stücke lieber nachgeben, weil der Gebrauch des gewöhnlichen Brodes keine Bekenntniß - Ceremonie ist, und nur der alberne Eigensinn der Reformirten einen Unterschied zwischen Brod und Hostien macht. In keinem Falle aber würden wir das Brod brechen, weil dieß eine Bekenntniß - Ceremonie ist. Denn „zur Zeit der Bekenntniß", sagt die Concordiensormel ganz richtig, „darf man nicht weichen"; nun aber ist es für uns immer Zeit, indem wir allenthalben von Reformirten und anderen Secten umgeben sind. Und wie mit dem Brodbrechen, so verhält es sich auch mit dem Untertauchen. Von der hannoverschen Landeskirche ist hierin auch schwer gesündigt worden, als die Ungläubigen vor einigen Jahren forderten, daß die lutherischen Prediger die Entsagungsformel bei der Taufe weglaffen sollten. Denn es handelte sich in diesem Falle nicht mehr um ein Mittelding; sondern um das Bekenntniß, da die Ungläubigen mit ihren Forderungen den Teufel wegleugnen wollten. Wer leugnet, daß ein Teufel sei, leugnet auch Christum und sein Erlösungswerk! —
Ueberaus wichtig ist auch dies Wort in dieser Stelle: „daß die ganze Gemeinde Gottes, ja ein jeder Christenmensch, besonders aber die Diener des Wortes, als die Vorsteher der Gemeinde Gottes schuldig sein..... nicht allein mit Worten, sondern auch im Werk und mit der That zu bekennm.." Wenn doch auch das Oüure1i-6ouuei1 sich dieses merken wollte! Den Worten nach bekennt sich dasselbe zwar auch zur Concordien-formel, aber mit der That verleugnet es dieselbe, indem es auch Reformirte zum Abendmahl zuläßt, irrgläubigen Predigern die Kanzel öffnet, gegen geheime Gesellschaften nicht entschieden zeugt. Dasselbe muß auch von den sogenannten Lutheranern in der Union gesagt werden. Diese, in Deutschland uno auch hier, meinen gleichfalls, es sei genug, nur mit Worten, nicht aber auch mit der That, den 7ten Artikel der Augsburgischen Confession zu bekennen, und werfen uns vor, wir seien zu exclusiv! —
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Mit besonderem Nachdruck D auch hervorzuheben, daß hier von einem jeden Chrtstenmenschen das Bekenntniß im Werk und mit der That gefordert wird. Viele meinen oft, sie seien dafür, was ihre Prediger thun oder nicht thun, nicht verantwortlich, oder sie dürften gegen die vom Bekenntniß abweichende Mehrheit nichts thun. Das ist aber ein gefährlicher Jrrthum! Gehört nicht jeder Einzelne zum Ganzen? und sollte er nicht verantwortlich sein für Alles, was er geschehen läßt? Liegt die Kirchenzucht darnieder, dringt falsche Lehre ein, bleibt das Unrecht unbestraft, so liegt die Verantwortung auf jedem Glied, das nicht dagegen zeugt. Wahrlich, die große Freiheit eines Christen legt ihm auch eine große Verpflichtung auf! — Daß aber in diesem lOten Artikel der Concordtenformel, der ein richtiges Hauptstück christlicher Lehre in unserer unionistischen und hierarchischen Zeit ist, nichts anders als die göttliche Wahrheit dargelegt wird, beweisen die angeführten Schriftstellen: Gal. 5,1. und Gal. 2, 4. 5. Erstere ist aber schon erklärt worden. In der letzteren haben wir die Lehre von den Bekenntniß-Ceremonien. Den Timotheus hatte Paulus beschneiden lassen; Titus durfte schlechterdings nickt beschnitten werden, weil die Verführer gesagt hatten, die Beschneidung sei nöthig zur Seligkeit. Und wie St. Paulus, durch den Geist Gottes erleuchtet und geleitet, weder bei der Beschneidung des Timotheus leichtfertig, noch bei der Verweigerung der Beschneidung des Titus halsstarrig handelte, so kann auch der lutherischen Kirche, als welche diesem Beispiel nachfolgt, weder Leichtfertigkeit noch Halsstarrigkeit (mit Recht) nachgesagt werden. Im Gegentheil, weil sie, dem apostolischen Erempel gemäß, zur Zeit des Bekenntnisses bei ihrer christlichen Freiheit doch so streng an den mit dem Bekenntniß verknüpften Mitteldingen hält, so wird sie daran, wie an ihren ändern Kennzeichen, als die wahre sichtbare Kirche Gottes auf Erden erkannt. — (Beiläufig wurde gefragt, was zu thun sei, wenn ein Prediger sage: ich predige nicht Luther's, oder Zwingli's, oder Calvin's, oder die römische Lehre; sondern ich predige die Bibel. Ich gebe euch nicht das lutherische, oder reformirte, oder römisch-katholische, sondern Christi Abendmahl? — Dem ist zu erwidern, er solle sich einmal über seine Lehre und Abendmahl deutlich aussprechen, dann wird sich's bald Herausstellen, weß Geistes Kind er ist. Stimmt seine Lehre mit der heiligen Schrift völlig überein, dann ist er auch lutherisch, so gewiß alles, was nicht lutherisch ist, auch nicht mit der heiligen Schrift übereinstimmt. So ist z. B. auch die neuere Secte unseres Landes: „Olirisl's Ottureü", die auch kein anderes Bekenntniß, als die Bibel, haben will, mit ihrem Gemisch falscher Lehre ein Beweis, daß Leute, die obige Redensarten im Munde führen, nichts weniger haben, als die Bibellehre.)
Wie nothwendig der gründliche Unterricht von der christlichen
Freiheit ist,
geht deutlich aus dem Schluß unseres Citats hervor: „Desgleichen ists auch zu thun um den Artikel der christlichen Freiheit...."
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Unsere Freiheit ist eine vierfache: 1. die Freiheit von der Verdammniß und dem Fluch des Gesetzes. Das ist das Größte und Herrlichste, was ein Christenmensch haben kann.
2. Die Freiheit vom Zwang des Gesetzes. Sobald der Mensch glaubt, bedarf er nicht mehr des Gesetzes als einer Ruthe, die ihn zwingt; sondern er ist sich selbst ein Gesetz und will, was Gott will. Jer. 31, 33.
3. Eine Freiheit von allen Menschensatzungen innerhalb der christlichen Kirche. Ein Christ sagt nicht, weil die Kirche dies und das befohlen hat, halteich es; sondern er thut es, weil seine rechtschaffene Liebe, wo diese es fordert, ihn dazu bewegt.
4. Die Freiheit vom mosaischen (Ceremonial-) Gesetz, wie schon im Verlauf der Verhandlungen davon geredet worden ist. Es ist nicht zu viel gesagt, wenn es hier heißt, daß durch Aufdringen von Menschengeboten der Abgötterei der Weg schon bereitet ist. Denn was ist Abgötterei anders, als wenn man sich irgend einem menschlichen Dinge als einem göttlichen unterwirft, oder menschliche Dinge den göttlichen gleich stellt? Wer einem ändern etwas Menschliches aufs Gewissen legt, macht sich zum Gott. So kann sich ein Pastor, eine Kirche, eine Synode zum Gott machen, gerade so wie der römische Pabst. Somit ist diese Stelle auch eine Aufforderung an jede Gemeinde, wohl zuzufthen, daß ihre Prediger in Sachen der christlichen Freiheit nicht zu weit gehen. Denn ist erst Ein Schritt geschehen, so folgt leicht der zweite und dritte nach, wie denn nicht zu leugnen ist, daß die alten Christen viel Schuld daran trugen — indem sie nicht über ihre Freiheit wachten — daß der verfluchte Antichrist sich in den Tempel Gottes setzen konnte, und wie ferner nicht zu leugnen ist, daß nicht immer gerade ein besonderer herrschsüchtiger Geist zur Beherrschung einer Gemeinde nothwendig ist, da es so in der Natur des Menschen liegt, daß er sich leichter Menschengeboten unterwirft, als durch das Evangelium sich frei machen und in der Freiheit des Evangeliums erhalten zu fassen. Wo aber die christliche Freiheit abhanden kommt, werden Menschengebote über Gottes Gebote gesetzt, wie man am Pabstthum sieht: wer sich in öffentlichen Sünden wälzt, findet dafür von seinem Priester gegen ein paar Ave Maria u. dergl. leichtlich Absolution; Übertritt er aber ein Kirchengebot, so ist er ein verlornes Kind. Ebenso steht es in den falschen Kirchen und tyrannisch regirten lutherischen Gemeinden. Wer gegen das Wort des Pastors sündigt, gilt für einen größeren Sünder, als wer Gottes Wort verachtet. Daher quälen sich die irregeleiteten Gewissen wegen Uebertretung der Menschensatzungen weit mehr, als wegen wirklicher Sünden, wie man z. B. in der pietistischen Periode an Erweckten vielfältige Erfahrung gemacht hat.
Das sechste Zeugniß: ein Citat aus Luthers Schrift: „Wider die himmlischen Propheten":
„Lieber, laß dir'S nicht gering Ding sein, verbieten, da Gott nicht verbeut; christliche Freiheit brechen, die Christus Blut gekostet hat; die Gewissen mit Sünde beladen, da
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keine ist. Wer das thut »nd thun darf, der darf auch alles Uebel thun, ja, er verlmgnet schon damit alles, was Gott ist, lehret und thut, sammt seinem Christo.. Darum höre zu, mein Bruder: du weißest, daß wir bei der christlichen Freiheit, als bei einem jeglichen Artikel des Glaubens, sollen Leib Md Leben lassen, und alle das thun, was man dawider verbeut, und alles das lassen, was man dawider gebeut, wie St. Paulus Gal. 5. lehret.. Nicht daß dir'S deines Gewissens halben noth sei, sondern daß es noth ist, die christliche Freiheit zu bekennen, und nicht erhalten und nicht gestatten, daß der Teufel da ein Gebot, Verbot, Sünde oder Gewissen mache, da Gott keine haben will. Wo du aber solche Sünde lassest machen, da ist kein Christus mehr, der sie wegnehme. Denn mit solchem Gewissen verleugnet man den rechten Christum, der alle Sünde wrgnimmt. Damm siehest du, wie in diesen geringen Dingen nicht geringe Gefahr stehet, wenn man damit auf die Gewissen will.. Wo man Gebot, Verbot, Sünde, gute Werke, Gewissen und Gefahr machen will, da Gott Freiheit haben will und nichts gebeut, noch verbeut, mußt du über solcher Freiheit feste halten, und immer das Widerspiel thun, bis du Freiheit erhaltest." (Wider die himmlischen Propheten. XL, 278. f.)
Nachdem dieses vorgelesen war, wurde zunächst die Frage gestellt: wie das zu verstehen sei, wenn Luther hier sagt: Wo du aber solche Sünden lassest machen, da ist kein Christus mehr, der sie wegnehme? und ob diese Sünden nicht auch in die fünfte Bitte mit eingeschloffen wären? Antwort: Luther redet hier von solchen, die die christliche Freiheit nicht gebrauchen, sondern verleugnen. Wie die rechte Lehre von der christlichen Freiheit der innerste Kern des Evangeliums ist, so ist auch kein Evangelium, wo diese Lehre fehlt, denn sie ist die nothwendige Folgerung von der Rechtfertigung aus Gnaden, und wer für sie kämpft, kämpft für Christi vollgültige- Erlösungswerk, darum auch Luther hier einen so großen Nachdruck auf die christliche Freiheit legt, indem er hinzufügt: „dieChristusBlut gekostet hat." Wer diese Lehre leugnet, stellt die ganze Heilslehre auf den Kopf. Christus hat uns von S ünden er-lös't: von Sünden, die Gott als Sünde erklärt. Wer aber Sünde macht, wo doch keine sind, muß auch einen ändern Christus machen.
Wie weit es kommen kann und zu welchen Greueln es führt, wenn man wider die christliche Freiheit lehrt, sehen wir u. A. an den Jesuiten, welche sagen, das Ehelichwerden sei den Priestern größere Sünde, denn Hurerei, weil die Kirche den Priestern die Ehe verboten habe. Um der Menschensatzungen willen also werden die Lehren der Teufel (1 Tim. 4,1. 3.) über Gottes Wort gestellt. — -
Bei Mitteldingen, die mitSünden verknüpft sind, darf man sich nicht auf seine Freiheit berufen.
Es gibt Mitteldinge, welche so beschaffen sind, daß sie fort und fort mit Sünden verbunden sind, sowohl nach der Beschaffenheit unseres Landes als auch unserer Zeit. In solchen Fallen würden wir elende Heuchler sein, wenn wir uns auf die christliche Freiheit berufen wollten; wir würden die Freiheit gebrauchen zum Deckel der Bosheit. Hierher gehören z. E. Tanz und regelmäßiges Besuchen der Schänkbudm. Wollte Jemand, so er davor gewarnt wird, seine Freiheit vorschützen, so wäre das gotteslästerlich, weil das
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nichts anders hieße, als daß Christus dazu gestorben sei, daß wir hinfort dem Fleisch und der Sünde dienen dürften. Leider reißt aber dieser Mißbrauch der Freiheit immer mehr ein! Ja, der ausgetriebene Teufel kehrt wieder ein — mit sieben ändern, die ärger find, denn er selber. Das Schlimmste dabei ist, daß auch Prediger die Schärft des Gesichts verlieren, und beschönigen und entschuldigen, wo sie warnen und strafen sollten, oder sich damit betrügen, daß sie ins Gedächtniß rufen, daß in Deutschland keine strenge Kirchenzucht geübt wurde! Das ist nicht lutherisch! Luther selbst hat schmerzlich über solchen losen Zustand geseufzt und ist mit Herzeleid in die Grube gefahren. Man lese nur seine herrliche Schrift: „Von der Ordnung der Messe und des Gottesdienstes", von 1526. Da stehts, wie es sein muß! Der theure Mann Gottes war wahrlich kein Vertreter des Weltwesens! Laßt uns doch, in seine Fnßstapfen tretend, wachen, damit wir, nachdem wir die Union mit der falschen Lehre glücklich überwunden haben, nicht mit der Welt und ihrem Wesen, dem Abgott Mammon und dem Saufteuftl unirt werden. Die Hauptursache, weshalb die Weltförmigkeit immer mehr einreißt, ist im Undank gegen die Gnadenschätze Gottes zu suchen (von welchem betrübten Schaden sonderlich 2 Pet. 2,18—22. nachzulesen). Wenn wir nicht so undankbar würden, und nach so reichlicher Weide in dem süßen Klee des heiligen Evangeliums, der Liebe und Erbarmung Gottes in Christo nicht vergäßen, so würden wir uns und die Welt verleugnen, züchtig, gerecht und gottselig leben in dieser Welt. Aber darum sollen wir auch nicht blos warnen und strafen; sondern durch die Gnadenpredigt zu guten Werken reizen und locken, dem Christen seine Herrlichkeit Vorhalten, daß er durch Christi bitteres Leiden und schmerzlichen Tod von der Sünde los und ein Kind Gottes geworden ist. Ist die Liebe Christi ausgegoffen in unsere Herzen, sind unsere Herzen im Hoffen und im Glauben erfüllt von der Seligkeit, die uns Christus erworben hat, so werden wir — ohne in ein saures Pharisäerthum zu verfallen, uns absondern von den Kindern dieser Welt und ihrem Wesen, und als fröhliche Kinder Gottes die heilsame Lehre Christi zieren in allen Stücken.
Zu den Dingen, bei denen ein Christ sich nicht auf seine Freiheit berufen kann, gehören auch die weltüblichen Pic-Nics, und das Vereinsweftn in unserem Lande: seien es die geheimen Logen, oder die Unterstützungsvereine, oder die Lebeusversicherunsgesellschaften, auf welche auch St. Pauli Worte 2 Cor. 6,14—18. zu beziehen sind.
Das siebente Zeugniß: Aus: Etliche Sprüche Luthers wider das Concil zu Constanz, 1531:
„Die Liebe ist Kaiserin über die Ceremonien, und Ceremonien sollen der Liebe, nicht aber Liebe den Ceremonien weichen. Wie auch Christus den Sabbath unter das Gesetz der Liebe wirst: In welcher, spricht er, hanget das ganze Gesetz und die Propheten. Darum soll in bloßen Ceremonien die Liebe Richterin und Meisterin sein, aber nicht im Glauben und Verheißungen Gottes." (XIX, 1707.)
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Hier haben wir wieder einen Beweis, daß die lutherische Kirche streng scheidet, was Gott in seinem Wort geboten und frei gelassen hat. Im Glauben weicht die Liebe nicht: denn da herrscht allein Gottes Wert — im Leben aber gibt sie nach, wo die Liebe es erfordert. Selbst im Alten Testament schon wäre das ein falscher Verstand des Ceremonialgesetzes gewesen, wenn die Juden die Werke derLiebe unterlassen hätten, wenn es schien, als seien sie wider dieß Gesetz. Als kein gemein Brod vorhanden war, setzte Ahimelech dem hungernden David die nach dem Ceremonialgefetz nur für die Priester bestimmten Schaubrode vor, weil die Liebe eS gebot, und dieses rechtfertigt unser HErr Christus, indem Er dieses Exempel gegen die Pharisäer in Betreff der Sabbathsheiligung anführt, was uns auch darum so wichtig ist, weil es beweist, daß der jüdische Sabbath nur ins Ceremonialgefetz gehörte.
Was das Moralgesetz betrifft, so ist zu bedenken, daß mit demselben im Grunde nur die Liebe geboten ist: die Liebe gegen Gott und den Nächsten. Was sonst in den Geboten ausgedrückt ist, sind nur Beispiele und Beweise dieser Liebe. „Die Liebe ist des Gesetzes Erfüllung." „Wer den ändern liebt, der hat das Gesetz erfüllt." „So ein ander Gebot mehr ist, das wird in diesem Worte verfasset: du sollst deinen Nächsten lieben als dich selbst." Wer diese Liebe nicht hat, lebe noch so fromm und thue was er wolle; er erfüllt das Gesetz doch nicht. Das sollen wir uns auch in der Amtsführung merken! Auch die Gemeinden sollen es sich merken; denn es kommt oft vor, daß sie ihre eigenen Ordnungen der Liebe zuwider geltmd machen. Die Liebe bleibt Kaiserin auch über Gemeinde-Constitutionen.
Unsere Gegner aber machen es in diesem Punkte gerade wie jener trunkene Bauer auf dem Pferde, der, wie Luther schreibt, wenn man ihm auf der einen Seite aufgeholfen, auf der ändern wieder herunter fiel. Sagen wir, die Liebe ist Kaiserin über die Ceremonien, so berufen sie sich, wie z. B. beim dritten Gebot, auf den Buchstaben, und sagen, da sei der Sonntag geboten. Berufen wir uns in Sachen der Lehre auf's Wort, das auch den Wucher, als der Liebe zuwider, verbietet, so schreien sie: „wollt ihr uns zu Juden machen? der Buchstabe bindet uns nicht mehr!" Das ist der Charakter unserer Zeit. Liebe will man, wenn sich's um die Lehre handelt, wo doch Gottes Wort allein Meister sein soll; wenn es sich aber handelt um das äußerliche Leben, schützt man den Buchstaben vor! Auf dieser Verkehrtheit beruhet die Union. Sie Hub an mit dem Geschrei: Liebe, Liebe! und trieb dabei die bekenntnißtreuen Christen mit blanken Säbeln in die unirten Kirchen; ja war vor lauter „Liebe" so grausam, daß die Lutheraner bis auf-Blut verfolgt und anfänglich sogar an der Auswanderung gehindert wurden.
Das achte Zeugniß ist ein sehr nachdenkliches, wichtiges Wort Luther's, aus den Artikeln von der christlichen Kirchen Gewalt („Etliche Artikel, so Martin Luther erhalten will wider die ganze Satans Schule", 1530. Art. S und 10.);
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„Die christliche Kirche hat Macht, Sitten und Weise zu stellen, die man halte in Fasten, Feiem, Essen, Trinken, Kleidern, Wachen und dergleichen. Doch nicht über Andere, ohne ihren Wille«, sondern über sich selbst; hat auch nie anders gethan, wird auch nie anders thun." (XIX, 1191.)
Summa Summarum r Die Kirche hat gar keine Macht über andere. Wenn eine Gemeinde etwas einführt unter Zustimmung der Gesammtheit, so ists gut: denn sie legt es sich selbst auf. Aber Neunundneunzig hätten kein Recht, keine Macht, dem Hundertsten Etwas zu befehlen öder aufzulegen. Da jedoch in Sachen, die weder geboten noch verboten sind, die Urtheile oft von einander abweichen, so ist das eine Ordnung in der Liebe, daß die Minderzahl sich in die Beschlüsse der Mehrzahl fügt — nicht als hätte die Mehrzahl ein Recht, etwas zu befehlen, sondern weil sonst keine Ordnung möglich wäre. Denn was wollte daraus werden, wenn jeder auf seinem Kopf bestehen und sein Urtheil geltend machen wollte?
Wie soll man aber mit dem verfahren, der sich weigert, etwas zum Pfarrgehalt betzutragen? Kann man ihm ein Gewisses auflegen?
Antwort: So schändlich und ungerecht das Taxiren der Einzelnen in der Gemeinde ist: so -leibt doch die Unterhaltung des Pastors ein göttliches Gebot. Denn die das Evangelium verkündigen, sollen sich vom Evangelium nähren, und der unterrichtet wird mit dem Worte, der theile mit allerlei Gutes dem, der ihn unterrichtet, — und: — ein Arbeiter ist feines Lohnes werth. Es giebt allerdings undankbare, geizige Menschen, die ihren Pastor umsonst arbeitet lassen, und nicht bedenken die saure Mühe und Arbeit, die er auch ihretwegen hat; ja sogar wohl befürchten, seine Einkünfte möchten zu groß werden. Muß er denn in Folge ihres Geizes kümmerlich leben, so halten sie das für ein heilsames Kreuz — für die kümmerlichen Tage auf Erden werde er im Himmel so viel bessere haben. Zu ihrem eignen Schaden vergessen sie der Warnung, die der Apostel, unmittelbar nachdem er die Sorge für den Unterhalt der Lehrer anbefohlen, folgen läßt: „Irret euch nicht, Gott läßt sich nicht spotten. Denn was der Mensch säet, das wird er ernten. Wer auf sein Fleisch säet, der wird von dem Fleisch das Verderben ernten." Gal. 6,6—8. Sie sind Diebe, die ihre Seelsorger und Mitchristen bestehlen und somit das siebente Gebot gröblich übertreten. Etwas also muß Jeder, der nicht selbst Almosen empfängt, zur Erhaltung des Predigtamts thun. Ehe man solche Leute aber in Kirchenzucht nehmen kann, welche zu wenig thun, muß ihr Geiz notorisch, das ist, Stadt und Land bekannt und unzweifelhaft bewiesen sein, auf daß ja Niemand als „die öffentlichen und unbußfertigen Sünder" von der christlichen Gemeinde ausgeschlossen werden. Ebenso ist es auch zu halten mit denen, die sich weigern, ihren Verbindlichkeiten in Betreff der Kirchenschulden, die mit ihrer Zu stimmun g gemacht worden sind, nachzukommen. Neu hinzukommenden Gliedern darf eine Ge-
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meinde nicht auflegen, alte Schulden abtragen zu helfen. Man darf sie freilich ersuchen, auch Hand anlegen zu wollen, da fle Alles in guter Ordnung vorfänden; aber ja nicht zwingen oder ihnen die Zahlung einer gewissen Summe zur Bedingung ihrer Aufnahme machen. „Die Kirche hat Macht... doch nicht über andere ohne ihren Willen, sondern über sich selbst; hat auch nie anders gethan, wird auch nie anders thun." Das bestätigt auch
Das neunte Zeugniß. Joh. Gerhard (in seiner OonksWio oallio-liou Seite 627.) sagt:
„Die wahre Kirche befiehlt nicht» Mitteldinge zu thuu oder'zu lassen um ihres Befehls willen; sondern nur um Erhaltung der Ordnung und des Anstandes willen, damit Ordnung beobachtet, Aergerniß aber vermieden werde. Und so lange dies unverletzt bleibt, läßt sie die Gewissen frei und beschwert sie weder mit Gewissensbedenken, noch mit gesetzlicher Verpflichtung."
Wenn wir wissen, daß Gott geredet hat, so fragen wir nicht erst, ob der Gehorsam nöthig, nützlich und gut ist, ob er Schaden oder Nutzen nach sich ziehe? sondern wir beugen uns und schiene es auch, als sollte die Welt darüber zu Grunde gehen. Dagegen wenn wir wissen, daß die Kirche etwas vorschreibt, so macht uns das kein Gewissen; wir willigen aber ein, wenn und weil wir sehen, daß es gut und nützlich ist — das heißt, um Umstände willen, nicht aus gesetzlicher Verpflichtung. Als z. B.r Wenn zur Zeit einer Pest oder Seuche eine Gemeinde sagt, wir wollen Buß- und Fasttage anordnen: denn wir sehen ein, daß ein besonderes, ernstliches und fleißiges Nachdenken über Gottes gerechtes Gericht, ein Neben im Gebet für unsere harten Herzen nöthig und heilsam ist, so würde wohl schwerlich Einer sich dawider setzen. Gesetzt aber, der Eine oder Andere litte über dem Enthalten von Speis und Trank Noth; er sähe ein, daß er bei seinem Fasten den Zweck doch nicht erreiche, könne vor Schwachheit des Leibes sonderlich in der Betrachtung des göttlichen Wortes das nicht leisten, was er gerne wollte: so thäte der wahrlich keine Sünde daran, wenn er durch das Stillen seines Hungers die gute Anordnung der Gemeinde übertreten würde; er könnte getrosten Muth dabei behalten, weil das Kirchengebot kein Gebot in seinem Gewissen ist. Aber er würde, um Ändern kein Argerniß zu geben, nicht frei öffentlich, sondern nur im Verborgenen die nothdürftige Speise genießen. —
Es ist demnach dieß Zeugniß Gerhard's eine für unsere Zeit höchst wichtige und wohl zu beachtende Regel; denn es zeigt uns so deutlich den großen Unterschied zwischen göttlichen und kirchlichen Geboten und lehrt dabei, wie wir uns insonderheit gegen letztere unbeschadet unserer christlichen Freiheit zu verhalten haben. Mitteldinge thun oder lassen wir „um Erhaltung der Ordnung und des Anstandes willen, damit Ordnung beobachtet, Aergerniß aber vermieden werde." Das gerade Gegentheil findet beim Gehorsam gegen Gottes Gebote statt: diese halten wir um des göttlichen Befehls
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willen. — So gibt also die ev.-luth. Kirche, indem sie streng scheidet, was in Gottes Wort geboten und freigelaffen ist, jeder Lehre des Wortes Gottes die Stellung und Bedeutung, die dieselbe in Gottes Wort selbst hat, woran sie, wie an ihren ändern Kennzeichen, erkannt wird als die wahre sichtbare Kirche Gottes auf Erden. —
Thesen,
die rechte Stellung dem hiesigen Hemperenztreiöen gegenüber betreffend.
Der Hochw. Districts-PräseS, welcher diesen Gegenstand der Synode zur Berathung empfohlen hatte, erklärte, was ihn dazu veranlaßt habe. Er habe nämlich bemerkt, daß man hin und wieder auf eine höchst thörichte und gefährliche Weise los zöge gegen derartigen Vereine und dexen Bestrebungen. Unmäßige, Säufer und Gewohnheitstrinker fänden darin öfters einen trefflichen Rückhalt. Darum sei wohl wichtig, daß wir die Sache besprechen. Von den über diesen Gegenstand der Synode vorliegenden Vorlagen wählte die Synode als Grundlage der Besprechung die vom Herrn Präses selbst verab-faßten Thesen. Aus Mangel an Zeit konnten dieselben nur bis zur These XI. inol. durchgesprochen werden. Bis dahin geschah deren Annahme. Sie lauten, beziehungsweise von der Synode berichtigt, wie folgt:
I.
Man muß die hiesige Temperenztreiberei bekämpfen; denn sie macht Sünde, wo Gott keine macht, sie will durchs Gesetz fromm machen, fördert damit Werkheiligkeit und Heuchelei und treibt so besten Falls einen Teufel durch den ändern aus.
II.
Man muß sie bekämpfen, aber auch recht bekämpfen. Hinter dem Anti-Temperenzgeschrei versteckt sich viel moralischer Stumpfsinn, Lieblosigkeit und Sauflust.
III.
Die Werkheiligen fahren freilich zur Hölle; aber die Säufer kommen an keinen besseren Platz. Wehe darum, wer gegen jene so streitet, daß er diesen das Gewissen einschläfert.
IV.
Allerdings soll man das Gegentheil von dem thun, wozu man wider die christliche Freiheit unser Gewissen binden will; aber XL. — nur da, wo es kein Aergerniß gibt.
V.
Ein Christ ist ja ein Mäßigkeitsmann und eine christliche Gemeinde eine Mäßigkeitsgesellschaft. Eben deshalb aber trachtet gerade ihnen der Saufteufel am meisten nach.