1884 Missouri Synod convention essay - Franz Pieper, “Scripture Doctrine”; OCR’d by BackToLuther August 16, 2015; listed on this blog post of “Convention Essays” (See also 1899 Missouri Synod essay by Pieper on similar subject matter, “Church and God’s Word”)
Original scanned German publication available here. This essay is referred to in L. Fuerbringer’s essay “D. F. Pieper als Theolog”, p. 723-724 (CTM, vol. 2)
2019-09-30: This essay referred to in L. Fuerbringer’s essay “C.F.W. Walther als Kirchemann”, CTM vol 7, p. 729. An English translation is published on the blos series “Walther as Churchman”, Part 5: Synod conventions.
Last update: 2019-10-05
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Vierten Delegatensynode von Missouri, Ohio u. a. St. 1884.
<Seite 161>
Lehrverhandlungen.*)
Satz 1.
Eine Lehre ist nur dann Schriftlehre, wenn sie sich auf das ausdrückliche Schriftwort gründet oder, was dasselbe ist, wenn sie allein aus den Stellen der Schrift entnommen und beurteilt wird, welche gerade von dieser Lehre handeln.
A. Was wir hiermit sagen. Nicht, daß alle Worte, mit welchen wir von einer Lehre reden (oder der kirchliche und theologische Ausdruck), dem Buchstaben nach in der Schrift stehen müßten, Wohl aber, daß alles, was in einer Lehre ausgesagt wird, in den Worten der Schrift offenbart vorliegen müsse.
B. Was wir hiermit abweisen: a. die Herleitung einer Lehre aus dem sogenannten Schriftganzen oder aus Stellen, welche nicht von dieser Lehre handeln; b. die Verwerfung oder Modulierung einer in dem Schriftwort klar ausgedrückten Lehre um sogenannter notwendiger Folgerungen willen oder im Interesse eines sogenannten Systems.
Satz 2.
Nur wenn wir dies festhalten, bleiben
a. die einzelnen Artikel der christlichen Lehre stehen und hat überhaupt noch der Glaube statt; nur dann ist
b. in unseren Herzen eine göttliche Gewissheit und allem Irrtum gegenüber die rechte Entschiedenheit; nur dann wird
c. den Christen das ihnen von Christo gegebene Recht, alle Lehre zu prüfen, gelassen; nur dann haben wir
d. die Verheißung, daß Gott bei unserm Lehren auch Leute und Zuhörer geben werde, die es annehmen. (Luther.)
Zu vorstehenden Thesen, die von Prof. F. Pieper der Synode vorgelegt worden waren, wurde Folgendes bemerkt:
In der lutherischen Kirche gilt der Grundsatz: Allein die heilige Schrift stellt Artikel des Glaubens. Es dürften hierzulande sehr wenige sein, die sich Lutheraner nennen und in Worten diesen Grundsatz nicht gelten lassen wollten. Man sagt mit uns: Nicht der Papst, nicht die Väter, nicht die Kirche,
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*) Das Protokoll über die Lehrverhandlungen erscheint dieses Mal anhangsweise, weil den Lehrverhandlungen bei der diesjährigen Delegatensynode nur sehr wenig Zeit gewidmet werden konnte.
<Seite 162> auch nicht die menschliche Vernunft gründen Artikel des Glaubens, sondern allein das Wort Gottes. — Aber manche, welche den Worten nach dieses Bekenntniß mit uns gemeinsam haben, stehen dabei doch im Gegensatz zu uns, führen unlutherische Lehren und bekämpfen lutherische Lehren. Dies legt uns die Frage nahe: ob im Grunde unsere beiderseitige Stellung zur heiligen Schrift nicht doch eine völlig verschiedene sei? Und eine nähere Untersuchung ergibt das Resultat: Gegnerischerseits wird die Lehre nur scheinbar aus der Schrift genommen; tatsächlich aber wird der Grundsatz der Kirche und der Reformation: allein die Schrift stellt Artikel des Glaubens, umgestoßen; tatsächlich werden nur die eigenen Gedanken unter der Hülle des Schriftwortes zur Geltung gebracht; man hat wieder den Rationalismus in einer andern Form eingeführt. Daher entsteht die Frage: Wann ist eine Lehre nicht bloß scheinbar, sondern wirklich aus der Schrift geschöpft? wann läßt man in Wirklichkeit den Grundsatz gelten: die heilige Schrift allein stellt Artikel des Glaubens? — Auf diese Frage sollen uns die vorliegenden Thesen Antwort geben.
Da lautet denn die Antwort zunächst also: “Eine Lehre ist nur dann Schriftlehre, wenn sie sich auf das ausdrückliche Schriftwort gründet." — Wir verlangen für einen jeden Glaubensartikel ein ausdrückliches Schriftwort. Wofür das ausdrückliche Schriftwort fehlt, das lassen wir uns nicht als Glaubensartikel aufdrängen. Kommt jemand mit einer Lehre, die wir glauben und annehmen sollen, so fragen wir: wo stehet das geschrieben? Wir verlangen von ihm, daß er uns das Schriftwort zeige, in welchem diese Lehre offenbart ist. — Hiermit sagen wir nicht, daß eine Lehre gerade dem kirchlichen und theologischen Ausdruck nach in der Schrift vorliegen müsse, um als Schriftlehre zu gelten, oder daß gerade die Worte, mit welchen wir von einer Lehre reden, den Buchstaben nach in der Schrift gefunden werden müßten. Aber das sagen wir: Alles, was mit einer Lehre ausgesagt wird, der ganze Inhalt derselben nach allen seinen Teilen, muß in den Worten der Schrift geoffenbart vorliegen. Z. B. das Wort „Dreieinigkeit" kommt nicht in der Schrift vor; aber das, was mit diesem Worte ausgesagt wird, liegt in ausdrücklichen Worten der Schrift vor. Da steht das Schriftwort: „Taufet sie im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes." Hier nennt die Schrift drei unterschiedene Personen der Gottheit. Das Schriftwort drückt somit klar und deutlich aus, was wir mit den Worten des Athanasianischen Symbolums bekennen: „Eine andere Person ist der Vater, eine andere der Sohn, eine andere der Heilige Geist." Ja, das Schriftwort hat auch ausdrücklich das „andere". Der Sohn redet Joh. 5, 32. vom Vater also: „Ein Anderer ists, der von mir zeuget", und vom Heiligen Geist Joh. 14,16.: „Ich will den Vater bitten, daß er euch einen andern Tröster gebe." Aber wie hier der Sohn sich mit klarem Wort vom Vater und vom Heiligen Geist unterscheidet, so sagt er mit einem ebenso klaren Wort, Joh. 10, 30.: „Ich <Seite 163> und der Vater sind Eins"; wie auch 1 Cor. 8, 4. geschrieben steht: „Es ist kein Gott ohne der einige." Hier ist im Schriftwort ausgedrückt, was das Athanasianum in diese Worte faßt: „Aber der Vater und Sohn und Heilige Geist ist ein einiger Gott, gleich in der Herrlichkeit, gleich in ewiger Majestät", und was die Augsburgische Confession also gibt: „Alle drei Ein göttlich Wesen, ewig, ohne Stück, ohne End." Wie für diese Lehre, läßt sich für alle und jede Lehre unserer lutherischen Kirche ein klares Schriftwort vorweisen. Und darum ist — nebenbei bemerkt — die lutherische Kirche die wahre sichtbare Kirche Gottes auf Erden.
Wo in der Schrift steht nun aber das ausdrückliche Schriftwort für eine Lehre? Antwort: Wir finden dasselbe an den Stellen der heiligen Schrift, welche die betreffende Lehre offenbaren, ausdrücklich von derselben handeln. Da und nicht anderswo haben wir für die in Betracht kommende Lehre das Schriftwort. Daher läßt sich der Satz: „Jeder Glaubensartikel muß ein ausdrückliches Schriftwort für sich haben" auch so ausdrücken: Jeder Glaubensartikel ist nur aus den Stellen zu entnehmen und nach den Stellen zu beurteilen, welche gerade diesen Glaubensartikel offenbaren. Frage ich z. B., was mir Gott betreffs seines Wesens zu glauben vorgegeben hat, so schlage ich die Stellen auf, wo mir im Wort gesagt ist, daß Ein Gott und drei Personen in dem Einen Gott seien. Ich nehme dann nicht etwa die Stelle vor mich: „Gott ist die Liebe", um aus dem Begriff der Liebe die Lehre von dem dreieinigen Gott herzuleiten. Frage ich ferner, auf welche Weise Gott mit der Welt versöhnt worden sei? so schlage ich die Stellen auf, wo in ausdrücklichen Worten geschrieben steht: „Gott war in Christo und versöhnete die Welt mit ihm selber und rechnete ihnen ihre Sünden nicht zu." „Er hat den, der von keiner Sünde wußte, für uns zur Sünde gemacht." Nicht aber nehme ich etwa die Stelle 5 Mos. 25, 1. vor mich, woselbst Gott sagt, daß man den Gerechten recht sprechen und den Gottlosen verdammen soll, um daraus die Lehre herzuleiten: Gott habe dem unschuldigen Christo nicht unsere, also fremde Schuld zurechnen, nicht den Unschuldigen für die Schuldigen bestrafen und so die Welt mit sich selber versöhnen können. Es ist also nicht genug, zum Beweis der Schriftmäßigkeit einer Lehre Schrift überhaupt im Munde zu führen, sondern die rechte, die betreffende Lehre enthaltende Schrift muß vorgewiesen werden. Dies wollen wir einschärfen, wenn wir sagen: Eine Lehre ist nur dann Schriftlehre, wenn sie sich auf das ausdrückliche Schriftwort gründet; oder was dasselbe ist, wenn sie allein aus den Stellen der Schrift entnommen und beurteilt wird, welche gerade von dieser Lehre handeln.
Und was wir hiermit abweisen? — Es gibt in der neueren Theologie eine Richtung, welche sich mit Nachdruck Schrifttheologie nennt, aber dabei es ausdrücklich ablehnt, die einzelnen Glaubenslehren allein den Stellen, welche gerade von diesen Lehren handeln, zu entnehmen, und die alte Theologie, welche das thut, eines todten, mechanischen Verfahrens beschuldigt. <Seite 164> Sie redet von emer Herleitung der einzelnen Lehren aus dem sogenannten Schriftganzen. Christus selbst und die Apostel sollen sich nicht sowohl auf einzelne Schriftstellen, als vielmehr auf das „Ganze" der Schrift berufen haben, em Wahn — nebenbei bemerkt — von dem man schon durch das Lesen einiger Kapitel im Matthäus kuriert werden sollte. Was man sich unter dem beliebten „Schriftganzen” eigentlich vorstellig machen könne, hat wohl keiner semer Erfinder je ernstlich versucht. Das Verfahren verläuft meistens so, daß man von allgemeinen christlichen Wahrheiten ausgeht, aus diesen die einzelnen Lehren durch Schlußfolgerung entwickelt und darnach sich anschickt, die also gewonnenen Lehren an der heiligen Schrift zu prüfen. Diesem Verfahren liegt der Gedanke zu Grunde, daß die christliche Lehre ein System oder ein organisches Ganze im Sinne der Vernunft bilde, in welchem ein Stück aus dem andern mit logischer Nothwendigkeit folge. Daher denn auch die Forderung, daß sich das einzelne Schriftwort dem sogenannten „Ganzen” unterordnen müsse. In Wirklichkeit stellt sich dann die Sache so: Das einzelne ausdrückliche Schriftwort, welches nach dem Urteile des theologischen Baumeisters nicht so ohne weiteres in den auszuführenden Bau paßt, wird entweder ganz verworfen, oder doch so abgeändert, daß es sich in das Ganze einfügt. Man nennt das auch wohl theologische Vermittelung. Zwischen die Aussagen der Schrift werden Menschengedanken eingeschoben, welche bewirken sollen, daß die der mensch-rchen Vernunft zusammenhangslos erscheinenden Aussagen der Schrift vernunftgemäß zusammenhangen. Die Folge davon ist, daß durch solche Ergänzungen die Schrrftaussagen andere werden, als sie in Wahrheit sind. Menschenwort, neben Gottes Wort gestellt, hat immer die Wirkung, daß Gottes Wort verändert und verdrängt wird.
Nehmen wir ein Beispiel aus den jüngsten Ereignissen, die unsere lutherische Kirche namentlich hier zu Lande mächtig bewegten. Da handelte es sich unter andern um die Frage: In welchem Verhältnis steht der Glaube und der ganze Christenstand der Auserwählten zu ihrer ewigen Wahl? Sollen die Christen ihren Glauben und ihren Christenstand als eine Wirkung ihrer ewigen Erwählung ansehen, so daß die Wahl eine Ursache des Glaubens zu nennen ist, oder geht der Glaube, der Christenstand, der Wahl voran, so daß die Wahl in Ansehung des beharrlichen Glaubens geschehen ist? —Wir haben Schriftworte, welche ausdrücklich von der Erwählung handeln. Apost. 13, 48. lautet also: „Und wurden gläubig, wieviel ihrer zum ewigen Leben verordnet waren." Wer ohne Vorurteil diese Worte liest und sie nimmt, wie sie da stehen, der findet darin die Thatsache offenbart, daß jene Heiden, die damals zum Glauben kamen, gläubig wurden, weil sie zum ewigen Leben verordnet waren. Ihre Verordnung zum ewigen Leben war eine Ursache, daß sie in der Zeit zum Glauben kamen. Daher denn auch unser Bekenntniß diese Stelle gerade da anführt, wo es die Wahl nennt „eine Ursache, so da unsere Seligkeit, und <Seite 165> was zu derselben gehöret, schaffet, wirket, hilft und befördert". — Eine andere hieher gehörende Stelle ist Epheser 1, 3 ff. Daselbst lobt der Apostel Gott, daß er die Epheser seines geistlichen Segens teilhaftig gemacht, sie zu Christen gemacht hat, und spricht darauf: „Wie er uns denn erwählet hat" u. s. w. Jeder Christ, der diese Worte ohne Vorurtheil liest, wird sie sofort dahin verstehen, daß der geistliche Segen, der in der Zeit über ihn gekommen ist, eine Folge der ewigen Erwählung sei. — Ebenso verhält es sich mit der Stelle Römer 8, 28—30. Mit Recht sagt Chemnitz auf Grund dieser Stelle: „So folget auch die Wahl Gottes nicht nach unserem Glauben und Gerechtigkeit, sondern gehet fürher als eine Ursach dessen alles, denn die er verordnet oder erwählet hat, die hat er auch berufen und gerecht gemacht." Man schlage ferner die Stelle 2 Tim. 1, 9. auf, woselbst geschrieben steht: „Der uns hat selig gemacht und berufen mit einem heiligen Ruf, nicht nach unsern Werken, sondern nach seinem Vorsatz und Gnade, die uns gegeben ist in Christo JEsu vor der Zeit der Welt." Der Apostel bekennt hier im Namen der Christen: Gott hat uns aus der Welt durch seinen Gnadenruf herausgenommen und in den Stand, in welchem wir die Seligkeit haben, versetzt. Was ist die Ursache? „Nicht nach unseren Werken, sondern nach seinem Vorsatz und Gnade, die uns gegeben ist in Christo JEsu vor der Zeit der Welt." Wie hier auf der einen Seite „unsere Werke" als Ursache unseres Christenstandes und unserer Seligkeit abgewiesen werden, so wird auf der andern Seite unsere ewige Erwählung — denn das ist Gottes „Vorsatz und Gnade, die uns gegeben ist in Christo JEsu vor der Zeit der Welt" — ausdrücklich als eine Ursache, daß wir selig gemacht und berufen sind, angegeben. Man muß blind sein, wenn man das nicht sieht. So lautet das ausdrückliche Schriftwort über das Verhältnis des Glaubens und Christenstandes zur ewigen Erwählung. — Wo, fragen wir, sagt das Schriftwort, welches von der Erwählung handelt, etwas davon, daß letztere geschehen sei in Ansehung des Glaubens als des Grundes und der Voraussetzung der Wahl? Überall nichts. Trotzdem hat man diese Lehre mit Macht zur Geltung zu bringen gesucht und die Lehre der Schrift, die wir führen, verworfen. Und welches war das Verfahren, das man einschlug, die falsche Lehre von der Wahl als die allein richtige zu beweisen? Man nahm Schriftstellen, in welchen kein ausdrückliches Gotteswort, keine Offenbarung über die Erwählung vorliegt, z. B. jene Stellen: „Wer da glaubet und getauft wird, der wird selig werden" und: „Ohne Glauben ist's unmöglich, Gott gefallen", und machte daraus den Schluß: „Also muß der Glaube der ewigen Wahl zur Seligkeit vorangehen; also ist zu sagen, daß die Wahl in Ansehung des Glaubens geschehen sei." Nachdem man so unter Absetzung vom Schriftwort bei sich selbst beschlossen hatte, wie die ewige Wahl Gottes geschehen sei, versuchte man hinterher auch diese seine eigenen Gedanken in die Stellen der heiligen Schrift, welche von der ewigen Wahl Gottes <Seite 166> handeln, hineinzulegen. „Welche er zuvor versehen hat", mußte nun heißen: „welcher beharrlichen Glauben er zuvor gewußt hat" u. s. w. — Es liegt also klar vor Augen: das Verfahren der Gegner beruht auf Verwerfung des Schriftwort es im Interesse der eigenen Gedanken, die man sich unter Absetzung vom Schriftworte gemacht hat.
Zugleich kämpfte man gegen das ausdrückliche Schriftwort mit sogenannten notwendigen Folgerungen. Man sagte: Nähme man die Lehre an, daß die Wahl als eine Ursache dem Glauben und dem Christenstenstand der Auserwählten vorangehe, so folgte daraus, daß Gott nicht alle Menschen ernstlich selig machen wolle. Um dieser nothwendigen Folge willen müffe man die Lehre, daß die Wahl eine Ursache des Glaubens sei, fahren lassen. Eigentlich hat man nur mit diesen sogenannten notwendigen Folgerungen unsere Lehre bekämpft. Viele sind durch solche Einwürfe in Unruhe versetzt und verwirrt, manche sicherlich nur dadurch von der Wahrheit zum Abfall gebracht worden. Man schrieb gegnerischerseits ausdrücklich: „Sind richtige und notwendige Folgerungen aus einer aufgestellten Lehre falsch, so beweist das unwiderleglich, daß die Lehre selbst falsch ist." Und daß hier Vernunftfolgerungen gemeint seien, geht aus der folgenden gegnerischen Aussprache hervor: „Wenn Leute das nicht gelten lassen wollen, was durch Schlußfolgerungen in ihren Sätzen enthalten ist (logically implied), so sollten sie ihre Aufstellungen fahren lassen oder modifizieren." (Col. Mag. No. 3, 1881.) Auch diese Forderung beruht auf der Voraussetzung, daß die einzelnen christlichen Lehren vernunftgemäß zusammenhängen, und zieht die Praxis nach sich, daß das ausdrückliche Schriftwort unter dem Vorgeben, man wolle ein widerspruchloses Ganzes, abgetan wird. Man stelle sich die Sachlage klar vor: Die heilige Schrift redet an all den Stellen, welche ausdrücklich von der Wahl handeln, so von der Wahl, daß der Glaube und überhaupt der ganze Christenstand der Auserwählten als eine Wirkung ihrer ewigen Erwählung erscheint. Dem gegenüber kommt man aber her und sagt, diese Lehre sei nicht zuzulassen; sonst würde folgen, daß Gott nicht alle Menschen zum Glauben bringen und selig machen wolle. Um einer Folgerung willen also, die die menschliche Vernunft machen zu müssen meint, wird das ausdrückliche Schriftwort verlassen und macht man sich aus Stellen, die garnicht von der Erwählung handeln, wie „Wer da glaubt, wird selig werden" selbst eine Lehre von der Erwählung zurecht, wie sie der menschlichen Vernunft zu andern Lehren zu paffen scheint. — Bleibt hierbei die Schrift noch die Quelle, aus welcher die Glaubensartikel geschöpft, und die Regel, nach welcher die Glaubensartikel beurteilt werden? Mit nichten! Wir haben hier wieder den Rationalismus! Nicht mehr die Schrift stellt Artikel des Glaubens, sondern tatsächlich gibt jedesmal die menschliche Vernunft jedem Artikel seine eigenartige Gestalt. Wie ein Glaubensartikel beschaffen sein müsse, bestimmt in letzter Instanz die menschliche Vernunft nach ihren <Seite 167> Begriffen von einem gehörigen Zusammenhang. Nach diesen Begriffen wird das Schriftwort „ergänzt", beschnitten und zugeschnitten. Die menschliche Vernunft richtet tatsächlich Gottes Wort. Die Vernunft leuchtet dem Glauben, wo er hin solle, wie Luther sagt. Darum steht und fällt das Schriftprinzip der Kirche der Reformation mit unserer Thesis: Eine Lehre ist allein aus den Stellen zu entnehmen und zu beurteilen, welche gerade von dieser Lehre handeln, oder was dasselbe ist, eine Lehre muß das ausdrückliche Schriftwort für sich haben. Wer nicht nach diesem Grundsatz handelt, mag noch so viel Schriftstellen im Munde führen und noch so laut „Schrift", „Schrift" schreien: es ist lauter Schein! Er bringt nicht Schrift, sondern unter dem Deckmantel der Schrift seine eigenen Gedanken. Was für Schrift ausgegeben wird, sind menschliche Gedanken, Folgerungen, „angeflickte Folgen", wie Luther sagt, u. s. w.
Es wurde noch weiter bemerkt:
Der HErr Christus spricht: Die Schrift kann nicht gebrochen werden. Als jener Mensch zu Christo mit der Frage kam : Was muß ich thun, daß ich das ewige Leben ererbe? sprach er zu ihm: „Wie stehet im Gesetz geschrieben? wie liesest du?" Christus kennt für unser Heil nichts Höheres, als das Gesetz, das ist, die Schrift. Jesaias spricht: „Ja, nach dem Gesetz und Zeugnis! werden sie das nicht sagen, so werden sie die Morgenröthe", das ist, das Licht der Wahrheit und die Seligkeit, „nicht haben", sondern im Finstern sitzen bleiben. Daher denn auch Joh. Gerhard bezeugt, daß das alleinige Princip (Quelle) unseres Glaubens Gottes Wort sei, und er erklärt alles das, was nicht auf das Schriftwort gegründet werden kann, für untheologisch, d. i. für etwas, das nicht zur Theologie gehört.*) Aug. Pfeifer sagt, daß Theologie im Grunde nichts anders ist, als die Schrift selbst. So ist z. B. die Dogmatik nur eine gewisse Methode, die Lehren der Schrift, und zwar nur diese, vorzutragen. — Man will mit Hülfe von Vernunftschlüssen Lehrartikel bilden. O Torheit! Wenn jemand ein Land beschreiben wollte mit seinen Einwohnern und Einrichtungen, das er nie gesehen, von dem er nie etwas Gewisses gehört hat, so würde ein solcher bei weitem nicht so thöricht handeln, wie der Mensch handelt, welcher sich's herausnimmt, durch Schlüsse seiner Vernunft die geistlichen, göttlichen Dinge herauszubringen. Diese Dinge nennt St. Paulus 1 Cor. 2, 7. die heimliche und verborgene Weisheit Gottes, und diese Dinge bezeichnet er als solche, die kein Auge gesehen hat, kein Ohr gehört, und die in keines Menschen Herz gekommen sind. Wie will denn der Mensch unter Absetzung vom Schriftwort hier auch nur Einen sicheren Schritt thun? Luther nennt ein solches Handeln Pest, Tod und Hölle, und spricht,
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*) Seine Worte lauten: „Das einzige Princip der Theologie ist Gottes Wort; was also in Gottes Wort nicht offenbart ist, das ist nicht zur Theologie gehörig." (Loc. de creatione § 3.)
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daß alles schon wider Gott ist, was ohne Gottes Wort ist. Erkenntnis in geistlichen Dingen wird uns hienieden allein durch das Wort vermittelt. Wir wandeln hienieden im Glauben und nicht im Schauen. Hier wickelt sich Gott uns in's Wort. Daher muß jeder Glaubensartikel ein ausdrückliches Schriftwort haben, das ihn offenbart. Das schärft Luther gewaltig ein. Luther schreibt (in seiner Warnungsschrift an die zu Frankfurt am Main) in Bezug auf die Äußerung der Schwärmer, es sei genug, daß man glaube, der Leib sei im Abendmahle, den Christus gemeint habe: „Ich will die Worte haben, und den Glauben auf sie (wie sie lauten) setzen, daß ich nicht will glauben den Leib, den Christus meinet außer und ohne sein Wort; sondern den Leib, den seine Worte meinen, wie sie da stehen und lauten. Denn das ist seine rechte Meinung, und er hat seine Meinung in den Worten und durch die Worte uns gesagt und angezeigt. Außer seinem Wort und ohne sein Wort wissen wir von keinem Christo, vielweniger von Christus' Meinung. Denn der Christus, der uns ohne Christus Wort seine Meinung vorgibt, das ist der leidige Teufel aus der Hölle, der Christus' heiligen Namen führet und darunter sein höllisches Gift verkauft." (Erl. Ausg. Bd. 26, S. 303.) Luther führt ferner aus, daß all unser Erkennen und Reden in Bezug auf göttliche Dinge an das Schriftwort gebunden sei. Luther will nicht, daß man bloß von einem Schriftwort ausgehe, um dann auch ohne ausdrückliches Schriftwort durch eigene Gedanken und Spekulationen sich selbst weiter vorwärts zu bewegen, wie die neuere Theologie thut —, sondern er will, daß unsere Gedanken in göttlichen Dingen nicht um eine Linie weiter vorrücken, als Gottes Wort geht. Ursache: Der Mensch hat aus sich selbst ohne Gottes Wort absolut keine Erkenntnis von geistlichen Dingen. Luther schreibt: „Darum wer da will sicher fahren, der hüte sich nur vor allem, was Vernunft und menschliche Gedanken in diesem Artikel" (von Christo und der Rechtfertigung) „meistern, und wisse, daß kein Rath ist, wider des Teufels Verführung zu bestehen, denn daß man am bloßen Hellen Wort der Schrift hafte und nicht weiter denke noch speculire, sondern schlechts die Augen zugetan und gesagt: Was Christus sagt, das soll und muß wahr sein, ob ich's und kein Mensch verstehen und begreifen noch wissen kann, wie es wahr sein mag. Er weiß Wohl, was er ist, und was oder wie er von ihm reden soll. Wer das nicht thut, der muß anlaufen und irren und sich stü^en; denn es ist doch nicht möglich, auch den geringsten Artikel des Glaubens durch menschliche Vernunft oder Sinn zu begreifen, also daß auch kein Mensch darauf ohne Gottes Wort jemals einen rechten Gedanken und gewiß Erkenntnis von Gott habe mögen treffen." (Bei Joh. Corvinus, loci comm. etc. S. 40.)
Ueber diejenigen, welche vorgeben, die Schrift selbst zwinge sie, vom Schriftwort abzugehen, dabei aber nur ihre eigenen Gedanken, die sie sich ohne Schrift vorhin gemacht haben, retten wollen, schreibt Luther: „Ich <Seite 169> Will ihren rechten Grund, der sie zu solchem Irrtum bewegt, besser rühren und melden, und will darauf wetten um mein Leib und Seele — die ich auch nicht gerne verlöre —, daß ich nicht fehlen will; denn ich armer Sünder kenne auch ein wenig vom Geist, und ein groß Stück vom alten Schalk, der in uns tobet, ich meine vom Fleisch. Das einige Stück bewegt sie am allerhöchsten, daß es vor der Vernunft aus der Maßen närrisch ist, zu glauben, daß wir Christus' Leib und Blut sollen im Abendmahl leiblich essen und trinken. Und weiß fürwahr, wo sie gewönnen, sollte das die endliche Frohlockung sein: Ja, ich dacht's ja wohl, es müßte nicht recht sein; es hat mir nie wollteingehen, daß man Christus' Leib und Blut so sollte handeln. Wie sie denn jetzt unter einander heimlich reden und der tolle Pöbel offenbar-lich plaudert. Aber sie wollten solches gerne bergen, denn sie schämen sich's zu bekennen, wissen Wohl, daß es nichts taug'; sehen aber gerne, daß der tolle Pöbel damit herausfähret, reden und schreiben auch nicht dawider. Es ist aber schändlich, daß nicht so viel Redlichkeit und Ehrbarkeit in ihnen ist, solches frei heraus zu bekennen, das sie doch wünschen im Herzen, gerne haben, sehen und hören; sondern wenden vor, die Schrift zwinge sie, welches sie wissen, daß nicht wahr ist, sondern greifen die Schrift mit List und Frevel an, sich damit zu schmücken vor den Leuten, und unter der Schrift Namen ihr Gift unter die Leute zu bringen. Doch wiewohl sie solches bergen mit hohem Fleiß, noch guckt der Schalk hervor und läßt sich weidlich merken. Der Zwingel bekennet soviel, daß er's sein Lebelang nie geglaubt habe: und ich glaub's wohl, daß er nichts überall glaube. . . . Nun aus solchem Bekenntniß ist gut zu merken, daß er solchen Dünkel nicht aus der Schrift habe, welche er längst hernach hat funden, wie sein Buch Subsidium sonderlich, und andere mehr beweisen; sondern lange zuvor, ehe denn er solche Schrift fand, hat er so geglaubt, und läuft nun allererst, sucht Schrift und zwinget sie auf solchen Dünkel, Dr. Karlstadt auch, ehe denn er schrieb, lange zuvor, sagte er zu Einem: Lieber, du wirst mich nicht bereden, daß Gott im Brod und Wein sei. So fahren sie heraus unversehens, durch Gottes Gewalt." (Erl. Ausg., Bd. 30, S. 52 ff.)
Eine Frage, die besondere Beachtung erheischt, ist nun aber die: Wie kann man zwischen Schriftwort und bloßer Vernunftfolgerung, zwischen Text und menschlicher Glosse unterscheiden? Wo hört das Schriftwort auf und fängt die Vernunftfolgerung an? Da ist festzuhalten: Wir nennen — mit den Alten — das oft „Folgerung", was in dem Schriftwort selbst noch ausgesprochen oder offenbart vorliegt. Diese „Folgerung" ist natürlich nicht zu verwerfen und mit dem Namen „Vernunftfolgerung" zu belegen. Diese „Folgerung" läßt das Schriftwort stehen, wie es da steht, und legt das nur auseinander, was das Schriftwort — gleichsam eingewickelt — in sich birgt. Nehmen wir z. B. das Schriftwort: „Taufet sie", d. i. alle Völker. Daraus, daß alle Völker getauft werden sollen, folgern wir, daß auch die Kinder zu taufen sind. Warum ist diese <Seite 170> Folgerung eine rechte, ja, von Gott gebotene? Darum, weil das, was die ganze Gattung betrifft, auch die einzelnen Arten dieser Gattung betreffen muß. Sage ich z. B. etwas aus von den Vögeln (als Gattungsbegriff), so muß das, was ich ausgesagt habe, von jedem Vogel gelten. Paßt das, was ich vom Vogel als Gattungsbegriff ausgesagt habe, z. B. nicht auch auf die Nachtigall, so ist meine Aussage eine falsche und verkehrte gewesen. Ebenso würde es mit Christi Wort bewandt sein: Taufet alle Völker, wenn es sein Wille wäre, daß die Kinder ungetauft bleiben sollten. Zu einem Volke gehören nicht bloß die Erwachsenen, sondern auch die Kinder. Hätte Christus in Bezug auf die Kinder eine Ausnahme gemacht haben wollen, so hätte er uns das mit ausdrücklichen Worten sagen müssen. So aber ist in dem „alle Völker" mit ausgedrückt, daß. auch die Kinder zu taufen seien. — Ganz anders steht es mit folgenden Aussprüchen der Schrift: „Gott will, daß allen Menschen geholfen werde", und: „Es wurden gläubig. wie viel ihrer zum ewigen Leben verordnet waren." In diesen beiden Aussprüchen findet sich nicht ein und dieselbe Lehre, sondern jeder dieser beiden Aussprüche enthält eine besondere, von der anderen durchaus verschiedene Lehre. Es bezeichnet also die erste dieser beiden Lehren keineswegs eine Gattung, von welcher die zweite dieser Lehren eine ihr angehörende Art wäre. Jede dieser beiden Lehren steht—daß wir so sagen —als eine besondere Gattung für sich da. Hier durch Schlußfolgerungen vermitteln, ja, unter- oder überordnen zu wollen, heißt an Gott selbst freveln. Gott ist so groß und majestätisch, daß wir in seinen Sachen gar nicht im Stande sind, zu sagen: Dies oder das in seiner heiligen Offenbarung steht im Widerspruch mit einander, oder dieses oder jenes Wort darf nicht so genommen werden, wie es da steht, nämlich in seinem eigentlichen Sinn. Wir kennen Gottes Sachen überhaupt nur soweit, als Gott sie uns geoffenbart hat. Es ist daher ein entsetzlicher Frevel, den man an Gottes Wort begeht, wenn man, ohne den Beweis dafür aus Gottes Wort selbst zu bringen, sagt: „Die und die Lehre kann nicht so genommen werden, wie sie dem Wortlaut nach dasteht." Wir behandeln nicht einmal einen Menschen so, an dessen Aufrichtigkeit wir nicht zweifeln. Redet derselbe morgen auf eine andere Weise, wie er heute geredet hat, so haben wir das Vertrauen zu ihm, daß er nach verschiedenen Umständen geredet haben wird, und machen ihn nicht sofort durch eine „notwendige Schlußfolgerung" zu einem Lügner. So z. B. sage ich heute: Der Mensch ist sterblich, und morgen sage ich: Der Mensch ist unsterblich. Meine beiden Aussagen scheinen sich zu widersprechen, und ich habe doch beide Male die Wahrheit gesagt. Denn das erste Mal habe ich von dem Menschen in Bezug auf seinen Leib geredet und das zweite Mal in Bezug auf seine Seele. — Wir wissen Wohl, daß Gott ist ; aber wer er ist und wie er beschaffen ist, wissen wir nur soweit, wie er sich uns geoffenbart hat. — Noch wurde auf ein Beispiel einer Schlußfolgerung hingewiesen, das auch gewöhnlich von den Alten angeführt wird. Christus selbst sagt Matth. 22., daß in den Worten <Seite 171> 2 Mos. 3, 6.: „Ich bin der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs" die Auferstehung der Todten gelehrt sei und zwar so klar und offenbar, daß er die Sadducäer, die in der genannten Stelle von der Auferstehung der Todten kein Zeugnis fanden, als solche straft, die die Schrift nicht wüßten. Aber auch diese Folgerung geht nicht über das Schriftwort hinaus. Hier wird nur auseinandergesetzt, was in dem Schriftwort wirklich geoffenbart vorliegt. Nennt sich Gott noch der gestorbenen Erzväter Gott, so ist damit gesagt, daß er sie auch auferwecken werde. Denn was heißt das, Gott ist jemandes Gott, anders, als daß Gott einen Menschen nach Leib und Seele hier zeitlich und dort ewiglich mit seinen göttlichen Wohltaten überschüttet, daß er einem solchen Menschen nicht nur die Sünde vergibt, sondern denselben auch von allen Folgen der Sünde, namentlich auch vom Tode befreit? Darum kann derselbe nicht im Tode bleiben, sondern muß durch die Auferstehung errettet werden vom letzten Feind. Der Ausspruch Gottes, er sei jemandes Gott, verträgt sich nicht damit, daß der Leib eines solchen, deß Gott er ist, auf die Dauer im Tode bleibe, denn Gott ist nicht ein Gott der Todten, sondern der Lebendigen. Wir wiederholen es noch einmal: auch diese Folgerung geht nicht über das Schriftwort hinaus. Man halte also fest: nur solche Folgerungen sind rechte und berechtigte, welche das, was in dem Schriftwort bereits liegt, herausnehmen und klar vor Augen stellen. Was den Grundsatz betrifft: „Eine richtige Folgerung aus der Schrift ist für Schrift selbst anzusehen", so ist, um allem Mißbrauch zu wehren, hinzuzufügen: Dies gilt nicht von bloßen Vernunftfolgerungen, durch welche etwas herausgebracht werden soll, was nicht in dem Wort wirklich geoffenbart vorliegt. Deshalb erhebt auch schon Joh. Gerhard in Bezug auf diesen Grundsatz seine warnende Stimme (de interpret, sc. s. § 179.).
Joh. Gerhard führt den Ausspruch Gregors von Nazianz an: „Was aus der Schrift gefolgert wird, ist so anzusehen, als ob es in der Schrift geschrieben stehe", erinnert aber dabei: „Jedoch bedarf es hier großer Vorsicht; unversehens schleicht sich stier oft die menschliche Vernunft ein und dreht dann die Schrift nach eigenem Urtheil auf ihre Fündlein." Wir lassen „Folgerungen" zu, aber nur richtige. Und richtige Folgerungen sind nur die, durch welche das auseinandergesetzt wird, was in dem Schriftwort wirklich liegt, welche also nicht über das Schriftwort hinausgehen, sondern innerhalb desselben bleiben. Man hüte sich vor jeglicher dem Schriftwort nur angeflickten Folge, wie Luther redet. Nehmen wir einige Beispiele aus der Neuzeit. In den Worten: Gott will, daß allen Menschen geholfen werde, ist die Lehre ausgesprochen: daß Gottes Gnadenwille ein allgemeiner sei, ein Wille, der sich auf alle Menschen ohne Ausnahme erstrecke. Eine angeflickte Folge der Theologie unserer Zeit aber ist, daß demnach die Menschen, welche wirklich selig werden, zu ihrer Seligkeit Mitwirken. Man schließt nämlich so: Steht Gottes Wille gegen Alle gleich <Seite 172> und wird doch nur ein Teil der Menschen selig, so müssen diese zu ihrer Seligkeit mitgewirkt haben. Das ist eine zu verwerfende Vernunftfolgerung, obwohl die Vernunft, wenn nun einmal ihr Folgern gelten sollte, nicht anders folgern kann. — In den Worten : Ihr wäret todt durch Übertretungen und Sünden, ist ausgesprochen, daß der Mensch auch nicht die geringste Kraft in sich zur Bekehrung habe, daß infolge deß die Bekehrung einzig und allein das Werk Gottes sei. Eine angeflickte Folge aber ist, daß Gott nicht alle Menschen selig machen wolle, oder bei denen, welche tatsächlich selig werden, eine Zwangsbekehrung stattfinde. Man schließt nämlich so: Ist die Bekehrung allein Gottes Werk und bleibt, wie wir sehen, ein Teil der Menschen unbekehrt, so muß Gott diesen Teil nicht haben bekehren wollen. Ferner: Ist die Bekehrung allein Gottes Werk und auf Seiten des Menschen durchaus kein Entgegenkommen, sondern, so viel an ihm ist, nur Widerstreben, so muß die Bekehrung durch Zwang geschehen. Mit solchen angeflickten Folgen hat man in jüngster Zeit die Kirche schwer beunruhigt und manche Gemüter verwirrt.
Hüten wir uns vor dem Rationalismus, der sich jetzt wieder, auch dort, wo man sich lutherisch nennt, festgesetzt hat. In seiner letzten Predigt, die Luther zu Wittenberg einige Wochen vor seinem Tode gehalten hat, kommen die Worte vor: „Bisher habt ihr das rechte wahrhaftige Wort gehört ; nun sehet euch vor vor euren eigenen Gedanken und Klugheit. Der Teufel wird das Licht der Vernunft anzünden und euch bringen vom Glauben, wie den Wiedertäufern und Sacramentschwärmern widerfahren ist, und sind nun mehr Ketzerstifter vorhanden." In diesen Worten weist Luther mit prophetischem Geiste darauf hin, daß der aus den Banden des Papsttums gerissenen Kirche Gottes die Gefahr drohe, vom Rationalismus (Vernunftglauben) angegriffen und verschlungen zu werden. Die Erfahrung hat denn auch gelehrt, wie der Rationalismus in die Christenheit eingedrungen ist. Offen erklärten die Anhänger des groben Rationalismus: „Nur die menschliche Vernunft ist Regel und Richtschnur des Glaubens." Daher sei nur das aus der Schrift als Artikel des Glaubens anzunehmen, was vor dem Urtheil der Vernunft bestehen könne. Dieselbe Vernunftreligion hat man in neuester Zeit auch unter uns zur Geltung zu bringen gesucht; freilich in verdeckter Weise und manchen Verführten selbst unbewußt. Man sagte nicht nach Weise der alten Rationalisten grob heraus: Unsere Vernunft leidet nicht die Annahme dieser oder jener Lehre, sondern man versteckte sich hinter die Schrift, schützte diese vor und sprach: Sie, die Schrift, leidet es nicht, daß wir uns zu der Lehre bekennen. Die Schrift sagt: Gott will, daß allen Menschen geholfen werde. Dieser ihr Ausspruch leidet nicht die Lehre, daß die ewige Wahl Gottes eine Ursache des Glaubens und der Seligkeit der Auserwählten sei. Alle Stellen der Schrift, die das zu besagen scheinen, müssen in einem anderen Sinne genommen werden. Aber auch dieses Verfahren hat Luther schon als <Seite 173> Rationalismus aufgedeckt. Er weist nach, daß diejenigen, welche von zwei Lehren, die beide in der Schrift geoffenbart sind, sagen, dieselben seien wider einander und müßten mit einander vertragen werden — im Grunde nur wollen, daß die Schriftlehren mit ihrer Vernunft stimmen. Die Schrift werde dabei nur zum Vorwand genommen. Wie unsere jüngsten Gegner verfahren, genau so machten es schon zu Luthers Zeiten die Zwinglianer. Sie verwarfen die wesentliche Gegenwart des Leibes und Blutes Christi unter dem Vorgeben, diese Lehre streite mit anderen Artikeln des christlichen Glaubens. Wir haben schon gehört, wie trefflich ihnen Luther auf solches Vorgeben geantwortet hat. Es sei in Bezug hierauf noch folgender Ausspruch angeführt: „Da liegt nun der hochberühmte Grund, davon sie vor andern am meisten geifern, und am steifesten darauf stehen und pochen, da sie sagen, daß die zwo Schrift wider einander sind, Christus sitzt im Himmel und sein Leib ist im Abendmahl." Und von Oecolampad sagt Luther insonderheit: „Das hat den guten Mann Oecolampad betrogen, daß Schrift, so wider einander sind, freilich müssen vertragen werden, und ein Teil einen Verstand nehmen, der sich mit dem ändern leidet, weil das gewiß ist, daß die Schrift nicht mag mit ihr selbst uneins sein." Luther antwortet hierauf: „Das beweisen sie Wohl, daß solche zwo Schrift und ihre Vernunft wider einander sind. Das wäre aber ohne Noth gewesen, zu beweisen, ich wollt's ihnen auch ebensowohl gesagt haben. Denn daß du sagest, Schrift sei widereinander, gilt nichts; wer fragt nach deinem Sagen? Aber da wollt ich sie loben und ehren, wenn sie solches Sagen mit Schrift oder sonst beweiseten. . . Sollten wir aber der Vernunft und Augen nach unseres Glaubens Artikel und die Schrift urteilen, wie hier Oecolampad that, so ist freilich ein jeglich Stück in der Schrift wider das andere." Nachdem Luther dies an den Artikeln, daß Maria Jungfrau und Mutter, Christus Gott und Mensch sei, nachgewiesen und hierbei schon sagt: „Ja, vor dir und deiner Vernunft ist sie (die Schrift) wider einander, aber wie ist sie vor Gott Wider einander? das sage mir", fährt er fort: „So lautet sein" (Oecolampads) „Grund: Ich, Oecolampad, sage, daß die Schrift in diesem Stück Wider einander ist. Ist nun das nicht ein zarter, feiner Grund des Glaubens? wenn ein Mensch also spricht: Wiewohl Gottes Wort da stehet und sagt: Das ist mein Leib; doch weil ich's nicht begreifen noch glauben kann und mich wider die Schrift (zu) sein dünkt, so ist's nicht wahr, und muß eine andere Deutung haben, unangesehen, wie Helle Gottes Wort da stehet. - Das ist Oecolampads Geist und hochberühmte Wahrheit, daß Menschendünkel und Unglaube solle über Gottes Wort gelten und unsern Glauben gründen." (Erl. Ausg. Bd. 30, S. 49 ff.)
Auch Gerhard weist in dem in Rede stehenden Verfahren den Rationalismus nach. Er schreibt: „Doch du sagst: Die Vernunft, welche die Gegenwart des Leibes Christi im Abendmahl bestreitet, stützt sich nicht einfach <Seite 174> auf ihre Principien (Grundsätze), sondern auf den Ausspruch der Schrift, daß Christi Leib ein wahrer Leib sei. Ich antworte: Man muß die Schrift nicht bloß in dem Einen hören, daß Christus einen wahren Leib habe, sondern auch in dem Andern, daß Christi wahrer Leib im Abendmahl sei. Die Regel des Glaubens ist ganz anzunehmen. Hier ist nicht in Frage, ob Christi Leib ein wahrer Leib sei, sondern dies, ob daraus, daß Christi Leib ein wahrer Leib ist, mit Recht geschlossen werde: Gott könne nicht bewirken, daß jener wahre Leib im Abendmahle gegenwärtig sei. Sie sagen: Die Art des Leibes leide es nicht, derselbe sei endlich. Ich frage: woher sie wissen, daß es dem Leibe Christi widerspreche, an mehreren Orten zugleich zugegen zu sein? Sicherlich aus den Grundsätzen der Vernunft, denn die Schrift sagt das Gegenteil. Das ganze Argument läuft also schließlich auf einen Ausspruch der Vernunft hinaus." (Loc. cit. § 178.)
Die Anwendung des in diesem und den vorhergehenden Citaten Gesagten auf das Vorgeben, die Lehre von der Erwählung zum Glauben und zur Seligkeit widerstreite der Schrift: ihr Ausspruch vom allgemeinen Gnadenwillen Gottes leide es nicht, jene Stellen, welche von der Erwählung handeln, ihrem Wortlaut nach zu nehmen — kann nun ein jeder leichtlich sich selber machen.
Haben wir denn nun, da wir alles „Reimen" in den klaren Aussprüchen des Wortes Gottes unterlassen und auch nicht einen Artikel aus dem ändern mit der Vernunft folgern wollen, einen zusammenhangslosen, widerspruchsvollen Glauben? — wie man uns entgegengehalten hat. Das sei ferne. Alle Artikel unseres allerheiligsten Glaubens stehen sicherlich in wunderbarem Einklang, in genauester Uebereinstimmung miteinander und bilden — um den Ausdruck der Gegner auch einmal zu gebrauchen — ein „harmonisches Ganze". Wie in Gott selbst, so ist auch in den von ihm geoffenbarten Lehren die vollste Harmonie. Jede gegenteilige Behauptung nennen wir Gotteslästerung. Den innigsten Zusammenhang der ganzen christlichen Lehre zeigt auch die Schrift selbst damit an, daß sie Christum in ihren Mittelpunkt stellt. Wenn St. Paulus als die Summa seiner Predigt angibt: Wir predigen Christum, den Gekreuzigten, so sagt er damit, daß die Lehre von Christi Person und Werk die Centrallehre sei, von welcher alle anderen Lehren ausgehen und mit welcher alle Lehren im innersten Zusammenhänge stehen. Aber für ein Ganzes im Sinne der menschlichen Vernunft halten wir die einzelnen Lehren der heiligen Schrift allerdings nicht. Wir Menschen haben hier in diesem Leben nicht einen solchen Einblick in den inneren Zusammenhang der göttlichen Lehren, daß wir, wenn uns eine Lehre gegeben ist, nun mit Hülfe der Logik alle anderen Lehren aus dieser einen Lehre ableiten könnten. Wenn ich z. B. höre, Gott will, daß allen Menschen geholfen werde, so weiß ich damit noch nicht, wie die Lehre von der ewigen Erwählung beschaffen sei. Daher hat Gott der Heilige Geist <Seite 175> uns in der heiligen Schrift auch nicht bloß allgemeine Grundsätze gegeben, aus welchen wir die einzelnen Lehren selbst abzuleiten hätten, und nicht bloß die eine oder die andere Lehre geoffenbart, aus welcher alle anderen Lehren von uns selbst zu finden wären, sondern Gott hat — weil es für uns durchaus nötig war — jede einzelne Lehre, die wir zu glauben haben, uns in mindestens einem ausdrücklichen Schriftwort vorgelegt. Welche Torheit ist es daher, das mit der Vernunft erschließen zu wollen, was doch in der Schrift geoffenbart vorliegt und von uns gar nicht erschlossen werden kann. — Diese große Torheit wurde auf eine drastische Weise von einem Gliede der Synode in folgender Geschichte vorgestellt: Es waren einmal vier Blinde. Diese hatten von einem Elephanten gehört. Um einen Begriff von diesem Thiere zu erlangen, gingen sie zum Besitzer desselben und sprachen zu ihm: Zeige uns einmal deinen Elephanten. Ihre Bitte wurde ihnen gewährt. Da sie nun nicht sehen konnten, suchten sie sich durch ihr Tastvermögen einen Begriff von dem Elephanten zu machen. Der erste dieser Blinden erfaßte den Rüffel des Tieres. Von diesem Begriff kam er vermöge Schlußfolgerungen, die er nun machte, zu dem Begriff : Ein Elephant ist wie eine Schlange. Der zweite der Blinden hatte ein Bein des Elephanten erwischt. Aus diesem Begriff schloß er: Ein Elephant ist wie ein Stampfer einer Oelmühle. Der dritte bekam einen Ohrlappen des Tieres in die Hände. Infolge deß stand es bei ihm fest : Ein Elephant ist wie ein Windfächer. Der vierte Blinde endlich hatte den Schwanz des Elephanten ergriffen und infolge deß auch alsbald begriffen: ein Elephant sei wie ein großer Neisstampfer. Was diese Leute ergriffen hatten, war ja allerdings das Rechte, aber durch ihre verkehrten Schlußfolgerungen hatten sie sich je nach ihrem Begriffsgegenstand und Begriffsvermögen einen — wie man sieht — durchaus falschen Begriff von dem Elephanten gemacht. — Gewaltig geißelt Luther die Folgerei, welche über Gottes ausdrückliches Wort hinaus Schlüsse macht. Er schreibt: „Das Allerfeinste aber in des Bischofs (von Meißen) Zettel ist, daß die Pfarrherren sollen das Volk lehren, wie unter der einen Gestalt der ganze JEsus Christus, Gottes Sohn, Gott und Mensch, dazu sein Leib und Blut sei und von den Laien gegessen und getrunken werde... Hiezu schlägt nun die Concomitantien, das ist, die Folge. Weil Christus Leib nicht ohne Blut ist, so folget daraus, daß sein Blut nicht ohne Seele ist; daraus folget, daß seine Seele nicht ohne die Gottheit ist; daraus folget, daß seine Gottheit nicht ohne den Vater und Heiligen Geist ist ; daraus folget, daß im Sacrament auch unter Einer Gestalt die Seele Christi, die heilige Dreifaltigkeit gegessen und getrunken wird sammt seinem Leibe und Blut; daraus folget, daß ein Meßpfaff in einer jeglichen Messe die heilige Dreifaltigkeit zweimal opfert und verkauft; daraus folget, weil die Gottheit nicht ohne die Creatur ist, so muß Himmel und Erden auch im Sacrament sein; daraus folget, daß die Teufel und die Hölle auch im Sacrament sind ; daraus folget, daß wer das <Seite 176> Sacrament (auch einerlei Gestalt) isset, der frisset den Bischof zu Meißen mit seinem Mandat und Zettel; daraus folget, daß ein Meißnischer Priester seinen Bischof in einer jeglichen Messe zweimal frisset und säuft; daraus folget, daß der Bischof zu Meißen muß einen größeren Leib haben, denn Himmel und Erden ; und wer will alle Folge immermehr erzählen? Aber zuletzt folget auch daraus, daß alle solche Folger Esel, Narren, blind, toll, unsinnig, rasend, töricht und tobend sind: diese Folge ist gewiß. . . Lieber Gott, wie ists so große Mühe und Arbeit, daß ein Christ bleibe, wenn er gleich Helle, dürre, gewisse Worte Gottes vor sich hat! was solls denn werden, wo man die Worte fahren lässet, und gibt sich auf der Vernunft Folgern und Klügeln?" (Erl. Ausg. B. 30, S. 418 ff.)
Wenn man gegnerischerseits durch Folgerungen die Aussprüche der Schrift von dem allgemeinen Gnadenwillen mit den Aussprüchen der Schrift von der ewigen Erwählung in Widerspruch gesetzt hat, so sollte man selbst schon dieses Verfahren als rationalistisch erkennen. Gestattet man sich dasselbe doch nicht bei anderen Lehrartikeln. Nehmen wir z. B. die Lehre von der heiligen Dreieinigkeit. Unvermittelt lehrt uns die Schrift glauben: Es ist nur Ein Gott und außer ihm ist kein anderer Gott. Es sind drei Personen und jede dieser drei Personen — als solche betrachtet — ist der wahre einige und alleinige Gott. Es ist daher recht geredet: JEsus, welcher am Kreuze hängt, ist der einige und alleinige Gott und außer ihm ist kein anderer Gott. — In diesen beiden Lehren findet die Vernunft einen Widerspruch, über welchen sie nicht hinwegkommt. Sie sagt: Ist nur Ein Gott, so ist auch nur Eine Person, welche dieser Eine Gott ist. Wer anders sagt, sagt Unsinn. Oder: Sind drei Personen, deren jede der wahrhaftige Gott ist, so sind drei Götter. Wer anders sagt, ist toll und thöricht. Denn Drei sind nicht Eines und Eins ist nicht Drei. — Woher kommt es, so fragen wir, daß man sich nicht stößt an dem scheinbaren Widerspruch, der in diesen Lehren für die Vernunft doch in eben dem Maße vorhanden ist, wie der scheinbare Widerspruch, welchen die Vernunft in den Lehren von der Gnadenwahl und dem allgemeinen Gnadenwillen Gottes findet. Das kommt nicht daher, weil der scheinbare Widerspruch in dem Geheimnis von der heiligen Dreieinigkeit ganz anderer Art wäre, wie der in den zuletzt angeführten Lehren, und der Vernunft doch einigermaßen Befriedigung gewährte, sondern das kommt daher, daß wir, in Bekanntschaft mit der Lehre von der heiligen Dreieinigkeit groß geworden, dieselbe vielfach keinem so scharfen Nachdenken unterwerfen, zumal da wir über dieselbe nicht angefochten, nicht beunruhigt werden. Anders steht es in Bezug auf die Lehre von der Gnadenwahl. Weil sie keine Fundamentallehre von der Art ist, wie die Lehre von der heiligen Dreieinigkeit, sondern vornehmlich eine Lehre des Trostes, insonderheit für angefochtene Christen, so wird sie in Predigten, Christenlehren u. s. w. nicht in gleichem Maße getrieben, wie die Lehre von der heiligen Dreieinigkeit; <Seite 177> sie ist daher verhältnismäßig weniger bekannt. Wird nun ein Christ über sie beunruhigt, wird ihm der scheinbare Widerspruch dieser Lehre in einem verkehrten Lichte gezeigt, so kann es leicht geschehen — wie es leider bei vielen lieben Christen geschehen ist —, daß er die reine Lehre von der Gnadenwahl um ihres scheinbaren Widerspruchs willen für eine neue, nicht im Wort Gottes geoffenbarte Lehre hält, welche anzunehmen er mit Händen und Füßen abwehren müsse. —Wir wiederholen: Das Verhältnis, in welchem die Lehre der heiligen Dreieinigkeit zur menschlichen Vernunft steht, ist durchaus kein anderes, sondern genau dasselbe, wie das Verhältnis der Lehre von der Gnadenwahl, zusammengehalten mit der Lehre vom allgemeinen Gnadenwillen Gottes gegenüber der menschlichen Vernunft. In beiden Lehren findet sie denselben scheinbaren Widerspruch: sie kommt über denselben in Bezug auf die Lehre von der Dreieinigkeit ebensowenig hinaus, wie sie über ihn hinauskommt in der Lehre von der Gnadenwahl. — Wie wir in der Lehre von der heiligen Dreieinigkeit — so lieb uns unsere Seligkeit ist — einfältig bei der Aussage des Schriftwortes bleiben, alle Folgerungen unserer Vernunft unterlassen und den vor unserer Vernunft scheinbaren Widerspruch unaufgelöst stehen lassen müssen, so muß dasselbe auch in der Lehre von der Gnadenwahl geschehen, wenn wir rechtgläubige Lutheraner sein und bleiben wollen. — Anders läge ja freilich die Sache, wenn man den Beweis liefern könnte, daß zwischen den Lehren von der Gnadenwahl und dem allgemeinen Gnadenwillen nicht ein scheinbarer, sondern ein wirklicher Widerspruch vorhanden wäre. — Ein scheinbarer Widerspruch entsteht dann, wenn die heilige Schrift von einem göttlichen Geheimnis etwas aussagt, was unsere Vernunft mit dem Gegenstand dieses Geheimnisses nicht reimen kann, weil uns derselbe nicht vollständig bekannt ist. Ein wahrer Widerspruch dagegen ist dann vorhanden, wenn in einer und derselben Sache — und zwar nach einer und derselben Beziehung — einmal etwas behauptet und dann dasselbe wieder in Abrede gestellt wird und umgekehrt. So wäre z. B. das ein wahrer Widerspruch, wenn gesagt würde: Es ist Ein Gott, zugleich — in derselben Beziehung — aber auch gesagt würde: Es sind drei Götter. Derartige wirkliche und wahre Widersprüche finden sich nicht in der heiligen Schrift.
Keine Lehre der heiligen Schrift steht in einem wirklichen Widerspruch mit einer andern. Das ist so gewiß unmöglich, so gewiß die Schrift das Wort des wahrhaftigen Gottes ist. Habe ich daher nachgewiesen, daß ich für die Lehre, welche ich führe, ein gewisses und bestimmtes Schriftwort habe, so habe ich damit nachgewiesen, daß sie nicht im Widerspruch, sondern in vollster Harmonie mit jeder anderen Lehre der Schrift steht; wie? das ist nicht meine Sache, sondern Gottes. Können wir dies oder jenes auch nicht zusammenreimen, „welches uns auch zu thun nicht befohlen ist" (Concordienf. M. S. 715), so kann es doch unser Gott. Er reimt alles aufs vortrefflichste. Joh. Gerhard: „Das Urteil über einen wahren Widerspruch <Seite 178> unter den Artikeln des Glaubens ist nicht der Vernunft zu überlassen, sonst würde sie zur Herrin über die Schrift werden, sie, die doch nicht im Stande ist, den Willen oder die Macht Gottes zu erkennen. Sie erkennt nicht den Willen Gottes, weil Gott niemand je gesehen, außer der eingeborne Sohn, der in des Vaters Schoß ist, der hat es uns verkündigt, Joh. 1, 18. Sie erkennt nicht die Macht Gottes; denn Gott kann überschwänglich thun über alles, das wir verstehen, Eph. 3, 20. Daher gilt es, alle Vernunft unter den Gehorsam Christi gefangen zu nehmen, 2 Cor. 10, 5., und sich vorzusehen, daß uns niemand beraube durch die Philosophie, Col. 2, 8." (Loc. cit. § 165.)
Es ist ein Grundirrtum der neueren Theologie, daß sie sagt, die Theologie sei eine „Wissenschaft" im Sinne und Begriffe von anderen Wissenschaften. Luthardt: „Die Theologie ist die kirchliche Wissenschaft vom Christentum… In jener Definition (der alten lutherischen Theologen) ist sowohl die unmittelbare Beziehung der Theologie zur Seligkeit, als auch ihre Fassung als eine persönliche Eigenschaft zwar im besten Sinne des religiösen Ernstes gemeint, aber wissenschaftlich nicht richtig." („Lehre und Wehre" 1875, S. 162.) Kahnis: „Die kirchliche Wissenschaft (ist) nicht ein Mittel zur Verwirklichung der praktischen Zwecke der Kirche, sondern ein selbstständiger Zweck der Kirche." (Ebendas.) Der konsequenteste von diesen Theologen war der verstorbene Erlanger Professor von Hofmann. Dieser sprach es am deutlichsten aus, daß, wenn man Theologie treiben wolle, man nicht die Bibel vornehmen und daraus die Theologie schöpfen müffe, sondern da müsse man in sein Inneres schauen und fragen: Bist du ein Christ? — Aus der Tatsache: ich bin ein Christ, könne man dann die ganze Theologie konstruieren. So lauten seine Worte: „Freie Wissenschaft ist die Theologie nur dann, wenn eben das, was den Christen zum Christen macht, sein in ihm selbstständiges Verhältnis zu Gott, in wissenschaftlicher Selbsterkenntnis und Selbstaussage den Theologen zum Theologen macht, wenn ich der Christ mir dem Theologen eigenster Stoff meiner Wissenschaft bin." (Cit. in „L. u. W." 1875, S. 163.)—Diese neue Theologie hat also ganz ausgesprochener Maßen ein durchaus anderes theologisches Prinzip als die rechtgläubig lutherische Kirche. Während diese allein die heilige Schrift als oberstes und alleiniges Prinzip der Theologie aufstellt, sagt Hofmann a. a. O. wörtlich: „Nicht Begriffe, welche außer ihr" (der Tatsache: ich bin ein Christ) „wie immer entsprungen sind, dürfen auf ihre Selbstentfaltung bestimmend einwirken." Wir dagegen bekennen frei: Wir wollen die einzelnen Lehrartikel nicht aus einem Princip „entwickeln" im Sinne der neueren Theologie. Unser einziges Prinzip ist die heilige Schrift. Und auch hier wollen wir nicht bloß von einem Punkte ausgehen, um das Uebrige von da aus durch die Vernunft zu entwickeln, sondern wir haben so viel Principien, als wir klare <Seite 179> Aussprüche der heiligen Schrift haben. Wir wollen nur das haben und uns vor Augen stellen, was in den einzelnen Schriftaussagen vorliegt. So bleibt unsere Theologie wirklich Schrifttheologie und sind wir gewiß, daß wir uns kein falsches Bild von Gott und göttlichen Dingen machen.
Man nennt unsere Methode mechanisch und unwissenschaftlich. Aber ist es Wohl mechanische Arbeit, das ausdrückliche Schriftwort, das Wort des großen und majestätischen Gottes, das er uns aus lauterer Gnade geoffenbaret hat, anzuschauen? Das Schriftwort anschauen heißt Gott selbst anschauen, soweit Gott in diesem Leben überhaupt von Menschen geschaut werden kann; das Schriftwort anschauen heißt das göttliche Licht, welches in dieser Finsternis leuchtet, anschauen und von diesem Lichte durchleuchtet werden. — Und unwissenschaftlich soll unser Verfahren sein, wenn wir nur auf Grund des ausdrücklichen Schriftwortes von göttlichen Dingen reden wollen. — Nur gemach! Wir verfahren wissenschaftlicher als jene Konstructionstheologen. Es ist nämlich wissenschaftlicher, seine Unwissenheit zu bekennen, als ein Wissen zur Schau zu tragen, das man nicht hat. Wie steht es nämlich mit der Fähigkeit des Menschen, geistliche Dinge zu erkennen und zu richten? Die heilige Schrift sagt nicht nur vom natürlichen Menschen, er vernehme nichts vom Geiste Gottes, es sei ihm eine Torheit und könne es nicht erkennen, denn es müsse geistlich gerichtet sein, sondern sie ermahnt auch den Wiedergebornen, daß er seine Vernunft fortwährend unter den Gehorsam Christi gefangen nehmen soll. Und doch thut man beim Auf- und Ausbau der christlichen Lehre vermittelst der Vernunft, als ob letztere alles, was des Geistes ist, bis auf den Grund durchschaut und mit vollkommener Klarheit erkannt hätte. So zu handeln, heißt doch wahrlich nicht wissenschaftlich gehandelt! Solches Verfahren ist auch vom Standpunkt der Wissenschaft aus ein durchaus verwerfliches. Es ist, kurz gesagt, Narretei treiben. Wenn bei diesem sogenannten wissenschaftlichen Verfahren noch Stücke der göttlichen Wahrheit ans Licht treten, so kommt das daher, daß man das Schriftwort noch nicht gänzlich vergessen hat, und das Schriftwort sich gegen die Methode geltend macht. Findet man wirklich etwas ohne die Schrift, so findet man nur Irrtum; das ist so gewiß, so gewiß der Mensch aus sich selbst nichts von geistlichen Dingen versteht. Wie jener neuere Schriftsteller von dem „deutschen Professor", der alles in „ein verständlich System" bringt, sagt, daß derselbe die vermeintlichen Lücken des Weltenbaus „mit seinen Nachtmützen und Schlafrockfetzen ausstopfe", so stopfen die „wissenschaftlichen Theologen" die vermeintlichen Lücken zwischen den Aussagen der Schrift nicht mit göttlicher Wahrheit, sondern mit höchst eigenen Gedanken und Einfällen aus. — „Quid sacer codex nisi speculum, in quo sese Numen depinxit?" (Die heilige Schrift ist nur ein Spiegel, in welchem Gott uns sein Bild gezeichnet hat.) So sagt richtig Dannhauer Herm, s. p. 2. Hüten wir uns an diesem Bilde nachbessern zu wollen! Es scheinen uns da einige Linien verkehrt zu laufen, <Seite 180> andere scheinen uns zur vollständigen Harmonie zu fehlen. Da sind wir denn in Versuchung, einigen Linien eine etwas andere Richtung zu geben und die uns fehlenden nach unserer Phantasie hineinzuzeichnen. Geschieht dies, so wird das Bild so gewiß verdorben, so gewiß kein Mensch Gott gesehen hat und aus sich selbst Gott nicht kennt. So viel wir an dem Bild korrigiert und nachgezeichnet haben, soweit haben wir Gottes Bild in ein Götzenbild verwandelt.
Ehe wir zu Satz 2 weitergehen, wollen wir uns kurz noch einmal das unter Satz 1 Gesagte vergegenwärtigen. Wir haben uns davon überzeugt, daß wir nur dann den Grundsatz: Allein die Schrift stellt Artikel des Glaubens, in Wahrheit befolgen, wenn wir eine Lehre der Schrift aus den Stellen entnehmen, welche gerade diese Lehre offenbaren oder, was dasselbe ist, wenn wir das ausdrückliche Schriftwort für eine Lehre anführen. Nehme ich hingegen Schriftstellen vor mich, welche gar nicht von der in Rede stehenden Lehre handeln, und suche ich dieselbe aus diesen Stellen erst durch Vernunftfolgerungen zu finden, so stehe ich tatsächlich nicht auf Gottes Wort, sondern auf meinen eigenen Gedanken; so folge ich in dieser Lehre nicht dem Worte der Schrift, sondern meinen eigenen Einfällen; so habe ich nur scheinbar aus der Schrift, in Wirklichkeit aber aus der Vernunft bewiesen. Z. B. frage ich: Wie rechtfertigt Gott einen armen Sünder? so habe ich mir die Antwort aus den Stellen, welche von der Rechtfertigung handeln', zu holen ; frage ich: Wie ist der Mensch von Natur beschaffen ? so müssen mir solche Stellen Antwort geben, welche sagen, daß der natürliche Mensch nichts vom Geiste Gottes vernimmt, daß er todt in Sünden ist u. s. w.; frage ich, was die ewige Wahl Gottes sei, so antworten mir allein die Stellen auf meine Frage, welche von dieser Lehre ausdrücklich handeln. Nur dann, wenn wir so zu Werke gehen, stehen wir auf dem ausdrücklichen Schriftwort und bleiben dadurch bei dem Grundsatz der Kirche der Reformation: Allein die Schrift gründet Artikel des Glaubens. Wir lassen uns das Schriftwort auch nicht durch sogenannte nothwendige Folgerungen unter den Füßen wegziehen, wodurch man tatsächlich geltend macht, daß ein ausdrückliches Schriftwort einen solchen Verstand annehmen müsse, daß sich dasselbe nach der Vernunft mit einem andern Schriftwort reime.
Wie wichtig es ist, daß wir dies festhalten, zeigt uns nun Satz 2 an einigen Beispielen. Denn „nur wenn wir dies (das in Satz 1 Gesagte) festhalten, bleiben
a. die einzelnen Artikel der christlichen Lehre stehen."
Stellt man nämlich die Forderung auf, ein Schriftwort müffe einen Verstand annehmen, der sich nach der Vernunft mit einem andern Schriftwort reime; stellt man die Forderung, daß ein Glaubensartikel sich nicht bloß dadurch legitimiere, daß er ein ausdrückliches Schriftwort für sich hat, sondern auch dadurch, daß er seinen vernunftgemäßen Zusammenhang mit andern Lehren Nachweise, so wird folgerichtig die ganze christliche Lehre <Seite 181> abgetan; dann entsteht unter den Glaubensartikeln ein Krieg aller gegen alle; dann wird ein Ungeheuer aus der christlichen Lehre; dann müssen wir schließlich zu Juden, Heiden und Türken werden. Da fallen vor allem die Artikel von der heiligen Dreieinigkeit und von der Person Christi; denn es gibt, um die menschliche Vernunft hier zu befriedigen, keine Vermittelung zwischen den Schriftaussagen einerseits, daß Gott ein einiges, ganz ungetheilies und unteilbares Wesen sei, und zwischen den Schriftaussagen andererseits, daß drei unterschiedliche Personen seien. Will die Vernunft den scheinbaren Widerspruch, der sich in diesen Aussagen findet, beseitigen, so kann sie das nur so, daß sie entweder die Dreiheit der Personen oder die Einheit des Wesens leugnet, wie der Kirchenvater Tertullian von Praxias sagt: „Einen einigen Gott meint er nur dann glauben zu können, wenn er sage, daß Vater, Sohn und Heiliger Geist ein und derselbe sei." — Will die Vernunft zwischen den Aussagen einerseits, daß Christus wahrer Gott sei, und den Aussagen andererseits, daß Christus wahrer Mensch sei, vermitteln, so kann sie das nur also, daß sie entweder die wahre Gottheit oder die wahre Menschheit, also überhaupt die Menschwerdung des Sohnes Gottes leugnet. Mit gewaltigen Worten zeigt dies Luther: „Es will Christus haben, daß wir gar zu Kindern werden sollen, so wir anders ins Himmelreich kommen wollen, das ist, wie in den Kindern alle Vernunft und Verstand, so zu rechnen, noch gar verschorren (verscharret) ist, also soll in allen Christgläubigen die Vernunft auch getödtet werden; sonst hat der Glaube keine Statt bei ihnen, denn die Vernunft sicht Wider den Glauben. Als, zum Exempel, die Schrift sagt, es sei allein Ein Gott, und in dem einigen göttlichen Wesen drei unterschiedene Personen, Gott der Vater, Gott der Sohn, Gott der Heilige Geist, aber Ein Wesen und Substanz. Da kommt allhier bald der Türke mit seiner Vernunft daher, und fraget, wie es könne möglich sein, daß eins könnte drei und drei könnten eins sein; sagen dazu, in einem Hause müffe nicht mehr denn Ein Herr und Wirth sein, also auch im Himmel müffe allein Ein Gott sein. Das ist alles aus der Vernunft geredet. Aber allhier mußt du Christ ein Kind werden und sagen: Ich kann's wohl nicht zusammen reimen, aber ich muß ein Kind werden und mich tragen lassen, Christum mich anrühren und segnen lassen, und glauben, dagegen aber der Vernunft ihre Augen zutun und nicht sehen, wie es möglich oder unmöglich sein könnte, sondern dem bloßen einfältigen Wort glauben, und es annehmen. — Also gehet's auch mit allen anderen Artikeln des Glaubens zu. Die Heiden, wenn sie hören, daß Gottes natürlicher Sohn ist Mensch worden, so sagen sie: Es ist nicht möglich. Ja, wenn man die Vernunft um Rat fraget; aber du mußt allhier die Vernunft fahren lassen, und von ihr nichts wissen und sie gar tödten, sonst wird man nicht in's Himmelreich kommen. Man kann diese Sachen mit der Vernunft nicht fassen noch begreifen, du mußt den Artikel glauben, daß Christus sei ein Mensch geboren, da die Zeit <Seite 182> erfüllet war." — Nachdem Luther dasselbe auch in Bezug auf Taufe und Abendmahl nachgewiesen, fährt er also fort: „Was wollen nun die verzweifelten Rottengeister den Glauben an die Vernunft binden, so es doch unmöglich ist, daß Glaube und Vernunft sollten übereinstimmen? Denn Christus sagt allhier ausdrücklich: Wenn du willst in's Himmelreich eingehen, so werde ein kleines Kindlein, denn ich bin darum gekommen in die Welt, daß ich alle zu Kindern mache, und daß sie Narren werden." (Erl. Ausg. Bd. 44, S. 157.)
Wie die Vernunft mit den einzelnen Lehrartikeln aufräumt, wenn man ihr mitzureden gestattet, lehrt genugsam die Erfahrung. Welchen Glaubensartikel hat denn die moderne Theologie, die es als ihre Aufgabe bezeichnet, die christliche Lehre in ein System zu bringen, noch unangetastet stehen gelassen? Wer sich vor Gottes Wort fürchtet und liest die neueren Spekulationen im Artikel von der Dreieinigkeit, dem stehen die Haare zu Berge. Die gesammte neuere lutherisch sich nennende Theologie lehrt ferner die Kenose, d. i. das Fündlein, daß der Sohn Gottes einen Teil seiner göttlichen Eigenschaften habe ablegen müssen, um Mensch werden und Mensch sein zu können. Ursache dieser Irrlehre ist : man will der menschlichen Vernunft es eingänglicher machen, wie Gott Mensch werden konnte. Ferner ist die gesammte neuere Theologie synergistisch, d. H., sie schreibt dem Menschen zu, daß er zu seiner Seligkeit mitwirke. Auch diese Irrlehre hat ihren Grund im Rationalismus, in dem Versuch, die einzelnen geoffenbarten Lehren vernunftgemäß zu vermitteln. Man sagt, nur wenn man dem Menschen eine gewisse Mitwirkung zur Seligkeit zuschreibe, könne man die Lehre festhalten, daß Gott die Seligkeit aller Menschen ernstlich wolle! Melanchthon war der erste innerhalb der lutherischen Kirche, welcher lehrte, daß man dem natürlichen Menschen die Fähigkeit nicht absprechen dürfe, sich zur Gnade schicken zu können. Aber auch bei Melanchthon war der Grund.. des Synergismus der Rationalismus. Er schreibt unter anderem also: „Da die Verheißung allgemein ist und in Gott keine sich widersprechende Willen sind, so muß nothwendig in uns eine Ursache des Unterschiedes sein, warum ein Saul verworfen, ein David angenommen wird, das ist, es müffe irgendwie in diesen beiden ein verschiedenes Handeln sein." (Nach L. Hutter.) Man kann wirklich ohne Synergismus kein System bauen. Wenn bei der Arbeit der Vermittlungstheologen noch ein Artikel des christlichen Glaubens stehen bleibt, so ist der Grund davon eine glückliche Inconsequenz.
Was für ein Unheil hat doch die Systembildung in Deutschland angerichtet! Es ließ sich so gut an. Kräftig und glaubensfrisch waren die Zeugnisse, welche gegen den groben Rationalismus erhoben wurden. Da fuhr der Teufel der Systembildung in die Theologen. Man ließ sich gelüsten, die göttliche Weisheit mit der Weisheit dieser Welt zu vertragen. Man war nicht damit zufrieden, das Evangelium ein teuerwerthes <Seite 183> Wort für arme Sünder sein zu lassen, sondern man wollte es auch den Weisen dieser Welt als solchen annehmbar und wohlgefällig machen. Der alte Rationalismus war wieder da, nur sein äußeres Gewand war ein anderes geworden. Auch dieser Rationalismus hat alle Glaubensartikel gewandelt. Wir wüßten keinen Hauptartikel der christlichen Lehre, in welchem die neue „wissenschaftliche" Theologie auf dem Bekenntniß stünde. Die vernunftgemäße „Vermittelung", welche man zur Aufgabe der Theologie gemacht hat, hat mit den Lehren, wie sie unsere Kirche bekennt, aufgeräumt. Wie man bei der Lehre von der Gnadenwahl zu Werke geht, mögen folgende Worte Luthardts zeigen. Derselbe schreibt: „Es liegt, wenn ich mich nicht täusche" — man beachte das „wenn ich mich nicht täusche", womit Luthardt sich selber das Zeugnis ausstellt, daß er das, was er hier sagt, nicht aus der Schrift habe — „fast alles an einer doppelten Erkenntnis: fürs Erste, daß für das Zustandekommen des Glaubens das eigene persönliche Verhalten gewahrt bleibe, und dasselbe in seiner Wirklichkeit nicht als rein ausschließliches Werk und That Gottes gedacht werde; zum Andern, daß die Prädestination nicht unmittelbar und ohne weiteres auf die Einzelnen bezogen werde. Wird beides nicht festgehalten, so ist die Gefahr dort des deterministischen, hier des prädestinatianischen Irrtums vorhanden." — Um eine Lehre zu bekommen, die in das System paßt, beseitigt Luthardt hier,zwei Artikel unseres Glaubens mit einem Schlage: erstlich den vom unfreien Willen des Menschen; denn kommt der Glaube nicht ausschließlich durch Gottes Werk und That zustande, sondern wirkt auch der Mensch durch sein „persönliches Verhalten" zum Zustandekommen desselben mit, so ist der Mensch nicht ganz todt in Sünden, sondern nur halbtodt. Zum Andern beseitigt Luthardt auch die ewige Wahl Gottes. Luthardt will nämlich dieselbe nicht auf einzelne Menschen bezogen haben. Wird aber geleugnet, daß die Wahl Einzelwahl sei, so wird die Wahl überhaupt geleugnet und gänzlich abgetan.
Diese so eben beschriebene Vermittlungstheologie trat in den letzten Jahren auch an uns heran mit der Aufforderung, sie anzuerkennen. Denn das Ansinnen, welches man an uns stellte, war im Grunde kein anderes, als die Artikel des Glaubens zu einem Ganzen im Sinne der Vernunft zuzustutzen. Hätten wir dieser Forderung nachgegeben, so wären wir heute nicht mehr eine lutherische Kirche, sondern nur noch eine lutherische Secte. Wir können daher Gott nicht genugsam danken, daß er uns in jenen Tagen schwerer Anfechtung so gnädiglich behütet und uns festbehalten hat in seinem Wort und Glauben, so daß auch heute noch unter uns der Grundsatz gilt, der in unserer lieben lutherischen Kirche von Anfang an zu Recht bestanden hat, das Wort der Schrift so anzunehmen, wie es lautet, auch wenn es nicht vor der Vernunft mit einer andern Schriftaussage im Einklang zu stehen scheint. Auch unser Bekenntniß schärft gewaltig ein, daß wir uns nicht verleiten lassen sollen, an dem klaren <Seite 184> Wortlaut der Schrift zu deuteln, weil derselbe mit anderen Gottesworten im Widerspruch zu stehen scheint. Unser Bekenntniß weist dies nach an dem Verhalten des gläubigen Abraham dem Worte Gottes gegenüber, welches Abraham die Opferung seines Sohnes Isaak gebot. Zu Abraham geschah das Wort: „Nimm Isaak, deinen einigen Sohn, den du lieb hast, und opfere ihn zum Brandopfer." Diese Worte Gottes an Abraham lauteten, wie unser Bekenntniß sagt, nicht nur Wider göttliches und natürliches Gesetz, sondern auch gegen den hohen Artikel von Christo, denn in Isaak sollte Abraham der Same genannt werden. Und nun sollte Abraham Isaak tödten! Da hätte Abraham wohl eine „leidliche, sanfte Glosse" zu den Worten des Befehls finden mögen, um sie annehmbarer zu machen. Aber nein, er ließ die klaren Worte stehen, wie sie lauteten, und ließ Gott dafür sorgen, wie sich die beiden Gottestvorte reimten. Das war Glaube, einfältiger Glaube, wie er sich bei Christen dem Worte Gottes gegenüber finden soll. Doch hören wir das Bekenntniß selbst. Die betreffende Stelle lautet also in der Concordienformel: „Abraham, da er Gottes Wort von Aufopferung seines Sohnes höret, ob er wohl Ursach genug gehabt hat, zu disputieren, ob die Worte, dieweil sie nicht allein Wider alle Vernunft und wider das göttliche und natürliche Gesetz, sondern auch wider den hohen Artikel des Glaubens vom verheißenen Samen Christo, der von Isaak sollte geboren werden, öffentlich streiten, nach dem Buchstaben oder mit einer leidlichen oder sanften Glosse sollten zu verstehen sein: dennoch, wie er zuvor, als ihm die Verheißung von dem gebenedeieten Samen aus Isaak gegeben wird (wiewohl es seiner Vernunft unmöglich scheinet), Gott die Ehre der Wahrheit gibt, und auf das allergewifseste bei sich geschloffen und gegläubet hat, daß Gott, was er verheißet, solches auch thun kann: also verstehet und gläubet er auch allhier Gottes Wort und Befehl einfältig und schlecht, wie sie nach dem Buchstaben lauten, und läßt es Gottes Allmächtigkeit und Weisheit befohlen sein, welche er weiß, daß sie viel mehr Weise und Wege hat, die Verheißung des Samens aus Isaak zu erfüllen, als er mit seiner blinden Vernunft begreifen kann. Also sollen wir auch mit aller Demut und Gehorsam unseres Schöpfers und Erlösers deutlichen, festen, klaren und ernsten Worten und Befehl ohne allen Zweifel und Disputation, wie es sich mit unserer Vernunft reime oder möglich sei, einfältig glauben. Denn dieser HErr solche Worte geredet hat, welcher die unendliche Weisheit und Wahrheit selbst ist, und alles, was er verheißet, gewißlich auch ins Werk setzen und vollbringen kann." (M. S. 656.)
Das einzig richtige Verfahren, um auf der rechten Bahn zu bleiben, ist also dies: die Schriftaussagen stehen zu lassen und sie anzunehmen, wie sie lauten. Und zwar gilt dies dem Professor der Theologie ebensowohl als dem praktischen Pastor. Man hat nämlich gemeint, daß man letzterem es wohl hingehen lassen könne, wenn er bei Aussagen der Schrift und des Bekenntnisses einfach bleibe und sich nicht mit Vermittlung derselben befasse; <Seite 185> aber das gehe nicht an für den Theologen. Gerade die Vermittelung sei ja die besondere Aufgabe der Theologie. Nein, auch der Theologe hat die deutlichen Aussagen der Schrift, wenn nicht diese selbst eine „Vermittelung" gibt, unvermittelt nebeneinander stehen zu lassen. Das ist von jeher der Grundsatz der lutherischen Kirche gewesen. Die lutherische Kirche läßt die klaren Schriftaussagen stehen, wie sie lauten. Sie läßt sich nicht zur geringsten Aenderung derselben verleiten, auch wenn sie noch so wenig zu andern geoffenbarten Lehren zu paffen scheinen. Mag die Vernunft dafür halten, daß zwei Lehren sich widersprechen — stehen beide in der Schrift, so nimmt die lutherische Kirche beide an. Unser Bekenntniß sagt (Concordienf. Art. 11, S. 715) von dem „Zusammenreimen" oder „Vermitteln": „welches uns zu thun nicht befohlen ist." — Und wie sollten wir im Stande sein, in geistlichen Dingen eine Vermittelung zu finden, da unsere Kenntniß derselben schlechterdings nicht über das Schriftwort hinausgeht ? „Unser Wissen", spricht der Apostel Paulus 1 Cor. 13, 10—12, „ist Stückwerk und unser Weissagen ist Stückwerk. Wenn aber kommen wird das Vollkommene, so wird das Stückwerk aufhören. Da ich ein Kind war, da redete ich wie ein Kind, und war klug wie ein Kind und hatte kindische Anschläge; da ich aber ein Mann ward, tat ich ab, was kindisch war. Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunklen Wort, dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich's stückweise; dann aber werde ich erkennen, gleichwie ich erkennet bin." Man beachte, daß der Apostel nicht sagt: Unser Wissen ist ein abgerundetes vollständiges Ganze im Sinne der Vernunft, sondern er sagt: es ist Stückwerk, das ist, nach dem Grundtext: stückweise oder in einzelnen Stücken hat uns Gott seine Offenbarung gegeben, und über diese einzelnen Stücke hinaus fehlt uns jegliche Erkenntnis. So lange wir in diesem Leben sind, werden wir die göttliche Offenbarung immer nur stückweise, das ist, nach ihren einzelnen Stücken erkennen. Erst wenn das Vollkommene, das ist, die selige Ewigkeit kommt, hört die Erkenntnis nach Stückwerk auf und wir sehen dann von Angesicht zu Angesicht ; wir sehen dann auch, welch ein herrliches harmonisches Ganzes die göttliche Offenbarung ist, deren Harmonie wir in diesem Leben zwar von Herzen glaubten, aber nicht völlig erkannten, weil wir hier auf Erden „durch einen Spiegel in einem dunkeln Wort schauten". Zwar ist dieses Wort hell und klar an sich, aber gegenüber der Offenbarung, die unser im Himmel wartet, ist es nur ein dunkles Wort, nur soviel uns offenbarend, als uns zu wissen zu unserem Heile nöthig ist. Und über das Schriftwort wird die Kirche nie hinauskommen. Die neuere Theologie gibt zu, daß es ihr bis jetzt noch nicht gelungen sei, alles zu „vermitteln" und in ein „verständlich System" zu bringen. Doch hofft man die Lösung dieser Aufgabe noch von der Zukunft. Allein vergeblich! Die Kirche ist hienieden mit ihrer Kenntniß an das Schriftwort gebunden. Stände die Welt auch noch viele Tausende von Jahren und gingen während dieser Zeit auch alle <Seite 186> großen Geister auf dem Gebiet der Constructions-Theologie auf wissenschaftliche Entdeckungsreisen aus, so wird von ihnen dennoch unentdeckt und unerforscht bleiben, was Gott „allein seiner Weisheit und Erkenntnis Vorbehalten", und in seinem Wort nicht offenbar? hat. Sie werden z. B. nicht den scheinbaren Widerspruch auflösen, welchen die Vernunft in dem einigen Sprüchlein findet: „Israel, du bringest dich in Unglück; denn dein Heil stehet allein bei mir." (Hos. 13, 9.) Auf dem Gebiete der Natur vermag die Vernunft, wenn auch nicht immer, doch sehr oft durch ihre Schlußfolgerungen das Richtige zu treffen; nicht also auf dem Gebiete der göttlichen Offenbarung. Und dennoch gebärdet sich die neuere Theologie so, als stehe ihr die Schlußfolgerung der Vernunft auf diesem Gebiete mit göttlichem Rechte zu. Die Logik, spricht man, ist etwas Unausweichliches; hier bringen wir bindende Schlüsse, denen unsere Gegner (das ist, die „Missourier") nicht entgehen können. Hat Gott das gesagt, so schließt man, dann hat er notwendiger Weise damit zugleich auch das gesagt; hat Gott dies getan, so hat er auch das getan, oder muß er auch das thun. Aber so zu schließen, dergleichen „vernünftige,Neden" zu führen, hat sie nicht Gott gelehrt, sondern der Fürst der Finsternis. Der in allem selbstständige Gott ist von nichts abhängig. Daß Gott z. B. die ewige Liebe ist, hat noch gar nicht an sich die „nothwendige Folge" der Sendung seines eingebornen Sohnes in die Welt, also daß Gott die Liebe nicht hätte sein können, wenn er seinen Sohn nicht gesandt hätte. Gott wäre auch dann die ewige Liebe gewesen und geblieben, wenn er seinen Sohn nicht in die Welt gesandt hätte; niemand hätte ihn wegen Unterlassung der Sendung seines Sohnes der Lieblosigkeit anklagen dürfen. — Ich soll nur das aus einem Schriftwort schließen, was in demselben wirklich liegt, was Gedanke des Schriftwortes selbst ist, was dieses wirklich enthält, was wie von selbst sich aus demselben ergibt, wie z. B. die Taufe der Frauen und der Kinder aus dem Wort: Taufet alle Völker, oder alle Heiden. Was ein Mensch durch Vernunftschlüsse in der Schrift findet, ist entweder eine bloß menschliche Wahrheit oder ein Irrtum; niemals aber eine göttliche Wahrheit. Daher müssen wir uns ganz entschieden verwahren gegen alle derartigen Schlußfolgerungen auf dem Gebiete der Theologie. Die Väter unserer Kirche (zu deren Füßen wir noch nach wie vor sitzen, obschon wir ihnen nicht da folgen, wo sie geirrt haben, denn Regel und Richtschnur unseres Glaubens sind nicht sie, sondern allein Gottes Wort) weisen eine Lehre als einen Irrtum, als eine falsche Lehre daraus nach, daß dieselbe eine unbiblische und widerbiblische sei. So thut z. B. Joh. Gerhard betreffs des Chiliasmus. Er zeigt, daß derselbe eine falsche Lehre sei, erstlich, weil derselbe keine Lehre der Schrift sei; zum andern, weil derselbe vielmehr durchaus gegen den klaren Wortlaut der Schrift streitet. — Ist daher das, was wir als göttliche Lehre annehmen sollen, nicht ausdrücklich, wenn auch indirekt oder implicite, in dem Schriftwort <Seite 187> ausgesprochen, so werfen wir es von uns und treten es mit Füßen. — Dieser Irrtum der Theologen, ein stolzes Lehrgebäude im Sinne der Vernunft aufführen und hinstellen zu müssen, ist ein höchst verderblicher. Es läßt dieser Wahn nicht einmal die Schule unberührt. Da halten diejenigen, welche in diesem Irrtum stecken, es für höchst überflüssig, daß die Kinder einzelne Sprüche auswendig lernen; das „Ganze der Heilsgeschichte", das man durch Vermittlung zwischen den einzelnen Sprüchen gewonnen habe, das sei den Kindern beizubringen und einzuprägen. Aber wie? Wird der Glaube eines Christen zur Zeit der Anfechtung etwa durch das „Schriftganze" (im Sinne der Vernunft) gestärkt und befestigt? Lehrt nicht die Erfahrung, daß ein Christ in den Stunden der Anfechtung und namentlich in der Stunde seines Todes sich an einzelne Sprüche des göttlichen Wortes hält und kraft dieser den Sieg gewinnt?
Aber, so ruft man uns zu, ihr solltet doch nicht so ganz und gar den Unterschied vergessen, welcher zwischen der Vernunft eines Wiedergeborenen und der eines Unwiedergeborenen zu machen ist. Allerdings vernimmt die Vernunft eines natürlichen Menschen, als eine noch unerleuchtete, nichts vom Geiste Gottes, dagegen aber vernimmt die Vernunft eines Christen, als eine erleuchtete, gar wohl geistliche Dinge. Ist daher ein Theologe wirklich ein Christ, so kann er wohl aus diesem Satze: Ich bin ein Christ, das ganze Lehrgebäude konstruieren. Aus der Wahrheit, die in seinem Herzen ruht, vermag er gar Wohl kraft seiner erleuchteten Vernunft alle anderen göttlichen Wahrheiten zu finden; denn aus Wahrheit kann nur Wahrheit kommen. Mit Erstaunen wird man wahrnehmen, wie das, was man also aus sich heraus gebildet hat, mit der Bibel übereinstimmt, wenn man nun daran geht, es mit letzterer zu vergleichen. — Dazu sagen wir: Es ist ein schändlicher Mißbrauch, der mit der sogenannten erleuchteten Vernunft heutiges Tages getrieben wird. Erleuchtete Vernunft ist nichts anderes, als das Wort der Schrift, das seine Kraft im Verstände des Menschen übt, so daß letzterer dem Schriftwort gemäß urteilt. Es steht nicht so, daß in der Wiedergeburt dem Christen eine Vernunft ganz anderer Art gegeben wird, als er zuvor gehabt, eine Vernunft, die im Stande wäre, durch sich selbst die göttlichen Geheimnisse zu durchschauen und recht zu beurteilen. Sondern so steht es, daß die alte Vernunft, welche bei dem Menschen, wie er von Natur ist, mit Blindheit in göttlichen Dingen geschlagen ist und voller Irrtümer steckt, vom Schriftwort erleuchtet werden muß, kraft dessen die Irrtümer schwinden. Nur so lange und so weit, wie das Schriftwort seine Kraft ausübt, ist die menschliche Vernunft erleuchtet. Sobald man das Schriftwort fahren läßt, sobald kehrt Blindheit und Irrtum zurück, und es ist ein wiedergeborener Mensch in Bezug auf diese oder jene Lehre, für welche er das betreffende Schriftwort hat fahren lassen, nicht besser daran, als ein gänzlich unwiedergeborener Mensch. Wie die Erde nur da hell ist, wo sie vom Licht der Sonne <Seite 188> beschienen wird, dunkel und finster dagegen da, wo die Strahlen der Sonne.nicht hingelangen, so ist die Vernunft des Menschen nur insoweit und auf so lange eine erleuchtete, so weit und so lange der Glanz des Schriftwortes sie anscheinet. Soweit dieser Glanz fehlt, soweit herrscht Dunkel und Finsternis, Torheit und Irrtum in der Vernunft. Hieraus ist leicht zu erkennen, wie thöricht es geredet ist, wenn man sagt: Zwar nicht der unerleuchteten, Wohl aber der erleuchteten Vernunft ist ein Urtheil in geistlichen Dingen zuzugestehen. Muß nicht gerade der Wiedergeborene in stetem Kampfe Wider das Urtheil seiner Vernunft in geistlichen Dingen stehen? Sind nicht auch ihm, dem wiedergeborenen Christen, die Artikel von der Dreieinigkeit, der gottmenschlichen Person Christi, der Rechtfertigung allein durch den Glauben, der Auferstehung des Fleisches u. s. w. unbegreifliche, ja, widerspruchsvolle Dinge, soweit das Urtheil seiner Vernunft in Betracht kommt? Die Erkenntnis auch des Wiedergeborenen ist an das Schriftwort gebunden und das Organ, mit welchem der Wiedergeborene alle geistlichen Dinge aufnimmt und festhält, ist nicht seine Vernunft, sondern der Glaube. Die rechte Handhabung der Vernunft seitens des Wiedergeborenen besteht nicht darin, daß er sie behufs des Urteilens in geistlichen Dingen auf dem Gebiete der göttlichen Offenbarung spazieren führt, sondern daß er sie immer wieder aufs neue gefangen nimmt unter den Gehorsam Christi. Daß ein Mensch eine erleuchtete Vernunft hat, beweist er damit, daß er keine Vernunft-, sondern schriftgemäße Artikel des Glaubens haben will; daß er nicht fragt: wie ist das möglich, wie reimt sich das? sondern: hats Gott gesagt, stehet das geschrieben?
Luther: „Die Wiedertäufer machen aus der Vernunft ein Licht des Glaubens, daß die Vernunft dem Glauben leuchten solle, wo er hin soll. Ja, ich meine, sie leuchtet gleichwie ein Dreck in einer Laterne..., also soll in allen Christgläubigen die Vernunft auch getödtet werden, sonst hat der Glaube keine Statt bei ihnen, denn die Vernunft ficht wider den Glauben." (Erl. Ausg. B. 44, S. 157.)
Joh. Gerhard: „Erklären wir die Sache durch ein Beispiel." (Zuvor hat Gerhard dargetan: wie der Christ, insofern er Christ oder ein Wiedergeborener ist, nicht sündigt, sondern die Sünde dem ihm noch anklebenden Fleische entstammt, so nimmt auch der Christ als Christ, oder insofern er wiedergeboren ist, es sich nicht heraus, die Glaubensartikel nach den Principien seiner Vernunft zu beurteilen; geschieht eine solche Beurteilung, so kommt sie aus dem alten Menschen.) „Es fragt sich: Ist der Leib Christi wahrhaftig und wesentlich im heiligen Abendmahl gegenwärtig? Das bejahen wir, weil Christus spricht: Nehmet, esset, das ist mein Leib. Die Gegner sagen Nein dazu aus diesem Grund, weil ein wahrer und natürlicher Leib nicht zugleich und auf einmal an mehreren Orten sein könne. Sie fügen hinzu : Die wiedergeborene Vernunft könne nicht anders von einem Leib halten, ihr Zeugnis sei also zu hören. Wir sagen <Seite 189> aber: Die wiedergeborne Vernunft, insofern sie solche ist, urteilt über die Artikel des Glaubens aus Gottes Wort und geht über die Grenzen desselben nicht hinaus. Gottes Wort aber lautet so: Nehmet, esset, das ist mein Leib! Wenn die Vernunft gegen dieses Wort Christi nach ihren Principien urteilt, so ist sie nicht mehr die wiedergeborene, sondern folgt ihrer eigenen Weisung, und dann ist sie nicht mehr zu hören, so wenig der Philosoph zu hören ist, wenn er die Auferstehung des Leibes mit dem Grundsatz bestreitet: Kein Individuum, welches einmal aufgehört hat, zu sein, kann als dasselbe wieder in Existenz treten, oder ebensowenig als der Antitrinitarier, welcher das Geheimnis der Dreieinigkeit mit diesem Grundsatz bestreitet: Eins kann nicht drei sein, oder ein Arianer, der die ewige Zeugung des Sohnes mit diesem Grundsatz bestreitet: Der Gezeugte ist später als der Zeugende." (L. de interpret. S. s. § 177.) *)
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*) Hier wurden die Lehrverhandlungen abgebrochen. Die Menge von geschäftlichen Sachen, welche noch Vorlagen, erlaubte nicht die Beendigung der Besprechung über Satz 2.