Text extracted by BackToLuther on 2016-10-28. It has been polished so few errors remain. The English translation was made by J.T. Mueller and published as part of the book What Is Christianity and other Essays. The English translation of this essay was “The Open Heaven”. Last edit 2016-10-28.
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Lehre und Wehre.
Jahrgang 75. Juli 1929. Nr. 7.
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Der offene Himmel.
Vortrag auf der Delegatensynode A.D.1929 von F. Pieper.
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I.
Ehrwürdige Väter und Brüder!
Auf den offenen Himmel möchte ich uns bei der diesjährigen Delegatensynode hinweisen. Die Heilige Schrift braucht das Wort “Himmel” nicht immer in demselben Sinn. Wenn es in der Schrift heißt: “Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde” 1) und: “Der Himmel ist durchs Wort des HErrn gemacht und all sein Heer durch den Geist seines Mundes”,2) so redet sie von dem Himmel der Schöpfung, von dem Himmel, den wir mit unsern Augen sehen. Dieser Himmel ist auch noch nach dem Sündenfall schön. Er ist es wert, angeschaut zu werden. Auch die Schrift fordert uns dazu auf. So im 104. Psalm: “Lobe den HErrn, meine Seele! HErr, mein Gott, du bist sehr herrlich; du bist schön und prächtig geschmückt. Licht ist dein Kleid, das du anhast. Du breitest aus den Himmel wie einen Teppich. Du wölbest es oben mit Wasser, du fährest auf den Wolken wie auf einem Wagen und gehest auf den Fittichen des Windes. . . . HErr, wie sind deine Werke so groß und viel! Du hast sie alle weislich geordnet, und die Erde ist voll deiner
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1) 1 Mos.1,1. 2) Ps. 33, 6.
Der offene Himmel. 197
Güter.” Luther bemerkt in seinen “Summarien über die Psalmen” zum 104.Psalm: “Ist ein Dankpsalm für alle andern Werke außer dem Menschen, die Gott geschaffen hat im Himmel und Erden, wie dieselben so ordentlich, gewiß und weislich gehen in ihren Werken, Früchten und Nutzungen. Wie er sie denn daher nacheinander zählet, daß der Himmel voller Licht ist und ohne Säulen und Balken steht als ein ausgebreiteter Teppich, die Wolken wie ein Gewölbe, ohne Grund und Pfeiler, die Winde fliegen ohne Federn; die Engel, ausgesendet, kommen wie ein Wind und Flammen gestaltet. Spielet also und hat seine Lust und Freude an Gottes Kreaturen, so wunderlich geschaffen und so schön untereinander geordnet.” 3)
Aber von diesem Himmel, den wir mit unsern leiblichen Augen schauen und mit Freude und Bewunderung betrachten, sagt die Schrift, daß er vergeht. Der Heiland sagt: “Himmel und Erde werden vergehen.” 4) Wir wollen jetzt aber von dem Himmel reden, der nicht vergeht, sondern ewig bleibt. Von diesem Himmel redet die Schrift vornehmlich. Um dieses Himmels willen ist die Heilige Schrift geschrieben und uns gegeben. Es ist der Himmel, mit dem der Heiland seine zagenden Iünger, wenn man ihnen hier auf Erden keine Wohnung gönnt, tröstet und sagt: “In meines Vaters Hause sind viele Wohnungen” 5); und im hohepriesterlichen Gebet betet er: “Vater, ich will, daß, wo ich bin, auch die bei mir seien, die du mir gegeben hast, daß sie meine Herrlichkeit sehen, die du mir gegeben hast.” 6) Kurz, unter dem Himmel, von dem wir insonderheit reden wollen, verstehen wir den Himmel des ewigen Lebens, der ewigen Seligkeit, das ewige, selige Leben in der Gemeinschaft Gottes, der heiligen Engel und aller Seligen. Den Himmel verstehen wir, von dem St.Paulus sagt: “Wir wissen aber, so unser irdisch Haus dieser Hütte zerbrochen wird, daß wir einen Bau haben, von Gott erbaut, ein Haus, nicht mit Händen gemacht, das ewig ist, im Himmel.”7) Den Himmel verstehen wir, den St.Petrus beschreibt als das “unvergängliche und unbefleckte und unverwelkliche Erbe, das behalten wird im Himmel”.8) Den Himmel meinen wir, von dem wir im Lied singen:
Jerusalem, du hochgebaute Stadt,
Wollt' Gott, ich wär' in dir!
und: O Ehrenburg, sei nun gegrüßet mir,
Tu' auf die Gnadenpfort'!
und: Was für ein Volk, was für ein' edle Schar
Kommt dort gezogen schon?
und: Propheten groß und Patriarchen hoch,
Auch Christen insgemein,
Die weiland dort trugen des Kreuzes Joch
Und der Tyrannen Pein,
Schau' ich in Ehren schweben,
In Freiheit überall,
Mit Klarheit hell umgeben,
Mit sonnenlichtem Strahl.
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3) St. L. IV, 179f. 5) Joh.14, 2. 7) 2 Kor. 5,1.
4) Matth. 24,35. 6) Joh.17, 24. 8) 1 Petr.1,4.
198 Der offene Himmel.
Und von diesem Himmel sagen wir auf Grund der Schrift, daß er für alle Menschen offen ist. Wäre dies nicht der Fall, so würde ich hier mit meinem Vortrag aufhören und den Rat geben, daß wir uns vertagen, unser Haupt verhüllen und traurig unsere Straße ziehen. Das menschliche Leben wäre nicht wert, gelebt zu werden, wie St. Paulus auch von den Christen sagt: “Hoffen wir allein in diesem Leben auf Christum, so sind wir die elendesten unter allen Menschen.”9) Nun aber ist der Himmel offen, und deshalb rate ich entschieden, daß wir in Sitznng bleiben. Dem offenen Himmel gilt und dient auch unsere Synodalversammlung hier in River Forest. Und wenn wir in diesen Tagen der Synodalsitzung im Glauben in den offenen Himmel schauen und dabei bedenken, daß der Zweck unserer Synodalverbindung kein anderer ist als der, Menschen in den offenen Himmel einzuführen, so sind wir von vornherein recht orientiert und werden durch Gottes Gnade in Reden und Beschlüssen auf der rechten Bahn bleiben.
Jawohl, der Himmel ist offen! Freilich, durch den Sündenfall unserer ersten Eltern war für uns Menschen der Himmel verschlossen. Die Gemeinschaft mit Gott, wozu der Mensch geschaffen war, kam durch den Sündenfall zu Ende. Als unsere ersten Eltern durch des Satans Betrug Gottes Gebot übertraten, brachten sie nicht nur über sich selbst, sondern auch über alle ihre Nachkommen, über das ganze Menschengeschlecht, Sündenschuld und mit der Sündenschuld Tod und Verdammnis. Alles Argumentieren gegen diese Tatsache, das reichlich geschehen ist und noch geschieht, ist völlig vergeblich. “Durch eines Sünde ist die Verdammnis über alle Menschen kommen.” 10) Ebenso vergeblich sind alle menschlichen Bemühungen, durch eigenes Tun, durch eigene Werke zur Gemeinschaft mit Gott wieder durchzudringen, den verschlossenen Himmel wieder zu öffnen. Der Mensch muß es lassen anstehen ewiglich. Durch des Gesetzes Werke wird kein Fleisch gerecht.11) Aber so gewiß das ist, so gewiß gibt es dennoch einen offenen Himmel.
Wie kommt das? Das kommt daher, daß Gott um des Sündenfalles willen das Menschengeschlecht nicht aufgegeben hat. Nach der Schrift hat Gott Menschen gern. “Seine Lust ist bei den Menschenkindern.” 12) Gott liebt die Menschen. Gott ist Philanthrop, ein “Menschenlieber”, wie Luther in der frühen Christmesse am zweiten Weihnachtstag über den Text Tit. 3, 4--8 predigt.13) Luther gebraucht hier den sonderbaren Ausdruck: “Gott liebt nicht die Person, sondern die Natur und heißt nicht personselig, sondern leutselig.” Luther will damit unauslöschlich die tröstliche Wahrheit einprägen, daß Gottes Liebe zu den Menschen”nicht einen Unterschied der Person unter den Menschen mache”, sondern “treffe alles das, das ein Mensch heißt, es sei wie gering es wolle”. Als Gott nun das Menschengeschlecht durch die Verführung des Teufels elend geworden, in Sündenschuld und damit in
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9) 1 Kor.15,19. 11) Gal. 2,16. 13) St. L. XII,130.
10) Röm. 5,18. 12) Spr. 8, 31.
199 Der offene Himmel.
Tod und Verdammnis gestürzt sah, da wurde seine Liebe zum Menschengeschlecht nicht ausgelöscht, sondern erst recht zu heller Flamme entfacht. Gott wandte sich vom gefallenen Menschengeschlecht nicht ab, sondern tat sich nun erst recht nahe zu ihm. Er ließ seinen ewigen Sohn, Gott von Gott, Licht von Licht, Mensch werden, menschliche Natur an sich nehmen, also Glied im Menschenorden werden, um die Sache des ganzen Ordens vor ihm zu führen und zu vertreten. Er verpflichtete seinen menschgewordenen Sohn, daß er das ganze den Menschen gegebene Gesetz an Stelle der Menschen erfülle.14) Er verpflichtete ihn auch, die ganze Sündenschuld, die auf dem Menschengeschlecht lag, auf sich zu nehmen.15) Und das hat der menschgewordene Sohn Gottes getan 16) und damit allen Menschen ohne Ausnahme den Himmel wieder völlig aufgetan.
Und das sind nicht unsere Gedanken. Das ist nicht von Menschen gemachte, nicht in Chicago oder St. Louis ersonnene Theologie. Nein, das ist Gottes eigene Lehre in seinem Wort. Denn so lesen wir 2 Kor. 5,19: “Gott war in Christo und versöhnete die Welt mit ihm selber und rechnete ihnen ihre Sünden nicht zu.” In diesen Worten ist genau die Art und Weise beschrieben, wie es zu dem für alle Menschen offenen Himmel gekommen ist. Hier ist erstlich gesagt, daß wir es mit einem Werk zu tun haben, das nicht Menschenwerk, sondern Gottes Werk ist. Es heißt: “Gott war in Christo und versöhnete die Welt mit ihm selber.” Hier ist zum andern gesagt, wie Gott die Versöhnung der Welt ins Werk gesetzt oder vollzogen hat. Die Welt stand bei dem Versöhnungswerk vor Gottes Angesicht mit Sünden beladen. Aber Gott rechnete ihr, den Sündern, ihre Sünden nicht zu, wohl aber rechnete Gott der Sünder Sünden dem einen zu, der unter allen Menschenkindern von keiner Sünde wußte, seinem menschgewordenen Sohn, wie im folgenden sogleich hinzugefügt wird: “Denn Gott hat den, der von keiner Sünde wußte, für uns zur Sünde gemacht, auf daß wir würden in ihm die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt.” Ferner kommt zur Aussage, wie weit die Versöhnung und der dadurch offenstehende Himmel reicht. Es heißt: “Gott war in Christo und versöhnte die Welt mit ihm selber und rechnete ihnen ihre Sünden nicht zu.” Die Versöhnung und der dadurch geöffnete Himmel reicht so weit, wie die Menschenwelt reicht, von dem ersten Menschenpaar nach dem Sündenfall, von Adam und Eva, bis zum letzten Menschen, der am Jüngsten Tag geboren wird. Denn der Apostel sagt nicht: “Gott war in Christo und versöhnete” die halbe Welt oder ein Viertel der Welt mit ihm selber, sondern “die Welt.” Die Welt ohne Einschränkung ist durch das Lamm Gottes, das der Welt Sünde trägt, mit Gott vor 1900 Jahren versöhnt worden, in Gottes Herzen von der Sündenschuld losgesprochen und für gerecht erklärt worden. Wie durch Adams Sünde Gottes Schuld- und Verdammungsurteil über die ganze Menschenwelt gekommen ist, so ist
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14) Gal.4,4. 5. 15) Gal. 3,13. 16) Ps. 40, 9.13; 69, 6.
200 Der offene Himmel.
auch durch Christi für die Menschen geleistete Gerechtigkeit Gottes Rechtfertigungs- und Lebensurteil über die ganze Menschenwelt gekommen. Das lehrt die Schrift ganz ausdrücklich. Es heißt Röm. 5,18.19: “Wie durch eines [nämlich Adams] Sünde die Verdammnis über alle Menschen kommen ist, also ist auch durch eines [nämlich Christi] Gerechtigkeit die Rechtfertigung des Lebens über alle Menschen kommen.” Das und nichts anderes ist auch abgebildet durch den wunderbaren Vorgang bei dem Versöhnungstode Christi: “Und siehe da, der Vorhang im Tempel zerriß in zwei Stücke, von oben an bis unten aus.” 17) Gottes Zorn über die Sünde der Menschen ist zu Ende gekommen. Christus ist durch sein eigen Blut einmal in das Heilige eingegangen und hat eine ewige Erlösung erfunden.18) Das von Gott selbst erwählte Opferlamm, das der Welt Sünde trägt, hat die Sündenschuld aller Menschen aus dem Wege getan. Allen Menschen steht der Himmel offen. Und endlich: Was Gott so in Christo vor 1900 Jahren an der ganzen Menschenwelt tat, ohne daß die Menschen ihn darum baten, ja auch ohne daß sie nur davon wußten, das hat Gott in seinem Herzen nicht verschlossen, sondern der ganzen Welt zu verkündigen befohlen. “Gott hat unter uns aufgerichtet das Wort von der Versöhnung.” Hier ist nicht die Rede von der Versöhnung, die im Herzen und Gewissen des Menschen vor sich geht, wenn der Mensch Buße tut und an Christum gläubig wird.19) Hier ist die Rede von der Versöhnung, durch die Gott vor 1900 Jahren die ganze Welt, ehe sie davon wußte und Gott darum bat, durch das Versöhnungsopfer seines Sohnes mit sich selber versöhnte. Hier ist die Rede von der Versöhnung, von der es heißt: “Wir” -- wir Menschen -- “sind Gott versöhnt durch den Tod seines Sohnes, da wir noch Feinde waren”,20) kurz, von der Versöhnung, durch die -kraft des einmaligen Versöhnungsopfers Christi -- für alle Menschen, keinen Menschen ausgenommen, der Himmel offen steht. Dies will Gott in die ganze Welt hinausgerufen haben. Dieser göttliche Auftrag liegt vor in den Worten: “Gehet hin in alle Welt und prediget das Evangelium aller Kreatur!” 21) Denn Evangelium predigen heißt predigen, daß durch die Versöhnung, die durch Christum einmal geschehen ist, allen Menschen der Himmel offen steht. Christum, den Gekreuzigten, predigen heißt predigen, daß durch Christi Blut und Tod allen Menschen der Himmel offen steht. Wer nicht den durch Christum für alle Menschen offenen Himmel predigt, der predigt nicht das Evangelium; der predigt nicht Christum, den Gekreuzigten; der predigt nicht die Liebe Gottes zu dem verlornen Menschengeschlecht, über deren Größe Christus selbst sich wundert, wenn er sagt: “Also hat Gott die Welt geliebet, daß er seinen eingebornen Sohn gab”;22) der predigt nicht die Versöhnung, die durch Christum geschehen ist und die St.Johannes
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17) Matth. 27,51. 20) Röm. 5,10.
18) Hebr. 9,12. 21) Mark.16,15.16.
19) 2 Kor. 5, 20. Apologie 101, 81. 22) Joh. 3,16.
Der offene Himmel. 201
mit den Worten preist: “Christus ist die Versöhnung für unsere Sünde, nicht allein aber für die unsere, sondern auch für der ganzen Welt.” 23)
Es ist heutzutage viel von der rechten “Weltanschauung” die Rede. Aber alles, was die Welt in der Regel unter das umfassende Kapitel “Weltanschauung” bringt, gehört zu den Kleinigkeiten. Die rechte Weltanschauung haben wir nur dann, wenn wir erkennen und festhalten, daß durch die Versöhnung, die durch Christum geschehen ist, allen Menschen der Himmel offen steht. Denn Christus belehrt uns dahin, daß zur Verkündigung dieser Tatsache die Welt überhaupt noch besteht, wenn er sagt: “Es wird geprediget werden das Evangelinm vom Reich in der ganzen Welt zu einem Zeugnis über alle Völker, und dann wird das Ende kommen.” 24)
Dies ist auch die rechte Weltanschauung, die wir für unsere Arbeit in Christi Reich durchaus nötig haben. Wo auch immer wir Gottes Wort verkündigen, es sei in der Heimat oder in der Fremde, überall treffen wir nur solche Menschen, für die durch Christum der Himmel offen steht. Daran erinnert Luther in der schon erwähnten Weihnachtspredigt. Er erinnert daran, wie wir hörten, daß wir ja in bezug auf das Wort, das wir zu verkündigen haben, “nicht einen Unterschied der Personen unter den Menschen machen”, sondern bedenken sollen, die Botschaft “treffe alles, das ein Mensch heißt”, es sei wie gering oder hoch es wolle. Es gibt, was die Versöhnung durch Christum betrifft, keinen Unterschied der Rasse, der Hautfarbe, des Standes, der Kultur und Unkultur, der weltlichen Ehrbarkeit und weltlichen Bescholtenheit. Unsere Synode hat ihre kirchliche Arbeit, was die Hautfarbe betrifft, unter Leuten vom tiefsten Schwarz bis zum weißesten Weiß und allen dazwischenliegenden Schattierungen. Allen steht durch die Versöhnung, die durch Christum geschehen ist, der Himmel offen. Es gibt keinen Unterschied des Standes zwischen Arbeitgebern und Arbeitern, zwischen reich und arm, zwischen König und Bettler. Allen steht durch die Versöhnung, die durch Christum geschehen ist, der Himmel offen. Es gibt auch keinen Unterschied zwischen bürgerlicher Ehrbarkeit und bürgerlicher Bescholtenheit. Dem Verbrecher, der zum Richtplatz geführt wird und von dem wir urteilen, daß ihm geschieht, was seine Taten wert sind, steht durch die Versöhnung, die durch Christum geschehen ist, der Himmel offen. Des zum Exempel hat der Heiland aller Menschen den bußfertigen Schächer öffentlich in sein Reich aufgenommen mit den Worten: “Heute wirst du mit mir im Paradiese sein.” In Summa: Allen Menschen, keinen ausgenommen, steht durch die Versöhnung, die durch Christum geschehen ist, der Himmel offen. Das ist gewißlich wahr!
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23) 1 Joh. 2, 2. 24) Matth. 24,14.
Lehre und Wehre.
Jahrgang 75. August 1929. Nr. 8.
Der offene Himmel.
Vortrag auf der Delegatensynode v. 1929 von F. Pieper.
II.
Wir haben uns aus der Heiligen Schrift daran erinnert, daß durch die Versöhnung der Welt, die durch Christum vor 1900 Jahren geschehen ist, allen Menschen der Himmel offen steht. Das war ein fröhliches Kapitel. Aber warum kommen denn nicht alle Menschen in den Himmel? Wir muffen heute das traurige Kapitel behandeln, daß und wie die Menschen den durch Christum offenen Himmel bekämpfen und dadurch sich selbst den offenen Himmel verschließen. Sie tun dies in mehrfacher Form und Gestalt: teils ganz offen, durch direkte Verwerfung des Versöhnungsopfers Christi, teils in mehr versteckter Weise, unter dem Schein christlicher Frömmigkeit, mit Berufung auf die Heilige Schrift, ja mit dem Anspruch auf Orthodoxie. Himmelsverschluh ist auf das entschiedenste mit dem Anspruch aufgetreten, die Blüte des wahren Luthertums zu sein. Es gilt, daß wir uns vor allen Himmelsverschliehern in acht nehmen. Das ist der Zweck der Behandlung dieses so überaus traurigen Kapitels. Wir könnten den Inhalt dieses Kapitels auch mit „Himmelsverschluh" wiedergeben.
Himmelsverschluß praktizieren ganz offen alle Unitarier. Unter dem Gesamtnamen „Unitarier" verstehen wir alle religiösen Gemeinschaften und Verbände, welche leugnen, daß Gott in Christo war und durch ihn die Welt mit sich selber versöhnte. Die Unitarier leugnen die ewige, wesentliche Gottheit Christi und folgerichtig auch die Versöhnung der Welt durch Christi stellvertretende Genugtuung (satisfactio vicaria, vicarious satisfaction oder atonement). Das heißt, sie leugnen die Lehre, daß Christus durch seine Gesetzeserfüllung an Stelle der Menschen und durch sein unschuldiges Leiden und Sterben an Stelle der Menschen die Menschen mit Gott versöhnt und ihnen den Himmel geöffnet habe. Sie leugnen die Lehre der Heiligen Schrift, die Luther in seinem Kleinen Katechismus mit diesen gewaltigen Worten bekennt: „Ich glaube, daß JEsus Christus, wahrhaftiger Gott, vom Vater in Ewigkeit geboren, und auch wahrhaftiger Mensch, von der Jungfrau Maria geboren, sei mein HErr, der mich verlornen und verdammten
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Menschen erlöset hat, erworben und gewonnen von allen Sünden, vom Tode und von der Gewalt des Teufels, nicht mit Gold oder Silber, sondern mit seinem heiligen, teuren Blut und mit seinem unschuldigen Leiden und Sterben, auf daß ich sein eigen sei und in seinem Reiche unter ihm lebe." Das ist es, was alle Unitarier leugnen! Freilich, viele von ihnen loben Christum. Sie stellen ihn wohl unter allen bekannten Religionsstiftern an die erste Stelle. Aber dabei halten sie Christum doch für einen bloßen Menschen. Sie reduzieren ihn auf einen bloßen Morallehrer, der durch sein erhabenes Tugendvorbild die Menschen gelehrt und ermuntert habe, daß und wie sie durch eigene Tugend und Werke sich den Himmel öffnen könnten und müßten. Das ist der Wahn, in dem alle Unitarier befangen sind. Von diesem Wahn aus gehen sie auch in die Offensive über. Sie erklären die christliche Lehre, daß Gott durch Christi stellvertretendes Leben und Sterben die Menschen mit sich versöhnt und ihnen dadurch den Himmel geöffnet habe, nicht nur für überflüssig, sondern auch für der Moral schädlich. Unitarier schreiten daher — mit den unitarischen Logen — dahin fort, daß sie die Christen auffordern, mit Juden, Buddhisten, Konfuzianern und andern Vertretern heidnischer Religionen um „einen gemeinschaftlichen Altar zu knien". Noch mehr! Unitarier haben es gewagt, sich für ihre Verwerfung der christlichen Religion auf Christum selbst zu berufen. Sie weisen gelegentlich auf die Worte Christi hin: „In meines Vaters Hause sind viele Wohnungen." Allerdings hat Christus diese Worte gesprochen. Wir finden sie Joh. 14, 2 ausgezeichnet. Aber die Unitarier vergessen, daß derselbe Christus sehr bestimmt erklärt, daß es zu den vielen Wohnungen in des Vaters Hause nur eine Tür gibt. Er sagt: „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater denn durch mich." 25) Und abermal: „So ihr nicht glaubet, daß ich es sei, so werdet ihr sterben in euren Sünden." 26) Es steht daher unverrücklich so: Christus, der zur Bezahlung der Sünden der Welt gekreuzigte Heiland der Welt, ist die einzige Himmelstür. An ihm vorbei gibt es keinen Weg in den Himmel. Schade! Auch den Unitariern hat Christus einen Platz im Himmel erworben. Bleiben sie aber dabei, den HErrn zu verleugnen, der sie mit seinem Blut erkauft hat,27) so schließen sie sich selbst von dem offenen Himmel aus. Die auch für sie erworbenen Wohnungen bleiben leer. Sie führen über sich die ewige Verdammnis, von der sie doch durch Christum losgekaust sind.28)
Welch eine traurige Tatsache ist es daher, daß die unitarische, den offenen Himmel verschließende Religion sehr allgemein auch in solche reformierten Gemeinschaften unsers Landes eingedrungen ist, die früher noch Christi Gottheit und seine stellvertretende Genugtuung bekannten! Der Unitarismus herrscht ferner fast allgemein auf den großen und berühmten Universitäten unsers Landes in ihren theologischen Abteilungen. Referent kann nicht vergessen, daß der langjährige Präsident einer un-
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25) Joh. 14, 6. 26) Joh. 8, 24. 27) 2 Petr. 2, 1. 28) 2 Petr. 2,1b.
Der offene Himmel. 227
serer berühmten Universitäten noch am Ende seiner Amtstätigkeit sich dahin aussprach, man werde die amerikanische Jugend nie wieder überreden können, zu der stellvertretenden Genugtuung Christi als dem einzigen Wege in den Himmel zurückzukehren. Damit ist nun freilich zu viel gesagt. Auch unsere amerikanische Jugend, einerlei ob ursprünglich britischer oder deutscher oder anderer Abstammung, kehrt zu dem einzigen Wege in den Himmel zurück, wo dieser Weg wirklich gelehrt wird. Das wissen wir gewiß. Wo dieser Weg, der gekreuzigte Christus, gelehrt wird, da sorgt der Heilige Geist dafür, daß dieses Lehren nicht ganz ohne Frucht geschieht.29) Unsere eigene christliche Jugend ist uns ein Beweis dafür. Zudem fehlt es nicht an Beispielen, daß auch solche Unitarier, die lebenslang die stellvertretende Genugtuung Christi bekämpften, auf ihrem Kranken- und Sterbebette zu dieser Lehre zurückkehrten. Wir hatten hier in den Vereinigten Staaten den Kongregationalisten Horace Bushnell († 1876), der in seinem Leben das stellvertretende Versöhnungsopfer (vicarious sacrifice) Christi leugnete. Als es aber mit ihm zum Sterben kam, sagte er, wie L. W. Munhall berichtet: "I fear what I have written and said upon the moral idea of atonernent is rnisleading and will do great harm.. O I,ord Jesus, I trust for mercy only in the shed blood that Thou didst offer on Calvary.”30) In Deutschland hatten sie beinahe gleichzeitig an der Universität Göttingen den auch in Amerika bekannt gewordenen Prof. Albrecht Ritschl. Der konnte in seinem Leben Paul Gerhardts Lied „O Haupt voll Blut und Wunden" nicht leiden. Als es aber mit ihm zum Sterben kam, bat er seinen Sohn, ihm die zwei letzten Verse des Gerhardtschen Liedes vorzulesen:
Wenn ich einmal soll scheiden,
So scheide nicht von mir;
Wenn ich den Tod soll leiden,
So tritt du dann herfür.
Wenn mir am allerbängsten,
Wird um das Herze sein,
So reiß mich aus den Ängsten
Kraft deiner Angst und Pein.
Erscheine mir zum Schilde,
Zum Trost in meinem Tod,
Und laß mich sehn dein Bilde
In deiner Kreuzesnot.
Da will ich nach dir blicken,
Da will ich glaubensvoll
Dich fest an mein Herz drücken.
Wer so stirbt, der stirbt wohl.
Hierin liegt das Bekenntnis, daß es nur durch Christi Versöhnungsopfer einen offenen Himmel gibt und daß alle vom offenen Himmel sich selbst ausschliehen, die an Christi Versöhnungsopfer vorbei durch eigene Tugend und Werke sich einen Weg in den Himmel bahnen wollen.
Himmelsverschluß praktizieren ferner alle, welche lehren, daß Christus nur für einen Teil der Menschen Gnade erworben und den Himmel geöffnet habe. So lehren die Calvinisten alter und neuer Zeit, unsere amerikanischen Calvinisten eingeschlossen. Calvin meint, Gott wolle etwa zwanzig Prozent der Menschheit selig machen; die übrigen
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29) Ies. 55,10.11.
30) Zitiert in Strong, Systematic Theology, S. 739 f.
228 Der offene Himmel.
achtzig Prozent habe er von Vorneherein zur Verdammnis geschaffen.^) Gott wolle wohl allerlei, aber nicht alle Menschen selig machend Calvin wird reichlich unhöflich gegen die, welche eine allgemeine Gnade um Christi willen lehren. Er nennt ihre Lehre „über die Maßen unsinnig und kindisch".W) Etwas höflicher, aber ebenso entschieden weist Prof. Charles Hodge von der amerikanischen Princeton-Universität die Schriftlehre zurück, daß Gott die ganze Menschenwelt durch Christum mit sich versöhnt habe. Er meint, es sei dies eine Gottes unwürdige Vorstellung. Er argumentiert so: Kein vernünftiges Wesen sei so töricht, Auslagen zu machen für ein Unternehmen, von dem er im voraus wisse, daß es nicht zum Ziel führen werde. Viel weniger dürfe man dem allmächtigen und allweisen Gott zuschreiben, daß er die ganze Welt mit sich versöhnt habe, da er doch sehr Wohl wußte, daß nicht die ganze Welt die Seligkeit erlangen werdeM) Ebenso entschieden verwirft die Westminster Confession of Faith die Lehre, daß die Erlösung, die durch Christum geschehen ist, sich auf alle Menschen beziehe: "Neither are any other redeemed by Christ, effectually called … but the elect only.”35) Die calvinistischen Reformierten erlauben sich also, Schriftworte wie diese einfach zu durchstreichen: „Gott war in Christo und versöhnte die Welt mit ihm selber", „Also hat Gott die Welt geliebet, daß er seinen eingebornen Sohn gab", „Siehe, das ist Gottes Lamm, welches der Welt Sünde trägt", „Christus ist die Versöhnung für unsere Sünde, nicht allein aber für die unsere, sondern auch für der ganzen Welt”.36)
Aber damit verschließen sie sich und allen, die ihnen folgen, den offenen Himmel. Wie denn? Also: Solange das Gewissen noch nicht recht von Gottes Gesetz getroffen ist, interessiert sich der Mensch nicht sonderlich für die Frage, ob Christus für hundert Prozent oder nur für zwanzig Prozent der Menschen gestorben sei. Er sieht das als eine Frage an, über die sich die Theologen streiten mögen. Das wird aber anders, sobald der Mensch von Gottes Gesetz recht getroffen wird, das ist, Gottes Verdammungsurteil in seinem Herzen und Gewissen empfindet. In diesem Zustande zählt er sich folgerichtig zu den achtzig Prozent, die Christus mit seinem Blut nicht von der ewigen Verdammnis erkauft habe. Und er muß in Verzweiflung umkommen, wenn er nicht auf die christliche Grundwahrheit hingewiesen werden kann, daß Gott in Christo war und die Welt, nicht einen Menschen ausgenommen, mit sich selbst versöhnt habe. Es fehlt daher auch nicht an Zeugnissen aus dem calvinistischen Lager, die dahin lauten, daß der Calvinist lutherisch werden, das ist, Gottes ganz unbeschränkte allgemeine Gnade glauben muß, wenn er nicht in Anfechtung und Todesnot
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31) Institutiones, III, 24, 12; vgl. III, 21, 5.
32) A. a. O., III, 24,16.
33) A. a. O., III, 23,1.
34) Systematic Theology, II,, 323 sq.
35) Chap. III, 5. 36) 2 Kor. 5,19; Joh. 3,16; 1, 29; 1 Joh. 2, 2.
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durch Verzweiflung umkommen soll. Derselbe Calvin, der die allgemeine Gnade als eine kindische Vorstellung beschreibt, empfiehlt in der Not der Anfechtung den Hinweis auf die allgemeine Gnade Gottes,37) obwohl er durch seine Verwerfung der allgemeinen Gnade eigentlich das Recht dazu verloren hat. Gewaltig lehrt Luther im Gegensatz zum Calvinismus die auf alle Menschen sich erstreckende Gnade Gottes und damit den für alle Menschen offenen Himmel. Luther wußte aus eigener Erfahrung, was für eine entsetzliche Not das ist, wenn ein Mensch in seinem Gewissen empfindet, daß er durch Gottes heiliges Gesetz zur Hölle verdammt wird. Andererseits wußte Luther auch aus eigener Erfahrung, daß es eine große, in der Schrift klar geoffenbarte Lehre gibt, die aus der größten aller Nöte errettet, nämlich die ganz unbeschränkte Gnade Gottes, die das ganze menschliche Geschlecht und jedes einzelne Glied desselben umfaßt. Luther schreibt: „Ja, möchtest du sagen, wer weiß, ob Christus auch meine Sünde trage? Ich glaube Wohl, daß er St. Petri, St. Pauli und anderer Heiligen Sünde getragen hat; die waren fromme Leute; wenn ich auch St. Petrus oder St. Paulus wäre! Hörest du nicht, was hier St. Johannes [1, 29] sagt: ,Dies ist das Lamm Gottes, das da trägt die Sünde der Welt’? Nun kannst du ja nicht leugnen, du seiest auch ein Stück der Welt. ... So du fnun^ in der Welt bist und deine Sünden sind ein Stück der Weltsünde, so stehet hier der Text: Alles, was Sünde heißt, Welt und der Welt Sünde, von Anfang der Welt her bis ans Ende, das liegt allein auf dem Lamm Gottes." Und unser lutherisches Bekenntnis, die Konkordienformel,38) sagt: „Wir müssen in alle Wege steif und fest darüber halten, daß, wie die Predigt der Buße, also auch die Verheißung des Evangelii universalis [sei], das ist, über alle Menschen gehe." Jeder Lehrer, der die allgemeine Gnade leugnet, stellt sich vor die offene Himmelstür und wehrt, soviel an ihm ist, teuer erkauften Seelen den Eingang. Seien wir daher auch vorsichtig in der Empfehlung calvinistischer Schriften. Es gibt auch zu unserer Zeit Calvinisten, die die Inspiration der Heiligen Schrift und die stellvertretende Genugtuung Christi mit Ernst gegen Unitarier und andere festhalten wollen. Aber sie lassen diese Lehren nicht zu ihrer heilsamen Wirkung kommen, wenn sie daneben lehren, daß Christus nur einen Teil der Menschen, etwa 20 Prozent, mit Gott versöhnt habe und daher auch nur für diesen Teil die Heilige Schrift Gnadenwort sein solle. Ja, es steht so: Wäre Christus für alle Menschen, nur einen Menschen ausgenommen, gestorben, so würde jeder Sünder, dessen Gewissen von dem Verdammungsurteil des göttlichen Gesetzes getroffen ist, geneigt sein, sich für den einen unglücklichen Menschen zu halten, für den Christus den Himmel nicht geöffnet habe. Darum mahnt unser lutherisches Bekenntnis so angelegentlich: „Wir müssen in alle Wege steif und fest darüber halten.
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37) Inst., III, 24,17. 38) M. 709, 28 ff.
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daß, wie die Predigt der Buße, also auch die Verheißung des Evangelii universalis [sei], das ist, über alle Menschen gehe."
Aber das traurige Geschäft der Himmelsverschließung wird in noch weiteren Kreisen praktiziert. Es wird praktiziert von allen, die zwar lehren, es gebe für alle Menschen eine von Christo erworbene Gnade, aber diese im Evangelium verkündigte und dargebotene Gnade und des Heiligen Geistes Gnadenwirkung zur Hervorbringung des Glaubens an dies Evangelium reiche nicht hin, um in den Himmel zu kommen, sondern dazu gehörten auch des Menschen Werke, eigenes Tun und eigene Würdigkeit.
So die römische Kirche. Die römische Kirche stellt sich vor die Himmelstür, die durch Christi vollkommene Genugtuung offen ist, und fordert, daß die, welche eintreten wollen, eine Erfüllung „des Gesetzes Gottes und der Gebote der Kirche" vorzeigen müssen. So lehrt die römische Kirche in ihrer Hauptbekenntnisschrift, in den Beschlüssen des Tridentinischen Konzils.39) Rom spricht sogar den Fluch aus über alle, die ihr Vertrauen allein auf die göttliche Barmherzigkeit setzen, welche die Sünden um Christi willen vergibt.40) Daß diese Forderung himmelverschließend wirkt, lehrt die Schrift mit den Worten: „Ihr habt Christum verloren, die ihr durch das Gesetz gerecht werden wollt, und seid von der Gnade gefallen" und: „Die mit des Gesetzes Werken umgehen, die sind unter dem Fluch." 41)
Vor die von Christo vollkommen geöffnete Himmelstür stellen sich auch die arminianischen Reformierten. Diese wollen im Unterschiede von den calvinistischen Reformierten eine auf alle Menschen sich erstreckende Gnade Gottes lehren. Aber, so fügen sie hinzu, Gottes Gnade in Christo sei nicht genug zu des Menschen Bekehrung und Seligkeit; der Mensch müsse dazu mitwirken durch eine Kraft zum geistlich Guten, die ihm auch nach dem Sündenfall noch geblieben sei. Sie behaupten, Gottes Gnade in Christo könne sich nicht durchsetzen ohne Mitwirkung des freien Willens des Menschen, non posse exire in actum sine cooperatione liberae voluntatis humanae.42) Wie unmöglich dem Menschen die Erfüllung dieser Forderung ist und wie himmelverschließend daher diese Forderung wirkt, lehrt die Schrift, wenn sie nach dem Sündenfall von jedem natürlich gebornen Menschen sagt: „Tot in Sünden";43) wohl gemerkt: nicht halbtot, sondern tot in Sünden. Ferner: „Der natürliche Mensch vernimmt nichts vom Geiste Gottes; es ist ihm eine Torheit und kann es nicht erkennen." 44) Der gekreuzigte Christus ist „den Juden ein Ärgernis und den Griechen eine Torheit".45) „Das Dichten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend
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39) Sessio VI, can. 20.
40) A. a. O., oan. 12.
41) Gal. 5, 4; 3,10.
42) Apol. Conf. Remonstr., p. 162; bei Winer, Kompar. Darst.3, S. 81 f.
43) Eph. 2,1—3. 44) 1 Kor. 2,14. 45) 1 Kor. 1, 23.
Der offene Himmel. 231
auf." 46) Wie kann es bei diesem Zustande des natürlichen Menschenherzens zu der Mitwirkung kommen, die zur Erlangung des Glaubens und der Seligkeit von den arminianischen Reformierten gefordert wird? Wahrlich, alle, die sich mit dieser Forderung vor die Himmelstür stellen, errichten, soviel an ihnen ist, eine feste Blockade gegen den durch Christum offenen Himmel.
Wir kommen jetzt zu dem traurigsten Ereignis der Kirchen- und Weltgeschichte der letzten Jahrhunderte. Durch Luthers Dienst gab Gott der Kirche den durch Christum offenen Himmel zurück, der durch des Papstes Werklehre den armen Sündern so lange Zeit verschlossen gewesen war. Luther rief mit starker Stimme in die Kirche und in die Welt hinaus, daß zwar durch Gottes heiliges Gesetz alle Menschen zum Tode und zur ewigen Verdammnis verurteilt seien, daß es aber in der Heiligen Schrift neben dem Gesetz Gottes auch ein Evangelium Gottes gebe, das den Menschen kundtue, daß um der Genugtuung willen, die Christus dem Gesetz Gottes leistete, allen Menschen ohne eigene Würdigkeit und Werke der Himmel geöffnet dastehe. Luther sagt: „Also ist das Evangelium Gottes und Neue Testament eine gute Märe und Geschrei, in aller Welt erschollen durch die Apostel, von einem rechten David, der mit der Sünde, Tod und Teufel gestritten und überwunden habe und damit alle die, so in Sünden gefangen, mit dem Tode geplagt, vom Teufel überwältigt gewesen, ohne ihr Verdienst erlöset, gerecht, lebendig und selig gemacht hat und damit zusriedengestellt und Gott wieder heimbracht." 47) Ferner: Gott „hat uns das Evangelium, darin eitel Vergebung ist, geschenkt, ehe wir darum gebeten oder jemals danach gesonnen haben".48) Luther nennt die Einmischung von Menschenverdienst und Werken in die Lffnung des Himmels „eine unerträgliche und erschreckliche Gotteslästerung", weil wir aus der Heiligen Schrift wissen, „daß Gott nicht anders versöhnt werden kann als durch diesen unermeßlichen und unendlichen Schatz, nämlich durch den Tod und das Blut seines Sohnes; denn ein Tröpflein desselben ist köstlicher als alle Kreatur".49) In Übereinstimmung damit sagt Luther von dem Versuch, durch Menschentun und Menschenwerke das Versöhnungswerk Christi zu ergänzen — ein „Ärgernis", das aus der Kirche abzutun sei.50) Aber es läßt sich nun leider nicht leugnen, daß dieses Ärgernis schon zu Luthers Lebzeiten mitten in der lutherischen Kirche sich regte und bald nach Luthers Tode offen das Haupt erhob — und zwar in Wittenberg selbst. Der spätere Melanchthon, früher ein treuer Gehilfe Luthers, lehrte und fand Anhänger für seine Lehre, daß der Heilige Geist und die Wirkung des Heiligen Geistes im Gnadenevangelium nicht hinreiche, um einen Menschen zu Gott zu bekehren, sondern es müsse als dritte Ursache des Menschen eigener Wille, der sich zur Gnade Gottes schicke,
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46) 1 Mos. 8,21. 49) Zu Gal. 2, 20. IX, 237 f.
47) St. L. XIV, 86. 50) A. a. O., 236.
48) Großer Katechismus; M., S. 478, 88.
232 Der offene Himmel.
hinzukommen (facultas applicandi se ad gratiam). Gott sei Dank, durch die Konkordienformel wurde dieses Ärgernis, wodurch Christi Heilandsehre angetastet und der Menschen Seligkeit auf ihr eigenes Tun gegründet wird, aus der lutherischen Kirche weggeschafft und der offene Himmel restituiert. Trotzdem ist dieses Ärgernis auch in der Folgezeit innerhalb der lutherischen Kirche immer wieder aufgetaucht. Die deutschländischen Theologen des neunzehnten Jahrhunderts, die in weiteren Kreisen als Vertreter der lutherischen Theologie gelten, wandeln fast allgemein nicht auf den Wegen Luthers und der lutherischen Kirche, sondern folgen den Spuren des späteren Melanchthon. Sie meinen, lehren zu müssen, daß des Menschen Bekehrung und Seligkeit im letzten Grunde auf dem Menschen selbst beruhe, auf seinem rechten Verhalten, seiner Selbstentscheidung oder Selbstbestimmung für die Annahme der Gnade. Die Gnade Gottes begleite den Menschen bis an die Himmelstür. Dann überlasse sie den Menschen sich selbst. Die Tür müsse der Mensch selbst auftun.51) So die deutschländische neulutherische Theologie. Aber insonderheit ist auch innerhalb der amerikanisch-lutherischen Kirche das „Allein aus Gnaden" mit großem Ernst bekämpft und verworfen worden. Hierzulande wurde nicht nur gelehrt, daß die Bekehrung und Seligkeit vom rechten Verhalten des Menschen abhänge, sondern auch hinzugefügt, wer nicht so lehre, sondern Bekehrung und Seligkeit allein der Gnade Gottes zuschreibe, der irre im Fundament des Glaubens, sei ein falscher Lehrer, ein Wolf im Schafskleide, ein Calvinist.52) Die uns hierzulande in der Lehre von der Bekehrung und Gnadenwahl so ernstlich bekämpften, stellten sich wahrhaftig vor die durch Christum offene Himmelstür mit der Forderung, die kurz, aber vollkommen richtig so zusammengefaßt worden ist: Eintritt nur auf Grund des rechten menschlichen Verhaltens, ackniittLno6 6xo6pt on 800(1 dsÜLvior. Man wendete ein: Wir meinen nicht rechtes Verhalten an sich, sondern nur vergleichsweise. Wir meinen nur, daß die, welche in den Himmel kommen wollen, ein geringeres Widerstreben und eine geringere Schuld aufweisen müssen, im Vergleich mit denen, die nicht bekehrt und selig werden. Aber wenn wir so argumentieren, machen wir erst recht offenbar, daß wir Himmelsverschluß praktizieren. Denn gerade mit dem vergleichsweise besseren Verhalten und der vergleichsweise geringeren Schuld, die wir uns zuschreiben, treten wir in den Orden der Pharisäer ein, die ungerechtfertigt in ihr Haus hinab gehen,53) also sich vom Himmel ausschließen, solange sie Ordensglieder bleiben. Denn so beschreibt der Heiland die Gedanken eines Pharisäers: „Ich danke dir, Gott, daß ich nicht bin wie die andern Leute: Räuber, Ungerechte, Ehebrecher oder auch wie dieser Zöllner." Luther gebraucht eine starke Sprache in bezug auf das vergleichsweise Besserseinwollen, eine Sprache, die unsere zivilisierten
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51) Die Belege in „Christl. Dogmatik" II, Note 1296. 1317.
52) Die Belege in „Zur Einigung" 2, S. 24. 53) Luk. 18,14.
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Ohren beleidigt. Luther nennt es einen „heimlichen” und „greulichen Tück” des Teufels, wenn jemand sich in seinem Herzen vor Gott auch nur über eine Hure erhebt. Wörtlich sagt Luther: „Gott verbietet dir, daß du dich über keine Hure erhebest, wenn du gleich Abraham, David, Petrus oder Paulus wärest.” 54) Das wissenschaftliche Orakel seiner Zeit, Erasmus von Rotterdam, wollte in seiner Schrift De Libero Arbitrio (1524) Luther überreden, er (Luther) möchte doch die Erlangung der Seligkeit nicht ganz der Gnade Gottes zuschreiben, sondern einen Kompromiß machen und neben Gottes Gnade auch das menschliche Wohlverhalten, die facultas applicandi se ad gratiam, in den Heilsweg aufnehmen. Luther antwortete in seiner Schrift De Servo Arbitrio (1525): Jugulum petisti, Du bist mir an die Kehle gefahren,55) das heißt, du willst mir das „Allein aus Gnaden” rauben und mir dadurch den durch Christum geöffneten Himmel verschließen.
Ehrwürdige Väter und Brüder! So hätten wir uns an einigen Hauptpunkten vorgeführt, wie Menschen sich selbst den Himmel verschließen, der durch Christi Versöhnungsopfer allen Menschen offen steht. Gottes Gnade bewahre uns vor dem Himmelsverschließungsgeschäft in jeder Form!
Nicht mehr,denn: Lieber HErre mein,
Dein Tod wird mir das Leben sein,
Du hast für mich bezahlet!
Just as I am, without one plea
But that Thy blood was shed for me
And that Thou bidst me come to Thee,
O Lamb of God, I come, I come. F. P.
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54) St. L. XI, 515. 55) Oxx. v. s. VII, 367.
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Lehre und Wehre.
Jahrgang 75. September 1929. Nr. 9.
Der offene Himmel.
Vortrag auf der Delegatensynode v. 1929 von F. Pieper.
III.
Wir fragen noch zuletzt: Was können und sollen wir tun, damit, soviel an uns ist, der durch Christum offene Himmel den Menschen offen bleibe? Die Antwort ergibt sich aus dem bisher Gesagten.
Wir sahen erstlich: Es ist nicht eine von Menschen gemachte, sondern Gottes eigene Lehre, die in seinem Wort geoffenbart vorliegt und auf Grund dieses Wortes auch in unserm lutherischen Bekenntnis bezeugt ist, daß Gott durch seines menschgewordenen Sohnes stellvertretendes Leben, Leiden und Sterben die ganze Menschenwelt mit sich versöhnt hat und datz dadurch allen Menschen ohne Ausnahme der Himmel offen steht. Diese Wahrheit müssen wir klar und unermüdlich lehren und bekennen. Wir sahen zum andern, wodurch die Menschen selbst sich den offenen Himmel verschließen. Insonderheit mußten wir feststellen, daß nicht nur von Rom, durch offen ausgesprochene Werklehre, sondern auch im sogenannten protestantischen Lager Himmelsverschlutz praktiziert wird. Bei den calvinistischen Reformierten geschieht dies dadurch, daß die Versöhnung, die durch Christum geschehen ist, auf etwa zwanzig Prozent der Menschen beschränkt wird. Bei den arminianischen Reformierten und den entgleisten Lutheranern geschieht dies dadurch, daß sie nur die Menschen in den Himmel hineinlassen wollen, die neben Gottes Gnade auch eigenes Wohlverhalten als rettenden und ausschlaggebenden Faktor aufzuweisen haben. Bei dieser Sachlage ist es unsere Aufgabe, durch Gottes Gnade gegen alle menschlichen Einwände sowohl an der allgemeinen Gnade (universalis gratia) als auch an der alleinigen Gnade (sola gratia) unverrückt festzuhalten. Das haben durch Gottes Gnade die Väter unserer Synode vor uns getan. Wir müssen durch Gottes Gnade dasselbe tun, wollen wir anders ihre rechten Kinder sein und den Namen "Lutheraner" mit Recht tragen.
Im Jahre 1863 hatte der reformierte Theologe Lizentiat der Theologie Emil Wilhelm Krummacher in der reformierten Erlanger "Kirchenzeitung" einen Artikel geschrieben unter dem Titel: "Warum wir nicht lutherisch, sondern reformiert sind." Deutsch-reformierte Kirchenzeitungen in den Vereinigten Staaten druckten den Krummacher-
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schen Artikel ab. Sie wollten damit hierzulande für die reformierte Kirche gegen die lutherische Kirche Propaganda machen. Gegen diesen Angriff erschien im neunten Jahrgang von "Lehre und Wehre" (1863) ein Artikel unter der Überschrift: "Einige Bemerkungen über eine neue Apologie der reformierten Kirche." Dieser von v. Walther geschriebene Artikel erstreckt sich durch vier Nummern von "L. u. W." (Sept. bis Dez. 1863) und ist, nebenbei bemerkt, eine der gründlichsten Widerlegungen der ganzen reformierten Lehre, insofern sie von der lutherischen Lehre sich unterscheidet.
Natürlich wird in dieser Auseinandersetzung mit der reformierten Kirche auch die Lehre von der Bekehrung und Gnadenwahl behandelt. Und zweierlei ist es, was dem reformierten Lizentiaten, der erobernd in die lutherische Kirche eindringen will, als lutherische Lehre entgegengehalten wird: die uneingeschränkte allgemeine Gnade, universal^ Gratia, und die uneingeschränkte alleinige Gnade, sola gratia. Warum die Bezeugung beider Wahrheiten nötig ist? Die Menschen sind nach dem Sündensall ganz sonderbare Menschen. Wiewohl sie noch wissen, daß es einen Gott gibt, so wollen sie doch Gottes geoffenbartes Wort nicht glauben. Wir haben uns auch in diesen Tagen wieder davon überzeugt, datz Gottes Wort beides lehrt: die nnivsrsalis xratia und die sola Gratia. Aber wir superklugen Menschen halten es für eine unerträgliche, mit Entrüstung zurückzuweisende Zumutung, beides zu glauben. Die Calvinisten erlauben sich den Schluß: wenn man glauben soll, daß Gott die Menschen "allein aus Gnaden" selig macht, so muß man notwendig fahren lassen, datz Gott alle Menschen selig machen wolle. Für beides sei nicht Raum im menschlichen Verstandesorgan. Ebenso erlauben sich die arminianischen Reformierten und die entgleisten Lutheraner den Schluß: Wenn man die allgemeine Gnade glauben soll, so mutz man ganz notwendig das "allein aus Gnaden" fahren lassen und lehren, daß des Menschen Bekehrung und Seligkeit entscheidend nicht auf Gottes Gnade stehe, sondern auf einem dem Evangelium freundlichen Entgegenkommen des Menschen beruhe (facultas applicandi se ad gratiam). Gegen beide falschen Schlüsse wendet sich Walther in seinem gegen Krummacher geschriebenen Artikel und weist darauf hin, datz die lutherische Kirche in ihrem Bekenntnis Gott in seinem Worte glaubt, nämlich beides neben- und miteinander festhält: die allgemeine und die alleinige Gnade Gottes. Der Widerspruch, den hier die beschränkte menschliche Vernunft allerdings finde, sei nur ein scheinbarer, dessen Lösung im Lichte der Herrlichkeit erfolgen werde. Gottes Wort führe nicht über Hos. 13,9 hinaus: Israel, datz du verdirbest. die Schuld ist dein; datz dir aber geholfen wird, das ist lauter meine Gnade. Wörtlich sagt D. Walther u. a.:56) "Die Calvinisten machen den Schluß: Hat Gott
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56) Dieses Zitat wurde in dem Vortrag, der zeitlich beschränkt war, nicht vorgelesen.
Der offene Himmel. 259
aus freier Gnade eine Anzahl Menschen zur Seligkeit erwählt, und tut er allein alles, dieselben zum Glauben zu bringen, im Glauben zu erhalten und endlich selig zu machen, ohne daß dieselben auch nur das Geringste dazu beitragen, so mutz natürlich, da alle Menschen von Natur in gleichem Verderben liegen, es hingegen allein an Gott liegen, datz die andern nicht zum Glauben kommen oder nicht darin bleiben und nicht selig, sondern verdammt werden. . . . Und es ist freilich wahr, die unerleuchtete, das ist, nicht dem Worte [Gottes] folgende, Vernunft kann nicht anders, die Vernunft mutz, wenn sie nicht nach der Schrift fragt und ihren eigenen Gedanken folgt, diesen Schluß machen. Nicht aber also unsere teure Konkordienformel und mit ihr die ganze rechtgläubige lutherische Kirche. Sie macht diesen Schluß nicht. Sie bleibt dabei: Datz Menschen selig werden, das hat seinen Grund lediglich in Gottes freier Gnade; hingegen datz Menschen verdammt werden, das hat lediglich seinen Grund in der Menschen Sünde und Schuld. . . . Weil beides in Gottes Wort steht, datz Gott die Erwählten allein nach dem Wohlgefallen seines Willens zu Lobe seiner herrlichen Gnade schon von Ewigkeit erwählt hat und datz die Verdammten, während Gott aller Menschen Seligkeit wolle, um ihrer eigenen Sünde und Schuld willen, verworfen sind, so glaubt, lehrt und bekennt die Konkordienformel beides, schlägt nicht mit den Calvinisten eine Vernunftbrücke über den gähnenden Abgrund dieses unerklärlichen Geheimnisses, läßt beides stehen und betet in Demut Gott in seiner unbegreiflichen Weisheit an, die Lösung dieses scheinbaren Widerspruchs im ewigen Leben erwartend."57) Insonderheit wird in diesem Artikel von Walther auch auf diese sehr wichtige Wahrheit hingewiesen: Wer noch nicht gelernt habe, beides - die allgemeine und die alleinige Gnade - uneingeschränkt neben- und miteinander festzuhalten, habe noch nicht die letzte notwendige Probe seiner Lehrtüchtigkeit innerhalb der christlichen Kirche bestanden.58) Denn beides braucht jeder Mensch, dessen Gewissen von dem Verdammungsurteil des göttlichen Gesetzes recht getroffen ist, wenn er nicht in Verzweiflung umkommen soll. Dies wurde im zweiten Vortrag ausführlicher dargelegt.
Etwa acht Jahre nach Abweisung des reformierten Angriffs auf die allgemeine Gnade erfolgte ein öffentlicher Angriff auf das "Allein aus Gnaden" aus der lutherischen Kirche Amerikas, und zwar mit einer alles Frühere überbietenden Heftigkeit, wie bereits bemerkt wurde. Es wurde in oft wiederholten Ausdrücken und Wendungen behauptet und als lutherische Lehre dargeboten: des Menschen Bekehrung und Seligkeit stehe auf des Menschen rechtem Verhalten, nämlich auf des Menschen Selbstentscheidung für die Annahme der Gnade. In der rechten Selbstentscheidung des Menschen wurzele des Menschen ewiges Schicksal. Gott lasse es von des Menschen Selbstentscheidung abhängen,
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57) L. u. W. IX, 298 f. 58) A. a. O., S. 297.
260 Der offene Himmel.
ob er sich des Menschen erbarmen werde.59) Hinzugefügt wurde auch: die Missourisynode, die diese Lehre nicht als lutherisch annehmen wolle, sei calvinistisch geworden, das ist, von der allgemeinen Gnade Gottes abgesallen, wie auch Luther etwa bis zum Jahre 1527, sonderlich in seiner Schrift Wider Erasmus, die allgemeine Gnade geleugnet habe.60) Aus diese Kampfansage gegen das "Allein aus Gnaden" aus lutherischem Lager antwortete “Lehre und Wehre” im 18. Jahrgang (1872) in einem Artikel unter der Überschrift: "Ist es wirklich lutherische Lehre, daß die Seligkeit des Menschen im letzten Grunde auf des Menschen freier, eigener Entscheidung beruhe?" Dieser ebenfalls von v. Walther geschriebene Artikel ist sehr ausführlich. Er erstreckt sich durch sechs Nummern von "Lehre und Wehre" (Juli bis Dezember 1872) und legt allseitig dar, datz nach der Lehre der Heiligen Schrift und des lutherischen Bekenntnisses des Menschen Bekehrung und Seligkeit nicht bloß zum Teil oder auch zum größten Teil, sondern von Gottes Gnade allein abhänge und die dem entgegenstehende Behauptung, datz Gottes Gnadenwille und Gottes Erbarmen mit den Menschen durch der Menschen Wohlverhalten bedingt sei, den Artikel von der Gnade Gottes in Christo in eine leere Redeweise verwandle und "in Rauch aufgehen" lasse, also dem Menschen den durch Christum offenen Himmel verschließe.61)
Dabei ist v. Walther in seinem Urteil über die wirkliche Herzensstellung seiner Opponenten sehr zurückhaltend, milde und sreundlich.62) Er nimmt der Liebe nach die Möglichkeit an, datz sie auf dem "gefährlichen Irrweg" sind, "ohne es zu wollen", ja eine Lehre vortragen, die sie, insofern sie Christen sind, selbst nicht glauben. Datz so etwas Sonderbares auch bei Christen vorkommt, darauf weist auch Luther in seiner Schrift gegen Erasmus hin. Erasmus nämlich hielt Luther vor, datz "Heilige", das ist, Leute, denen auch Luther den christlichen Glauben nicht abspreche, dem Menschen noch einen freien Willen in geistlichen Dingen zugeschrieben hätten. Luther antwortete darauf: Das haben sie allerdings getan, aber nur inter disputandum, das heißt, wenn sie vor Menschen disputierten. Wenn sie aber im Gebet vor Gott hintraten, dann vergaßen sie völlig (penitus) ihres freien Willens in geistlichen Dingen, verzweifelten an sich selbst und erflehten für sich "nur die reine Gnade" Gottes (solam et puram gratiam).63) Aber obgleich Walther diese Inkonsequenz auch den Gegnern der Missourisynode zugute kommen läßt, so bleibt er doch fest wie Stahl und Demant in der Beurteilung und Verurteilung der gegnerischen Lehre, datz Gottes Gnade und Erbarmen vom menschlichen Wohlverhalten abhängig sei. Er beschreibt diese Lehre als eine innerhalb der lutherischen Kirche sich erhebende Kontrareformation. Er
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59) Monatshefte 1872, S. 87. 88. 60) Monatshefte 1872, S. 21.
61) L. u. W. 1872, S. 322 ff. 329. 62) A. a. O., S. 329.
63) St. L. XVIII, 1729. Opp. v. a. Erl. VII, 166 f.
Der offene Himmel. 261
schreibt in demselben Jahrgang der "L. u. W.":64) "Eine Theologie, die den Glauben zur eigenen Tat des Menschen macht und den Grund, warum gewisse Menschen selig werden, während andere verlorengehen, in deren freier persönlicher Entscheidung, in deren Verhalten, in deren Mitwirkung sucht, unterscheidet sich von der römischen Rechtfertigungslehre nur noch durch ihre Terminologie", d.h., nicht der Sache, sondern nur noch dem Ausdruck nach. Ebenso wie Walther vor nun siebenundsechzig Jahren die Theologie, welche die Seligkeit auf des Menschen Wohlverhalten stellt, in das römische Lager verwies, so tat auch vor 351 Jahren Martin Chemnitz, der Hauptverfasser der Konkordienformel, auf dem Kolloquium zu Herzberg. Der Text unserer Konkordienformel lag schon 1577 vor. Die Konkordienformel lehrt, datz die Menschen, welche selig werden, auf ihrer Seite die gleiche Schuld und das gleich üble Verhalten mit den Verlorengehenden anerkennen müssen. Sonst liege bei ihnen ein Abfall von der christlichen Gnadenlehre vor. Als nun bei dem Kolloquium zu Herzberg im August 1578 der anhaltinische Delegat erklärte, er wolle nach dem Vorbilde des späteren Melanchthon bei dem verschiedenen menschlichen Verhalten als Grund der Bekehrung und Seligkeit bleiben, rief Chemnitz ihm endlich zu: "So schickt denn Eure Konfession vom freien Willen nach Spanien an Andradius, nach Löwen an Tiletanus; ja nach Rom schickt sie, und der Papst selbst wird sie approbieren." Und schon vorher brach Chemnitz bei dem Kolloquium in die Klage aus: "Es ist zum Erbarmen, datz wir so lange disputieren und zwischen unserer [lutherischen] und der Papisten Lehre vom freien Willen kein Unterschied mehr gehalten wird." 65) So hat Gott auch der lutherischen Kirche Amerikas, die er in Gnaden zur Lehre der Kirche der Reformation zurückgeführt hat, die Aufgabe gestellt, einer Kontrareformation, das ist, einer Zurückführung in das römische Lager, entgegenzutreten, die hier unter lutherischem Namen sich erhob und noch am Werk ist. Denn Walther hat vollkommen recht, wenn er sagt, datz eine Theologie, die den Grund, warum gewisse Menschen selig werden, während andere verlorengehen, in deren freier persönlicher Entscheidung, in deren Verhalten, in deren Mitwirkung sucht, sich von der römischen Rechtfertigungslehre nur noch durch ihre Terminologie unterscheide. So kann auch, wo diese Theologie in die Praxis umgesetzt wird, ihre Wirkung nur römisch sein, nämlich Zweifel und Verzweiflung an der Gnade Gottes und damit Himmelsverschlutz.
Jede Kette, so Pflegte auch D. Walther zu erinnern, ist nur so stark wie ihr schwächstes Glied. Stellen wir uns vor: Eine Kette hätte ein Dutzend Glieder (links). Elf davon wären so stark, datz man, ohne ein Zerreitzen der Kette befürchten zu müssen, tausend Pfund daran hängen könnte. Aber ein Glied, das schwache in dem Dutzend, könnte
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64) L. u. W. 1872, S. 352.
65) Die Akten des Kolloquiums, abgedruckt in "L. u. W." 28, 452. 449.
262 Der offene Himmel.
nur zehn Pfund Belastung vertragen. Das Resultat wäre, datz die Haltbarkeit der ganzen Kette auf zehn Pfund reduziert würde. Wenden wir dies an auf die Heils- oder Seligkeitskette. Die von Gott zu unserer Seligkeit geschmiedete Kette ist stark, sehr stark. Sie kann Himmel und Erde und die ganze Menschheit tragen. Es ist das ewige Erbarmen Gottes in Christo mit der verlornen Sünderwelt. Es ist das ewige Erbarmen, das alles Denken übersteigt; es sind die offnen Liebesarme des, der sich zu den Sündern neigt. Die Glieder der Himmelskette sind: Gottes Versöhnung der ganzen Menschenwelt mit sich selbst durch das Versöhnungsopfer seines menschgewordenen Sohnes. Und als Folge davon: nicht bloß menschliche Botschaft, sondern Gottes eigene Botschaft von der geschehenen Versöhnung in den von ihm selbst geordneten Gnadenmitteln, nämlich des Wortes des Evangeliums und der Sakramente, der Taufe und des Abendmahls; ferner die göttliche Wirkung des Heiligen Geistes zur Erzeugung und Erhaltung des Glaubens in den Herzen der Menschen, wodurch die Herzen auf den Felsengrund der göttlichen Gnadenverheitzungen gegründet werden. "Es sollen Wohl Berge weichen und Hügel hinfallen, aber meine Gnade soll nicht von dir Weichen, und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen, spricht der HErr, dein Erbarmer." 66) Aber nun sind - o Jammer! - Menschen auf den Gedanken gekommen, die göttliche Gnadenkette durch Einfügung des menschlichen Wohlverhaltens zu verbessern. Wie steht es aber um das menschliche Wohlverhalten dem Evangelium gegenüber? Wieviel Pfund Belastung kann es tragen? Weder zehn Pfund noch ein Pfund noch den tausendsten Teil eines Pfundes. Weshalb? Das menschliche Wohlverhalten gegen das Evangelium und die Wirkung des Heiligen Geistes im Evangelium existiert gar nicht;, es ist eine menschliche Einbildung. Denn so lehrt die Schrift, wie wir bereits hörten: "Der natürliche Mensch vernimmt nichts vom Geiste Gottes; es ist ihm eine Torheit, und kann es nicht erkennen." 67) Der gekreuzigte Christus, das ist, die Himmelsöffnung durch den gekreuzigten Christus, ist "den Juden ein Ärgernis und den Griechen eine Torheit".68) Hiernach gibt es in keinem Menschen ein Wohlverhalten gegen die von Christo erworbene und in den Gnadenmitteln dargebotene Gnade. Wird nun dieses Produkt der menschlichen Einbildung in die göttliche Himmelskette eingefügt, dann lauten Lehre und Predigt dahin: Es gibt eine Gnade Gottes, aber nur für die Menschen, welche das rechte Verhalten aufzuweisen haben. Gottes Erbarmen ist Wohl da, aber abhängig von der freien Selbstentscheidung des Menschen. Des Menschen Sohn ist Wohl gekommen, zu suchen und selig zu machen, was verloren ist, aber bedingt durch das rechte Verhalten der Verlornen. Evangelium, Taufe und Abendmahl sind zwar als Mittel der Vergebung der Sünden von Gott verordnet, aber bedingt durch das rechte menschliche Verhalten (conduct). So lagert sich das rechte menschliche Verhalten, wodurch Gottes Himmels-
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66) Ies. 54,10. 67) 1 Kor. 2,14. 68) 1 Kor. 1, 23.
Der offene Himmel. 263
kette verbessert und bereichert werden soll, wie ein Ungeheuer zwischen den gnädigen Gott und uns arme Sünder und schiebt tatsächlich den einen Mittler zwischen Gott und den Menschen, der sich selbst für alle gegeben hat zur Erlösung, beiseite. Deshalb Luthers Schmerzensschrei, als Erasmus in ihn drang, er möchte doch das rechte Verhalten des Menschen, des Menschen Fähigkeit, sich der Gnade zuzuneigen, die facultas applicandi se ad gratiam, in die Himmelskette einfügen - deshalb Luthers Schmerzensschrei: "Du bist mir an die Kehle gefahren", du willst mich erwürgen!
Deshalb auch D. Walthers ernste Worte bei der Einweihung unsers Seminargebäudes an der Jefferson-Avenue im Jahre 1883: Er wünsche, datz das majestätische und zierliche Gebäude eher in Staub und Asche sinke, als datz darin die Gnadenlehre gefälscht und Wahrheit und Irrtum nebeneinander gelehrt oder geduldet würden. In ganz demselben Sinne haben auch wir vor drei Jahren die zahlreichen neuen Gebäude auf dem neuen Platz an der De Mun-Avenue dem Gebrauch übergeben. Und das gilt von allen Synodalgebäuden in allen Seminaren und allen Colleges hierzulande und im Ausland. Mögen sie lieber Ruinen werden als Stätten, in denen die christliche Gnadenlehre angetastet und dadurch Seelen, die von Christo für den Himmel erkauft sind, der Eingang in der Himmel versperrt wird. Und was unsere synodalen Zeitschriften betrifft: Möge das die letzte Nummer vom "Lutheraner" und "Lehre und Wehre" und ebenso vom Lutheran Witness und Theological Monthly sein, in denen neben der Wahrheit auch Irrtümer gelehrt werden, namentlich auch der verführerische Irrtum, datz des Menschen Bekehrung und Seligkeit nicht allein auf Gottes Gnade in Christo, sondern auch auf dem Wohlverhalten des Menschen stehe, ein Irrtum, der – seiner Art nach –, wie wir gesehen haben, jedem Sünder den durch Christum offenen Himmel verschließt. Gott verleihe Gnade, datz wir alle Versuchungen, diesem Irrtum Raum zu gewähren, siegreich überwinden!
Ehrwürdige Väter und Brüder! Lassen Sie mich noch mit einigen Worten darauf Hinweisen, was denen geziemt und nicht geziemt, die durch Gottes Gnade den durch Christum offenen Himmel lehren und glauben. Es bedarf nicht vieler Worte, weil die Sache selbstverständlich ist. Uns, die wir im Glauben den Himmel offen sehen, geziemt Fleiß, sehr großer Fleiß, in der Verkündigung des offenen Himmels. Als die Zeit gekommen war, stürmte unser Heiland gleichsam nach Jerusalem, um zu leiden und zu sterben und dadurch der ganzen Welt den Himmel zu öffnen.69) So sollen wir in der Verbreitung der Botschaft von dem offenstehenden Himmel nicht lässig sein, sondern damit in die Welt gleichsam hinausstürmen. Dazu kommt auch der ausdrückliche Befehl unsers Heilandes in den Worten: "Gehet hin in alle Welt und prediget das Evangelium aller Kreatur!" Denn Evangelium predigen ist nichts
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69) Mark. 10, 32.
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anderes als den durch Christum offenen Himmel predigen. Die wir den offenen Himmel lehren und glauben, können daher gar nicht daran denken, die Ausbildung von Predigern und Lehrern einzuschränken; vielmehr müssen wir darin noch zunehmen. Ermahnt uns doch unser Heiland noch ganz ausdrücklich: "Die Ernte ist groß, aber wenig sind der Arbeiter. Darum bittet den HErrn der Ernte, datz er Arbeiter in seine Ernte sende!”70) Vergessen wir gerade in jüngster Gegenwart nicht ein Wort unsers Heilandes, das er zu seinen Jüngern am Jakobsbrunnen sprach, Joh. 4,35: "Hebet eure Augen auf und sehet in das Feld, denn es ist schon weiß zur Ernte." Denken wir dabei z. B. an Indien, wo durch Gottes Schickung nicht bloß einige hundert Samariter, sondern Hunderttausende von Indern zu uns kommen und Arbeiter begehren. Wahrlich, bei diesem Stand der Dinge geziemt sich für uns heiliger Eifer und gottgefällige Begeisterung. Aber wir sehen bei uns auch etwas, was sich für uns, die wir den Himmel offen sehen, nicht geziemt. Das ist ein Defizit in unsern Missionskassen und unfern Synodalkassen überhaupt. Der offene Himmel und Defizite in unfern Reichgotteskassen passen nicht zueinander. Das Mittel, wodurch wir diese Ungehörigkeit beseitigen können, ist uns allen bekannt. Wir brauchen nur an den Himmel zu denken, der uns durch unsers lieben Heilandes Blut und Tod offen steht und den wir im Glauben bereits besitzen. Dann wird die Liebe zu unserm Heilande und zum Dienst in seinem Reich immer wieder von neuem entzündet werden. Daß wir nicht bloß bisweilen, sondern täglich des offenen Himmels gedenken, dazu verleihe Gott uns allen Gnade! Amen.
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70) Matth. 9, 37. 38.