Volume 1a: pages I - XII, 1- 333
This is an somewhat rough OCR text output volume 1 of Franz Pieper's Christliche Dogmatik. It was started done by BackToLuther in August, 2015. Only the German text was recognized initially. not the English, Latin, Greek or Hebrew. The others will be have been updated over time. Yet This provides searchable text for the German, the base language of these textbooks all the languages now. However, I am adding recognition for the other language and formatting as time permits. See the noted date below for my progress.
Because of the size of this book is too large for Google Docs (690 pages), it has been broken up into Part a and Part b. Part b (pages 334-690) may be found here. – Any detailed use of this must be checked with the scanned version by clicking on the > link at the top of each page. provided at this blog post. –
Last update: 2017-12-14: updated portion on Hoenecke, p. 209 ff; 2017-05-08: added links to all Missouri Synod references; 2016-11-23: added hyperlinks to all pgs, finished all pg x-ref links (>) to original pages; 2016-11-19: added all Greek and Hebrew text; proofed to 333; 2015-09-28: polished to p. 333; 2015-09-24: all fonts Times New Roman, updated some TOC elements; 2015-09-14:: fixed Part 1 TOC hyperlinks; (polished to pg 50, formatted all but non-fraktur font to pg 70)
[Table of Contents - Inhaltsgaben]
===============================
Christliche Dogmatik.
Von
D. Franz Pieper.
Wesen und Begriff der Theologie. Die Heilige Schrift. Die Lehre von Gott. Die Schöpfung der Welt und des Menschen. Die göttliche Providenz. Die Engel. Die Lehre vom Menschen vor dem Fall und nach dem Fall.
St. Louis, Mo.
CONCORDIA PUBLISHING HOUSE.
1924.
Vorwort.
Mit dem Erscheinen dieses Bandes liegt meine „Christliche Dogmatik” nun vollständig gedruckt vor. Es ist öffentlich gefragt worden, warum der zweite und dritte Band zuerst erschienen sind. Der Grund ist der, daß der Wunsch geäußert wurde, es möchte im großen Jubiläumsjahr 1917 zuerst der Band gedruckt werden, in dem die Lehren von der Gnade Gottes in Christo, von Christi Person und Werk und von der Rechtfertigung zur Darstellung kommen. An den zweiten Band schloß sich naturgemäß der dritte Band, in dem die Folgen der christlichen Rechtfertigungslehre beschrieben werden.
In dem vorliegenden Bande nehmen die ersten zwei Kapitel, „Wesen und Begriff der Theologie” und „Die Heilige Schrift”, mehr als die Hälfte des Raumes ein. Dies erklärt sich aus der Tatsache, daß in der modernen protestantischen Theologie unchristliche Vorstellungen vom Wesen und Begriff der Theologie sich eingebürgert haben. Dies ist aber nur die notwendige Folge des Abfalls von der christlichen Wahrheit, daß die Heilige Schrift Gottes eigenes unfehlbares Wort ist. Wie wir in der römischen Kirche einen völligen prinzipiellen Zusammenbruch der christlichen Theologie vor Augen haben, weil dort die subjektive Anschauung des Papstes die alles bestimmende Macht ist, so haben wir nun dieselbe Sachlage in der modern-protestantischen Theologie, weil diese die objektive göttliche Autorität der Heiligen Schrift preisgegeben und sich in das „christliche Erlebnis”, das ist, in die subjektive Anschauung „des theologisierenden Subjekts”, geflüchtet hat. Dies erklärt, wie gesagt, die ausführliche Behandlung der
beiden ersten Kapitel. Bei der Lehre von Gott mußte der Unterschied zwischen der natürlichen und der christlichen Gotteserkenntnis ausführlicher dargestellt werden, weil die moderne Theologie, bis in lutherisch sich nennende Kreise hinein, dynamistisch-unitarisch geworden ist. Bei der Lehre vom Menschen erforderte die Lehre von der Sünde an mehreren Punkten längere Darlegungen, weil die moderne Theologie von ihrem Ich-Standpunkt aus in römisch-zwinglischer Weise auf den Begriff der „schuldlosen Sünde” gekommen ist. Um in dem erforderlichen Kontakt mit der Gegenwart zu bleiben, mußten daher gewisse Partien in diesem Bande besonders betont werden.
Dagegen bedarf es einer besonderen Erklärung, resp. Entschuldigung, weshalb S. 182 ff. eine längere Darlegung eingefügt ist, die eigentlich nicht in eine Dogmatik gehört. Es handelt sich um die namentlich von Deutschland aus auch in dogmatischen Schriften erhobene Anklage, daß innerhalb der Missourisynode eine „Repristinationstheologie” gepflegt werde, die als ein Übel in der christlichen Kirche angesehen werden müsse. Unsere Theologie, so wird behauptet, verleite infolge der „Identifizierung” von Schrift und Gottes Wort zu einem „Intellektualismus”, bei dem lebendiges „Herzenschristentum” nicht recht aufkommen könne. Im Anschluß an diese Kritik, und um, womöglich, den Schreck vor der „Repristinationstheologie” zu beseitigen, mußte ich in längerer Ausführung darstellen, wie es in unserer kirchlichen, der „Repristinationstheologie” ergebenen Gemeinschaft aussieht. Um historisch korrekt zu bleiben, durfte ich die weitere Tatsache nicht verschweigen, daß die an der Missourisynode beklagte Theologie mit klarem Bewußtsein auch in andern kirchlichen Gemeinschaften gepflegt wird. Ich weise auf D. Höneckes sehr ausführliche „Ev.-Luth. Dogmatik” hin, aus der hervorgeht, daß die Lehrstellung der Synode von Wisconsin u. a. St. sich völlig mit der Lehrstellung der Missourisynode deckt. In diesem Exkurs finden sich ferner
(S. 199 ff.) einige Zitate aus einer Schrift, die Franz Delitzsch im Jahre 1839 zum dreihundertjährigen Reformationsjubiläum der Stadt Leipzig herausgab. Der Zweck dieser Zitate ist der Nachweis, daß die amerikanisch-lutherische Kirche „streng konfessioneller Richtung” das bewahrt, zu klarer Darstellung gebracht und praktisch angewendet hat, was Gott vor nun beinahe hundert Jahren auch in Deutschland gab. Delitzsch sagt — um einige seiner Sätze in dies Vorwort herüberzunehmen —: „Ich bekenne, ohne mich zu schämen, daß ich in Sachen des Glaubens um dreihundert Jahre zurück bin, weil ich nach langem Irrsal erkannt habe, daß die Wahrheit nur eine, und zwar eine ewige, unveränderliche und, weil von Gott geoffenbart, keiner Sichtung und Besserung bedürftig ist.” „Ich predige euch Rückschritt, nämlich zum Worte Gottes, von dem ihr gefallen seid.” „Was ich ausgesprochen und zu verteidigen gesucht habe, das ist nichts anderes als der Glaube der altlutherischen Kirche, zu dem unsere Vorfahren vor dreihundert Jahren am heiligen Pfingstfest unter brünstigem Dankgebet sich bekannt haben.” Und Delitzsch stand nicht allein da. Der Verfasser dieser Dogmatik hat schon als Student, später als Pastor und auch noch als Lehrer der Theologie mit großem Interesse und wahrer Herzensfreude einige kleinere Schriften von Ernst Sartorius gelesen. Es sind dies Schriften „Die Religion außerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft” (1822), „Die Unwissenschaftlichkeit und innere Verwandtschaft des Rationalismus und Romanismus” (1825), „Von dem religiösen Erkenntnisprinzip” (1826). In diesen Schriften ist dogmatisch noch klarer als bei Delitzsch auf die rechte Art der christlichen Theologie trefflich hingewiesen. Von dem Lesen dieser und anderer Schriften, die aus Deutschlands Erweckungszeit vor hundert Jahren stammen, sollte sich die moderne deutschländische Theologie nicht durch die Tatsache abhalten lassen, daß die Verfasser derselben unter dem Druck einer unwissenschaftlichen theo-
VI > Vorwort. [English ed. X-XI]
logischen Wissenschaft später selbst von der bezeugten Wahrheit abgewichen sind.
Ich habe mich auch in dem vorliegenden Bande einer sachlichen Darstellung befleißigt. Wo an einigen Stellen scharfe Ausdrücke gebraucht worden sind, schienen sie von der Wichtigkeit der behandelten Sache gefordert zu sein. Es galt ins Licht zu stellen, daß eine Theologie, die die christliche Lehre nicht allein aus der Heiligen Schrift, sondern aus dem Ich des theologisierenden Individuums beziehen und normieren will, weder christlich noch wissenschaftlich, sondern das Gegenteil von beidem ist. Daß ich eine theologische Inkonsequenz kenne, nach welcher die Möglichkeit vorliegt, daß jemand in seinem Herzen und vor Gott anders glaubt, als er in seinen Schriften schreibt, kommt auch in diesem Bande wiederholt zum Ausdruck.
Wir amerikanischen Lutheraner „streng konfessioneller Richtung” haben nicht die geringste Ursache, uns über andere zu erheben. Wir würden sicherlich in demselben verkehrten Strom schwimmen, wenn uns Gottes Gnade nicht in ganz andere kirchliche Verhältnisse gestellt hätte. Wir — die zweite und dritte Generation — sind unter den denkbar günstigsten Verhältnissen theologisch geschult worden. Wir wurden quellenmäßig nicht nur mit der Theologie der alten Kirche, der Reformation und der Dogmatiker, sondern auch mit der Art und dem Resultat der modernen Theologie bekannt gemacht. Dazu kam die fortgehende Mahnung seitens unserer Lehrer, keine menschliche Autorität, auch nicht die Autorität Luthers und der symbolischen Bücher, an die Stelle der göttlichen Autorität der Schrift zu setzen. Die Mahnung im letzten Studienjahre lautete: „Niemand von Ihnen trete in das Predigtamt, der in bezug auf die Schriftmäßigkeit irgendeiner Lehre der lutherischen Symbole noch Zweifel hat. Bei wem noch Zweifel sich finden, der unterrede sich freimütig mit irgendeinem seiner Lehrer.” Schon von der ersten Predigt
VII > Vorwort. [English ed. XI]
im ersten Studienjahre an wurde die gelehrt klingende theologische Phrase und alle ins Kraut schießende Rhetorik unbarmherzig ausgeschieden und weggeschnitten mit der Begründung, daß der usus didacticus der Heiligen Schrift an erster Stelle stehe. Es gelte, stets so zu lehren und zu predigen, daß, soweit der Pastor in Betracht kommt, durch die unverkürzte Predigt des Gesetzes die Sicheren aus ihrer fleischlichen Sicherheit ausgeschreckt und die erschrockenen Gewissen durch das unverklausulierte Evangelium (satisfactio vicaria) der Gnade Gottes und der Seligkeit gewiß werden. Zum besten dienen mußte uns auch der Umstand, daß wir zu allen Zeiten Feinde ringsum hatten, von Rom, den schwärmerischen Sekten und untreuen Lutheranern an bis zu den Unitariern und den christusfeindlichen Logen herab. Dieser Kampf zwang uns zu fortgehender intensiver Beschäftigung mit der christlichen Lehre in den einzelnen Gemeinden, in den Pastoralkonferenzen und bei den Synodalversammlungen. Freilich, wir müßten blind sein, wenn wir nicht auch die Schwächen sehen sollten, die unserer kirchlichen Gemeinschaft stets anhafteten. Wir hatten und haben Mühe, in einzelnen Gemeinden die rechte Praxis durchzuführen, resp. aufrechtzuerhalten. Wir haben auch Sezessionen erlebt, die uns tief demütigten. Andererseits sind wir durch Gottes Gnade gewiß, daß die unter uns im Schwange gehende Lehre die in der Schrift geoffenbarte und im lutherischen Bekenntnis bezeugte christliche Lehre ist und daher auf Alleinberechtigung Anspruch machen muß. Von diesem Gesichtspunkt aus will auch diese „Christliche Dogmatik” sowohl in ihren thetischen als auch in ihren antithetischen Darlegungen beurteilt sein.
Soli Deo Gloria!
St. Louis, Mo., im April 1924.
F. Pieper.
Inhaltsangabe.
Wesen und Begriff der Theologie.
(De Natura et Constitutione Theologiae..)
[Part a - pages 1-333]
[English topics in brackets from English edition, with page #]
1. Die Verständigung über den Standpunkt, S. 1. [Our Position, p. 3] — 2. Über Religion im allgemeinen, S. 6. [Religion in General, p. 7] — 3. Die Zahl der Religionen in der Welt, S. 8. [The Number of Religions in the World, p. 9] — 4. Die zwei Erkenntnisquellen der tatsächlich bestehenden Religionen, S. 19. [The Sources of the Two Existing Religions, p. 19] — 5. Die Ursache der Parteien in der äußeren Christenheit, S. 22. [The Cause of the Divisions Within Visible Christendom, p. 21] — 6. Das Christentum als absolute Religion, S. 36. [Christianity the Absolute Religion, p. 34] — 7. Christliche Religion und christliche Theologie, S. 42. [Christian Religion and Christian Theology, p. 40] — 8. Die christliche Theologie, S. 44. [Christian Theology, p. 41] — 9. Die nähere Beschreibung der Theologie, als Tüchtigkeit gefaßt, S. 50 [Theology as Aptitude, p. 46]. — 10. Die nähere Beschreibung der Theologie, als Lehre gefaßt, S. 56. [Theology as Doctrine, p. 51] — 11. Einteilungen der Theologie, als Lehre gefaßt, S. 84. [Divisions of the Christian Doctrine, p. 76] Gesetz und Evangelium, S. 84. [A. Law and Gospel, p. 76] Fundamentale und nichtfundamentale Lehren, S. 89. [Fundamental and Non-Fundamental Doctrines, p. 80] Primäre und sekundäre Fundamentallehren, S. 95 [Primary and Secondary Fundamental Doctrines, p. 85]. Nichtfundamentale Lehren, S. 102. [Non-Fundamental Doctrines, p. 91] Offene Fragen und theologische Probleme, S. 104. [C. Open Questions and Theological Problems, p. 93] — 12. Die Kirche und die kirchlichen Dogmen, S. 108. [The Church and Its Dogmas, p. 96] — 13. Der Zweck der Theologie, den sie an den Menschen erreichen will, S. 116. [The Purpose of Christian Theology for Man, p. 103] — 14. Die äußeren Mittel der Theologie, wodurch sie ihr Ziel an den Menschen erreicht, S. 118. [The Means by Which Theology Accomplishes Its Purpose, p. 105] — 15. Theologie und Wissenschaft, S. 119. [Theology and Science, p. 106] — 16. Theologie und Gewißheit, S. 123. [Theology and Certainty, p. 110] — 17. Theologie und Lehrfortbildung, S. 147. [Theology and Doctrinal Development, p. 129] — 18. Theologie und Lehrfreiheit, S. 154. [Theology and Doctrinal Liberty, p. 134] — 19. Theologie und System, S. 158. [Theology and System, p. 138] — 20. Theologie und Methode, S. 172. [Theology and Method, p. 149] — 21. Die Erlangung der theologischen Tüchtigkeit, S. 228. [The Attainment of Theological Aptitude, p. 186]
Die Heilige Schrift. (De Scriptura Sacra.)
1. Die Heilige Schrift ist für die Kirche unserer Zeit die einzige Quelle und Norm der christlichen Lehre, S. 233. [Holy Scripture the Only Source and Norm of Christian Doctrine for the Church Today, p. 193] — 2. Die Heilige Schrift ist im Unterschied von allen andern Schriften Gottes Wort, S. 256.. [Holy Scripture Identical with the Word of God, p. 213] — 3. Die Heilige Schrift ist Gottes Wort, weil sie von Gott eingegeben oder inspiriert ist, S. 262.. [The Verbal Inspiration of Holy Scripture, p. 217] — 4. Das Verhältnis des Heiligen Geistes zu den Schreibern der Heiligen Schrift, S. 275 [The Relation of the Holy Ghost to the Holy Writers, p. 228] — 5. Die Einwände gegen die Inspiration der Heiligen Schrift, S. 280. [Objections to the Doctrine of Inspiration, p. 232] (der verschiedene Stil in den einzelnen Büchern der Schrift; die Berufung auf historische Forschung; die verschiedenen Lesarten; angebliche Widersprüche und irrige Angaben; ungenaue Zitate der neutestamentlichen Schreiber aus dem Alten Testament; geringe und dem Heiligen Geist nicht anständige Dinge; Solözismen, Barbarismen, verfehlte Satzkonstruktionen). — 6. Geschichtliches zur Lehre von der Inspiration, S. 320. [On the History of the Doctrine of Inspiration, p. 265] —
[Part b - pages 334-690]
7. Luther und die Inspiration der Schrift, S. 334. [Luther and the Inspiration of Holy Scripture, p.276 ] — 8. Zusammenfassende Charakteristik der neueren Theologie, sofern sie die Inspiration der Schrift leugnet, S. 360. [A Brief Critique of Modem Theology in So Far as It Denies the Inspiration of Scripture, p. 298] — 9. Die Folgen der Leugnung der Inspiration, S. 367. [The Consequences of the Denial of the Inspiration of Holy Scripture, p.303 ] — 10. Die Eigenschaften der Heiligen Schrift, S. 371 [The Properties of Holy Scripture, p. 307] (die göttliche Auto-
rität, S. 371 [Authority, p. 307] ; die göttliche Kraft, S. 381 [Efficacy, p. 315] ; die Vollkommenheit, S. 383 [Perfection, or Sufficiency, p. 317] ; die Deutlichkeit, S. 386). [Perspicuity, p. 319] — 11. Die geschichtliche Bezeugung der Schrift, S. 398 (Homologumena und Antilegomena). [The Witness of History for Scripture, p. 330] — 12. Die Integrität des biblischen Textes, S. 408. [The Integrity of the Biblical Text, p. 338] — 13. Die Schrift im Grundiert und die Übersetzungen, S. 415. [The Original Text of Holy Scripture and the Translations, p. 343] — 14. Der Gebrauch der Schrift zur Entscheidung von Lehrstreitigkeiten, S. 422. [The Use of Scripture in Deciding Doctrinal Controversies, p. 349] — 15. Die Autorität der Schrift und die Symbole, S. 427. [The Authority of Scripture and the Confessions, p. 354] — 16. Schrift und Exegese, S. 434 . [Holy Scripture and Exegesis, p. 359]
Die Lehre von Gott. (De Deo.)
1. Die natürliche Gotteserkenntnis, S. 445. [The Natural Knowledge of God, p. 371] — 2. Die christliche Gotteserkenntnis, S. 451. [The Christian Knowledge of God, p. 376] — 3. Der Kampf der Kirche um die christliche Gotteserkenntnis, S. 457 (der Kampf gegen die Leugner der drei Personen, S. 459). [The Trinitarian Controversies, p. 381] — 4. Der Kampf gegen die Leugner des einen Gottes, S. 461. [Objections to the Unity of the Godhead, p. 387] — 5. Einwände gegen die Homousie oder die Einheit Gottes, S. 466. — 6. Die Lehre von der heiligen Dreieinigkeit im Alten Testament, S. 474. [The Doctrine of Trinity of the Old Testament, 393] — 7. Die Unbegreiflichkeit der Dreieinigkeit für die menschliche Vernunft, S. 480. [The Trinity and Human Reason, p. 398] — 8. Die kirchliche Terminologie im Dienst der christlichen Gotteserkenntnis, S. 490. [Ecclesiastical Terminology and the Christian Knowledge of God, p. 406]
Nähere Darlegung der Schriftlehre von Gottes Wesen und Eigenschaften (De essentis, st nttridutis äivinis). A. Das Verhältnis des göttlichen Wesens zu den göttlichen Eigenschaften und der Eigenschaften zueinander, S. 524. [The Relation of the Divine Essence to the Divine Attributes and of the Attributes to One Another, p. 428] B. Verschiedene Einteilungen der göttlichen Eigenschaften, S. 533. [Classifications of the Divine Attributes, p. 434] — Negative Eigenschaften, wodurch Unvollkommenheiten, die sich bei den Kreaturen finden, von Gott negiert werden [Negative Attributes, p. 437]: die Einheit, S. 536 [Unity] ; Einfachheit, S. 538 [Simplicity] ; Unveränderlichkeit, S. 540 [Immutability]; Unendlichkeit, S. 542 [Infinity] ; Allgegenwart, S. 543 [Omnipresence] ; Ewigkeit, S. 547 [Eternity] . Positive Eigenschaften, die sich auch an Kreaturen finden, aber Gott in absoluter Vollkommenheit zukommen [Positive Attributes, p. 447]: Leben, S. 549 [Life] ; Wissen, S. 549 [Knowledge] ; Weisheit, S. 556 [Wisdom] ; Verstand und Wille in Gott, S. 557 [Attibutes of the Divine Will] ; die Heiligkeit Gottes, S. 561 [Holiness] ; die Gerechtigkeit, S. 561 [Justice] ; die Wahrhaftigkeit, S. 563 [Truthfulness] ; die Macht, S. 564 [Power] ; Gottes Güte, Barmherzigkeit, Liebe, Gnade, Sanftmut, S. 565. [Goodness]
Die Schöpfung der Welt und des Menschen. (De Creatione.)
1. Die Erkenntnisquelle der Lehre von der Schöpfung, S. 570 [The Record of Creation, p. 46]. — 2. Wesen und Begriff der Schöpfung, S. 571 [The Definition of Creation, p. 467]. — 3. Der Zeitraum der Schöpfung, S. 572 [The Hexaemeron, p. 468]. — 4. Die Ordnung im Schöpfungswerk, S. 572 [The Order Observed in Creation, p. 469]. — 5. Das Schöpfungswerk im einzelnen nach den Tagen, S. 574 [The Work of the Six Days, p. 470]. — Dichotomie und Trichotomie, S. 581 [Dichotomy and Trichotomy, p. 476]. — Die Einheit des Menschengeschlechts, S. 582 [The Unity of the Human Race, p. 477]. — Einzelnes zum biblischen Schöpfungsbericht, S. 583 [Special Questios Regarding the Biblical Account of Creation, p. 478]. — Der Endzweck der Welt, S. 585 [The Ultimate Purpose of the World, p. 479]. — Schlußbemerkungen, S. 586 [Closing Remarks, p. 479].
Die göttliche Vorsehung oder die Erhaltung und Regierung der Welt.
(De Providentia Dei.)
1. Der Begriff der göttlichen Vorsehung und Einwände dagegen, S. 587.[Definition of Divine Providence, p. 483] — 2. Das Verhältnis der göttlichen Vorsehung zu den causae secundae, S. 592.[The Relation of Divine Providence to the Causae Secundae, p. 487] — 3. Die göttliche Providenz und die Sünde, S. 595. [Divine Providence and Sin, p. 489] — 4. Die göttliche Zulassung der Sünde, S. 596. [Does God Permit Men to Sin? p. 490] — 5. Die göttliche Providenz und die menschliche Freiheit, S. 597. [Divine Providence and Free Will, p. 491]
Die Engel. (De Angelis.)
1. Die Existenz der Engel und die Zeit ihrer Erschaffung, S. 603. [The Existence of Angels and the Time of Their Creation, p. 498] — 2. Der Name der Engel, S. 603. [The Name “Angel”, p. 499] — 3. Beschaffenheit und Fähigkeiten der Engel, S. 604. [The Nature and the Properties of the Angels, p. 500] — 4. Zahl der Engel und Unterschiede unter denselben, S. 609. [Number and Ranks of the Angels, p. 504] — 5. Gute und böse Engel, S. 610. [Good and Evil Angels, p. 504] — 6. Die guten Engel und ihre Verrichtungen, S. 611. [The Good Angels and Their Activity, p. 506] — 7. Die bösen Engel, ihre Verrichtungen und ihre ewige Strafe, S. 613. [The Evil Angels, Their Activities, and Their Eternal Punishment, p. 508]
Die Lehre vom Menschen. (Anthropologia.)
A. Der Mensch vor dem Fall (De statu hominis ante lapsum.): 1. Die Erschaffung nach dem göttlichen Ebenbilde, S. 617. [Man Created in the Image of God, p. 515] — 2. Der Inhalt des göttlichen Ebenbildes, S. 618. [What Constituted the Image of God, p. 516] — 3. Ebenbild Gottes im weiteren und eigentlichen Sinne, S. 621. [Image of God in the Wider and in the Proper Sense, p. 518] — 4. Das Verhältnis des göttlichen Ebenbildes zur menschlichen Natur, S. 622. [The Relation of the Divine Image to the Nature of Man, p. 520] — 5. Unmittelbare Folgen des göttlichen Ebenbildes im Menschen, S. 624. [Immediate Consequences of the Possession of the Divine Image, p. 521] — 6. Der Endzweck des göttlichen Ebenbildes, S. 625. [The Purpose of the Divine Image, p. 523] — 7. Das Weib und das göttliche Ebenbild, S. 626. [Woman and the Divine Image, p. 523] — B. Der Mensch nach dem Fall (De statu peccati). Die Sünde im allgemeinen (De peccato in genere): 1. Der Begriff der Sünde, S. 631. [Definition of Sin, p. 528] — 2. Gesetz und Sünde, S. 633. [The Divine Law and Sin, p. 529] — 3. Die Erkenntnis des göttlichen Gesetzes, das alle Menschen verbindet, S. 635. [How the Divine Law is Made Known to Man, p. 531] — 4. Die Ursache der Sünde, S. 638. [The Cause of Sin, p. 533] — 5. Die Folgen der Sünde, S. 641. [The Consequences of Sin, p. 535] — Die Erbsünde (De peccato originali): 1. Der Begriff der Erbsünde, S. 645. [Definition of Original, p. 538] — 2. Die Wirkung des Erbverderbens auf den Verstand und Willen des Menschen, S. 652. [The Effect of Hereditary on the Mind and Will of Man, p. 543] — 3. Die negative und positive Seite des Erbverderbens, S. 656. [The Negative and the Positive Side of Original Corruption, p. 547] — 4. Das Subjekt des Erbverderbens, S. 659. [The Subject of Hereditary Corruption, p. 550] — 5. Die Folgen des erbsündlichen Verderbens, S. 661. [The Effects of Original Corruption, p. 551] — Die Tatsünden: 1. Name und Begriff der Tatsünden, S. 669. [Definition of Actual Sin, p. 557] — 2. Die Ursachen der Tatsünden: Causae Peccati Actualis intra Hominem, S. 670 [The Causes of Actual Sin, p. 559]; Causae Peccati Actualis extra Hominem, S. 671. — 3. Die Schriftlehre vom Ärgernis, S. 672. [The Scripture Doctrine of Offense, p. 561] — 4. Die Schriftlehre von der Versuchung, S. 674. [The Scripture Doctrine of Temptation, p. 563] — 5. Einteilungen und Benennungen der Tatsünden, S. 675 [Classification of Actual Sins, p. 564] (a. Unterscheidung der Tatsünden nach der verschiedenen Beteiligung des menschlichen Willens, S. 676 [Voluntary and Involuntary Sins, p. 564]; b. die peccata actualia im Verhältnis zum Gewissen, S. 677 [The Relation of Peccati Actualia to the Conscience, p. 565]; c. Einteilung der Sünden nach dem Objekt, S. 678 [Sins Against God, Against the Neighbor, and Against Oneself, p. 566] : d. Einteilung der Sünden nach dem Grad, S. 678 [Grievous and Less Grievous Sins, p. 567] ; e. peccata mortalia et venalia, S. 680 [p. 568] ; f. herrschende und nichtherrschende Sünde, S. 681 [Dominant and Non-Dominant Sins, p. 569] ; g. die Teilnahme an fremden Sünden, S. 681 [Partaking of Other Men’s Sins, 569] ; h. himmelschreiende Sünden peccata clamantia), S. 682 [Sins Crying to Heaven, p. 570] ; i. die Sünde wider den Heiligen Geist, S. 683). [The Sin Against the Holy Ghost, p. 571]
Druckfehler.
Druckfehler in Band I.
S. 10, Z. 7 v. o., lies christlichen Religion statt christlichen Religionen.
S. 91, Z. 3 v. o., ist einzufügen articulum vor omnium fundamentalissimum.
S. 140, Z. 21 v. o., lies certum statt certus.
S. 280, Z. 11 v: u., lies Geisteskräfte statt Gotteskräfte.
S. 536, Z. 19 v. u., lies Negative statt Positive.
Druckfehler in Band II.
S. 6, Z. 3 v. o., lies salvifica statt salvifiva.
S. 7, Z. 7 v. u., lies Tit. 3,4 statt Röm. 3,4.
S. 56, Z. 6 v. u., lies Röm. 5,10 statt Röm. 5,9.
S. 205, Z. 12 v. o., lies im Raum statt ein Raum.
S. 459, letzte Z. v. u., lies erstere statt letztere.
S. 520, Z. 9 v. o., lies 1 Kor. 6,17 statt 1 Kor. 6, 18.
S. 574, Z. 5 v. u., lies άνδρός statt άνϑρός.
Druckfehler in Band III.
S. 409, Note 1318, lies Rückert statt Rückart.
S. 410, Z. 7 v. o., lies αΐματί μον statt αΐματί μου
S. 483, Z. 11 v. o., lies 1 Kor. 16,19 statt 1 Kor. 16,10.
S. 561, Z. 13 v. o., lies Apost. 13, 46 statt Apost. 13,48.
Leicht zu berichtigende Buchstaben- und Interpunktionsfehler sind hier nicht aufgeführt. Bitte, auch die Berichtigungen zu beachten Bd. II, S. XII, und Bd. III, S. X.
Wesen und Begriff der Theologie. ^
(De natura et constitutione theologiae.)
1. Die Verständigung über den Standpunkt. ^
Bei der Sachlage in der Kirche der Gegenwart ist eine Verständigung über den theologischen Standpunkt nötig. Der Standpunkt, von welchem aus diese Dogmatik geschrieben wurde, ist die Überzeugung, daß die Heilige Schrift in spezifischem Unterschied von allen andern Büchern, die es sonst noch in der Welt gibt, Gottes eigenes unfehlbares Wort und deshalb die einzige Quelle und Norm der Lehre ist, die eine christliche Dogmatik darzustellen hat. Es gab eine Zeit, in der innerhalb der christlichen Kirche dieser Standpunkt, wenige Ausnahmen abgerechnet, gar nicht in Frage gestellt wurde. Diese Zeit reicht bis in die erste Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts hinein. Seitdem und sonderlich in der Gegenwart hat sich die Sachlage in dem Maße geändert, daß das, was früher Regel war, nun zur Ausnahme geworden ist, soweit die öffentlichen Lehrer in Betracht kommen. Die öffentlichen Lehrer, die in weiteren Kreisen bekannt sind und als Vertreter der protestantischen Theologie der Gegenwart angesehen werden, leugnen fast ohne Ausnahme, daß die Heilige Schrift durch Inspiration Gottes eigenes Wort ist. Sie lehnen es daher auch ab, die Heilige Schrift als die einzige Quelle und Norm der Theologie anzusehen und zu verwenden. Es hat eine allgemeine Flucht aus der angeblich unzuverlässigen Heiligen Schrift in das eigene menschliche Ich eingesetzt, das man euphemistisch „christliches Glaubensbewußtsein”, „wiedergebornes Ich”, „Erlebnis” usw. nennt. Durch diese Los-von-der-Schrift-Bewegung ist innerhalb des modemen Protestantismus ein Stand der Dinge eingetreten, der sein Analogon in der römischen Kirche hat. Wie in der römischen Kirche nicht die Heilige Schrift, sondern das Ich des Papstes schließlich die einzige Quelle und Norm der Lehre ist, als der „alle Rechte im Schrein seines Herzens” hat,1) so wollen auch die modernen Protestantischen Theologen die christliche Lehre nicht aus der Heiligen
---------------
1) Schmalk. Art. M. 321, 4.
2 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 3-4]
Schrift, sondern aus dem „frommen Selbstbewußtsein des dogmatisierenden Subjekts” 2) beziehen und normieren. Wie im Papsttum von der Schrift nur so viel gilt, als der Papst anerkennt und bestätigt, so will die neuere Protestantische Theologie in der Schrift nur das gelten lassen, was das fromme theologisierende Subjekt für der Annahme würdig erklärt. Dies ist eine genaue Beschreibung der Sachlage, wenn wir auf das Gros der neueren Theologen sehen, die Schrift und Gottes Wort nicht „identifizieren” und daher auch die christliche Lehre nicht aus der Schrift, sondem aus dem eigenen Innern schöpfen und normieren wollen. Damit ist die Ordnung der Dinge in der christlichen Kirche nicht bloß verschoben, sondern auf den Kopf gestellt. Wir haben es mit einer richtigen Revolution gegen die göttliche Ordnung in der christlichen Kirche zu tun.
Demgegenüber halten wir in vollem Umfange den Standpunkt fest, daß die Heilige Schrift durch den einzigartigen göttlichen Akt der Inspiration Gottes eigenes unfehlbares Wort ist, „Gottes Buch”,3) aus dem allein bis an den Jüngsten Tag die christliche Lehre in allen ihren Teilen zu schöpfen und zu normieren ist. Und für diesen Standpunkt bitten wir nicht um Entschuldigung, sondern machen ihn als den einzig richtigen geltend. Dieser Standpunkt hat große Vorbilder für sich. Erstlich das normative Vorbild Christi und seiner heiligen Apostel. Denn diese haben, wie bei der Lehre von der Heiligen Schrift ausführlich darzulegen ist, durchweg Schrift und Gottes Wort „identifiziert”: Γέγραπται, Scriptura sacra locuta, res decisa est. Für diesen Standpunkt haben wir auch das normierte Vorbild des Reformators der Kirche, Luthers. Wenn Luther sagt: „Das Wort sie sollen lassen stahn”, so meint er das Wort der Heiligen Schrift. Daher Luthers Erinnerung an alle Leser der Schrift, die Theologen — und sie sonderlich — eingeschlossen: „Du sollst also mit der Schrift handeln, daß du denkest, wie es Gott selbst rede.” 4) Daher auch Luthers an uns theologische Lehrer gerichtete, etwas derb ausgedrückte Warnung, daß wir „Ungeheuer” (portenta) von Theologen werden wie die Scholastiker, wenn wir von der Schrift abkommen, weil sie, die Schrift, „allein die Quelle aller Weisheit [in der Theologie] ist”.5) Es wird freilich in der Gegenwart sehr allgemein und zum Teil auch sehr entschieden behauptet, daß Luther eine
-------------------------
2) Ausdruck bei Nitzsch-Stephan, Lehrbuch d. Ev. Dogmatik 3, 1912, S. 13.
3) Luthers Benennung der Schrift. St. L. IX, 1071.
4) Predigten über das 1. Buch Mosis, 1527. St. L. III. 21.
5) Exeg. opp. Lat. Ed. Erl. IV, 328. St. L. 1,1289 f.
3 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 4-5]
„freiere” Stellung zur Schrift eingenommen habe als die späteren lutherischen Theologen. Aber diese Behauptung, wo sie bona fide aufgestellt wird, beruht auf Unkenntnis der geschichtlichen Tatsachen, wie bei der Lehre von der Heiligen Schrift darzulegen ist.
Bekanntlich behaupten die neueren Theologen, die an Stelle der Schrift als Quelle und Norm der Theologie ihr eigenes frommes Bewußtsein setzen, daß gerade ihr frommes Selbstbewußtsein und ihr durch die neuere Wissenschaft scharf entwickelter „Wirklichkeitssinn” sie davon abhalte, Schrift und Gottes Wort zu identifizieren. Es wird uns erlaubt sein, „Erlebnis” gegen „Erlebnis” und „Wirklichkeitssinn” gegen „Wirklichkeitssinn” zu setzen. Wir unsererseits erleben es mit Millionen Christen und dürfen es durch Gottes Gnade noch immerfort erleben, daß die Heilige Schrift wirklich Gottes Wort ist. Und dies Erlebnis vermittelt sich uns für das geschriebene Wort der Apostel geradeso, wie es sich im Herzen der korinthischen Christen in bezug auf die mündliche Verkündigung des Apostels Paulus vermittelte.6) Weil die Heilige Schrift Gottes Wort ist, so wartet sie nicht darauf, daß sie vom Papst oder von irgendeinem andern theologisierenden Individuum anerkannt und bestätigt werde, sondern sie verschafft sich selbst Anerkennung durch Hervorbringung des Glaubens infolge der Wirksamkeit des Heiligen Geistes, die mit dem Wort verbunden ist, gerade wie die Werke Gottes im Reiche der Natur sich als göttliche selbst bezeugen, ohne auf eine Bestätigung seitens der Vertreter der Naturwissenschaften warten zu müssen. Hingegen bewegen sich die schriftflüchtigen neueren Theologen auf dem Gebiet der Selbsttäuschung und gehen an der Erkenntnis der Wahrheit vorbei, weil sie den Glauben von seinem Entstehungs- und Erkenntnisgrund abrücken und ihn unmittelbar aus dem eigenen Innern emporsteigen lassen wollen. Daß dabei eine Selbsttäuschung vorliegt, ist deshalb gewiß, weil Christus sehr klar und bestimmt die Erkenntnis der Wahrheit an das Bleiben an seinem Wort bindet: „So ihr bleiben werdet an meiner Rede, iv τω λόγω τφ Ιμφ . . . γνώσεσϋ·ε τήν άλή&ειαν, Joh. 8, 31. 32. Wollen wir also als theologische Lehrer nicht Irrtum, sondern Wahrheit erkennen und lehren, so müssen wir an Christi Wort bleiben, das wir bis an den Jüngsten Tag in dem Wort seiner Apostel haben, wie uns Christus gleichfalls sehr klar unterrichtet, wenn er Joh. 17, 20 sagt, daß alle durch der Apostel Wort (διά λόγον αυτών) an ihn
-------------------
6) 1 Kor. 2,1—5.
4 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 6]
glauben werden. Es gilt also in der Theologie nicht, aus dem Wort der Apostel und Propheten in das theologische Ich zu flüchten, sondern es kommt in der Theologie alles darauf an, daß das theologisierende menschliche Ich, von sich selbst loskomme. Und das geschieht nur in der Weise, daß der Theologe alle eigenen Gedanken und Anschauungen, die sich bei ihm melden, sorgfältig unterdrückt und lediglich solchen Gedanken, Reden und Lehren Heimatsrecht bei sich gestattet, die in Christi Wort ausgedrückt vorliegen. Und das ist nicht unwürdige „Knechtschaft” und „Buchstabendienst”, wie man gemeint hat, sondern das ist unsere herrliche Freiheit, die wir als christliche Theologen genießen dürfen. Christus belehrt uns auch darüber Joh. 8, wenn er sagt: „So ihr bleiben werdet an meiner Rede, ... so werdet ihr die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch freimachen”, ΠΧαφεη”, ή άλήϋ·εια έλενΰερώσει νμας. Die schmählichste Menschenknechtschaft, die es in der Welt gibt, ist das Gefangensein in den eigenen irrigen Gedanken. Die Befreiung von dieser Knechtschaft der eigenen irrigen Gedanken in den Dingen, die unsere eigene uwd aller Menschen Seligkeit betreffen, ist der Zweck, zu dem uns Christus sein eigenes Wort durch seine Apostel und Propheten gegeben hat. Also nicht los von der Schrift, sondern hin zur Schrift und zu ihr allein als Quelle und Norm der Theologie! Luther dankt Gott, daß er ihm die Gnade verliehen habe, sich alle Gedanken, die ihm „ohne Schrift” gekommen waren, wieder ausfallen zu lassen.
Wie schlecht es um eine Theologie bestellt ist, die von der Schrift losgekommen ist und sich auf dem Gebiet des „frommen Glaubensbewußtseins” angesiedelt hat, liegt auch in ihren Resultaten klar zutage. Ein trauriges Produkt dieser Theologie ist die Leugnung der satisfactio Christi vicaria. Auch Hofmann, den man den Vater der Ichtheologie unter den konservativen lutherischen Theologen des neunzehnten Jahrhunderts genannt hat, hat sehr bestimmt die stellvertretende Genugtuung Christi geleugnet. Und jetzt ist die Leugnung der satisfactio vicaria fast so allgemein verbreitet wie die Leugnung der Inspiration der Heiligen Schrift. Und hier liegt der tiefste Grund für die Tatsache, daß die Heilige Schrift nicht als Christi Wort erkannt wird. Wer die satisfactio vicaria leugnet, der kennt den Christus nicht, den die Schrift lehrt;7) und insofern jemand Christum nicht kennt, kann er auch Christi Wort nicht erkennen, wie Christus selbst sagt.8) Wir sprechen nicht jedem Theologen, der vom
--------------------------
7) Joh. 1, 29; Matth. 20,28 usw. 8) Joh. 8, 43. 47.
5 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 6-7]
sicheren Studiertisch oder Katheder aus gegen die satisfactio vicaria redet, das persönliche Christentum ab. Auch Luther weist auf eine mögliche „glückliche Inkonsequenz” hin, wenn er von den Theologen, die Erasmus gegen ihn ins Feld führte, sagt, daß sie anders inter disputandum geredet haben, als ihr Herz vor Gott stand.9) Aber konsequenterweise besteht ein Zusammenhang zwischen der Leugnung der stellvertretenden Genugtuung Christi und der Ablehnung der Schrift als des Wortes Christi, wie auch konsequenterweise ein Kausalnexus besteht zwischen der Erkenntnis Christi als des Sünderheilandes und der Erkenntnis der Schrift als des Wortes Christi. Dies ist bei der Lehre von der Schrift weiter auszuführen.
Eine weitere böse Folge der Ichtheologie ist die Lehrverwirrung, die überall dort eingetreten ist, wo es der modernen Theologie gelang, die Kirche von ihrem Lehrfundament, dem Wort der Apostel und Propheten (Eph. 2,20), abzurücken und auf die Ich-basis zu stellen. Zwar ist die Meinung geäußert worden, daß auch nach Preisgabe der göttlichen Autorität der Schrift eine Einigkeit in der Lehre möglich sei. Die „rein subjektiven” „Einfälle” würden sich als solche verraten und von dem „kirchlichen Gemeingeist” abgestoßen werden. Aber in derselben Schrift wird referiert, daß die weitgehende Übereinstimmung in den neuen dogmatischen Grundsätzen verbunden sei „mit einer schier unendlichen Fülle von Verschiedenheiten in der Anwendung dieser Grundsätze, wie sie bald mehr durch die religiöse Individualität des Dogmatikers, bald mehr durch den Grad seiner wissenschaftlichen Konsequenz verursacht wird”.10) Diesem offenkundigen und zugestandenen Auseinanderfahren in der Lehre, das sich im modern-theologischen Lager findet, kann nur auf eine Weise gewehrt werden. Die Theologen müssen die Ichbasis verlassen und sich wieder auf das Fundament stellen, auf dem die ganze christliche Kirche erbaut ist, nämlich auf das Wort der Apostel und Propheten Christi, auf Christi Wort, auf die Heilige Schrift. Dann gestaltet sich unser Lehren, die wir uns christliche Theologen nennen, so, wie es Luther beschreibt: „Das mögen wir tun, soferne wir auch heilig sind und den Heiligen Geist haben, daß wir Katechumenen und Schüler der Propheten uns rühmen, als die wir nachsagen und predigen, was wir von den Propheten und Aposteln gehört und gelernt, und auch gewiß sind, daß es die Propheten gelehrt haben. Das heißen
---------------------------
9) Opp. v. a. VII, 166. St. L. XVIII, 1730.
10) Nitzsch-Stephan, Dogmatik, S. 13 und IX.
6 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 7-8]
im Alten Testament der ‘Propheten Kinder’, die nichts Eigenes noch Neues setzen, wie die Propheten tun, sondern lehren, das sie von den Propheten haben.”11) Von diesem Standpunkt aus wurde diese „Christliche Dogmatik” geschrieben.
2. Über Religion im allgemeinen. ^
Die Ableitung des lateinischen Wortes religio von einem Stammwort (Etymologie) ist bekanntlich bis auf den heutigen Tag streitig. Die sprachkundigen Lateiner selbst, ob Heiden oder Christen, vertreten verschiedene Ableitungen.12) Wir können ohne Schaden für die Sache, nämlich ohne an unserer religiösen Erkenntnis eine Einbuße zu erleiden, die etymologische Frage unentschieden lassen, weil die Bedeutung eines Wortes in letzter Instanz nicht durch die Etymologie, sondern durch den Sprachgebrauch (usus loquendi) bestimmt wird.13)
--------------------------------
11) Auslegung der letzten Worte Davids, 2 Sam. 23, 3. St. L. III, 1890. E. A. 37, 12.
12) Der Heide Cicero will religio von relegere oder religere im Sinne von fleißig oder sorgfältig betreiben (diligenter retractare) ableiten. De Nat. Deorum 2, 28: Qui omnia, quae ad cultum deorum pertinerent, diligenter retractarent et tamquam relegerent, sunt dicti religiosi ex relegendo, ut elegantes ex eligendo, tamquam a diligendo diligentes, ex intelligendo intelligentes. Der Christ Lactantius tritt in ausdrücklichem Gegensatz zu Cicero für die Ableitung von religare ein im Sinne von: an Gott binden, ihm verpflichten. Inst. vlv. 4, 28: Hac conditione gignimur, ut generanti nos deo iusta et debita obsequia praebeamus, hunc solum noverimus, hunc sequamur. Hoc vinculo pietatis obstricti deo et religati sumus, unde ipsa religio nomen accepit, non, ut Cicero interpretatus est, a religendo. Augustinus schwankt zwischen religere und religare, wie sich aus einer Vergleichung von De Civ. Dei 10, 4 und De Vera Relig., c. 55, ergibt. Die meisten älteren lutherischen Theologen ziehen die Ableitung von religare vor: Quenstedt, Systema, 1715, I, 28; Hollaz, Examen Proleg. II, qu. 2. Ausführliche Aufzählung der verschiedenen Ableitungen bei Calov, Isag. I, 275 sqq., zitiert in Baier-Walther 1,14. Neuere Theologen und Philologen teilen sich in die schon genannten Ableitungen und fügen andere hinzu, über die man in den größeren Enzyklopädien Nachlesen kann. Sehr Ausführliches bei Voigt, Fundamentaldogmatik, S. 1—30.
13) H. Ebeling , Wörterbuch zum N. T., III, Einl., zitiert als anerkanntes Axiom: „Die Etymologie wirft zwar in der Regel einiges Licht auf das zu erklärende Wort, deckt aber selten die sprachgebräuchliche Bedeutung desselben.” Ebeling selbst setzt hinzu: „Die Grundbedeutung läßt sich selten ganz einwandfrei und unbestritten feststellen, und die geschichtliche Entwicklung der Bedeutungen und des Sprachgebrauchs ist unabhängig von Etymologie und Grundbedeutung. Auch Luther bemerkt über diesen Punkt (Opp. exeg. Lat. VIII, 69): Aliud
7 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 8-9]
Aber auch der Sprachgebrauch verhilft uns uicht zu dem in unserer Zeit so eifrig gesuchten allgemeinen Religionsbegriff, der das Christentum und die nichtchristlichen Religionen unter ein gemeinsames genus bringen soll. Freilich ist der Gebrauch des Wortes „Religion” Heiden und Christen gemeinsam. Naturgemäß verbinden aber die Heiden heidnische, die Christen christliche Begriffe mit dem Wort, und diese Begriffe stellen sich bei näherer Betrachtung sofort als völlig entgegengesetzte heraus.
Weil die Heiden das Evangelium von Christo nicht kennen,14) wohl aber noch eine Kenntnis von Gottes Gesetz haben,15) so bewegen sich alle religiösen Gedanken der Heiden auf dem Gebiet des Gesetzes. Sie verstehen unter Religion die menschliche Bemühung, sich durch eigenes Tun oder eigene Werke (Gottesdienste, Opfer, moralische Bestrebungen, Askese usw.) die Gottheit gnädig zu stimmen, das ist, sie verstehen unter Religion eine Religion des Gesetzes. In bezug auf diese Wesensbestimmung der heidnischen Religionen herrscht in alter und neuer Zeit ziemlich allgemeine Übereinstimmung.16) Die Christen hingegen verstehen unter Religion das gerade Gegenteil, nämlich den Glauben an das Evangelium, das ist, den Glauben an die göttliche Botschaft, daß Gott durch Christi stellvertretende Genugtuung (satisfactio vicaria) mit allen Menschen
------------------------------
est grammatice (dazu rechnet Luther auch die etymologische Betrachtung eines Wortes), aliud Latine loqui. Ideo non tam sermonis grammatici et regulati quam phrasium (Sprachgebrauch) habenda est ratio. ... In Latin lingua multa vocabula usu in alienam a grammaticis regulis significationem degenerarunt.
14) 1 Kor. 2, 6—10: έπι καρδίαν άνϑρώπον ονκ άνέβη.
15) Röm. 1, 32:τό δικαίωμα τον ϑεοϋ επιγνόντες; Röm. 2, 15: ενδείκνννται τδ εργον τον νόμον γραπτόν εν ταΐς καρδίαις αντών.
16) Karl Stange, Moderne Probleme, 1910, S. 183 f.: „Die heidnische Religion hat darin ihre Eigentümlichkeit, daß sie nur menschliche Veranstaltungen zur Versöhnung Gottes kennt.” „Der normale Weg der heidnischen Religion ist immer der, daß der Mensch das Bewußtsein der Sünde zu überwinden sucht, indem er sich bemüht, seine Sünde wieder gutzumachen.” Luthardt (Glaubenslehre, 1898, S. 467): „Das ist das Charakteristische des Heidnischen, daß hier alles Verhältnis von Gott und Mensch leistungsmäßig, also nach dem Gesichtspunkte der Werktätigkeit, betrachtet wird.” So richtig auch Ihmels, Aus der Kirche, S. 52. Ebenso das lutherische Bekenntnis, Apologie (M. 134, 144): Opera incurrunt hominibus in oculos. Haec naturaliter miratur humana ratio, et quia tantum opera cernit, fidem non intelligit neque considerat, ideo somniat, haec opera mereri remissionem peccatorum et iustificare. Haec opinio legis haeret naturaliter in animis hominum, neque excuti potest, nisi quum divinitus docemur.
8 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 9-10]
bereits versöhnt ist. „Weil wir wissen” (είδότες) — sagt Paulus im Namen aller Christen —, „daß der Mensch durch des Gesetzes Werke nicht gerecht wird, sondern durch den Glauben an JEsum Christum, so glauben wir auch an Christum JEsum, auf daß wir gerecht werden durch den Glauben an Christum und nicht durch des Gesetzes Werke; denn durch des Gesetzes Werke wird kein Fleisch gerecht.”17) Wenn es auch innerhalb der äußeren Christenheit Religionsparteien gibt, die die Versöhnung des Menschen mit Gott ganz oder teilweise noch durch menschliches Tun zustande kommen lassen, so fallen sie damit auf den heidnischen Religionsbegriff zurück und stehen hinsichtlich ihrer Religion außerhalb der Christenheit. „Ihr habt Christum verloren, die ihr durch das Gesetz gerecht werden wollt, und seid von der Gnade gefallen.”18)
3. Die Zahl der Religionen in der Welt. ^
Fragen wir nach der Zahl der wesentlich verschiedenen Religionen, so geht aus der vorstehenden Darlegung bereits hervor, daß es nicht tausend,19) auch nicht vier,20) sondern nur zwei wesentlich verschiedene Religionen in der Welt gibt: die Religion des Gesetzes, das ist, die Bemühung um die Versöhnung mit Gott auf dem Wege der eigenen menschlichen Werke, und die Religion des Evangeliums,
-------------------------
17) Gal. 2,16. Apologie (M. 188, 19): Fide consequimur remissionem peccatorum propter Christum, non propter nostra opera praecedentia aut sequentia.
18) Gal. 5, 4: Κατηργήΰητε από τον Χρίστον (ihr seid — in bezug auf euer Verhältnis zu Christo — abgetan, los von Christo, habt keine Gemeinschaft mit ihm; vgl. Cremer sub καταργεΤν), οΐτινες εν νόμφ δικαιονσ&ε (die ihr in der Meinung steht, daß ihr durch das Gesetz gerecht werdet), της χάριτος εξεπέσατε. Richtig Meyer z. St.: „Die Rechtfertigung durchs Gesetz und die Rechtfertigung um Christi willen sind nämlich opposita (Werke — Glaube), so daß die eine die andere ausschließt.” Luther übertreibt daher auch nicht, wenn er im Großen Katechismus (M. 458, 56) sagt: „Es haben sich alle selbst herausgeworfen und gesondert [von der christlichen Kirche], die nicht durchs Evangelium und Vergebung der Sünde, sondern durch ihre Werke Heiligkeit suchen und verdienen wollen.”
19) So z. B. Meyer, Großes Konversationslexikon 6, XVI, 784.
20) Die heidnische, jüdische, mohammedanische und christliche Religion. Diese Aufzählung findet sich auch hin und wieder in lutherischen Katechismen, indem nicht sowohl der wesentliche Inhalt der genannten Religionen als ihr historisches Auftreten in der Welt ins Auge gefaßt wird. Doch ist dies auch historisch insofern nicht richtig, als die christliche Religion mit der Verheißung von dem Weibessamen als dem Erlöser der Menschheit ins Dasein trat.
9 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 10]
das ist, der durch das Evangelium vom Heiligen Geist gewirkte Glaube, daß wir durch die Versöhnung, die durch Christum geschehen ist, ohne eigene Werke (χωρίς έργων νόμον), einen gnädigen Gott haben.
Die Zweizahl der Religionen, auf ihre wesentliche Beschaffenheit gesehen, ist durch die ganze Schrift klar gelehrt, wie im folgenden näher darzulegen ist. Die Zweizahl geht auch schon daraus hervor, daß die christliche Religion die Aufgabe hat, alle andern Religionen zu verdrängen. Der an die christliche Kirche gerichtete Missionsbefehl ist durchaus universaler Natur: Μαθητεύσατε πάντα τά ε'θνη, 21) und spricht daher nicht bloß einigen, sondern allen andern Religionen die Existenzberechtigung ab mit der hinzugefügten Begründung, daß alle Religionen mit Ausnahme der christlichen Praktisch wertlos sind, daß sie nämlich die Menschen in der Finsternis und in Satans Gewalt belassen. Es heißt in der Zweckbestimmung des Christentums als Weltreligion: „aufzutun ihre Augen, daß sie (Juden und Heiden) sich bekehren von der Finsternis zum Licht und von der Gewalt des Satans zu Gott, zu empfangen Vergebung der Sünden und das Erbe mit denen, die geheiligt werden, durch den Glauben an mich”, nämlich Christum (πίστει τῃ εις εμέ, scil, είς Χριστόν).22)
---------------------------
21) Matth. 28, 19. So auch reichlich schon in den Weissagungen des Alten Testaments. Ps. 2, 8: „Ich will dir die Heiden zum Erbe geben und der Welt Ende zum Eigentum.” Gen. 49, 10; Ps. 72, 8 usw. Ies. 49, 6 (Christus das „Licht der Heiden” und „Gottes Heil” bis an der Welt Ende).
22) Apost. 26, 18. Vgl. Luthers gewaltige Darlegung zu Ies. 9,2 f., daß alle intellektuellen und moralischen Bestrebungen der Heiden und der ungläubigen Juden die Menschen in trostloser Finsternis belasten. St. L. VI, 106 ff. Irrig Lechler-Schäffer zu Apost. 26, 18 in Langes Kommentar: “The purpose of his (des Apostels Paulus) mission is stated in such a manner that it can be understood only as referring to Gentiles.” Dagegen richtig Meyer: Είς ονς ist nicht bloß auf τών εθνών zu beziehen, sondern aus τον λαον και τών εθνών zusammen, „was durch das pragmatische Verhältnis V. 19. 20 gefordert wird”. V. 20 berichtet Paulus selbst, wie er den Befehl Christi verstanden habe, nämlich so, daß er alsbald Juden und Heiden Buße und Bekehrung zu Gott predigte. Natürlich bezieht sich auch nicht nur die Bekehrung von der Finsternis zum Licht, sondern auch die Bekehrung von der Gewalt des Satans zu Gott gleicherweise aus die Heiden und die ungläubigen Juden. Auch hier hat Meyer zunächst die richtige Beziehung auf beide Klassen. Wenn er aber in bezug aus die Bekehrung „von der Gewalt des Satans zu Gott” limitierend hinzufügt, sie „berücksichtige mit vorherrschender Beziehung die Heiden, welche ΐοείφε άθεοι εν τφ κόσμφ, Eph. 2, 12, sind, unter der Gewalt des Satans, des αρχών τον
10 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 10-11]
Um diesen diametralen Gegensatz zwischen dem Christentum und allen andern Religionen und damit die Zweizahl der wesentlich verschiedenen Religionen zu beseitigen, sucht man sonderlich in neuerer Zeit angelegentlich nach einem „allgemeinen Religionsbegriff”. Man versteht darunter, wie bereits gesagt wurde, einen Religionsbegriff, der so weit und umfassend ist, daß er das Wesen nicht nur der heidnischen Religionen, sondern auch der christlichen Religionen zum Ausdruck bringt, also die nichtchristlichen Religionen und die christliche Religion unter ein genus befaßt. Aber eine nähere Prüfung der Definitionen von Religion, in denen man einen allgemeinen, Christentum und Heidentum umfassenden Religionsbegriff ausgedrückt findet, läßt uns klar erkennen, daß man sich nur eines gemeinsamen Ausdrucks bedient, während die bezeichnet Sache völlig verschieden bleibt, solange man die Grundtatsache des Christentums festhält, nämlich die Weltversöhnung durch Christi satisfactio vicaria. Mit Recht hat Karl Hase an „Verbaldefinitionen” von Religion erinnert, in denen das Wesen der christlichen Religion übersehen wird.23).
Dies ist an einigen Beispielen darzulegen. Wir kommen über die Zweizahl der. Religionen nicht hinaus, wenn wir „Religion im allgemeinen” als das „persönliche Verhältnis des Menschen zu Gott” definieren. Diese Definition ist gegenwärtig ziemlich allgemein angenommen. So sagt Macpherson: The common element in all religions is the recognition of a relation between men and God.”24) Ebenso Luthardt: „So verschieden die Bezeichnungen für das, was wir Religion nennen, sein mögen, in allen spricht sich doch ein Verhältnis zur Gottheit, wenn auch ein mehr oder minder innerliches und persönliches, aus. Und das dürfen wir wohl als den allgemeinen Begriff der Religion bezeichnen.” 25) Aber „Verhältnis” ist eine bloße Abstraktion. Sobald wir konkret werden, das ist, sobald wir das tatsächlich oder geschichtlich vorliegende Verhältnis der Menschen zu Gott nach seiner Qualität untersuchen, sehen wir uns sofort der Tatsache gegenüber, daß das „Verhältnis” ein zweifaches ist. Bei allen Menschen, die durch eigenes Tun Gott ver-
--------------------------------------
κόσμον τούτον, Eph. 2, 2”, so konnte das „mit vorherrschender Beziehung” füglich wegfallen, da Paulus das, was er Eph. 2,1. 2 von den Heiden sagt, V. 3 und 4 ausdrücklich auch auf die Juden bezieht.
23) Hutterus redivivus 10, S. 11.
24) Christum Dogmatics; Edinburgh 1898, S. 10.
25) Glaubenslehre; 1898, S. 34.
11 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 11-12]
söhnen wollen, stoßen wir auf das persönliche Verhältnis des bösen Gewissens vor Gott oder, was dasselbe ist, aus die Empfindung des göttlichen Zorns und somit auch auf das Verhältnis der Hoffnungslosigkeit. Der Grund hierfür ist der, daß die Menschen, welche auf dem Wege des eigenen Tuns Gott versöhnen wollen, sich vergeblich bemühen; denn: „Aus des Gesetzes Werken wird kein Fleisch vor Gott gerecht.”26) Damit stimmt auch die Erfahrung. Die Schrift berichtet Eph. 2,12 nicht bloß von einigen, sondern von allen Heiden ohne Unterschied, daß sie „zu jener Zeit”, als sie Heiden waren, keine Hoffnung hatten und ohne Gott in der Welt waren, keine Hoffnung hatten und ohne Gott in der Welt waren, έλπίδα μη εχοντες καί άθεοι έν τω κόσμφ. Auch ihre reichlich dargebrachten Opfer änderten ihr „Persönliches Verhältnis zu Gott” nicht im geringsten, weil ihre Opfer nicht Gott, sondern den Dämonen dargebracht wurden, a θύει τά έ’θνη, δαιμονίοις θύει καί ον θεφ,27) Das persönliche Verhältnis der Heiden ist und bleibt also bei allen religiösen Bestrebungen ein Verhältnis des bösen Gewissens und der Hoffnungslosigkeit. Dasselbe gilt natürlich auch von allen denen, die innerhalb der äußeren Christenheit ihr Verhältnis zu Gott auf dem Wege der eigenen Werke regeln wollen. Auch von ihnen gilt: „Die mit des Gesetzes Werken umgehen (οι έξ έργων νόμον), die sind unter dem Fluch.”28) Bei den Christen hingegen ist durch den Glauben an die durch Christum gewirkte Versöhnung das „persönliche Verhältnis zu Gott” das Verhältnis des guten Gewissens oder der Gnadengewißheit und somit auch das persönliche Verhältnis der Hoffnung des ewigen Lebens, das Gott allen an Christum Gläubigen zu geben verheißen hat. Diesen status quo bei den Christen berichtet erfahrungsmäßig der Apostel Paulus in den Worten: „Nun wir denn sind gerecht worden durch den Glauben, so haben wir Frieden mit Gott durch unsern HErrn JEsum Christum . . . und rühmen uns der zukünftigen Herrlichkeit, die Gott geben soll” und: „Wir rühmen uns auch Gottes durch unsern HErrn JEsum Christum, durch welchen wir nun die Versöhnung empfangen haben.”29) Es bleibt also bei der Zweizahl der wesentlich verschiedenen Religionen, wenn wir auch „Religion im allgemeinen” als „das persönliche Verhältnis des Menschen zu Gott” definieren.
Dasselbe gilt auch von der vielgebrauchten Formel, wonach „Religion im allgemeinen” als die Art und Weise der Gottes-
----------------------------
26) Röm. 3, 20; Gal. 2, 16. 27) 1 Kor. 10, 20.
28) Gal. 3,10. 29) Röm. 5,1. 2.11.
12 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 12-13]
verehrung bestimmt wird (ratio Deum colendi sive Deo serviendi). Sobald wir darangehen, die tatsächlich vorliegenden Weisen der Gottesverehrung auf ihr Wesen zu prüfen, stellt sich sofort ihr wesentlicher Unterschied heraus. Die Christen verehren Gott als den Gott, der ihnen ohne des Gesetzes Werke um Christi stellvertretender Genugtuung willen gnädig ist und dem sie daher ihre Werke nicht als Lösegeld für ihre Sünden, sondern als Dankopfer für ihre Erlösung, die durch Christum geschehen ist, darbringen. Wie Paulus von sich sagt: „Was ich jetzt lebe im Fleisch, das lebe ich im Glauben des Sohnes Gottes, der mich geliebet hat und sich selbst für mich dargegeben.”30) Und das allein ist ein Gott wohlgefälliger und vernünftiger Gottesdienst.31) Alle Nichtchristen hingegen, weil sie noch ein böses Gewissen haben, meinen ihre religiösen Bestrebungen, soweit sie noch vorhanden sind, darauf richten zu müssen, Gott durch eigenes Tun zu versöhnen. Und dieser modus Deum colendi atque Deo serviendi gefällt Gott so wenig, daß er vielmehr unter Gottes Fluch liegt. „Denn die mit des Gesetzes Werken umgehen, die sind unter dem Fluch”, Gal. 3,10.
Als das allen Religionen Gemeinsame ist auch das Streben nach Sicherung des Lebens mit Hilfe einer höheren Macht bezeichnet worden. Kirn z. B. meint sagen zu können: „Was wir in allen Religionen wiederfinden, ist das Streben nach Sicherung, Ergänzung und Vollendung des persönlichen und gemeinschaftlichen Lebens mit Hilfe einer höheren, übermenschlichen Macht.”32) Aber dieses „Streben”, sich durch eigenes Tun das Leben zu sichern. Paßt nur auf die nichtchristlichen Religionen, weil allen Nichtchristen die Werkreligion, die opinio legis, angeboren ist. Was aber die christliche Religion betrifft, die im Glauben an den für die Sünden der Welt gekreuzigten Christus besteht, so wird sie von keinem Menschen „erstrebt”. Sie ist ja nie in eines Menschen Herz gekommen,33) und wenn sie ihm im Wort der Verkündigung entgegentritt, wird sie seinerseits, solange er ein natürlicher Mensch ist, als ein Ärgernis und eine Torheit gewertet, die nicht zu erstreben, sondern zu verwerfen sei.34) Auch neuere Theologen geben zu, daß ein allgemeiner Religionsbegriff, der als genus auch die nichtchristlichen Religionen in sich befasse, in der Heiligen Schrift sich nicht finde. So heißt es bei Nitzsch-Stephan:35) „Im Alten Testament wird ein allgemeiner Begriff der
------------------------------
30) Gal. 2, 20. 31) Röm. 12,1.
32) Grundriß 3, S. 10. 33) 1 Kor. 2, 9.
34) 1 Kor. 1, 23; 2,14. 35) Ev. Dogmatik, 1912, S. 112.
13 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 13-14]
Religion, der auch auf das Heidentum Anwendung finden könnte, . . . nicht gegeben.” „Im Neuen Testament fehlt ebenfalls ein fester Allgemeinbegriff.”
Die „älteren Theologen” sind daher nicht zu tadeln, sondern zu loben, wenn sie an der Zweizahl der wesentlich verschiedenen Religionen dadurch festhielten, daß sie die christliche Religion in eine Klasse für sich stellten und alle nichtchristlichen Religionen unter die Rubrik „falsae religiones” brachten, von denen die Menschen durch die christliche Religion erlöst werden sollen.36) Ebenso an ungezählten Stellen Luther. Er bemerkt zu Ies. 44,17: „So mahnt der Prophet von andern Religionen ab, welche nichts anderes tun, als daß sie Leib und Seele zugleich vergeblich müde machen, und je strenger sie sind, desto mehr machen sie die Menschen furchtsam, bekümmert und bringen sie zur Verzweiflung. Und gleichwie es bei dem Weibe, die am Blutfluß litt, durch die Behandlung der Ärzte nur ärger mit ihrer Krankheit ward, Mark. 5,26, so wird auch durch dergleichen Tun das Übel ärger, und die Herzen werden immer unruhiger gemacht, wie wir es unter dem Papst erfahren haben, da die Seelen nach unzähligen Genugtuungen, Gebeten, Fasten, Messen, Wallfahrten nicht beruhigt, sondern härter gequält wurden. Das Wort aber allein tröstet wahrhaftig, nach dem Spruch: ,Nun wir denn sind gerecht worden durch den Glauben, so haben wir Frieden’ Röm. 6,1. Daher ist die wahre und einzige Religion und der einzige Gottesdienst dieser, daß man Vergebung der Sünden glaubt, die Gott aus Gnaden und umsonst gibt, ohne nachfolgende oder vorhergehende Werke, aus purlauterer Barmherzigkeit, gleichwie er die Sonne scheinen läßt und alles andere Gute gibt, das wir genießen. Wenn man so diesem gütigen Gott glaubt, der aus Gnaden und umsonst wohltut, das ist die wahre Religion und die wahre Gerechtigkeit.” Von neueren lutherischen Theologen hat auch Moritz von Engelhardt mit Nachdruck darauf hingewiesen, daß es nur zwei wesentlich verschiedene Religionen in der Welt gibt.37)
Doch an diesem Punkte wurde und wird eingewendet, daß den alten Theologen und auch Luther zur richtigen Klassifizierung der
---------------------
36) Quenstedt, I, 28: Religionis vox sumitur vel improprie et abusive vel proprie. Improprie et abusive accipitur pro religione falsa, v. g. ethnica, Turcica, Iudaica, quo sensu agit Calixtus in Apparatu Theologico de diversis mundi religionibus, cum tamen una tantum sit vera religio, nempe Christiana.
37) RE.2 XVII, 773.
14 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 14]
Religionen noch die nötige psychologische, geschichtliche und philosophische Betrachtung der Religionen gefehlt habe. Diesen Wissenszweigen sei erst in neuerer Zeit die gebührende Aufmerksamkeit gewidmet worden. Aber auch hier liegt eine Selbsttäuschung vor. Wir kommen auch vermittelst der Religionspsychologie, der Religionsgeschichte und der Religionsphilosophie nicht über die Zweizahl der wesentlich verschiedenen Religionen hinaus.
Was die psychologische Betrachtung der Religionen betrifft, so ist mit großer Energie auf die „Gleichartigkeit” der „psychologischen Erscheinungen” bei Nichtchristen und Christen hingewiesen worden. Weil die älteren Theologen diese Gleichartigkeit übersehen hätten, so sei es ihnen nicht möglich gewesen, die christliche Religion mit den nichtchristlichen unter ein genus zu bringen.38) Aber die behauptete Gleichartigkeit der psychologischen Phänomene bei Christen und Nichtchristen verschwindet sofort, sobald wir vergleichend prüfen. An die Stelle der Gleichartigkeit tritt der diametrale Gegensatz. In der nichtchristlichen Seele finden wir die folgenden seelischen Erscheinungen: das Schuldbewußtsein oder das böse Gewissen, die Furcht vor Strafe und damit die innerliche Flucht vor Gott, das Bestreben, durch eigene Werke die Strafe abzuwenden, und, weil das Streben nicht zum erstrebten Ziel führt, den Zustand der Todesfurcht und der Hoffnungslosigkeit.39) In der christlichen Seele finden wir die entgegengesetzten Zustände und Bewegungen: das gute Gewissen durch den Glauben an die Versöhnung, die durch Christum geschehen ist,40) nicht innerliche Flucht vor Gott, sondern freudigen Zutritt zu Gott,41) nicht Furcht vor dem Tode und Hoffnungslosigkeit, sondern Triumph über den Tod 42) und die gewisse Hoffnung des ewigen Lebens.43) So reduziert sich die „Gleichartigkeit” der psycho-
------------------------------
38) So z. B. Kirn, Grundriß 3, S. 9.
39) Eph. 2,12; Hebr. 2, 15. Mit Recht verweist Harleß zu Eph. 2, 12 die Ausnahmen, welche Zwingli, Bucer u. a. in bezug auf einzelne Heiden annahmen, in das Gebiet der „Träume”. Luther gegen Zwinglis Seligsprechung der heidnischen Heroen Herkules, Theseus, Sokrates usw. St. L. XX, 1767. Die Selbstbekenntnisse der Heiden über ihre Hoffnungslosigkeit bei Luthardt, Apol. Vortr. I, 2, Anm. 11.
40) Röm. 5, 1: Ειρήνην εχομεν προς τον θεόν διά τον κνρίον ημών Ίησον Χρίστον.
41) Röm. 5, 2: Δί οϋ (Χρίστον) και την προσαγωγήν εσχήκαμεν τη πίστει εις τήν χάριν ταντην.
42) 1 Kor. 15, 55: Τίον σον, θάνατε, τό κέντρον; Phil. 1, 23: ΈπιθνμΙαν εχων είς τό άναλνσαι καί σνν Χριστφ είναι..
43) Röm. 5, 2: Κανχώμεθα έπ ελπίδι τής δόξης τον θεον.
15 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 15]
logischen Zustände und Erscheinungen auf die Tatsache, daß beide Klassen, Nichtchristen und Christen, ihrem gemeinsamen menschlichen Wesen entsprechend, eine menschliche Seele und seelische Bewegungen haben, also auf eine rein formale Gleichartigkeit. Was aber die Richtung und die damit angegebene Qualität der Bewegungen betrifft, so ist nicht Gleichartigkeit, sondern ein völliger Gegensatz vorhanden. Nicht zu vergessen ist auch bei dem Studium der Religionspsychologie, daß die Seelen der Nichtchristen nach Christi zuverlässiger Aussage Wohn- und Wirkungsstätten des starken Gewappneten sind, der seinen Palast sicher bewahrt,44) während die Seelen der Christen vom Geist Gottes bewohnt und getrieben werden,45) wofür sich der Apostel Paulus auch auf die Erfahrung der früheren Heiden und Juden, die beide Psychologische Stadien durchgemacht haben, beruft.46) Da nun der Fürst dieser Welt und der Heilige Geist nicht wesentlich dieselben, sondern zwei verschiedene, einander gerade entgegengesetzte psychologische Phänomene in den Seelen hervorrufen, so führt uns auch die auf die Religion angewandte Psychologie nicht auf einen einheitlichen Religionsbegriff, sondern im Gegenteil auf zwei wesentlich verschiedene Religionen.
Aber auch die geschichtliche Betrachtung der Religionen führt uns nicht über die Zweizahl derselben hinaus. Wenn wir die „religiösen Erscheinungen” in den nichtchristlichen Religionen uns vorführen und mit denen der christlichen Religion vergleichen (Comparative Religion, Vergleichende Religionsforschung), so stehen wir abermals dem Resultat gegenüber, daß die nichtchristlichen Religionen ihr Verhältnis zur Gottheit, einerlei ob sie sich die Gottheit monotheistisch denken oder polytheistisch oder sonstwie Verkehren, auf dem Wege des menschlichen Tuns regeln wollen, während die christliche Religion gerade in dem πίοτει, ουκ έξ έργων ihr Wesen hat.47) Die wirklich geschichtliche Betrachtung der Religionen führt zu dem Resultat, das Max Müller [sic Monier-Williams] in einer glücklichen Stunde als Ertrag seiner vergleichenden Religionsforschung so zusammenfaßt:48) "In the discharge of my duties for forty years as professor of Sanskrit
-----------------------------
44) Luk. 11, 21. 45) 1 Kor. 3,16; Röm. 8, 11. 14.
46) Eph. 2, 11. 12 (μνημονεύετε); 1 Kor. 12, 2 (οιδατε); Eph. 2, 2. 3: Περιεπατήοατε .. . κατά τον άρχοντα τής εξουσίας τον άέρος, τον πνεύματος τον ννν ενεργονντος εν τοΐς νίοϊς τής απείθειας.
47) Röm. 3, 28; 4, 5; Eph. 2, 8.
48) Dieselben Worte sind II, 2, Note 8, in deutscher Übersetzung mitgeteilt. Wir geben hier das englische Original.
16 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 15-16]
in the University of Oxford, I have devoted as much time as any man living to the study of the Sacred Books of the East, and I have found the one key-note, the one diapason, so to speak, of all these so-called sacred books, whether it be the Veda of the Brahmans, the Puranas of Siva and Vishnu, the Koran of the Mohammedans, the Zend-Avesta of the Parsees, the Tripitaka of the Buddhists,— the one refrain through all — salvation by works. They all say that salvation must be purchased, must be bought with a price, and that the sole price, the sole purchase-money, must be our own works and deservings. Our own holy Bible, our sacred Book of the East, is from beginning to end a protest against this doctrine. Good works are, indeed, enjoined upon us in that sacred Book of the East far more strongly than in any other sacred book of the East; but they are only the outcome of a grateful heart — they are only a thank-offering, the fruits of our faith. They are never the ransom-money of the true disciples of Christ. Let us not shut our eyes to what is excellent and true and of good report in these sacred books, but let us teach Hindus, Buddhists, Mohammedans, that there is only one sacred Book of the East that can be their mainstay in that awful hour when they pass all alone into the unseen world. It is the sacred Book which contains that faithful saying, worthy to be received of all men, women, and children, and not merely of us Christians — that Christ Jesus came into the world to save sinners.”
Endlich führt auch der philosophische Religionsbegriff nicht über die Zweizahl der Religionen hinaus. Wir stoßen hier auf die Schwierigkeit, daß über den Sinn und Inhalt eines philosophischen Religionsbegriffs seine Vertreter keineswegs einig sind. Am verständlichsten reden noch die Religionsphilosophen, welche den philosophischen Religionsbegriff „rein” auffassen, das heißt, bei der Feststellung „des Wesens der Religion” von der Heiligen Schrift als Gottes Wort und als Quelle und Norm der christlichen Religion gänzlich absehen wollen. Wird so der philosophische Religionsbegriff „rein” gefaßt, so ergibt sich allerdings ein Religionsbegriff, welcher der „menschlichen Idee” von Religion entspricht. Sehr richtig wird von diesem Standpunkt aus gesagt, daß es eine Religionsphilosophie, „streng genommen”, erst dann geben könne, wenn das menschliche Bewußtsein über den Autoritätsglauben und die Vorstellung von einer wunderbaren Belehrung der Menschen durch göttliche Offenbarung hinausgeschritten sei und die religiösen Glaubens-
17 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 17]
sätze nicht als etwas Fertiges, Unantastbares, schlechthin von obenher Gegebenes verehre. Kurz, Voraussetzung für die Aufstellung eines „echt” oder „rein” philosophischen Religionsbegriffs ist die Beiseite setzung der göttlichen Autorität der Heiligen Schrift. Einen solchen rein menschlichen Religionsbegriff gibt es. Aber wir stehen hier sofort wieder vor dem heidnischen Religionsbegriff mit dem Inhalt: "salvation by works”, wie Max Müller es ausdrückt. Und das ist ganz in Ordnung. Wir müssen uns immer wieder daran erinnern, daß der Inhalt der christlichen Religion, wonach die Menschheit durch Christi satisfactio vicaria mit Gott versöhnt ist und der Mensch daher ohne eigene Werke durch den Glauben an Christum einen gnädigen Gott hat, für jeden Menschen, die Philosophen eingeschlossen, terra incognita ist. Der Inhalt der christlichen Religion ist nie in eines Menschen Herz gekommen, επί καρδίαν ανθρώπου ούκ άνέβη. 49) Dagegen eignet allen Menschen, die Philosophen eingeschlossen, ein Wissen um das Gesetz Gottes. Des Gesetzes Werk steht auch in den Herzen der Philosophen geschrieben.50) Daher bewegen sich auch die religiösen Gedanken der Menschen, die in die Abteilung „Philosophen” gehören, auf dem Gebiet des Gesetzes und der Menschenwerke. Sokrates will in seiner Todesstunde dem Äskulap noch einen Hahn geopfert haben, und Kant, den manche für den ersten wirklichen Religionsphilosophen erklärt haben, hat das Wesen der Religion mit Verwerfung der christlichen Versöhnungslehre in die menschliche Sittlichkeit umgesetzt.51) Luther hat den Religionsbegriff der Philosophen sehr klar erkannt und herausgestellt. Er sagt z. B.:52) „Aus dieser natürlichen Erkenntnis (des Gesetzes) haben ihren Ursprung alle Bücher der Philosophen, die vor andern etwas vernünftiger gewesen sind, als des Äsop, des Aristoteles, des Plato, des Xenophon, des Cicero, des Cato. . . . Aber wenn du fragst vom Gewissen, wie das zufriedenzustellen sei, und von der Hoffnung des ewigen Lebens, so sind sie in Wahrheit wie der Rabe, der hier [1 Mos. 8, 7] um den Kasten herum fliegt und draußen nicht Frieden findet, innen im Kasten aber ihn nicht sucht, wie Paulus von den Juden sagt Röm. 9: -Israel hat dem Gesetz der Gerechtigkeit nachgestanden und hat das Gesetz der Gerechtigkeit nicht überkommen.’ Die Ursache ist: Das Gesetz ist wie der Rabe, ist ein Amt des Todes und der Sünden und macht Heuchler.”53) Kurz, je „reiner” wir
-----------------------------------
49) 1 Kor. 2, 9. 50) Röm. 2,15.
51) M. Heinze in RE.3 XVI, 613 f. 52) St. L. I, 621.
53) Noch ausführlicher zu Ies. 9, 2 St. L. VI, 102 ff.
18 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 18]
den philosophischen, der „menschlichen Idee” entsprechenden Religionsbegriff fassen, desto sicherer führt er an der christlichen Religion vorbei. Er schließt die christliche Religion nicht in sich, sondern tritt zu ihr in diametralen Gegensatz. So kommen wir auch vermittelst der psychologischen, geschichtlichen und philosophischen Betrachtung der Religionen nicht über die Zweizahl der wesentlich verschiedenen Religionen hinaus.
Es gibt, worauf wir hier wenigstens im Vorbeigehen Hinweisen sollten, auch solche Vertreter eines „philosophischen” Religionsbegriffs, die von der Offenbarung der Heiligen Schrift nicht absehen wollen, sondern im Gegenteil die Schriftoffenbarung voraussetzen und als Objekt der Betrachtung fordern. Sie geben zu, daß die christliche Religion über alle menschlichen Ideen von Religion hinausliege. Sie meinen aber die in der Schrift geoffenbarten und zunächst auf die Autorität der Schrift hin geglaubten christlichen Wahrheiten nachträglich für den menschlichen Denkprozeß so darlegen zu können, daß sie, auch abgesehen von der Offenbarung und Autorität der Schrift, von dem denkenden Menschengeist als Wahrheit erkannt und begriffen werden könnten. So war Anselms, des „Vaters der Scholastik”, Credo, ut intelligam gemeint. Anselm eifert einerseits gegen die „modernen Dialektiker”, die das Wissen vor den Glauben stellen wollen und daher von vornherein das ablehnen, was sie nicht verstehen (intelligere) können. Andererseits stellt Anselm den Christen die Ausgabe, vom Glauben zum Wissen fortzuschreiten (proficere).54) Ganz ähnlich solche neuere Theologen, die es als die eigentliche Aufgabe der „wissenschaftlichen Theologie” unserer Zeit ansehen, den Glauben zum Wissen zu erheben, das „intellektuelle Bedürfnis” der Christen zu befriedigen oder — was dasselbe ist — die christliche Religion als „absolute” Wahrheit zu erweisen, das heißt, als eine Wahrheit, die, auch abgesehen von der Schriftoffenbarung, als Wahrheit erkannt werden könne.55) Diesem Versuch der Standeserhöhung des Glaubens liegt die Meinung zugrunde, daß, wenn auch nicht allen Christen, so doch dem „Theologen” schon in diesem Leben eine Erkenntnis der christlichen Religion eignen könne, die über den Glauben an Gottes Offenbarung
-----------------------
54) Mansi XX, 742: Christianus per fidem debet ad intellectum proficere, non per intellectum ad fidem accedere, aut, si intelligere non valet, a fide recedere. Sed cum ad intellectum valet pertingere, delectatur.
55) Vgl. Luthardt, Dogmatik 10, S. 5 ff., unter dem Abschnitt „Die Berechtigung der Theologie”. Auch schon Harleß, Theol. Enzyklopädie, 1837, S. 27.
19 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 18-19]
im Wort hinausreiche. Diese Meinung ist so gewiß eine irrige, als Christus alle religiöse Wahrheitserkenntnis nur durch den Glauben an sein Wort vermittelt sein läßt und der Apostel Paulus jedem Menschen, insonderheit auch dem Lehrer in der Kirche, Aufgeblasenheit und Ignoranz zuschreibt (τετνφωται, μη Ιπιστάμενος), der nicht bei Christi Worten bleibt.56) Das Resultat der Theologie, die den Glauben zum Wissen erheben will, ist, wie alte lutherische Theologen es derb ausdrücken, ein Monstrum, nämlich ein mixtum compositum aus Theologie und Philosophie, ähnlich „dem zweigestaltigen Geschlecht der Kentauren”.57) Nach dieser theologischen Methode hat schon Anselm den stellvertretenden Charakter der Gesetzeserfüllung Christi, die obedientia activa, aus dem Versöhnungswerk Christi gestrichen 58) und Abälard nach derselben Methode 59) die stellvertretende Genugtuung Christi (satisfactio vicaria) aus der christlichen Lehre beseitigt.60) Bei den neueren Theologen hat der Versuch, den Glauben zum Wissen zu erheben, zu dem Resultat geführt, daß bei ihnen die Leugnung der satisfactio vicaria 61) und die Leugnung der Schrift als der einzigen Quelle und Norm der christlichen Lehre zugestandenermaßen ganz allgemein geworden ist. Dieser Gegenstand muß unter mehreren der folgenden Abschnitte, insonderheit auch unter dem Kapitel „Theologie und Wissenschaft”, wieder ausgenommen werden.
4. Die zwei Erkenntnisquellen der tatsächlich bestehenden Religionen. ^
Wie es, auf den Inhalt gesehen, nur zwei wesentlich verschiedene Religionen gibt, die Religion des Gesetzes oder der eigenen Werke und die Religion des Evangeliums oder des Glaubens an Christum, so gibt es auch nur zwei verschiedene Erkenntnisquellen (principia cognoscendi), aus denen die tatsächlich bestehenden Religionen geschöpft werden. Die Religion des Gesetzes in ihren verschiedenen Gestalten außerhalb und innerhalb der äußeren
----------------------
56) 1 Tim. 6, 3ff. 57) Quenstedt, I, 57.
58) Vgl. das Zitat aus Anselms Cur Deus Homo, II, Note 1050.
59) Zitat aus Abälards Auslegung des Römerbriefs, II, Note 1005.
60) Mit Recht weist auch R. Seeberg darauf hin, daß Anselm und Abälard auf demselben rationalistischen Boden sich bewegen. Beide stellen neben die fides die ratio. Dogmengesch. II, 41 f.
61) Ausführliche Darlegung unter dem Abschnitt „Nähere Beschreibung moderner Versöhnungstheorien” II, 429 ff.
20 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 19-20]
Christenheit haben die Menschen aus sich selbst. Sie ist menschlichen Ursprungs, man-made religion. Die Schrift weist auf diesen menschlichen Ursprung der vielgestaltigen Gesetzesreligion sehr nachdrücklich hin. Was die Schrift hierüber sagt, stellen wir hier nochmals in etwas weiterer Ausführung unter den folgenden drei Punkten zusammen: Erstlich haben die Menschen auch nach dem Fall noch eine Kenntnis vom göttlichen Gesetz. Sie wissen um Gottes Gerechtigkeit, τό δικαίωμα του θεοϋ έπιγνόντες.62) Das vom göttlichen Gesetz geforderte Werk steht, auch wenn sie das in der Schrift geoffenbarte Gesetz nicht haben, in ihren Herzen geschrieben, νόμον μη έχοντες εαυτοις είσιν νόμος, οιτινες ενδείκνυνται τό έργον του νόμου γραπτόν έν ταΐς καρδίαις αυτών,63) Zum andern haben sie ein böses Gewissen wegen ihrer Übertretungen des göttlichen Gesetzes. Sie „wissen, daß, die solches tun” — nämlich die vorher genannten heidnischen Sünden —, „des Todes schuldig sind”, τὸ δικαίωμα τοῦ Θεοῦ ἐπιγνόντες ὅτι οἱ τὰ τοιαῦτα πράσσοντες ἄξιοι θανάτου εἰσίν.64) Daher meinen sie drittens durch moralische Bestrebungen und durch von ihnen erdachte Gottesdienste und Opfer Gott versöhnen zu sollen und zu können, selbst wenn sie auf den Altar schreiben müssen: „Dem unbekannten Gott”, άγνώστφ θεφ.65) Es sei nochmals auf die Worte der Apologie hingewiesen: Haec opinio legis (daß man durch Werke Gnade erlangen könne) haeret naturaliter in animis hominum, neque excuti potest, nisi quum divinitus docemur, gerner: Sic de omnibus operibus iudicat mundus, quod sint propitiatio, qua placatur Deus.66) Der Apostel Paulus nennt die Gesetzesreligion ausdrücklich die Fleischesreligion, wenn er den Galatern, sofern sie durch das Gesetz gerecht werden wollten, zuruft: „Im Geist (πνεύματί) habt ihr angefangen, wollt ihr's denn nun im Fleisch (σαρκί) vollenden?”67) Luther bemerkt hierzu in seinem Kommentar zum Galaterbrief:68) „Paulus setzt hier ,Geist’
------------------------
62) Röm. 1,32. Gottes δικαίωμα ist hier Gottes Rechtssatzung, Rechtsbestimmung. Vgl. Stöckhardt z. St. [Ed. – Römerbrief, p. 66 f.; Schade/Stalke p. 73 f.] . Auch Meyer und Philippi z. St.
63) Röm. 2,15. Apologie, S. 87, 7: Humana ratio naturaliter intelligit aliquo modo legem, habet enim idem iudicium scriptum in mente.
64) Röm. 1, 32. Stöckhardt z. St.[Ed. – see page 67 5th line down; pg . Schade/Stahlke p. 73]: „Mit Hofmann hier an die von der Obrigkeit zu exekutierende Todesstrafe zu denken, liegt ganz aus dem Wege.” Philippi z. St. weist auf die heidnische Hadeslehre mit ihren Strafen hin und urteilt: „Es ist demnach θάνατος an unserer Stelle wohl von der mors aeterna zu interpretieren.”
65) Apost. 17, 23. 66) M. 134,144; 123, 91.
67) Gal. 3, 3. 68) St. L. IX. 288 s. Erl. Gal. I. 313.
21 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 20-21]
und ‘Fleisch' einander entgegen. Er nennt hier, wie ich schon oben erinnert habe, ‘Fleisch’ nicht die Wollust, viehische Leidenschaften oder sinnliche Begierden; denn hier handelt er nicht von der Wollust oder andern Lüsten des Fleisches, sondern von der Vergebung der Sünden, von der Rechtfertigung des Gewissens, von der Erlangung der Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, von der Befreiung vom Gesetze, von der Sünde und vom Tode. . . . Darum ist (hier) Fleisch nichts anderes als die Gerechtigkeit, die Weisheit des Fleisches und die Gedanken der Vernunft, welche sich bemüht, durch das Gesetz gerecht zu werden.” So steht auf Grund der Schrift fest, daß jede Religion, die irgendwie durch menschliche Leistung dem Menschen Gottes Gnade zuwenden will, nicht Weisheit von Gott, sondern Weisheit von unten her ist, kurz, “man-made”.
Die Religion des Evangeliums hingegen, die den Inhalt hat, daß der Sohn Gottes Mensch geworden ist, durch sein Werk die Menschen mit Gott versöhnt hat, so daß die Menschen nun ohne eigene Werke (χωρίς έργων νόμου), durch den Glauben an Christi Werk, selig werden — diese Religion hat ihren Ursprung nicht im Menschenherzen,έπϊ καρδίαν ανθρώπου ούκ άνέβη, sondern war von Ewigkeit in Gottes Herzen verborgen und ist in der Zeit nur durch Gottes Offenbarung im Wort bekannt geworden. Die christliche Gnadenreligion ist im strikten Sinne des Wortes Gottes Weisheit, σοφία θεοϋ. Auch die Elite der Menschheit, die Obersten dieser Welt, sind nicht auf die Idee gekommen, daß Gott ohne des Menschen eigene Werke, um des gekreuzigten Christus willen, den Menschen die Sünde vergibt.69) Kurz, die christliche Gnadenreligion ist in keinem Sinne eine menschliche Erfindung, sondern "God-made” und hat ihre einzige Erkenntnisquelle (principium cognoscendi) in Gottes Wort Offenbarung, die nun die Kirche bis an den Jüngsten Tag in dem geschriebenen Wort der Apostel und Propheten besitzt.70) Es steht daher so, daß alle auch innerhalb der äußeren Christenheit vorgetragenen Lehren, durch welche die Erlangung der Gnade Gottes von Menschenwerken und „sittlichen Leistungen” in verschiedenem Umfange und unter verschiedenen Namen (Pelagianismus, Semipelagianismus, Synergismus) abhängig gemacht wird, menschlichen Ursprungs sind. Sie gehören nicht dem Gebiet der göttlichen, in Gottes Wort geoffenbarten Religion an, sondern dem Gebiet der von Menschen erdachten Reli-
--------------------------
69) 1 Kor. 2, 6 ff. 70) Röm. 16, 25. 26; Eph. 2, 20; 1 Joh. 1, 4.
22 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 21-22]
gionen. Wären sie von ihren Vertretern stets unter ihrem richtigen Prädikat, „von Menschen gemacht”, "man-made”, auf den Markt gebracht worden, so würde die christliche Kirche vor viel Verwirrung, Streit und Parteiung bewahrt geblieben sein.
Fragen wir noch, seit wann die Religion des Gnadenevangeliums in der Welt bekannt geworden sei, so ist zu sagen, daß sie unmittelbar nach dem Sündenfall in der Verheißung von dem Weibessamen, der der Schlange den Kopf zertreten sollte, geoffenbart wurde.71) Daß auch alle alttestamentlichen Propheten unisono die Religion des Evangeliums gelehrt und alle Kinder Gottes zur Zeit des Alten Testamentes sie unanimitor geglaubt haben, bezeugt Petrus: „Von diesem (JEsu) zeugen alle Propheten, daß durch seinen Namen alle, die an ihn glauben, Vergebung der Sünden empfangen sollen.”72) Ebenso sagt Paulus von der Gerechtigkeit, die χωρίς νόμου durch den Glauben an Christum erlangt wird: μαρτνρονμένη υπό τον νόμου και τών προφητών, Röm. 3. Er bringt dafür den historischen Nachweis im 4. Kapitel des Römerbriefes. Luthers Darlegungen über die Zweizahl der religiösen Erkenntnisquellen ziehen sich durch alle seine Schriften hindurch.73)
5. Die Ursache der Parteien innerhalb der äußeren Christenheit. ^
Weil die nichtchristlichen Religionen die Versöhnung mit Gott auf dem Wege der menschlichen Werke suchen, eigene Werke aber die Gewissen nicht zur Ruhe bringen können, so ist es nicht befremdlich, sondern völlig naturgemäß, daß die nichtchristlichen Religionen in schier endlosen Gestalten auftreten. An diese Ursache der Vielgestaltigkeit der nichtchristlichen Religionen erinnert auch das lutherische Bekenntnis. Die Apologie sagt: Quia nulla opera reddunt pacatam conscientiam, ideo subinde nova opera excogitantur praeter mandata Dei.74) Hingegen sollte man erwarten, daß innerhalb der Christenheit verschiedene Parteien gänzlich ausgeschlossen seien. Die christliche Kirche hat ja für ihre Lehre nur eine Erkenntnisquelle, nämlich Christi Wort.75) das er der Kirche durch seine Apostel und Propheten
---------------------------
71) Vgl. Luther zu 1 Mos. 3, 15. St. L. I, 230 ff.; III, 650 ff.
72) Apost. 10, 43.
73) Besonders ausführlich spricht sich Luther hierüber St. L. VII, 1704 bis 1712 aus.
74) M. 122, 87.
75) Joh. 8, 31. 32: So ihr bleiben werdet an meiner Rede (τφ λόγω τφ έμφ), so seid ihr meine rechten Jünger und werdet die Wahrheit erkennen.”
23 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 22-23]
gegeben hat?76) In diesem Wort Christi aber ist die fruchtbare Mutter der Parteibildungen, nämlich die Werkreligion, aufs entschiedenste verworfen 77) und hingegen die göttliche Sündenvergebung ohne des Gesetzes Werke, durch den Glauben an Christi einmal vollbrachtes und vollkommenes Versöhnungswerk aufs klarste gelehrt.78) Zudem steht auch durch Erfahrung fest, daß durch den Glauben an die Versöhnung, die durch Christum geschehen ist, die menschlichen Gewissen zur Ruhe kommen und also keine Veranlassung vorliegt, nach andern Versöhnungsmethoden Umschau zu halten.79) So sollte man wirklich erwarten, daß verschiedene Parteien und Spaltungen in der christlichen Kirche völlig ausgeschlossen seien, wie sie denn auch in der Schrift ausdrücklich verboten sind.80) Aber in der Geschichte der christlichen Kirche tritt uns ein ganz anderes Bild entgegen. Schon die apostolische Kirche hatte unter Parteiungen zu leiden.
Woher diese Parteiungen? Sie haben ihren Grund weder in der Verschiedenheit des Klimas, wie die einen gemeint haben, noch auch in dem Rassenunterschied, wie andere gesagt haben,81) sondern in der Tatsache, daß innerhalb der Kirche Lehrer auftraten und Anhang fanden, die nicht bei dem Wort der Apostel und Propheten Christi blieben, sondern ihr eigenes Wort verkündigten und damit konsequenterweise auch die differentia specifica der christlichen Religion, die Rechtfertigung aus dem Glauben ohne des Gesetzes Werke, schädigten oder geradezu leugneten. Daß schon unter den Augen der Apostel Leute auftraten, die das apostolische Wort nicht als Gottes Wort gelten lassen wollten, sondern dagegen ihre menschliche Meinung setzten, erhellt klar aus Paulus' Mahnung an die römische Gemeinde: „Ich ermahne euch, liebe Brüder, daß ihr aufsehet auf die, die da
---------------------------
76) Joh. 17, 20: Διά τον λόγον αντών, nämlich der Apostel, werden an Christum glauben alle, die bis an den Jüngsten Tag gläubig werden. Eph. 2, 20: έποικοδομηθέντες επι τφ θεμελίφ τών αποστόλων και προφητών
77) Gal. 2, 16: Ον δικαιωθήαεται εξ έργων νόμον πάσα σάρξ. Gal. 3, 10 :Όσοι εξ έργων νόμον είαίν, νπό κατάραν είσΐν.
78) Röm. 3, 28: Λογιζόμεθα ονν πίστει δικαιονσθαι άνθρωπον χωρίς έργων νόμον. Gal. 2, 16: ΕΙδότες άτι ον δικαιούται άνθρωπος εξ έργων νόμον εάν μή διά πίστεως 7ησον Χρίστον.
79) Röm. 5, 1: Δικαιωθεντες ονν εκ πίστεως, ειρήνην έχομεν προς τον θεόν διά τον κνρίον ήμών Ίηαον Χρίστον. Kol. 2, 10: Έατέ έν αν τφ [in Christo] πεπληρωμένοι.
80) 1 Kor. 1, 10: μή ή έν νμϊν σχίσματα.
81) Vgl. hierüber Nitzsch-Stephan, Ev. Dogmatik, S. 270. Hase, Hutterus-Redivivus 10, S. 12, Anm. 1.
24 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 23-24]
Zertrennung und Ärgernis anrichten neben der Lehre, die ihr gelernet habt, und weichet von denselbigen!” 82) Sonderlich in der korinthischen Gemeinde gab es Leute, die sich als „Propheten” und „geistlich” vorkamen und trotzdem, ja gerade deshalb entschieden die göttliche Autorität des Apostelwortes in Frage stellten. Paulus sieht sich zu dem scharfen Wort veranlaßt: „So sich jemand läßt dünken, er sei ein Prophet oder geistlich, der erkenne (επιγινωσκέτω, erkenne an), was ich euch schreibe, denn es sind des HErrn Gebote.”83) Und daß damit in der apostolischen Kirche sich mächtig der Versuch regte, an die Stelle der christlichen Gnadenlehre Werklehre zu setzen, geht sowohl aus Paulus' Verwunderung über den Abfall der Galater hervor: „Mich wundert, daß ihr euch so bald abwenden lasset von dem, der euch berufen hat in die Gnade Christi, auf ein anderes Evangelium”, als auch aus Paulus' überaus heftiger Polemik gegen die Werklehrer: „So auch wir oder ein Engel vom Himmel euch würde Evangelium predigen anders, denn das wir euch gepredigt haben, der sei verflucht!” und: „Wollte Gott, daß sie auch ausgerottet würden, die euch verstören!” 84) Diese Bestrebungen, der Apostel Wort und damit auch die christliche Gnadenlehre des Christentums beiseitezusetzen, erklären uns das Entstehen und das Bestehen der Parteiungen in der christlichen Kirche bis auf diesen Tag.
Um dies nachzuweisen, müssen wir die hauptsächlichsten bestehenden Kirchenparteien, also die römische Partei, die reformierten Gemeinschaften, die Parteien innerhalb der lutherischen Kirche, auch die modern-theologische Richtung, auf ihre Art prüfen. Dazu ist nötig, daß wir hier in der Einleitung kurze Auszüge aus längeren Darlegungen bringen, die sich durch die ganze Dogmatik hindurchziehen und dort der ausführlichen Darlegung der einzelnen Lehren in These und Antithese dienen. Hier behandeln wir das, was in neueren Dogmatiken und Monographien etwa unter die Titel gebracht wird: „Romanismus und Protestantismus”, „Der lutherische und der reformierte Protestantismus”, „Fortbildung des Luthertums”, „Moderne Theologie des alten Glaubens”, “Irenic Theology” usw.
Was die zahlreiche römische Partei betrifft, so erkennt sie in thesi zwar die göttliche Autorität der Schrift an, fordert aber, daß nicht die Schrift selbst zu Worte komme, sondern im Sinne der römischen Kirche, der sancta mater ecclesia, das ist, in letzter Instanz
----------------------------
82) Röm. 16,17.
83) 1 Kor. 14, 37.
84) Gal. 1, 6—9; 5,12.
25 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 24-25]
nach dem Sinn des Papstes, ausgelegt werde.85) Bei dieser Deutung der Schrift nach dem Sinn der „heiligen Mutter Kirche”, resp. des Papstes, kommt die römische Partei dahin, daß sie die Zentrallehre der christlichen Religion, die Rechtfertigung des Menschen aus dem Glauben an das Gnadenevangelium ohne des Gesetzes Werke, ausdrücklich und sehr entschieden mit dem Fluch belegt.86) Daß es trotzdem innerhalb der römischen Partei noch Christen gibt, kommt daher, daß immer einzelne Seelen wider der „Kirche” Verbot, namentlich in der Anfechtung, das Vertrauen auf eigene Werke fahren lassen und ihre Zuversicht vor Gott allein auf die Gnade Gottes in Christo setzen.87) Aber dabei bleibt die Tatsache bestehen: Daß die römische Kirche als solche in der äußeren Christenheit eine besondere Partei bildet, ist erstlich darin begründet, daß sie Christi Wort, das Wort der Propheten und Apostel, die Heilige Schrift, nicht zur Geltung kommen läßt, sondern an die Stelle des christlichen Erkenntnisprinzips tatsächlich die Lehrbestimmungen der sancta mater ecclesia das ist, des Papstes, setzt. Oder wie Luther es in den Schmalkaldischen Artikeln adäquat ausdrückt:88) „Der Papst rühmet, alle Rechte sind im Schrein seines Herzens (in scrinio sui pectoris), und was er mit seiner Kirche urteilt und heißt, das soll Geist und Recht sein, wenn's gleich über und wider die Schrift oder das mündliche Wort ist.” Mit der tatsächlichen Beiseitesetzung der Schrift ist dann auch die Proskription der christlichen Gnadenlehre gegeben. Die ganze große Maschinerie der römischen Partei ist auf Werklehre und die Autorität des Papstes eingestellt. Den Fall gesetzt, daß diese beiden Faktoren aufgegeben würden, so würde die römische Partei aus der äußeren Christenheit verschwinden.
Die reformierten Kirchengemeinschaften geben in thesi ebenfalls die göttliche Autorität der Schrift zu, und zwar mit starker Betonung der Inspiration der Schrift, namentlich bei den älteren, aber auch bei neueren Reformierten.89) Es ist weithin Mode
----------------------------
85) So das Tridentinum. Sess. IV, Decretum de editione et usu sacrorum librorum. Smets, S. 15.
86) Tridentinum, Sess.VI, ean. 11. 12. 20. Die weitere Darlegung unter dem Abschnitt „Die Papstkirche und die Lehre von der Rechtfertigung”, II, 667 ff.
87) Apologie, 151, 271: Etiamsi in ecclesia pontifices aut nonnulli theologi ac monachi docuerunt, remissionem peccatorum, gratiam et iusti-tiam per nostra opera et novos cultus quaerere, . . . mansit tamen apud aliquos pios semper cogmtio Christi.
88) M. 321, 4. 89) Gaußen, Kuhper, Böhl, Shedd, Hodge.
26 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 25-26]
geworden, den Unterschied zwischen der reformierten und der lutherischen Kirche dahin zu bestimmen, daß die reformierte Kirche „mehr ausschließlich” die Schrift Quelle der christlichen Lehre sein lasse, während die lutherische Kirche, weil mehr „historisch” und „konservativ” geartet, neben der Schrift auch die Tradition zur Geltung kommen lasse.90) Diese dogmengeschichtliche Auffassung ist sachlich unzutreffend. Die Sachlage ist klar erkennbar diese: Die reformierte Kirche, sofern sie in Zwinglis und Calvins Bahnen wandelt, setzt in den Lehren, durch welche sie sich von der lutherischen Kirche unterscheidet und als selbständige Partei in der äußeren Christenheit sich etabliert hat, das Schriftprinzip beiseite und setzt an dessen Stelle klar ausgesprochene und sehr nachdrücklich festgehaltene rationalistische Axiome.
Es geschieht dies 1. in bezug auf die von Gott geordneten Gnadenmittel. Obwohl die Aussagen der Heiligen Schrift dahin lauten, daß die göttliche Darbietung der von Christo erworbenen Vergebung der Sünden und die Hervorbringung und Stärkung des Glaubens durch die von Gott geordneten äußeren Mittel (durch das Wort des Evangeliums und durch die Taufe und das heilige Abendmahl) sich vollzieht,91) so behaupten doch Zwingli und Calvin und auch neuere Reformierte, es sei für den Heiligen Geist nicht anständig, seine Gnadenoffenbarung und seine Gnadenwirksamkeit an die äußeren, von Gott geordneten Mittel zu binden, und tatsächlich bediene sich auch der Heilige Geist, wo er zur Seligkeit wirke, nicht dieser äußeren Mittel.92) Es war dieser von den Gnadenmitteln losgelöste „Heilige Geist”, der zur Zeit der Reformation im protestantischen Lager Trennung anrichtete und die Beschuldigung erhob, daß Luther das Evangelium nicht recht erkannt habe, sondern im „Fleisch” — darunter wurde Luthers Festhalten
-------------------------------
90) Eine Zusammenstellung von Aussagen über den Charakter der lutherischen und der reformierten Kirche bei Luthardt, Dogmatik 11, S. 26 f.
91) Siehe die Abschnitte „Die Gnadenmittel im allgemeinen” und „Alle Gnadenmittel haben denselben Zweck und dieselbe Wirkung”, III, 122 ff.
92) So Zwingli, Fidei Ratio. Niemeyer, S. 24: Dux vel vehiculum Spiritui non est necessarium, ipse enim est virtus et latio, qua cuncta feruntur, non qui ferri opus habeat. Ebenso Calvin, Inst. IV, 14, 17. Der Genfer Katechismus (Niemeyer, S. 161) schärft ein: Non esse visibilibus signis inhaerendum, ut salutem inde petamus. Charles Hodge, Syst. Theol., II, 684: "Efficacious grace acts immediately.” So beschränkt auch Böhl, Dogmatik, S. 447 f., die Geltung und Wirkung des Wortes auf die vorher und unmittelbar Wiedergebornen.
27 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 26-27]
an den Gnadenmitteln verstanden — stecken geblieben sei.93) Die praktische Folge dieser Trennung der Gnadenoffenbarung und Gnadenwirksamkeit von den Gnadenmitteln ist der Rückfall in die römische „eingegossene Gnade” (gratia infusa) und somit ein Abfall von der christlichen Lehre von der Rechtfertigung. Denn alle Menschen, die sich von den äußeren Gnadenmitteln hinwegweisen lassen, gründen ihre Zuversicht zu Gott nicht auf die Vergebung der Sünden oder die gnädige Gesinnung Gottes (favor Dei propter Christum), die durch Christi satisfactio vicaria vorhanden ist, in der evangelischen Verheißung der Gnadenmittel dargeboten wird und auf Grund dieser objektiven Darbietung und Zusage geglaubt werden soll, sondern auf eine angeblich unmittelbar bewirkte innere Umwandlung, Erleuchtung und Erneurung, also auf eine Gnade, die als eine dem Menschen inhärierende gute Qualität gefaßt wird. Da aber der Heilige Geist erklärtermaßen mit einer solchen unmittelbaren Gnadenoffenbarung und Gnadenwirkung sich nicht abgibt,94) so setzen alle, die wirklich nach Zwinglis und Calvins Anweisung um die unmittelbare Erleuchtung und Erneurung sich bemühen, notgedrungen an die Stelle der wirklichen Geisteswirkung eigenes menschliches Produkt. Luthers öfter ausgesprochenes Urteil, daß „Papist und Schwärmer ein Ding” sind, entstammt nicht der „übertreibenden Polemik des 16. Jahrhunderts”, sondern ist ein vollkommen sachliches Urteil. Daß es trotz der offiziellen Ableugnung der Gnadenmittel dennoch viele Kinder Gottes in den reformierten Gemeinschaften gibt, kommt von einer Inkonsequenz her, auf die Luther oft und sonderlich auch in den Schmalkaldischen Artikeln hingewiesen hat. Würden nämlich die offiziellen Leugner der Gnadenmittel ihre Theorie in die Praxis umsetzen, so müßten sie auch ihrerseits vom Evangelium in äußerlich geredetem und in äußerlich geschriebenem Wort schweigen, um nicht des Heiligen Geistes angeblich unmittelbare Wirksamkeit zu stören. Aber statt zu schweigen, sind sie in Wort und Schrift sehr geschäftig, und sofern sie dann das Evangelium von dem für die Sünden der Welt gekreuzigten Christus lehren, geben sie dem Heiligen Geist Gelegenheit,
-------------------------------
93) Zwinglis Antwort auf Luthers Schrift „Daß diese Worte” usw., abgedruckt in der St. Louiser Ausgabe von Luthers Werken, XX, 1131 f.: „Ich (Zwingli) will dir (Luther) vor die Augen stellen, daß du den weiten, herrlichen Schein des Evangelii nicht erkannt hast, du habest denn desselben wiederum vergessen.”
94) Vgl. III, 170 ff., 175 ff.
28 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 27]
nicht ohne Wort und neben dem Wort, sondern gerade durch das Wort, also mittelbar, den Glauben an Christum zu wirken und zu erhalten.95)
2. Eine weitere Beiseitesetzung des Schriftworts auf Grund eines rationalistischen Axioms liegt auch der reformierten Leugnung der Realpräsenz des Leibes und Blutes Christi im Abendmahl zugrunde. Daß die Schriftworte vom Abendmahl prima facie nicht auf die Abwesenheit, sondern auf die Anwesenheit des Leibes und Blutes Christi lauten, wird direkt und indirekt zugegeben. Nur müßten die Abendmahlsworte so gedeutet werden, daß sie sich mit dem „Glauben” reimen. Auf die Frage nach dem Inhalt des „Glaubens”, nach dem die Abendmahlsworte zu deuten seien, bringen die alten und die neuen reformierten Lehrer nicht Schriftaussagen, sondern ein menschliches Dekret des Inhalts, daß Christi menschlicher Natur, wenn sie nicht zerstört werden solle, immer nur eine sichtbare und lokale Gegenwart (visibilis et localis praesentia) zukommen könne. Christo nach seiner menschlichen Natur soll, wie Calvin uns sehr nachdrücklich belehrt, immer nur eine Gegenwart zukommen, die über die natürliche Größe des Leibes Christi (dimensio corporis, mensura corporis) nicht hinausreiche, also nur über etwa sechs Fuß sich erstrecke und daher für die gleichzeitige Abendmahlsfeier an vielen Orten in der Welt jedenfalls nicht zureiche. Nicht nur Carlstadt und Zwingli, sondern gerade auch Calvin gründet seine Bekämpfung der Realpräsenz, auf die die Abendmahlsworte lauten, auf den Kanon, daß Christi Leib, wo er sei, notwendig stets räumliche Ausdehnung haben und sichtbar sein müsse.96) Auch in den Joh. 20,19 erwähnten geschlossenen Türen sei notwendig eine Öffnung hinzuzudenken, und Luk. 24,31 sei so auszulegen, daß nicht Christus selbst nach seiner menschlichen Natur unsichtbar geworden sei, sondern der Emmausjünger Augen zugehalten wurden.97) Kurz, der reformierten Leugnung der Realpräsenz des Leibes und Blutes Christi im Abendmahl liegt klar erkennbar die Tatsache zugrunde, daß ein menschliches Axiom gegen die Schriftaussagen geltend
--------------------------------
95) über die reformierte Selbsttäuschung III, 188 ff.
96) Inst. IV, 17,19 besteht Calvin auf einer Gegenwart des Leibes Christi, quae nec mensuram illi suam auferat vel pluribus simul locis distrahat — vel in pluribus simul locis ponitur. Inst. IV, 17, 29: Haec est propria corporis veritas, ut spatio contineatur, ut suis dimensionibus constet, ut suam faciem habeat.
97) Inst. IV, 17, 29, am Ende.
29 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 28]
gemacht wird. Calvin akzeptiert Luthers Feststellung des status controversiae: „All ihr Ding steht darauf, daß Christus' Leib müsse allein an einem Ort sein, leiblicher- und begreiflicherweise.”98)
3. Die Frage, ob die Gnade Gottes in Christo allgemein sei (gratia particularis) oder partikular (gratia particularis), meinen die calvinistischen Reformierten nicht aus den Schriftaussagen, die auf die universale Gnade lauten,99) sondern aus dem geschichtlichen „Erfolg” oder der geschichtlichen „Erfahrung” beantworten zu sollen. We must assume that the result is the interpretation of the purposes of God.”100) Das reformierte Argument, wodurch die auf die allgemeine Gnade lautenden Schriftaussagen beseitigt werden, verläuft bekanntlich so: Weil tatsächlich nicht alle Menschen selig werden, so ist der Schluß geboten, daß Christi Verdienst und Gottes Gnadenwille nicht auf alle Menschen sich erstrecke. Die Annahme eines allgemeinen Gnadenwillens bei einem partikularen Resultat wäre eine Beleidigung der göttlichen Weisheit, Macht und Majestät.101) Die stärkste Verwerfung des Schriftprinzips
------------------------
98) Ausführliche Darlegung des Motivs für die reformierte Absenzlehre III, 376 ff.
99) Joh. 1, 29; 3, 16 ff.; 1 Joh. 1, 2; 1 Tim. 2, 4—6 usw. Die ausführliche Darlegung II, 21 ff.
100) Charles Hodge, Systematic Theol. II, 323. Ebenso Calvin, Inst. III, 24, 17. 15: Quamlibet enim universales sint salutis promissiones, nihil tamen a reproborum praedestinatione discrepant, modo in carum effectum mentem dirigamus.— Experientia docet, ita [Deum] velle resipiscere quos ad se invitat, ut non tangat omnium corda.
101) Calvin beruft sich Inst. III, 24, 16 zur Widerlegung des allgemeinen Gnadenwillens auf Gottes Allmacht: Si tenacius urgeant, quod dicitur [Deum] velle misereri omnium, ego contra excipiam, quod alibi scribitur, Deum nostrum esse in coelo, ubi faciat quaeeunque velit, Ps. 115, 3. Hodge, a. a. O.: "It cannot he supposed that God intends what is never accomplished— that He adopts means for an end which is never to be attained. This cannot be affirmed of any rational being who has the wisdom and power to secure the execution of his purposes. Much less can it he said of Him whose power and wisdom are infinite.” Übrigens hat sich Calvin bei Anführung von Ps. 115, 3 eine Änderung im Wortlaut erlaubt. Die Worte: „Aber unser Gott ist im Himmel; alles, was ihm beliebt (חָפֵ֣ץ) [HEBREW]), macht er”, sind nur eine Beschreibung der Allmacht Gottes im Gegensatz zur Ohnmacht der Götzen der Heiden, wie sofort hervorgehoben wird, V. 4: „Jener Götzen find Silber und Gold, von Menschenhänden gemacht.” Durch Einschiebung eines ubi: Unser Gott ist im Himmel, „ubi faciat quaecunque velit”, verkehrt Calvin den Gedanken dahin, daß Gott im Himmel anders wolle und handle als auf Erden.
30 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 28-29]
und die entschiedenste Adoption eines spekulativen Rationalismus seitens Calvins tritt uns da entgegen, wo Calvin zum Schutze seiner gratia particularis über Christi Klage und Tränen vor Jerusalem (Matth. 23,37; Luk. 19,41 ff.) und über die zur Rettung des Volkes ausgebreiteten Arme Gottes (Ies. 65,2; Röm. 10,21) als eine zuverlässige Offenbarung des allgemeinen Gnadenwillens Gottes geradezu spottet, durch die Bemerkung, daß dadurch irrigerweise Menschliches auf Gott übertragen würde.102) Wer sorgfältig die betreffenden Partien in Calvins Institutiones liest, kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß Calvin im Interesse seiner rationalistischen Spekulation über den absoluten Gott zu einem fanatischen Bekämpfer und Verfolger aller Schriftaussagen, die auf die allgemeine Gnade Gottes in Christo lauten, wird. Die notwendige Folge der Wegdeutung der gratia universalis ist die, daß sie das Evangelium von Christo praktisch unbrauchbar macht. In dem vom Gesetz Gottes getroffenen Sünder kann der Glaube an den Sünderheiland nicht entstehen, solange die Vorstellung von einer gratia particularis das Bewußtsein beherrscht. Daß es auch unter den calvinistischen Reformierten Kinder Gottes gibt, die sich ihrer Erlösung durch Christum freuen, kommt daher, daß manche unter ihnen die gratia particularis nie angenommen haben, andere, die sie angenommen haben, unter den terrores conscientiae ihre Zuflucht zur universalis gratia nehmen, wozu inkonsequenterweise reformierte Lehrer selbst raten und so ihre Parteistellung in bezug auf die gratia particularis selbst verurteilen.103)
Neben den calvinistischen gibt es auch arminianische Reformierte. Diese wollen im Unterschied von den calvinistischen Reformierten die gratia universalis festhalten, meinen aber, dies nur so tun zu können, daß sie die sola gratia fahren lassen. Sie lehren eine menschliche Mitwirkung zur Entstehung des Glaubens.104) Diese „Beschränkung” der sola gratia ist aber ein Abfall vom Schriftprinzip, weil die Schrift die Bekehrung und Seligkeit des Men-
------------------------
102) Quod humanum est ad Deum transferri. Inst. III, 24, 17.
103) Vgl. Schneckenburgers Darlegung, daß die seelsorgerische Praxis die calvinistischen Reformierten auf den lutherischen Standpunkt von der allgemeinen Gnade treibt, in Vergleichende Darstellung d. luth. u. ref. Lehrbegriffs, I, 260 ff.
104) Die Apol. Conf. Remonstr., P. 162, behauptet, daß die Gnadenwirkung Gottes zur Bekehrung non posse exire in actum sine cooperatione liberae voluntatis humanae ac proinde, ut effectum habeat, pendere a libera voluntate.
31 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 29-30]
scheu der Alleinwirksamkeit Gottes zuschreibt.105) Zugleich wird durch diesen arminianischen Glauben, der ein teilweises Menschenwerk ist, die christliche Lehre von der Rechtfertigung χωρίς νόμον, ονκ έξ έργων, mitten ins Herz getroffen. Wie Luther gegen Erasmus, der ebenfalls die Zulassung der facultas se applicandi ad gratiam zum Zustandekommen der Bekehrung forderte, bemerkt: „Du bist mir an die Kehle gefahren.”!106)
Dasselbe gilt natürlich auch von den synergistischen Lutheranern, die ebenfalls jene arminianische Mitwirkung zur Erlangung der Gnade Gottes unter verschiedenen Ausdrücken (rechtes Verhalten, Selbstsetzung, Selbstentscheidung, geringere Schuld im Vergleich mit andern usw.) lehren und dadurch die Entstehung des christlichen Glaubens verhindern, weil der christliche Glaube zu allen Zeiten die Art an sich hat, daß er nur in zerschlagenen Herzen entsteht 107) und auf die sola gratia baut.108) Daß es unter denen, die den Synergismus in Worten und Schriften lehren, dennoch Kinder Gottes gibt, kommt daher, daß sie inkonsequent werden, nämlich vor Gott und in ihrem Gebetkämmerlein ihre eigene Lehre nicht glauben. Frank meint mit Recht, daß Melanchthon seine synergistische Theorie nie geglaubt habe.109) Welche Parteiung und Trennung aber der Synergismus in der christlichen Kirche von Melanchthon an bis auf unsere Zeit angerichtet hat, ist genugsam bekannt.
In neuerer Zeit ist eine besonders fruchtbare Quelle der Uneinigkeit und Parteiung innerhalb der äußeren Christenheit dadurch hervorgebrochen, daß die meisten als tonangebend geltenden öffentlichen Lehrer den christlichen Begriff von der Heiligen Schrift
-------------------------
105) Eph. 1, 19; Phil. 1, 29; 1 Kor. 2, 14; 1, 23. Die ausführliche Darlegung II, 546 ff. 564 ff.; III, 107 ff.
106) St. L. XVIII, 1967. Opp. v. a. VII, 367.
107) Luther, Opp. v. a. VII, 154: Quamdiu homo persuasus fuerit, sese vel tantulum posse pro salute sua, manet in fiducia sui, nec de se penitus desperat, ideo non humiliatur coram Deo, sed locum, tempus, opus aliquod sibi praesumit vel sperat vel optat saltem, quo tandem perveniat ad salutem.
108) Apologie, 97, 56: „Sooft die Schrift vom Glauben redet, meinet sie den Glauben, der auf lauter Gnade bauet.”
109) Theologie der Konkordienformel I, 135. über den Verzicht seitens theoretischer Synergisten, mit ihrem Synergismus vor Gott hinzutreten, vgl. auch Luther, De Servo Arbitrio, Opp. v. a. VII, 166; St. L. XVIII, 1729 f. Ebenso Mead, Irenic Theology, p. 163.
32 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 30-31]
aufgegeben haben. Sie leugnen nämlich, daß die Heilige Schrift Gottes eigenes und unfehlbares Wort sei. Sie geben damit die Heilige Schrift als Quelle und Norm der christlichen Lehre und eo ipso das Prinzip der Einigkeit in der christlichen Kirche auf. Denn nur die, welche an Christi Wort bleiben, erkennen die Wahrheit, wie Christus selbst sagt.”110) Und Christi Apostel, Paulus, versichert uns, daß jeder, der nicht an den gesunden Worten unsers HErrn JEsu Christi bleibt, verdüstert ist und nichts weiß.111) Die moderne Theologie, auch die sogenannte Positive, setzt an die Stelle der Heiligen Schrift als theologisches Erkenntnisprinzip die „Erfahrung” oder das „Erlebnis” des „theologisierenden Subjekts”, auch „Glaübensbewußtsein”, „christliches Bewußtsein”, „wiedergeborenes Ich” usw. genannt. Hinsichtlich dieser „theologischen Methode” herrscht in der modernen Theologie allerdings eine große Übereinstimmung. Wir lesen sogar: „Niemand gründet seine Dogmatik in altprotestantischer Art auf die norma normans, die Bibel.” 112) Aber diese allgemeine Übereinstimmung in der theologischen Methode ist -— wir führten die Worte schon früher an — „verbunden mit einer schier endlosen Fülle von Verschiedenheiten in der Anwendung dieser Grundsätze, wie sie bald mehr durch die religiöse Individualität des Dogmatikers, bald mehr durch den Grad seiner wissenschaftlichen Konsequenz verursacht wird"113) Und wie von den modernen Theologen in großer Übereinstimmung die Heilige Schrift als einzige Quelle und Norm der christlichen Lehre aufgegeben ist, so wird von ihnen auch in großer Übereinstimmung die Schriftlehre von Christi satisfactio vicaria und damit die Schriftlehre von der Rechtfertigung durch den Glauben „ohne des Gesetzes Werke” (ονκ εξ έργων) abgelehnt.114) Auf die Frage, ob bei der Leugnung der Schrift als des Wortes Gottes und bei der Leugnung der satisfactio Christi vicaria noch der christliche Glaube möglich sei, ist zu antworten: Konsequenterweise nicht. Wer Christo und seinen Aposteln Joh. 10, 36; 2 Tim. 3, 16; 1 Petr. 1, 10—12 nicht glaubt, sollte ihnen konsequenterweise auch Joh. 3,16; Matth. 20, 28; Joh. 1, 29; 1 Joh. 1, 9; Röm. 3, 28 usw. nicht glauben. Aber es kann geschehen und ist geschehen, daß jemand, der theoretisch die Inspiration der Heiligen Schrift und die stellvertretende Genugtuung Christi leugnete, in der Anfechtung und Todes-
---------------------
110) Joh. 8, 31. 32. 111) I Tim. 6, 3ff.
112) Nitzsch-Stephan, Ev. Dogmatik, S. 15.
113) A. a. O., Vorwort, IX. 114) Thieme in RE.3 XXI, 120.
33 > Wesen und Begriff der Theologie.. [English ed. 31]
not die Vergebung seiner Sünden auf Grund des Wortes der Schrift und auf Grund der stellvertretenden Genugtuung Christr glaubt. Er gibt dann aber damit seine bisher eingenommene Parteistellung auf und kehrt zurück zur Glaubenseinheit mit der christlichen Kirche, die an Christi Worten bleibt und keinen andern Grund der Zuversicht zur Gnade Gottes kennt als die Erlösung (απολύτρωοις, Loskaufung), die durch Christum JEsum geschehen ist.
So hätten wir uns durch die Vorführung der hauptsächlichsten kirchlichen Parteien davon überzeugt, daß Parteiungen innerhalb der christlichen Kirche ihren Grund in nichts anderm als in der Tatsache haben, daß die Schrift als einzige Quelle und Norm der christlichen Lehre verlassen wird und dann konsequenterweise in der einen oder andern Form auch Werklehre an die Stelle der christlichen Gnadenlehre tritt.
An die Besprechung der Parteien innerhalb der äußeren Christenheit schließt sich die vielbehandelte Frage, ob auch die lutherische Kirche unter die Parteien eingereiht werden sollte. Zur sachgemäßen Beantwortung dieser Frage ist eine Verständigung darüber nötig, was wir unter „lutherischer Kirche” und unter „Partei” verstehen. Wir verstehen unter „lutherischer Kirche” nicht alle Gemeinschaften, die sich zwar noch lutherisch nennen, sondern nur die, welche die lutherische Lehre, wie sie im Bekenntnis der lutherischen Kirche gelehrt und bekannt ist, tatsächlich lehren und bekennen. Unter Parteien verstehen wir solche kirchliche Gemeinschaften, die sich auf Grund schriftwidriger Lehren selbständig konstituiert haben. Bei diesem Verständnis von „lutherischer Kirche” und „Partei” ist zu sagen, daß die lutherische Kirche nicht eine Partei bildet, weil sie in ihrem Bekenntnis keine Sonderlehren vertritt, sondern nur die Lehre bekennt und lehrt, die nach Gottes Willen und Ordnung alle Christen bekennen und lehren sollen. Dies ist der ökumenische Charakter der Kirche der Reformation. Einerseits identifiziert sich die lutherische Kirche nicht mit der nna sanota, sondern bekennt vielmehr, daß Kinder Gottes auch in solchen Gemeinschaften sich finden, in denen neben Menschenlehren noch so viel von dem Evangelium laut wird, daß dadurch der Glaube an Christum als den einzigen Sündentilger entstehen kann. Andererseits erhebt die lutherische Kirche den Anspruch, daß sie die Kirche der reinen Lehre sei, das heißt, daß ihre Lehre in allen Stücken mit der Heiligen Schrift übereinstimme und nach Gottes Willen von allen Menschen zu glauben und anzunehmen sei. Der Beweis für diesen ökumenischen Charakter
34 > Wesen und Begriff der Theologie.. [English ed. 32-33]
der lutherischen Lehre ist natürlich auf dem Wege der Induktion zu führen. Wie Luther in seinem Glaubensbekenntnis vom Jahre 1529 sagt:115) „Ob jemand nach meinem Tode würde sagen: Wo der Luther jetzt lebte, würde er diesen oder diesen Artikel anders lehren und halten, denn er hat ihn nicht genugsam bedacht usw.: dawider sage ich jetzt als dann und dann als jetzt, daß ich von Gottes Gnaden alle diese Artikel aufs fleißigste bedacht, durch die Schrift und wieder herdurch oftmals gezogen und so gewiß dieselbigen wollte verfechten, als ich jetzt habe das Sakrament des Altars verfochten.” — Hier sei nur noch darauf hingewiesen, daß die lutherische Kirche das Examen in bezug auf die Schriftmäßigkeit ihrer Lehre auch an dem Punkte besteht, an welchem die große Mehrzahl der Theologen seit Augustin bis auf die neueste Zeit aus rationalistischen Erwägungen das Schriftprinzip verlassen hat. Wir meinen den Punkt, den man die crux theologorum genannt hat und den wir als die schwerste Belastungsprobe für das Festhalten am Schriftprinzip bezeichnen möchten. Man meint nämlich in bezug aus die Gnade Gottes, daß die universalis gratia und die sola gratia nicht beide zumal festgehalten werden könnten. Die Calvinisten behaupten, wie wir sahen, daß zur Rettung der sola gratia die universalis gratia preiszugeben sei; die Synergisten fordern, daß zur Rettung der universalis gratia die sola gratia geopfert werde. Beides zugleich festzuhalten, sei unmöglich. Die lutherische Kirche ist sich der Schwierigkeit, die hier für das menschliche Begreifen vorliegt, klar bewußt. Dennoch hält sie beides, sowohl die universalis gratia als auch die sola gratia, ohne Einschränkung fest, weil beide Lehren klar in der Schrift bezeugt sind. Sie erwartet die Lösung der Schwierigkeit, die hier für das menschliche Begreifen vorliegt, im ewigen Leben.116)
Zur Besprechung der Parteien innerhalb der äußeren Christenheit gehört auch ein Hinweis auf die Motive für die Abweichung von der Schriftlehre und die meistens sich anschließende Parteibildung. Die Heilige Schrift kennt für diese abnorme Erscheinung innerhalb der christlichen Kirche keine edlen, sondern nur fleischliche Motive.
------------------------
115) St. L. XX, 1094 ff. Erl. 30, 363 ff.
116) F. C. 709, 28. 29 ; 557, 17—19 (Bekenntnis zur gratia universalis).— F. C. 525, 9—11; 716, 57—64 (Bekenntnis zur sola gratia und Verzicht auf die Lösung der hier für das menschliche Begreifen vorliegenden Schwierigkeit in diesem Leben). Ebenso Luther, De Servo Arbitrio, Opp. v. a. VII, 365, St. L. XVIII, 1965 f.
35 > Wesen und Begriff der Theologie.. [English ed. 33-34]
Das Urteil der Schrift steht in scharfem Gegensatz zu dem Urteil neuerer Theologen aller Schattierungen, die für die Abweichung von der Schriftlehre nicht nur eine Reihe edler Motive, wie wissenschaftlichen Sinn, Wahrheitssinn usw., annehmen, sondern auch „verschiedene Richtungen in der Kirche für von Gott intendiert und der Kirche nützlich” erklären. Aber die Schriftaussagen, welche das gegenteilige Urteil zum Ausdruck bringen, sind zahlreich und sehr bestimmt. Wie die Schrift oft und ernst vor der Abweichung von der Lehre der Apostel, die Christi eigene Lehre ist, warnt,117) so weist sie auch reichlich auf die Beweggründe für dieses Tun hin. In allgemeiner Bezeichnung nennt sie als Beweggrund das eigene Interesse: „Solche dienen nicht dem HErrn JEsu Christo, sondern ihrem Bauche, und durch süße Worte und prächtige Reden verführen sie die unschuldigen Herzen.”118) Spezialisierend nennt sie: Aufgeblasenheit in eigener Weisheit,119) Ehre vor Menschen,120) Kreuzesscheu,121) Neid.122) Die mildeste Bezeichnung des Beweggrundes ist „Unwissenheit”.123) Die Qualität der Motive bestätigt auch die Kirchengeschichte. Novatian wäre Wohl nicht der Vater des Novatianismus und der novatianischen Spaltung geworden, wenn er, und nicht Cornelius, zum Bischof von Rom erwählt worden wäre.124) Auch Zwingli wäre schwerlich als Reformator neben und Wider Luther aufgetreten, wenn er nicht gemeint hätte, Luther wäre nur „ein redlicher Ajax oder Diomedes unter viel Nestoren, Ulyssen, Menelaen”.125) Es liegt nicht außerhalb des Rahmens einer Dogmatik, nachdrücklich auch darauf hinzuweisen, daß die böse Art, welche dem Abfall vom Schriftwort und der Parteibildung zugrunde liegt, nicht bloß Novatian, Zwingli und den Parteistiftern der apostolischen Zeit eigen war, sondern in uns allen sich findet und auch unter uns fortwährend wirksam ist. Wir erfahren es in den einzelnen Gemeinden, in der Synode und in den Verbindungen von Synoden, wie Ehrgeiz, Neid, persönliche Zu- und Abneigungen sich regen und in Parteibildung und Trennung auszuarten drohen. Multae in ecclesia haereses ortae sunt tantum odio doctorum.126) Es steht
----------------
117) Röm. 16,17. 118) Röm. 16,18. 119) 1 Tim. 6, 3.
120) Joh. 5, 44. 121) Gal. 6,12. 122) Matth. 27,18.
123) 1 Tim. 6,3; Joh. 16, 3; 1 Tim. 1,13.
124) Seeberg, Dogmengeschichte I, 138. So auch F. H. Foster in Concise Dictionary, von Jackson, Chambers und Foster: "The theoretical difference grew out of a personal one.”
125) St. L. XX, 1134. 126) Apol. 128,121.
36 > Wesen und Begriff der Theologie.. [English ed. 34-35]
daher so: Wo die Einigkeit in der christlichen Lehre vorhanden ist und erhalten bleibt, da ist das in keiner Weise das Resultat unserer Kraft, Weisheit und Geschicklichkeit, sondern ein Werk der göttlichen Gnade und Kraft allein. Das lehrt die Schrift,127) und das kommt auch in unsern Kirchengebeten zum Ausdruck.128)
6. Das Christentum als absolute Religion. ^
Die christliche Religion ist allerdings die „absolute”, das ist, schlechthin vollkommene, Religion, die einer Ergänzung oder Verbesserung weder bedürftig noch fähig ist und daher auch nicht überboten werden kann. Aber dies Prädikat der Absolutheit kommt der christlichen Religion nicht zu, insofern sie ein „logisch vollkommenes Ganzes” bildet. Das logisch vollkommene Ganze im Sinne des menschlichen Erkennens lehnt der Apostel Paulus ab, wenn er die religiöse Erkenntnis, die den Christen, den hohen Apostel eingeschlossen, in diesem Leben eignet, ausdrücklich eine fragmentarische nennt, άρτι γινώοκω έκ μέρους.129) Die christliche Religion sollte ferner nicht absolut genannt werden, insofern sie die „vollkommenste Moral” lehrt. Freilich lehrt die christliche Religion die vollkommenste Moral. Die christliche Moral kann unmöglich überboten werden, weil sie den Inhalt hat: „Du sollst lieben Gott, deinen HErrn, von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüte” und: „Du sollst deinen Nächsten lieben als dich selbst.”130) Aber diese vollkommene Moral ist erst eine Folge und Wirkung der christlichen Religion. Sowohl die Liebe zu Gott als auch die Liebe zum Nächsten ist eine Tochter des Glaubens, „daß Gott uns geliebet hat und gesandt seinen Sohn zur Versöhnung für unsere Sünden”.131) Paulus begründet seine Ermahnung zu einem christlich-moralischen Leben so: „Ich ermahne euch durch die [in Christo erschienene] Barmherzigkeit Gottes, daß ihr eure Leiber begebet zum Opfer, das da lebendig, heilig und Gott wohlgefällig sei.”132)
------------------
127) Joh. 17, 11. 12. 15. 20. 21; Ps. 86, 11 usw.
128) Z. B. in der Kirchenagende der Missourisynode, S. 44 f. 58 f. S. Walther, Pastorale, Anm. 1, S. 389 f.
129) 1 Kor. 13,12. Weiteres hierüber unter dem Abschnitt „Theologie und System”.
130) Matth. 22, 37—40. 131) 1 Joh. 4, 9—21.
132) Röm. 12, 1. Hieran ist auch bei Nitzsch-Stephan, S. 147, erinnert: „Der erste Mangel der (ethischen) Kantischen Fassung haftet auch allen den Deutungen an, welche die Vollkommenheit der christlichen Religion schon durch die
37 > Wesen und Begriff der Theologie.. [English ed. 35]
Die christliche Religion ist aus einem doppelten Grunde „absolut” oder schlechthin vollkommen und unüberbietbar.
Erstlich deshalb, weil sie zur Versöhnung mit Gott nicht, wie alle nichtchristlichen Religionen, des Menschen eigene Werke oder eigene Tugend fordert, sondern im Gegenteil Glaube an die vollkommene und unüberbietbare Versöhnung ist, die dadurch zustande kam, daß Gott in Christo war und die Welt mit sich selbst versöhnte.133) Noch anders ausgedrückt: Die christliche Religion ist deshalb schlechthin vollkommen, weil sie nicht eine moralische Anweisung ist, wie die Menschen sich selbst Vergebung der Sünden erwerben können, sondern im Gegenteil Glaube an die Vergebung der Sünden, die durch Christi stellvertretende Gesetzeserfüllung und stellvertretendes Strafleiden erworben wurdet und die nun in der Verheißung des Evangeliums dem Glauben zur Aneignung dargeboten wird.135) In dieser Tatsache, daß durch Christi satisfactio vicaria die Versöhnung oder Vergebung der Sünden vorhanden ist und im Evangelium verkündigt wird, ist es begründet, daß ein Mensch in demselben Augenblick, in welchem er durch Wirkung des Evangeliums 136) zum Glauben an das Evangelium kommt, durch diesen Glauben — ohne des Gesetzes Werk,χωρίς έργων νόμου — vor Gott gerecht 137) oder, was dasselbe ist, vor Gott vollkommen (πεπληρωμένος, τέλειος) wird.138) Denn Gott hält es
------------------------------
Bestimmung hinreichend bezeichnet glauben, daß sie die Religion der (auf Gott und Menschen gerichteten) Liebe sei. Zwar wird in keiner andern Religion die unbeschränkte Liebespflicht so in den Mittelpunkt gestellt wie im Christentum. Aber bloße Pflichten konstituieren keine Religion; und die Liebe, die der Christ erweist, hat nach dem christlichen Glauben nicht nur zum Korrelat, sondern auch zur Voraussetzung und zum Möglichkeitsgrunde die von seiten Gottes in der Erlösung und Sündenvergebung zuvor erfahrene Liebe.” Richtig sagt auch Ihmels, „Zentralfragen”, S. 51, „daß für eine Beurteilung einer sittlichen Gesamterscheinung doch nicht die einzelnen äußeren Züge das Entscheidende sein können, sondern lediglich die Motive, aus denen das sittliche Handeln stammt”.
133) 2 Kor. 5, 18.19. 134) Gal. 4, 4. 5; 3,13.
135) Apost. 26, 18; Luk. 24, 46. 47. 136) Röm. 10, 17; 1 Kor. 2, 4.5.
137) Röm. 3, 28: Λογιζόμεθα ονν πίστει δικαιονσθαι άνθρωπον χωρίς έργων νόμον. Röm. 5, 1: Δικαιωθέντες ονν έκ πίστεως κτλ.
138) Kol. 2, 10: „Ihr seid vollkommen in ihm”, nämlich in Christo, έστε έν αντφ πεπληρωμένοι.. Diese Aussage bezieht sich nicht auf „besonders geförderte” Christen, sondern auf alle, die Christum durch den Glauben angenommen haben, V. 5—7; also auf alle Christen. Und diese Vollkommenheit sollen sich die Christen nicht streitig machen lassen durch die Prätensionen der Philosophie, V. 8. Die Philosophie nämlich, die auf dem Gebiet der Religion sich geltend macht, kann doch
38 > Wesen und Begriff der Theologie.. [English ed. ~36]
also, daß dem in sich Gottlosen (ασεβής) sein Glaube zur Gerechtigkeit gerechnet wird,139) oder was wiederum dasselbe ist, daß Christi vollkommene Gerechtigkeit des Sünders eigene Ungerechtigkeit bedeckt.140) Zur Wahrung des absoluten Charakters der christlichen Religion gehört daher, daß wir voll und ganz an der satisfactio Christi vicaria festhalten. Wollten wir mit Rom zur Erlangung der Versöhnung mit Gott auch „die eingegossene Gnade”, das Halten
---------------------------
nur als leerer Betrug, κενή απάτη, eingeschätzt werden, weil sie Menschenlehre ist (κβτά τήν παράδοσιν τών ανθρώπων), dürftiges Wissen der Welt (κατά τα στοιχεία τοϋ κόσμον), nämlich Gesetz (so richtig von Neueren auch Cremer im Wörterbuch sub στοιχεϊον). Die Christen hingegen haben ihr „Lehrnormativ” (Meyer) an Christo (κατά Χρίστον), und daß sie dadurch vollkommen sind, begründet der Apostel mit einem Hinweis auf die hohe Person Christi und auf den ihnen durch Christum gewordenen Besitz. Seiner Person nach ist Christus nicht ein bloßer Mensch, sondern der, in welchem die ganze Fülle der Gottheit leiblich wohnt, der auch Uber die Engelwelt erhaben ist, so daß die Christen von dieser Seite (von der Engelwelt her) keine höhere Vollkommenheit zu erwarten haben, wie die Irrrlehrer behaupteten, V. 16. Was den Besitz der Christen betrifft, der ihnen in Christo geworden ist, so sind sie durch „die Beschneidung Christi”, die Taufe, vom Sündentode zum geistlichen Leben gekommen, weil Christus ihnen alle ihre Sünden vergab, welche Sündenvergebung in Christi satüs-kactio vioaria ihren Grund hat, nämlich darin, daß Christus die durch das Gesetz entstandene Schuldschrift (χειρόγραφον) durch seinen Tod am Kreuz ausgelöscht hat. Meyer: „Der objektive Sühnakt durch den Tod Christi war vorangegangen und wird V. 14 beschrieben.” Auch in 1 Kor. 2, 6: „Weisheit aber reden wir unter den Vollkommenen”, σοφίαν δε λαλονμεν έν τοΐς τελείοις, sind die „Vollkommenen”, τέλειοι, nicht die „gereiften”, „in die höhere Sphäre gründlicher und umfassender Einsicht”, sonderlich in „die künftigen Verhältnisse des Messiasreichs” eingedrungenen Christen (Meyer usw.), sondern nach dem vorhergehenden und nachfolgenden Kontext alle, die durch Wirkung des Heiligen Geistes das der Welt, auch ihren Obersten, verborgene Evangelium von Christo, dem Gekreuzigten, glauben, also alle Christen (Luther, Olshausen usw.). Vgl. die Aufzählung und Rezension der verschiedenen Auslegungen bei Wolf, Curae, z. St., mit dem Resultat: Mihi quidem cum beato Luthero nostro et plerisque aliis interpretibus prior placet sententia, ut scilicet per τελείους intelligantur credentes, quos cap. 1, 24 appellaverat κλητούς, i. e., tales, qui factae vocationi obtemperassent. Es ist in dem ganzen Zusammenhang nicht von „zukünftigen Verhältnissen des Messiasreichs” die Rede (eine Auffassung, bei der chiliastische Ideen Hineinspielen), auch nicht speziell von der zukünftigen Seligkeit der Christen, wie V. 9 gelegentlich angewendet wird, sondern von dem, was dis Christen gegenwärtig durch den Glauben an das Evangelium von dem gekreuzigten Christus haben.
139) Röm. 4, 5.
140) 1 Joh. 2,1. 2: Ob jemand sündiget, παράκλητον έχομεν προς τον πατέρα, Ίησονν Χριστόν δίκαιον.
39 > Wesen und Begriff der Theologie.. [English ed. 36-37]
der Gebote Gottes und der Kirche fordern 141) oder mit den neueren Protestanten, die „die Umprägung des menschlichen Lebens in seine göttliche Gestalt” (also die Heiligung und die guten Werke) für den Wert des Erlösungswerkes Christi vor Gott „mitbegründend” sein lassen,142) so würden wir die christliche Religion ihres spezifischen Charakters berauben, nämlich sie auf das Niveau der Gesetzesreligionen Herabdrücken und damit an die Stelle der Gewißheit der Gnade und der Gotteskindschaft das monstrum ineertituäinis setzen. Halten wir hingegen an Christi satisfactio vicaria fest und damit auch an Röm. 3,28 und 5, 1 ff., dann ist uns eo ipso das Christentum die absolute Religion, über welche hinaus es keine Entwicklung und kein Höheres geben kann. Wir theologischen Lehrer unserer Zeit haben die Pflicht, die Studierenden mit großem Ernst vor allen neueren „Sühnetheorien” zu warnen, die Christi satisfactio vicaria als zu „juridisch” und „äußerlich” teils ausdrücklich verwerfen, teils doch als verbesserungsbedürftig bezeichnen.”143)
Die christliche Religion ist zum andern deshalb vollkommen und unüberbietbar, weil sie nicht Menschenwort, sondern Gottes eigenes Wort, das über alle menschliche Kritik erhaben ist, zur einzigen Quelle und Norm hat. Für die Kirche unserer Zeit ist dies das geschriebene Wort Gottes, die Heilige Schrift (sola Scriptura). In bezug auf die Heilige Schrift aber müssen wir nach dem normativen Beispiel Christi und seiner Apostel 144) festhalten, daß sie, obwohl durch Menschen geschrieben, dennoch nicht eine Mischung von Menschen- und Gotteswort, sondern Gottes eigenes und daher unverbrüchliches Wort ist, wie unter dem Abschnitt von der Inspiration der Schrift näher dargelegt wird. Wollten wir die Heilige Schrift nicht für Gottes eigenes, unverbrüchliches Wort, sondern für eine Mischung von Gottes- und Menschenwort halten, so würde sie notwendig Objekt der menschlichen Kritik, und mit der absoluten Beschaffenheit der christlichen Religion wäre es aus. Die menschliche Kritik überbietet sich im Laufe der Zeit, so daß sie nach fünfundzwanzig Jahren oder noch früher das verwirft, was sie heute noch als zum Wesen der christlichen Religion gehörend
---------------------------
141) Tridentinum, 8ess. VI, ean. 11. 12. 20.
142) So z. B. Kirn, Grundriß 3, S. 118. Hiermit wird die „Bürgschaftstheorie” an die Stelle der satisfactio Christi vicaria gesetzt.
143) Vgl. II, 429 ff. den Abschnitt „Nähere Beschreibung moderner Versöhnungstheorien”.
144) Joh. 10, 35; 2 Tim. 3, 16. 17; 1 Petr. 1, 10—12; Eph. 2, 20.
40 > Wesen und Begriff der Theologie.. [English ed. 37-38]
festhalten will. Adolf Harnack, der auf dem Wege der angeblich „geschichtlichen” Kritik zwischen Wesentlichem und Unwesentlichem in der christlichen Religion unterscheiden will, sagt von seinem Standpunkt aus ganz richtig: „Ich meine, nach einigen hundert Jahren wird man auch in den Gedankengebilden, die wir zurückgelassen haben, viel Widerspruchsvolles entdecken und wird sich wundern, daß wir uns dabei beruhigt haben. Man wird an dem, was wir für den Kern der Dinge hielten, noch manche harte und spröde Schale finden; man wird es nicht begreifen, daß wir so kurzsichtig sein konnten und das Wesentliche nicht rein zu erfassen und auszuscheiden vermochten.145) Nicht alle neueren Theologen stehen der göttlichen Autorität der Heiligen Schrift in dem Grade negativ gegenüber wie Harnack. Aber auch die Theologen, welche zwar als positiv klassifiziert werden, aber ebenfalls die Inspiration und damit die unfehlbare göttliche Autorität der Schrift preisgegeben haben, täuschen sich, selbst, wenn sie meinen, daß sie bei ihrer kritischen Stellung zur Schrift das Christentum als absolute Religion festhalten können. Indem sie die christliche Religion anstatt aus ihrer göttlichen Quelle, der Schrift, aus dem „christlichen Ich” oder dem „christlichen Glaubensbewußtsein” oder dem „religiösen Erlebnis” usw. schöpfen wollen, verlegen sie die christliche Religion auf das Gebiet der subjektiven menschlichen Meinung, und an die Stelle der „absoluten” christlichen Religion tritt zugestandenermaßen, wie wir bereits hörten, „eine schier endlose Fülle von Verschiedenheiten” der religiösen Auffassung. Daher haben die theologischen Lehrer unserer Zeit die Pflicht, die Studierenden mit großem Ernst vor allen neueren Theologen zu warnen, die die Heilige Schrift nicht als Gottes unfehlbares Wort gelten lassen. Kurz, wer das Christentum als die absolute Religion festhalten will, muß sowohl Christi stellvertretende Genugtuung als auch die Heilige Schrift als Gottes Wort festhalten.
Es mag hier auch auf die Tatsache hingewiesen werden, daß nach der Lehre der Schrift die christliche Religion von allem Anfang an als „absolute” aufgetreten ist. Der Einwand, daß die christliche Religion in die Reihe der geschichtlichen Erscheinungen gehöre, alles Geschichtliche aber immer nur relativen, wicht absoluten Charakter tragen könne, ist nicht stichhaltig. Der Einwand schließt eine petitio principii in sich. Er setzt als selbst-
----------------------
145) Wesen des Christentums 3, S. 35
41 > Wesen und Begriff der Theologie.. [English ed. 38-39]
verständlich voraus, daß der allmächtige, die Geschichte durchwaltende Gott nicht so in die „Geschichte der Menschheit” eingreifen konnte oder wollte, daß er sofort nach dem Sündenfall der Menschheit Christum als den Erretter aus Sündenschuld und Tod offenbarte. Ein solcher Eingriff Gottes in die Geschichte der Menschheit liegt aber tatsächlich vor, wie die Schrift sehr klar und nachdrücklich berichtet. Wenn unmittelbar nach dem Sündenfall die göttliche Verheißung dahin lautet, daß der Weibessame der Schlange den Kopf zertreten, also des Teufels Werke, die Sündenschuld und den Tod, unter den Menschen abtun werde, so ist damit bereits ausgesagt, daß kein anderer und nichts anderes das Menschengeschlecht aus Sündenschuld und Tod erretten werde als das Vertrauen auf das Werk des Weibessamens. Diese Absolutheit der christlichen Religion ist durch die ganze Schrift Alten Testaments gelehrt, wie Petrus Apost. 10, 43 uns versichert, daß von Christo alle Propheten zeugen, daß durch seinen Namen alle, die an ihn glauben, Vergebung der Sünden empfangen sollen. Ebenso sagt Christus selbst, daß die ganze Schrift Alten Testaments ihn (Christus) als Geber des ewigen Lebens bezeuge und insonderheit auch Abraham bereits an ihn geglaubt habe.146) Was die Schrift von Bundesänderung und dem Altwerden (παλαιοϋσθαι) eines Bundes sagt,147) bezieht sich nicht auf das Evangelium von Christo, sondern auf den zwischeneingekommenen Gesetzesbund von Sinai.148) Kurz, nach der Schrift steht es fest, daß die christliche Religion von allem Anfang an in die Geschichte der Menschheit eingetreten ist, nicht als andern Religionen koordiniert, auch nicht als andere Religionen in sich ausnehmend und sie ergänzend, sondern als die absolute Religion in dem scharf ausgeprägten Sinne, daß sie den Weibessamen in seinem Erlösungswerk als den einzigen Erretter von Sündenschuld und Tod für die ganze Menschheit darstellt und damit alle andern Religionen, wie sie Namen und Gestalt haben mögen, für Irrwege und für nicht existenzberechtigt erklärt. Wir sollten daher auch nicht von der christlichen Religion als der „höchsten”, „vollkommensten” Religion, als der „Klimax” der Religionen usw. reden, weil durch solche Ausdrücke die Vorstellung erweckt wird, als ob zwischen dem Christentum und den nichtchristlichen Religionen nur ein gradueller Unterschied stattfinde, während der Unterschied doch nach dem Ursprung (God-made, man-made)
-------------------------
146) Joh. 5, 46. 39; 8, 56. 147) Jer. 31, 31—34; Hebr. 8, 6—13.
148) Gal. 3,17 ff.
42 > Wesen und Begriff der Theologie.. [English ed. 39-40]
nach dem Wesen (Evangelium, Gesetz) und darum nach dem Resultat für die Menschen (Hoffnungslosigkeit, Gewißheit der Seligkeit) ein spezifischer ist. Das Christentum verhält sich zu allen nichtchristlichen Religionen nicht wie Licht zum Halbdunkel, sondern wie Licht zur Finsternis,149) nicht wie Gottesdienst zu einem wenigstens geringen Anfang von Gottesdienst, sondern wie Gottesdienst zum Dämonendienst,150) nicht wie Leben und ein Lebensanfang, sondern wie Leben und Tod.151 Das Christentum bietet nicht bloß die „höchste Befriedigung”, sondern die einzige Befriedigung.152)
Es ist gegen den absoluten Charakter des Christentums auf den Unterschied zwischen dem Alten und Neuen Testament hingewiesen worden. Dieser Unterschied ist Tatsache, aber nur hinsichtlich der Klarheit und Fülle der Offenbarung, nicht hinsichtlich des Inhalts der göttlichen Offenbarung, daß nur der Glaube an Christum ohne des Gesetzes Werke der einzige Lebensweg für die Menschheit ist. Christus ruft den Juden zu: „Werdet ihr nicht glauben, daß ich es sei, so werdet ihr sterben in euren Sünden.”153) Aber gleichzeitig verwahrt er sich dabei gegen die Auffassung, daß er damit ein Novum lehre. Er erklärt sich für den eigentlichen Inhalt der Schrift Alten Testaments.154) Ebenso verwahrt sich Paulus gegen die irrige Meinung, daß er mit seiner Lehre von der Rechtfertigung aus Gnaden durch den Glauben an Christum unter Ausschluß des Gesetzes eine neue Weise der Gerechtigkeit vor Gott lehre; denn die Weise χωρίς νόμον sei vom Gesetz und den Propheten bezeugt 155) und die einzig richtige histrische Auffassung der im Alten Testament gelehrten Religion.156)
7. Christliche Religion und christliche Theologie. ^
Man unterscheidet in kirchlichem Sprachgebrauch christliche Religion und christliche Theologie, und zwar in der Weise, daß Religion (subjektiv genommen) die Gottesgelehrtheit aller Christen und Theologie (subjektiv genommen) die besondere Gottesgelehrtheit der Lehrer der Kirche bezeichnet. Diese Unterscheidung kann man sich gefallen lassen. Die Schrift lehrt sowohl,
----------------------------------
149) Eph. 5, 8: ‘Ητε γάρ ποτε σκότος, νυν δε φως εν κνρίω.. Derselbe Gegensatz Ies. 9,2 ff.; 60, 2.
150) 1 Kor. 10,20; Apost. 26,18. 151) Eph. 2,1—5.
152) Röm. 5,1 ff.; Gal. 2, 16. 153) Joh. 8, 24.
154) Joh. 5, 39. 155) Röm. 3, 21 ff.
156) Kap. 4 des Römerbriefs,
43 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 40]
daß allen Christen Gottesgelehrtheit zukommt,157) als auch, daß den Lehrern der Christen eine besondere Gottesgelehrtheit eigen sein soll.158) Bei dieser Unterscheidung ist jedoch festzuhalten, daß beide Arten von Gottesgelehrtheit, also nicht nur die aller Christen, sondern auch die der Lehrer, nur die Heilige Schrift zur Erkenntnisquelle haben. Neuere Theologen verhandeln, ohne eine Einigung erzielt zu haben, über das Verhältnis zwischen „religiösem” und „theologischem Erkennen”. Die einen wollen es „möglichst ineinandergerückt”, die andern möglichst geschieden haben. In der Gegenwart wird viel über den Unterschied zwischen „religiösem” und „theologischem Erkennen” gehandelt.159) Vom christlichen Standpunkt aus ist festzuhalten: „Religiöses Erkennen” und „theologisches Erkennen” unterscheiden sich nicht prinzipiell, auf die Erkenntnisquelle und das Erkenntnismedium gesehen, sondern fallen prinzipiell zusammen, weil auch des theologischen Erkennens Anfang, Mitte und Ende nichts anderes ist, als Gottes Wort, wie es in der Schrift geoffenbart vorliegt, glauben. Der Grund ist der, daß auch die Theologen oder die Lehrer der Kirche in ihrer Erkenntnis der christlichen Lehre nicht um eine Linie über Gottes Offenbarung in seinem Wort hinauskommen, wie die Schrift so oft und mannigfaltig bezeugt.160)
---------------------------
157) Joh. 6, 45: πάντες (von allen Christen ist die Rede) διδακτοί τον θεοϋ
158) Die rhetorische Frage I Kor. 12, 29: Μή πάντες διδάσκαλοι; hat den Sinn: Nicht alle Christen sind Lehrer. Auch ITim. 3, 2: „Es soll aber ein Bischof sein . . . lehrhaftig” (διδακτικός), bezeichnet lehrhaftig einen besonderen Grad der Lehrhaftigkeit, wie auch V. 5 noch ausdrücklich hervorgehoben wird, weil der Bischof nicht bloß sich selbst und sein eigenes Haus, sondern auch die Gemeinde Gottes versorgen soll. Deshalb gibt Paulus auch Timotheus, 2 Tim. 2, 1, den Auftrag: „Was du von mir gehöret hast, das befiehl treuen Menschen, die da tüchtig sind, auch andere zu lehren”, οΐτινες ικανοί έ'σονται καί ετέρους διδάξαι. Aus den Verzeichnissen der Eigenschaften, die an den zu bestellenden Lehrern sich finden sollen (1 Tim. 3, 1 ff.; Tit. 1, 5—11), geht hervor, daß die Lehrer nicht etwa durch das Los, sondern nach besonderen Eigenschaften, zu welchen auch die besondere Lehrtüchtigkeit gehört, gewählt werden sollen.
159) Vgl. z. B. Richard Grützmacher, Studien zur dogm. Theol., 3. Heft, S. 120 ff.
160) Nach Joh. 8, 31. 32 wird die Erkenntnis der Wahrheit (γνώσεσθε τήν αλήθειαν) nur durch das Bleiben an Christi Wort, das wir im Wort der Apostel haben (Joh. 17, 20), vermittelt, und das Bleiben an Christi Wort vollzieht sich immer nur in der Weise, daß Christi Wort geglaubt wird. Insofern ein Lehrer nicht bei Christi Worten bleibt, kommt ihm nicht Erkenntnis, sondern Unwissenheit zu (1 Tim. 6, 3. 4).
44 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 41-42]
Die Lehrbücher, in denen die Gottesgelehrtheit aller Christen nach den Hauptstücken zusammengestellt ist (Religion objektiv genommen), werden gewöhnlich Katechismen, Religionslehre, Handbücher der christlichen Lehre usw. genannt.161) Die Lehrbücher, in denen die besondere Gottesgelehrtheit der Lehrer der Kirche zur Darstellung kommt, gehen in kirchlichem Sprachgebrauch unter den Namen: Lehrbücher der Theologie (Theologie objektiv genommen), Dogmatik, systematische Theologie, wissenschaftliche Theologie, die christliche Lehre in wissenschaftlicher Darstellung; in älterer Zeit: loci communes, systema theologiae Christianae usw. In englischer Sprache und auch in unserm Lande sind wohl die am meisten gebrauchten Ausdrücke: Doctrinal Theology, Systematic Theology, Dogmatic Theology oder auch kurz Christian Dogmatics. In welchem Sinne — und in welchem Sinne nicht — die Ausdrücke „Wissenschaft” und „System” auf die Theologie anwendbar sind, wird der Wichtigkeit wegen unter den Abschnitten „Theologie und Wissenschaft” und „Theologie und System” näher dargelegt werden.
8. Die christliche Theologie. ^
Die Etymologie und somit die Wortbedeutung von „Theologie” ist nicht, wie bei dem Wort „Religion”, zweifelhaft. Θεολογία ist offenbar λόγος περί τον θεόν und bezeichnet, subjektiv genommen, die Kenntnis von Gott oder die Gottesgelehrtheit; objektiv genommen, die Lehre von Gott.162) Ähnliche Wortbildungen sind Psychologie, Physiologie, Biologie, Astrologie usw. Thomas von Aquino sagt bekanntlich von der Theologie: Theologia a Deo docetur, Deum docet et ad Deum ducit.163) Das ist sachlich richtig. Mit Recht erinnert aber Baier: Nomen θεοϋ in compositione cum nomine λόγος obiectum denotat.164)
-------------------------
161) Vgl. Zezschwitz, RE.2 VII, 585 ff. Luther bezeichnet den Inhalt des Katechismus in der „Kurzen Vorrede” zum Großen Katechismus als „einen Unterricht für die Kinder und Einfältigen”, als „eine Kinderlehre, so ein jeglicher Christ zur Not wissen soll, also daß, wer solches nicht weiß, nicht könnte unter die Christen gezählt und zu keinem Sakrament zugelassen werden”, über Katechismen im allgemeinen und Luthers Katechismus im besonderen mit Angabe auch der neueren Literatur cf. F. Bente in Concordia Triglotta, Histor. Introduction, S. 62—93. [see BookOfConcord here to here]
162) Luthardt, Kompendium, S. 3. Walther, L. u. W. 14, 5. Augustinus, De Civ. Dei VIII, 1 [lines 15-16; English ed. The City of God here]: Verbo Graeco [theologiae] significari intelligimus de divinitate rationem sive sermonem.
163) Bei Quenstedt, Systema 1,1. 164) Comp., ed. Walther, I, 2.
45 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 42]
Was den Sprachgebrauch (usus loquendi) betrifft, so kommt das Wort Theologie in der Heiligen Schrift nicht vor. Die alten Theologen sagen: Theologia est vox non έγγραφος, sed άγραφος, quamvis non άντίγραφος. Zur Überschrift der Offenbarung St. Johannis: 3Ιωάννου τον θεολόγον bemerkt Calov nach Gerhard: Theologi nomen non Iohannes sibi sumpsit, sed qui inscriptionem libri fecit.165) In bezug auf den Sprachgebrauch ist weiter zu bemerken, daß das Wort Theologie und Theologe nicht nur in der christlichen Kirche, sondern auch bei den Heiden gefunden wird. Und das kann uns nicht befremden. Weil die Heiden wissen, daß es einen Gott gibt,166) so haben sie sich auch um eine Kenntnis und Lehre von Gott bemüht und die Leute, welche hierin nach ihrer Meinung etwas Besonderes geleistet haben, „Theologen” und das Resultat ihrer Bemühung „Theologie” genannt. Beispiele hierfür sind reichlich vorhanden.167) Calov sagt daher: Si primam vocis theologiae impositionem attendas, videtur ea gentilibus tribuenda, a quibus postmodum in ecclesiae usum dimanavit.168)
Was den Sprachgebrauch innerhalb der christlichen Kirche betrifft, so ist das Wort „Theologie” und auch das Konkretum „Theologe” nicht immer in demselben Sinne gebraucht worden. Dabei sollte im voraus an folgendes erinnert werden: Weil es sich bei den Worten nicht um einen in der Schrift gegebenen Ausdruck, sondern um einen kirchlichen Sprachgebrauch handelt, so sollte um die Worte auch kein Streit geführt werden, solange mit den Worten Begriffe verbunden werden, die der Schrift nicht widersprechen, son-
---------------------------------
165) Biblia Illust. z. St. 166) Röm. 1 und 2.
167) Aristoteles sagt (Metaph. I, 3) von Thales und denen, die vor Thales über den Ursprung der Dinge spekulierten, daß sie theologisierten (θεολογήσαντες). Nach Josephus (c. Apionem I, 2) schrieb Pherekydes von Syros schon im 6. Jahrhundert ein Werk unter dem Titel θεολογία, worin er περί τών ουρανίων καί θείων philosophierte. Cicero sagt (De Nat. Deorum III, 21): Principio Ioves tres numerant ii, qui theologi nominantur. Augustinus erwähnt (De Civ. Dei VI, 6) nach Varro, einem Zeitgenossen Ciceros, drei Arten von heidnischer Theologie: mythicon genus, quo maxime utuntur poetae, physicon, quo philosophi utuntur, civile, quod populi et sacerdotes nosse et administrare debent. Interessant ist Augustinus' Kritik der heidnischen Theologie in demselben und den folgenden Kapiteln, über den Gebrauch des Wortes „Theologie” bei den Heiden vgl. Buddeus, Inst., 1741, sqq. 48 sqq. August Hahn, Lehrb. d. christl. Gl.2 I, 104 s. C. F. W. Walther, Lehre u. Wehre 1868, S. 5 f.
168) Isagoge 2 I, 8.
46 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 42-43]
dern der Sache nach in der Schrift enthalten sind. Letzteres ist der Fall, wenn unter „Theologie” verstanden wird:
1. die besondere Gotteserkenntnis und Gotteslehre, die nach der Schrift denen eigen sein soll, die zum öffentlichen Predigtamt in der Gemeinde bestellt werden. Das διδακτικός, „lehrhaftig” (1 Tim. 3,2), beschreibt die besondere Lehrtüchtigkeit eines επίσκοπος, der eine Gemeinde Gottes zu versorgen hat (1 Tim. 3, 5). Dies wird unter dem folgenden Abschnitt ausführlicher dargelegt;169)
2. die Gotteserkenntnis und Gotteslehre der Lehrer der zukünftigen öffentlichen Lehrer, also die Gottesgelehrtheit der Personen, die wir heute theologische Professoren nennen. Diese Tätigkeit übte auch Timotheus aus, wenn ihm 2 Tim. 2,2 aufgetragen wird, daß er das, was er von dem Apostel Paulus gehört hat, treuen Menschen befehlen soll (παράθον), die tüchtig sein werden, auch andere zu lehren;170)
3. die Gottesgelehrtheit und Gotteslehre, welche allen Christen zukommt. Luther bemerkt zu den Worten Joh. 3,16 („Also hat Gott die Welt geliebet” usw.): „Es sind solche Worte, die niemand kann ausgründen noch erschöpfen, und ja sollten, wo sie recht geglaubt würden, einen guten Theologen oder vielmehr einen starken, fröhlichen Christen machen, der da könnte recht reden und lehren von Christo, alle andere Lehre urteilen, ja, jedermann raten und trösten und alles leiden, was ihm vorkäme";171)
------------------------
169) Quenstedt, I, 13: Theologia acroamatica est, quae mysteria fidei accuratius et prolixius edocet, confirmat et contrarios sanae doctrinae errores refellit, estque episcoporum et presbyterorum in ecclesia.
170) Quenstedt, I, 13: Theologia acroamatica est . . . imprimis eorum, qui in academiis non Christianos simpliciter, sed futuros Christianorum doctores informant et κατ’ εξοχήν theologi dicuntur. Interessant ist, was Luther speziell über „Doktorpromotionen” gelegentlich äußert. Er nennt einerseits die Doktorpromotionen „Larven”. Andererseits verwirft er die Sache nicht schlechthin, sondern sie gefällt ihm, wenn die zu Kreierenden selbst erkennen, daß die Sache an sich nichts sei, sondern sich mit den Doktorlarven schmücken lassen zu dem Dienst am Wort. (XXI a, 564. Vgl. auch II, 260.)
171) St. L. XI, 1103. Luther nennt auch den Hauptmann von Kapernaum „theologus” mit der Begründung, er habe „so schön und christlich disputiert, daß es genug wäre einem, der vier Jahre wäre ein Doktor gewesen”. (XII, 1185.) Und zu Röm. 12, 7 bemerkt Luther: „Siehe, was St. Paulus für doctores in der Schrift macht, nämlich alle, die den Glauben haben, und sonst niemand. Dieselbigen sollen richten und urteilen alle Lehre, und ihr Urteil (soll) gelten, es treffe gleich Papst, Konzilia und alle Welt an.” (XII, 335.) Auch Gerhard erwähnt, L. De Nat. Theol., § 4, daß das Wort Theologie gebraucht werde pro fide et religione Christiana, quae omnibus fidelibus, doctis aeque ac indoctis, communis est, ut sic theologi dicantur, quicunque norunt fidei articulos
47 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 44]
4. die Kenntnis und Lehre von einzelnen Teilen der christlichen Religion, nämlich von der Gottheit Christi und im Zusammenhang damit von der Trinität.172) Dieser Sprachgebrauch ist bis auf unsere Zeit ziemlich allgemein festgehalten worden. Auch wir nennen die Lehre von der Gottheit Christi und der Trinität „Theologie im engeren Sinne”, im Unterschied von Kosmologie, Anthropologie, Christologie, Ekklesiologie usw.
In den angeführten Bedeutungen werden „Theologie” und „Theologe” in einem Sinne gebraucht, der der Sache nach in der Schrift enthalten ist. Hingegen liegt ein schriftwidriger Sprachgebrauch vor, wenn Theologie eine Kenntnis und Lehre von Gott und göttlichen Dingen bezeichnen soll, die angeblich über den Glauben an das Schriftwort hinausgeht oder den Glauben zum Wissen erheben will. Dies ist das πρώτον ψευδός der neueren Theologie in ihren verschiedenen Schattierungen. Wir müssen der
-----------------------------
iisque assentiuntur. Nach 1 Petr. 3, 15; Kol. 3, 16 usw. hätte Gerhard hinzufügen können, was er auch an andern Stellen sagt (L. De Minist. Eccl., § 67): atque eos [articulos fidei] docent et profitentur. Natürlich gibt es auch unter den sogenannten Laien wieder Unterschiede in der Gotteserkenntnis und der Lehrtüchtigkeit. In unserer Synode ist der Ausdruck „Laientheologe” im Gebrauch. Wir verstehen darunter solche Christen in unserer Mitte, deren Kenntnis der christlichen Lehre und deren Interesse für kirchliche Angelegenheiten über das Durchschnittsmaß hinausgehen. Solche Laientheologen gab es in der apostolischen Kirche, wie wir aus der Grußliste Röm. 16 annehmen dürfen. In der großen Majorität der Fälle sind die „Laientheologen” der Kirche zum Segen geworden. Vgl. L. u. W. 1860, S. 352, über die unberechtigte Furcht vor „Laien auf den Synoden”.
172) So erhielt Gregor von Nazianz († um 390) den Beinamen δ θεολόγος nach Veröffentlichung seiner Reden zur Verteidigung der Gottheit Christi. Gewiß ist auch, daß die Kirchenväter den Titel Theologe sogar dem Evangelisten Johannes beilegten, weil dieser mit besonderem Nachdruck die ewige, wesentliche Gottheit Christi lehrt. So schreibt Athanasius (im vierten Jahrhundert) von dem Evangelium Johannis: Ü φηβι καί ό θεολόγος άνήρ· έν αρχή ήν ό λόγος. Die Theologie als Lehre von der göttlichen Natur Christi unterscheiden dann die Kirchenväter von der Ökonomie (οικονομία, dispensatio) als der Lehre von Christo in seiner Menschwerdung. So sagt Gregor von Nazianz: Αλλος έστί λόγος τής θεολογίας ή τής φνσεως, άλλος τής οικονομίας. Mit diesem speziellen Sinn von θεολογία hängt es zusammen, daß das Verbum theologisieren, geradezu im Sinne von „als Gott bekennen” gebraucht wird. Walther zitiert (L. u. W. 1868, S. 7) die Worte von Athanasius (De S. Trin., dial. 3. Opp. ed. Bonutius II, 190 sq.): Πώς γάρ δννη θεολογήσαι τό πνεύμα, ό μή θέλων είπεϊν την αυτήν ουσίαν και 5ο£αν καί βουλήν καί δύναμιν πατρός και υΐοϋ; Zur Bezeichnung der Lehre vom Geheimnis der Trinität gebraucht Basilius „Theologie” in den Worten: Quomodo non erit necessarium silere, ne theologiae dignitas verborum penuria et tenuitate periclitari videatur. (Sermo de fide et trinitate. Opp. I, 371. 2. u, A3, 1868, S. 8.)
48 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 44-45]
studierenden Jugend unaufhörlich darlegen, daß nicht ein Wissen, sondern eine Selbsttäuschung und ein Nichtwissen vorliegt, wenn jemand meint, mit seiner Gotteserkenntnis und Gotteslehre über den Glauben an das geschriebene Wort Christi hinauszukommen. Dies wurde schon ausführlich unter dem Abschnitt „Die Zahl der Religionen in der Welt” dargelegt.173)
Weil es sich, wie bereits bemerkt wurde, bei den Ausdrücken „Theologie” und „Theologe” nicht um einen in der Schrift gegebenen Sprachgebrauch, sondern nur um einen kirchlichen Ausdruck handelt, so ziehen wir es vor, mit älteren lutherischen Theologen unter Theologie die Gottesgelehrtheit zu verstehen, welche zur Verwaltung des öffentlichen Predigtamts erforderlich ist. Wir verstehen also unter Theologie, subjektiv oder konkret genommen, die vom Heiligen Geist in einem Christen gewirkte Tüchtigkeit (Ικανότης, habitus), die Funktionen des öffentlichen Predigtamts zu vollziehen, also Gottes Wort aus der Schrift öffentlich und sonderlich rein zu lehren, die auftretenden Irrlehren zu widerlegen und also sündige Menschen zum Glauben an Christum und zur Seligkeit zu führen.174) Die einzelnen Teile dieser Definition sind später noch näher zu beschreiben. Unter Theologie, objektiv oder als Lehre genommen, verstehen wir dann die Mündlich oder schriftlich dargestellte christliche Lehre (doctrina) in dem Umfang und in der Gestalt, wie sie ein Verwalter des öffentlichen Predigtamts innehaben sollte.175) Beide Begriffe sind der Sache nach in der Schrift enthalten. Der subjektive Begriff findet sich 2 Kor. 3, 5. 6: Ή Ικανότης ημών έκ τον θεον, ος και ικάνωσεν ημάς διακόνους καινής διαθήκης. Der objektive Begriff liegt vor z. B. 2 Tim. 1, 13: Ύποτύπωσιν έχε νγιαινόντων λόγων ών παρ εμοϋ ήκουσας,176) Auch dieser Begriff ist auf Grund der Schrift näher darzulegen.
------------------------------
173) S. 18 f.
174) Quenstedt: Theologia habitualiter et concretive considerata est habitus intellectus θεόσδοτος practicus per Verbum a Spiritu Sancto homini de vera religione collatus, ut eius opera homo peccator per fidem in Christum ad Deum et salutem aeternam perducatur. (Systema I, 16.) Ebenso Gerhard (L. De Natura Theologiae, § 31).
175) Quenstedt, 1,16: Theologia, systematice et abstractive spectata, est doctrina ex Verbo Dei exstructa, qua homines in fide vera et vita pia erudiuntur ad vitam aeternam, vel est doctrina e revelatione divina hausta, monstrans, quomodo homines de Dei per Christum cultu ad vitam aeternam informandi.
176) Es ist ein keineswegs geistreicher Spott, wenn im Interesse der „Lehrfreiheit” gefragt worden ist, ob vielleicht der Apostel Paulus eine „Normal-
49 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 45]
Selbstverständlich ist die Theologie, als Tüchtigkeit (Ικανότης) gefaßt, der erste und eigentliche Begriff des Wortes, während Theologie, als Lehre gefaßt, erst im zweiten und abgeleiteten Sinne des Worts Theologie genannt werden kann, weil „die Theologie erst in der Seele des Menschen sein muß, ehe sie von ihm gelehrt, in Rede oder Schrift dargestellt werden kann.177)
------------------------
dogmatik” in der Form von Hutters Compendium Locorum Theologicorum geschrieben habe. Aus 2 Tim. 1,13 ist so viel klar: 1. daß Timotheus von dem Apostel Paulus νγιαίνοντες λόγοι, das ist, die reine göttliche Wahrheit ausdrückende, durch Menschenmeinung nicht verderbte Worte, gehört hat; 2. daß der Apostel die dem Timotheus nicht zur Unterhaltung oder bloßen Ergötzung vorgetragen hat, sondern als νποτνπωσις, Abbild, Vorbild, Muster, norma sanorum verborum, nach denen Timotheus in seinem Lehramt sich richten sollte, was noch besonders durch das έχε, „Halte!” „Halte fest!” ausgedrückt wird. Es wird also doch wohl, wenn wir die Worte nicht umdeuten, der Sache nach auf eine gehörte „Normaldogmatik” hinauskommen. Plitt z. St.: „Was ich dir gegeben habe, sei dein Original, die gesunden Worte, die gesunde Lehre, wie Tit. 1, 9; 1 Tim. 3, 9 im Gegensatz gegen die Irrlehren.” Matthies z. St.: „νποτνπωσις, wie 1 Tim. 1,16, die ausgeprägte Grundform, das Ur- und Vorbild, die dargestellte Norm.” Huther im Meyerschen Kommentar will nur „Bild” übersetzen und fügt hinzu: „Wenn de Wette, Wiesinger u.a. νποτνπωσις geradezu durch ‘Vorbild', so auch Luther, übersetzen, so ist dies ungenau, da die hierin ausgedrückte Beziehung nicht im Worte selbst liegt.” Aber die Beziehung ist durch den Zusammenhang gefordert. Ein Bild, nach dem man sich richten soll, ist eo ipso ein Vorbild.
177) So Walther, L. u. W. 14, 9. Musäus, Introd. in Theol. 1679, p. 3: Doctrina de Deo rebusque divinis provenit ab habitu theologiae estque eius effectus. Luthardt, Komp.10, S. 4, will zwar die alten lutherischen Theologen entschuldigen, wenn sie primo loco die Theologie als persönliche Tüchtigkeit faßten, nämlich als die Tüchtigkeit, Gottes Wort zu lehren und Sünder zur Seligkeit zu führen; aber er fügt doch tadelnd hinzu: „In jener Definition ist aber sowohl die unmittelbare Beziehung der Theologie zur Seligkeit als auch ihre Fassung als einer persönlichen Eigenschaft zwar im besten Sinne religiösen Ernstes gemeint, aber wissenschaftlich nicht richtig.” Diese Kritik hat auch von Luthardts Standpunkt aus keinen erkennbaren Sinn. Wenn er mit Kahnis die Theologie als „das wissenschaftliche Selbstbewusstsein der Kirche” beschreibt, so faßt er ebenfalls die Theologie als „persönliche Eigenschaft”, da jedes „Selbstbewusstsein”, auch das „wissenschaftliche”, Personen voraussetzt, denen es als Eigenschaft anhaftet. Ein unpersönliches Selbstbewußtsein ist ein Widerspruch in sich selbst. Tatsächlich will Luthardt auch an Personen innerhalb der Kirche gedacht haben, nämlich an die Theologen, die im Unterschiede von den gewöhnlichen Christen ein wissenschaftliches Selbstbewußtsein besitzen. Nur stimmt das dann wieder nicht mit der Behauptung, daß die Theologie „das wissenschaftliche Selbstbewußtsein der Kirche” sei, weil die Theologen, namentlich auch die mit wissenschaftlichem Selbstbewußtsein ausgestatteten, Gott sei Dank, nicht die Kirche sind.
50 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 46-47]
9. Die nähere Beschreibung der Theologie, als Tüchtigkeit gefaßt. ^
Wir haben eine nähere Beschreibung der Theologie, als „Tüchtigkeit” oder „persönliche Eigenschaft” gefaßt, in den zahlreichen Schriftaussagen, welche die Personen beschreiben, die nach Gottes Willen und Ordnung mit dem Lehramt in der Kirche zu betrauen sind. Sehr richtig ist gesagt worden: „Da die Theologie, subjektiv betrachtet, dasjenige ist, was sie in denen sein soll, welche in der Kirche das Amt der Lehrer zu verwalten haben, so haben wir in der biblischen Beschreibung eines rechten Lehrers zugleich die eines rechten Theologen zu suchen und zu erkennen.”178) Die folgenden Hauptmomente sind in der Schrift gegeben:
1. Die theologische Tüchtigkeit ist eine geistliche Tüchtigkeit (habitus spiritualis, supernaturalis), das heißt, eine Tüchtigkeit, die in jedem Falle außer natürlichen Gaben den persönlichen Glauben an Christum (den Glauben an die Vergebung der Sünden aus Gnaden um Christi satlskaetio vioaria willen, die Bekehrung oder Wiedergeburt) zur Voraussetzung hat. Ungläubige, wenn sie auch alle biblischen Lehren in ihren Geist ausgenommen Haben und vermöge einer natürlichen Begabung lehren können, sind nicht Theologen im Sinne der Heiligen Schrift. Dogmengeschichtlich ausgedrückt: Es gibt keine „theologia irregenitorum”.179) Ausdrücklich wird die Tüchtigkeit zur Verwaltung des öffentlichen Lehramtes als eine geistliche Wirkung Gottes bezeichnet, 2 Kor. 3,6: Nicht daß wir tüchtig sind von uns selber, sondern ή Ικανότης ημών εκ τον θεον, ος και ΐκάνωσεν ημάς κτλ. Alle Ungläubigen sind Wohn- und Wirkungsstätten nicht des Heiligen Geistes, sondern des Fürsten dieser Welt.180) Ferner sehen wir, daß in der Schrift die Amtsgaben immer nur in Verbindung mit dem persönlichen Christenstand und den Christentumsgaben auftreten. In der Beschreibung eines επίσκοπος, 1 Tim. 3, 1 ff., steht das „lehrhaftig” (διδακτικός) neben den Prädikaten „nicht ein Weinsäufer” usw. Auch 2 Tim. 2, 1 ff. führt der Apostel Paulus die Tüchtigkeit, das öffentliche Lehramt zu verwalten, auf die Gnade
------------------------
178) So Walther nach dem Vorgang der älteren lutherischen Theologen, L. u. W. 14, 10.
179) Vgl. Walch, Bibliotheca Theol. II, 667 sqq. Baumgarten, Theol. Streitigkeiten III, 425 f. Reiches Material über die Streitfrage bei Hollaz, Examen Proleg. I, qu. 18—21.
180) Eph. 2, 3.
51 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 47]
Gottes in Christo zurück mit den Worten: „So sei nun stark, mein Sohn, durch die Gnade Gottes in Christo JEsu!” Unbekehrte sind nur durch Gottes Zulassung, gegen Gottes Ordnung, im öffentlichen Lehramt. Doch können durch ihren Dienst, sofern sie äußerlich Gottes Wort gelernt haben und vortragen. Menschen bekehrt und selig werden, weil die Wirksamkeit der Gnadenmittel durch die persönliche Beschaffenheit derer, die sie verwalten, nicht aufgehoben wird. Daß die theologische Tüchtigkeit stets den persönlichen Christenstand zur Voraussetzung habe, drücken die alten Theologen dadurch aus, daß sie die Tüchtigkeit näher beschreiben als ϑεόσδοτος, a Spiritu Sancto per Verbum Dei collatus. Auch Baier sagt:181) Constat, theologiam esse habitum in substantia sua supernaturdlem, actibus nostris quidem, sed per vires gratiae et operationem Spiritus Sancti acquisitum. Er fügt noch hinzu: Die „Theologie”, welche nur in einem äußeren Wissen und Lehren der in der Schrift vorliegenden Wahrheiten besteht, sicut in homines non renatos et impios cadit, ohne die vom Heiligen Geist gewirkte „echte”, „übernatürliche” Zustimmung: ita nonnisi aequivoce dicta theologia est. Daß diese Wahrheit „vornehmlich durch Spener” betont worden sei, ist historisch nicht richtig. Auch Baier weist darauf hin, daß Spener selbst diese Behauptung widerlegt in dem Traktat „Die allgemeine Gottesgelehrtheit”, P. I, qu. V, p. 185 sqq., ubi [von Spener] multorum theologorum nostratium loca consona afferuntur. Luther sagt in bezug auf den geistlichen Charakter der theologischen Tüchtigkeit: „Man findet mehr heidnische und menschliche Dünkel denn heilige, gewisse Lehre der Schrift in den Theologen. Wie wollen wir ihm nun tun? Ich weiß hie keinen andern Rat denn ein demütiges Gebet zu Gott, daß uns derselbe Doktoren der Theologie gebe. Doktoren der Kunst, der Arznei, der Rechte, der Sententien mögen der Papst, Kaiser und Universitäten machen; aber sei nur gewiß, einen Doktor der Heiligen Schrift wird dir niemand machen denn allein der Heilige Geist vom Himmel, wie Christus sagt Joh. 6, 45: ‘Sie müssen alle von Gott selber gelehret sein.'"182) Zur geistlichen Tüchtigkeit gehört natürlich auch die vom Heiligen Geist durch das Schriftwort gewirkte christliche Überzeugung, daß die Heilige Schrift Gottes unfehlbares Wort ist, wie sogleich näher darzulegen ist.
-------------------------------------
181) Compendium, ed. Walther, I, 69.
182) St. L. X, 339 f.; Erl. 21, 348 f.; Walch X, 383 f.
52 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 48]
2. Die theologische Tüchtigkeit begreift in sich die Tüchtigkeit, nur Gottes Wort zu lehren, das ist, die Tüchtigkeit, sich aller eigenen und anderer Menschen Gedanken über Gott und göttliche Dinge zu enthalten und die vorzutragende Lehre nur aus Gottes Wort, also für unsere Zeit aus der Heiligen Schrift, zu nehmen. Von allen, die diese Fähigkeit nicht besitzen, heißt es 1 Tim. 6, 3: „So jemand anders lehret und bleibet nicht bei den gesunden Worten unsers HErrn JEsu Christi, der ist verdüstert und weiß nichts”, τετύφωται, μηδέν επιστάμενος. Christi Worte aber haben wir in den Worten seiner Apostel und Propheten.183) Es widerspricht daher der Tüchtigkeit zum christlichen Lehramt und disqualifiziert für dasselbe, wenn jemand die Lehre, die in der christlichen Kirche zu lehren ist, nicht allein der Heiligen Schrift entnehmen, sondern auch z. B. aus angeblichen unmittelbaren Offenbarungen (Schwärmer) oder aus dem sogenannten „christlichen Bewußtsein”, „Glaubensbewußtsein”, dem „wiedergebornen Ich”, dem „christlichen Erlebnis” (moderne Theologen) oder aus den Dekreten des Papstes und der „Kirche” (Römische und romanisierende Protestanten) oder aus der „Geschichte” usw. schöpfen will. Luther: „Jeremias hat ein ganz Kapitel von den falschen Propheten geschrieben, Jer. 23. Unter andern Worten sagt er also (V. 16): ‘So spricht Gott, der HErr der Heerscharen: Ihr sollt nicht hören auf der Propheten Wort, die euch predigen; sie betrügen euch und predigen ihres eigenen Herzens Gesicht oder Dünkel und nicht aus dem Mund Gottes.' Siehe da, alle Propheten, die nicht aus dem Mund Gottes predigen, die betrügen, und Gott verbeut, man soll sie nicht hören. Ist der Spruch nicht klar, daß, wo nicht Gottes Wort wird gepredigt, da soll niemand zuhören, auch bei der göttlichen Majestät Gebot und Ungnaden, und sei eitel Trügerei? O Papst, o Bischöfe, o Pfaffen, o Mönche, o Theologen, wo wollt ihr hie vorüber? Meint ihr, daß ein gering Ding sei, wenn die hohe Majestät verbeut, was nicht aus Gottes Munde geht und etwas anders denn Gottes Wort ist? Es hat solches nicht ein Drescher oder Hirt gesagt. Wenn du von deinem Herrn hörtest sagen zu dir: Wer hat dich das geheißen? Das habe ich dir nicht befohlen, ich achte, du würdest daraus so viel vernehmen, du solltest es nicht getan haben und als Verbot gemieden haben.184)
----------------------
183) Joh. 17, 20; 1 Petr. 1, 10—12; Eph. 2, 20.
184) St. L. XIX, 821 f.
53 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 48-49]
3. Die theologische Tüchtigkeit schließt in sich die Fähigkeit, das ganze Wort Gottes, wie es in der Heiligen Schrift geoffenbart vorliegt, zu lehren. Der Apostel Paulus sagt von seinem Lehramt: „Ich habe euch nichts Verhalten, daß ich nicht verkündigt hätte alle den Rat Gottes”, πάσαν την βουλήν τον ϑεοϋ.185) Nur bei Verkündigung des ganzen Rates Gottes bleiben die öffentlichen Lehrer unschuldig am Verlorengehen der Zuhörer, wie Paulus von sich bezeugt: „Ich bin rein von aller Blut.”186) Weil nach Gottes Ordnung die ganze christliche Lehre ohne Abtun und ohne Zusatz „öffentlich und sonderlich” zu lehren ist, so mag auch in diesem Zusammenhang daran erinnert werden, daß großer Fleiß nötig ist sowohl auf seiten der Studenten der Theologie zur Erlangung der theologischen Tüchtigkeit als auch auf seiten der bereits im Amte stehenden Lehrer zur Bewahrung und Mehrung der theologischen Tüchtigkeit. Daher heißt es in der Ermahnung des Apostels an Timotheus: „Hab' acht auf dich selbst und auf die Lehre; beharre in diesen Stücken! Denn wo du solches tust, wirst du dich selbst selig machen und die dich hören.”187)
4. Zur theologischen Tüchtigkeit gehört die Tüchtigkeit, die Irrrlehrer zu widerlegen. In der Beschreibung der Eigenschaften, die sich an einem Ältesten oder Bischof finden sollen, heißt es Tit. 1, 9—11: δυνατός . . . τους αντιλέγοντας ελέγχειν . . . ονς δεϊ έπιστομίζειν. Das manchmal laut werdende Verlangen, daß der öffentliche Lehrer sich der Polemik enthalte, ist also Wider die Schrift. Verboten ist in der Schrift der Streit um unnötige Dinge, z.B. um die Geschlechtsregister, Tit. 3, 9: „Der törichten Fragen aber, der Geschlechtsregister, des Zankes und Streites über dem Gesetz, entschlage dich (περιΐστασο), denn sie sind unnütz und eitel.”188) Verboten ist auch die Polemik aus fleischlichem Eifer, 2 Kor. 10, 3: 'Ev σαρκΐ περιπατούντες ον κατά σάρκα στρατενό μεϑα. Auch ist Wohl zu beachten, daß Tit. 1, 9 dem δυνατός τους αντιλέγοντας ελέγχειν das δυνατός παρακαλεϊν έν τη διδασκαλία τή νγιαινονση vorangeht. Dadurch kommt zum Ausdruck, daß der Widerlegung der falschen Lehre die Darlegung der rechten Lehre
--------------------
185) Apost. 20, 27. 186) Apost. 20, 26. 187) 1 Tim. 4, 16.
188) Auch Quenstedt erinnert, Systema I, 14: In theologia polemica id praecipue cavendum, ne quaestiones otiosae cumulentur, et lites ex litibus serantur, atque ita fiat theologia eristica et contentiosa, qua nimium altercando veritas amittitur..
54 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 49-50]
vorhergehen muß, damit der Zuhörer befähigt wird, die Polemik als berechtigt zu erkennen und innerlich mitzumachen. Bei Nichtbeachtung dieser Ordnung bringt sich der Lehrer leicht in den Verdacht der Streitsucht und des ungerechten Richtens. Aber die Polemik vom öffentlichen Lehramt ausschließen zu wollen, ist Wider die Schrift. Sie ist den Lehrern ausdrücklich geboten, wie wir bereits aus Tit. 1, 9—11 sahen und durch die ganze Schrift so reichlich belehrt werden. Alle Propheten und Apostel und Christus selbst haben mit der Verkündigung der rechten Lehre auch die Verwerfung der falschen Lehre verbunden. Walther geht nicht zu weit, wenn er schreibt: „Wer zwar die reine Lehre vorträgt, aber die derselben entgegenstehende falsche Lehre nicht straft und widerlegt, vor den Wölfen in Schafskleidern, das ist, vor den falschen Propheten, nicht warnt und sie nicht entlarvt, der ist kein treuer Haushalter über Gottes Geheimnisse, kein treuer Hirte der ihm anvertrauten Schafe, kein treuer Wächter auf den Zinnen Zions, sondern nach Gottes Wort ein Schalksknecht, ein stummer Hund, ein Verräter. Wie viele Seelen dadurch verloren gehen, und wie sehr dadurch die Kirche Schaden leidet, daß der Lehrelenchus nicht geübt wird, liegt zu klar am Tage, als daß es eines Beweises bedürfte. Nicht nur wird die rechte Lehre meist erst dann recht gefaßt, wenn zugleich der Gegensatz klar geworden ist, die falschen Lehrer suchen auch ihren Irrtum so listig mit dem Schein der Wahrheit zu umgeben, daß Einfältige ohne vorher erfahrene Warnung trotz ihrer Liebe zur Wahrheit nur zu leicht betrogen werden. Vergeblich versucht der Prediger seine Hände in Unschuld zu waschen, weil er die Wahrheit gepredigt habe, wenn er nicht zugleich vor dem Irrtum, und zwar unter Umständen auch mit Nennung des Namens der Irrrgeister, gewarnt hat, wenn seine Schafe entweder noch während seiner Amtsverwaltung oder doch, nachdem er sie verlassen mußte, eine Beute reißender Wölfe in Schafskleidern werden.”189) Was den „duldsamen Geist” betrifft, so muß auch an dieser Stelle an den Unterschied zwischen Staat und Kirche erinnert werden. Wir müssen zwischen dem Dulden falscher Lehrer im Staat und in der Kirche unterscheiden. Der christlichen Kirche des Neuen Testaments ist nicht geboten, falsche Lehrer aus dem Staat oder der bürgerlichen Gesellschaft zu vertreiben, wozu die Anwendung äußerer Gewalt nötig wäre, die der Kirche verboten ist.
-----------------------------
189) Pastorale, S. 82 f.
55 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 50-51]
Wohl aber ist der Kirche befohlen, die falschen Lehrer nicht in der Kirche zu dulden, sondern sie mit Gottes Wort zu bekämpfen. Die gebotene Bekämpfung mit Gottes Wort schließt in sich, die falschen Lehrer als solche, nämlich als solche, die vom Apostewort abweichen, zu erkennen, 190) sie zu widerlegen,191) sie zu isolieren, das ist, mit ihnen keine kirchliche Gemeinschaft zu halten192) und sie eventuell, wenn sie nicht selbst kirchenflüchtig werden, von der kirchlichen Gemeinschaft förmlich auszuschließen.198)
5. Die theologische Tüchtigkeit schließt endlich auch die Tüchtigkeit in sich, um der christlichen Lehre willen zu leiden. Auf diesen Teil der theologischen Tüchtigkeit weist die Schrift ebenfalls reichlich hin. Der Apostel Paulus ruft Timotheus zu: κακοπάϑησον, und zwar μέχρι δεσμών.194) Die Leidensfähigkeit ist deshalb eine notwendige Eigenschaft eines christlichen Lehrers, weil das Evangelium vom Seligwerden durch den Glauben an den gekreuzigten Christus ohne des Gesetzes Werke so gar nicht nach dem Geschmack der Welt, sondern Ίουδαίοις μεν οκάνδαλον, 'Έλλησι δε μωρία ist.195) Christus stellt daher den Christen für das Leben in dieser Welt das Prognostikon: Έσεσϑε μισούμενοι νπδ πάντων των εϑνών διά τδ δνομά μον.196) Dieser Haß wendet sich naturgemäß und erfahrungsgemäß besonders gegen die im öffentlichen Amt stehenden Lehrer.197) Wenn diese nicht leidenstüchtig sind, nicht auf Gut, Ehre, Stellung, auch Leib und Leben verzichten können, so werden sie Kompromisse mit dem Irrtum schließen oder ganz abfallen und damit die Seligkeit verlieren.198) Daher die Ermahnung Pauli an Timotheus: „So sei nun stark, mein Sohn, durch die Gnade in Christo JEsu!"199)
-----------------------
190) Röm. 16, 17: οκοπεΐν τονς τάς διχοστασίας και τά σκάνδαλα παρά την διδαχήν ήν νμεΐς έμάϑετε, ποιονντας.
191) Tit. 1, 9. 11: έλέγχειν, επιστομίζειν.
192) Röm. 16, 17: έκκλίνατε απ αντών. 2 Joh. 10: χαίρειν αντφ (dem falschen Lehrer) μη λέγετε.
193) Des Apostels Verfahren in bezug auf Hymenäus und Alexander, 1 Tim. 1, 20; vgl. 2 Tim. 2, 17; 4, 14.
194) 2 Tim. 2, 3. 9. 195) 1 Kor. 1, 23. 196) Matth. 24. 9.
197) Apost. 9, 16: “Ich will ihm (Paulus) zeigen, wieviel er leiden muß um meines Namens willen.” Apost. 26, 21 berichtet Paulus: „Sie haben sich unterstanden (επειρώντο), mich zu töten.”
198) 2 Tim. 2, 12: El άρνονμεϑα κάκεΤνος άρνήσεται ημάς.
199) 2 Tim. 2,1. 8.
56 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 51-52]
10. Die nähere Beschreibung der Theologie, als Lehre gefaßt. ^
Weil die Theologie, subjektiv oder als Lehrtüchtigkeit gefaßt, die Tüchtigkeit (ίκανότης) ist, nicht mehr und nicht weniger als Gottes Wort zu lehren,200) das die Kirche unserer Zeit in dem geschriebenen Wort der Apostel und Propheten besitzt,201) so ist die Theologie, objektiv oder als Lehre (doctrina) genommen, nichts anderes als die Darstellung der in der Heiligen Schrift vorliegenden Lehre. Was die Heilige Schrift an mehreren oder auch an vielen Orten über die einzelnen Lehren nach Text und Kontext aussagt, das stellt der Theologe an einen Ort zusammen. So entsteht die Lehre, die der christliche Theologe mündlich oder in Schriften vorträgt. Die alten lutherischen Theologen sagen von der Theologie, als Darstellung der christlichen Lehre gefaßt (theologia positiva), daß sie nichts anderes sei als die in die einzelnen Lehren zusammengeordnete Schrift selbst. Daher dürfe sich in dem Lehrleibe (corpus doctrinae) kein Glied finden, auch wenn es das geringste wäre, das nicht in der recht aufgefaßten Schrift seine Stütze habe.202) Ebenso beschreibt Luther die Lehrtätigkeit aller Theologen nach der Apostel Zeit. Er nennt die Theologen, sich selbst einschließend, „Katechumenen und Schüler der Propheten”, „als die wir nach sagen und predigen, was wir von den Propheten und Aposteln gehört und gelernt haben”.203) Ein solcher Ernst ist es Luther mit dem bloßen „Nachsagen” seitens der Theologen, daß er in negativer Bestimmung sagt: „Keine andere Lehre darf in der Kirche gelehrt und gehört werden als das reine Wort Gottes, das ist, die Heilige Schrift, oder Lehrer und Zuhörer sollen mit ihrer Lehre verflucht sein.”204) Dieselbe Wahrheit
---------------------------
200) 1 Petr. 4,11: Et τις λαλεΐ, ώς λόγια ϑεον. Die in der Kirche geltende Leyre ist ή διδασκαλία τον αωτήρος ήμών ϑεον, Tit. 2, 10.
201) Was die Apostel mündlich gelehrt haben, dasselbe (ταΰτα) haben sie auch geschrieben, 1 Joh. 1, 3.4.
202) Aug. Pfeiffer, Thesaurus hermeneut., p. 6, auch zitiert in Walther-Baier I, 43. 76: Theologia positiva, si rem recte aestimemus, nihil aliud est . . . quam ipsa Scriptura Sacra in certos locos concinno ordine et perspicua methodo redacta, unde ne unicum quidem membrum, quantillum etiam, in illo doctrinae corpore esse debet, quod non e Scriptura Sacra probe intellecta statuminetur.
203) In der Auslegung der letzten Worte Davids, 2 Sam. 23,1 ff. St. L. III, 1890.
204) Comment, ad Gal., ed. Erl. I, 91: Neque alia doctrina in ecclesia tradi et audiri debet quam purum Verbum Dei, hoc est, Sancta Scriptura, vel doctores et auditores cum sua doctrina anathema sunto.
57 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 52-53]
kommt noch kürzer in dem bekannten Axiom zum Ausdruck: Quod non est biblicum, non est theologicum.
Daher gehört zur näheren Charakterisierung der Lehre, die in der christlichen Kirche heimatsberechtigt ist, daß der christliche Theologe nicht wandelbare menschliche Meinungen und Ansichten, sondern die unwandelbare göttliche Wahrheit oder Gottes eigene Lehre (doctrinam divinam) zu lehren hat. Diese Beschaffenheit der christlichen Lehre ist mit der Beschaffenheit der Quelle, das ist, mit der Beschaffenheit der Heiligen Schrift, gegeben, aus welcher der christliche Theologe die Lehre, welche er vorträgt, schöpft. Weil die Heilige Schrift nach dem Zeugnis Christi und seiner Apostel und auch nach ihrer Selbstbezeugung im Herzen der Christen Gottes eigenes unfehlbares Wort ist, so ist auch die der Schrift entnommene Lehre nicht κατά την παράδοσιν των ανθρώπων, das ist, nicht Menschenlehre (Kol. 2, 8), sondern Gottes eigene Lehre, ή διδασκαλία τον σωτήρος ημών θεον (Tit. 2, 10). Weil die moderne Theologie die Schrift nicht als Gottes Wort gelten läßt und daher aus der nach ihrer Meinung unzuverlässigen Heiligen Schrift in das eigene Innere, in das theologische Ich, flüchtet und dieses Ich zur Bezugsquelle der christlichen Lehre macht, so ist damit prinzipiell die Lehre, die sich in der Kirche Gottes zur Annahme darbietet, von dem Gebiet der objektiven göttlichen Wahrheit abgerückt und auf das Gebiet der subjektiven menschlichen Ansicht verlegt. Bei dieser Sachlage erscheint es angezeigt, den Punkt von der Beschaffenheit der in der christlichen Kirche berechtigten Lehre ausführlicher darzulegen.
Wir halten fest: Weil die Heilige Schrift nicht Menschenwort, sondern Gottes Wort ist, so gehört zur näheren Beschreibung der Theologie, objektiv oder als Lehre gefaßt, daß die vom Theologen aus der Schrift geschöpfte Lehre (doctrina e Scriptura Sacra hausta) göttliche Lehre, doctrina divina, ist. Und zwar nicht bloß in dem Sinne, daß sie von Gott und göttlichen Dingen handelt, sondern gerade auch und primo loco in dem Sinne, daß sie im Gegensatz zu allen menschlichen Lehren, Anschauungen und Urteilen über Gott und göttliche Dinge Gottes eigene Lehre, Anschauung und Urteil ist.
Um zu illustrieren: Der christliche Theologe lehrt von der Schöpfung der Welt und des Menschen, was Gott darüber 1 Mos. 1 und 2 und sonst in der Schrift lehrt. Was in menschlichen Schriften über die Entstehung der Welt und des Menschen
58 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 53-54]
gesagt wird, davon nimmt der Theologe, weil es sein Beruf in der Gegenwart mit sich bringt, sorgfältig Notiz, aber um es als wertlose menschliche Anschauung abzuweisen, sofern es nicht mit Gottes eigenem Schöpfungsbericht, den wir in der Schrift haben, stimmt. Der christliche Theologe lehrt über den Sündenfall und die Sünde nicht mehr und nicht weniger, als was Gott darüber in der Heiligen Schrift berichtet, lehrt und urteilt. Der christliche Theologe hat auch an diesem Punkte von einer ganzen Anzahl menschlicher Ansichten über die Entstehung der Sünde und über den Charakter der Sünde und ihrer Folgen Kenntnis zu nehmen. Aber er, seinerseits, bringt alles unter die Antithese, was Gottes These in der Schrift, die nicht gebrochen werden kann, widerspricht. Der christliche Theologe lehrt von der Erlösung der in Sünde gefallenen und vor Gott schuldig gewordenen Menschheit, nämlich von des ewigen Sohnes Gottes Menschwerdung, Person und Werk, nur das als christliche Lehre, was Gott selbst über diese großen Dinge (τα μεγαλεία τον ϑεοϋ) lehrt, die ja nie in eines Menschen Herz kamen (επι καρδίαν ανθρώπου οϋκ άνέβη),205) sondern Von der Welt her verschwiegen waren, nun aber offenbart sind durch der Propheten Schriften auf Befehl des ewigen Gottes (διά τε γραφών προφητικών κατ επιταγήν του αιωνίου ϑεοΰ).206) Sonderlich bei der Lehre von der Erlösung sieht sich der christliche Theologe der Gegenwart vor die Tatsache gestellt, daß die moderne Theologie die göttliche Erlösungsmethode, insonderheit die stellvertretende Genugtuung Christi (satisfactio vicaria), kritisiert, für „zu juridisch” erklärt und ablehnt. Aber diese von der menschlichen Anschauung aus an der göttlichen Erlösungsmethode geübte Kritik hat auf den christlichen Theologen nur die Wirkung, daß er um so entschiedener die Erlösung, die nach der Schrift Alten und Neuen Testaments durch die stellvertretende Genugtuung Christi geschehen ist,207) aus der Schrift vorträgt. Und was den articulus stantis et cadentis ecclesiae, die Lehre von der Erlangung der Rechtfertigung vor Gott, betrifft, so lehrt der christliche Theologe, daß der Mensch die Vergebung seiner Sünden erlangt durch den Glauben (πίστει), das ist, durch den Glauben an das Evangelium, welches die Vergebung der Sünden um Christi stellvertretender Ge-
------------------------------
205) 1 Kor.2, 9; Joh. 1,18.
206) Röm. 16, 25. 26. Noch ausführlicher Eph. 3, 7—12.
207) Die ausführliche Darstellung unter dem Abschnitt „Die stellvertretende Genugtuung” II, 407—454.
59 > Wesen und Begriff der Theologie. [English edition 54-55]
nugtuung willen zusagt, ohne Gesetz und ohne des Gesetzes Werke (χωρίς νόμου, χωρίς έργων νόμου), das ist, ohne jede eigene gute moralische Beschaffenheit und ohne jede eigene Leistung auf seiten des Menschen. Weder durch Roms Fluch noch durch den Widerspruch des verkommenen Protestantismus, der die göttliche Rechtfertigungsmethode als zu äußerlich und juridisch abweist, noch auch durch den Widerspruch des eigenen natürlichen Herzens, dem ja die „opinio legis” naturaliter anhaftet, läßt sich der christliche Theologe zu einer Änderung der in der Schrift bezeugten Rechtfertigungslehre bewegen, „es falle Himmel und Erde, oder was nicht bleiben will”.208) Jeder christliche Theologe ist als solcher auch stets ein praktischer Theologe. Und gerade an der Zentrallehre von der Vergebung der Sünden warnt ihn die eigene Erfahrung oder das eigene „Erlebnis”. Er denkt daran, wie schrecklich es wäre, wenn der vom Gesetz Gottes getroffene Sünder hinsichtlich der Vergebung seiner Sünden auf menschliche Ansichten anstatt auf Gottes eigene geoffenbarte Lehre angewiesen sein sollte. Und so durch alle Teile der christlichen Lehre hindurch, inklusive der Lehren von der ewigen Verdammnis und der ewigen Seligkeit. Kurz, der christliche Theologe lehrt aus „Gottes Buch”, wie Luther die Schrift nennt, Gottes eigene Lehre, doctrinam divinam, im Gegensatz zu allen menschlichen Gedanken und Anschauungen.
Diese Beschaffenheit der in der christlichen Kirche vorzutragenden Lehre, daß sie doctrina divina sein müsse, ist durchweg in der Schrift selbst gefordert. Die Schrift Alten und Neuen Testaments ist voll von Warnungen vor allen Lehrern, die nicht lediglich Gottes Wort lehren, sondern sich erlauben, eigene Anschauungen vorzutragen. Wir lesen bei dem Propheten Jeremias die gewaltigen Worte: „So spricht der HErr Zebaoth: Gehorchet nicht den Worten der Propheten, so euch weissagen! Sie betrügen euch, denn sie predigen ihres Herzens Gesicht” (חֲזֹ֤ון לִבָּם֙, [HEBREW: Jer. 23:16], das ist, ihre' eigene Anschauung) „und nicht aus des HErrn Munde.”209) Dasselbe Verbot des Lehrens menschlicher Gedanken und Anschauungen und dieselbe Bindung aller Lehrer an Gottes Mund ist durchweg im Neuen Testament ausgedrückt. Wer in der Kirche, die ja „Gottes Haus” ist,210) lehrend den Mund auftut, soll Gottes Wort (λόγια θεός)
--------------------------
208) Schmalk. Art. M. 300, 5.
209) Jer. 23, 16. Parallelen: Jer. 14, 14; 27, 14—16; Klagl. 2, 14; Hesek.13, 2 ff.
210) 1 Tim. 3,15.
60 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 55]
reden.211) Wer anders lehrt (έτεροδιδασκαλεΐ) und nicht bei den gesunden Worten Christi, die wir in dem Wort seiner Apostel haben,212) bleibt, der ist für das Lehramt in der christlichen Kirche disqualifiziert, weil er, anstatt die göttliche Wahrheit zu lehren, in eigener menschlicher Meinung aufgeblasen ist, τετύφωτat, nichts weiß, μη επιοτάμενος, sondern krank daniederliegt an Disputationen und Wortstreitigkeiten (νοσών περί ζητήσεις καί λογομαχίας)213) Daher werden, wie im Alten, so auch im Neuen Testament die Christen angewiesen,214) allen Lehrern, die nicht Christi Lehre (την διδαχήν του Χρίστου), also Gottes Lehre, bringen, die christliche Gemeinschaft zu versagen, weil solche Lehrer durch eigene Lehre, die sie sich erlauben, Spaltungen und Ärgernisse in der Kirche anrichten (τ διχοστασίας και τά σκάνδαλα ηοιοΰντες), die Christen um die Güter ihres Christenstandes bringen (τοΐς έ'ργοις τοΐς πονηροΐς), nicht das köstliche Werk eines christlichen Lehrers verrichten, sondern bösen Werken (τοΐς έ'ργοις τοΐς πονηροΐς), obliegen. So entschieden ist in der Schrift gefordert, daß die Lehre, die in der christlichen Kirche verkündigt wird, Gottes eigene Lehre, doctrina divina, sei.
Wie gewaltig in Übereinstimmung mit der Heiligen Schrift Luther auf doctrina divina in der christlichen Kirche dringt, sahen wir schon aus seiner Bemerkung zu Jer. 23, 16, in der er die Theologen so anredet: „O Theologen, wo wollt ihr hier vorüber? Meint ihr, daß ein gering Ding sei, wenn die hohe Majestät verbeut, was nicht aus Gottes Munde gehet und etwas anders denn Gottes Wort ist?” 215) Uber Luther lag die Beschaffenheit der Lehre, die in der christlichen Kirche gelehrt werden soll, so am Herzen, daß er die necessitas doctrinae divinae in ecclesia tradendae et audiendae unter mehrfachen Gesichtspunkten einschärft. So bei der Unterscheidung von Kirche und Staat. Im „weltlichen und Hausregiment”, sagt Luther, haben menschliche Ansichten und Menschenwort ihre Berechtigung, weil dies Gebiet dem „natürlichen Licht”, das ist, der menschlichen Vernunft, unterstellt ist. Hingegen sagt er in bezug auf das Lehren in der Kirche: „Will jemand predigen, so schweige er seiner Worte.” „Allhier in der Kirche soll er nichts
----------------------
211) 1 Petr. 4,11. Luther z. St.: „Das ist, daß er gewiß sei, daß er Gottes Wort und nicht sein eigen Wort rede.” (XII, 443.)
212) Joh. 8, 31. 32, vgl. mit Joh. 17, 20.
213) 1 Tim. 6, 4. 214) 2 Joh. 8—11; Röm. 16, 17.
215) Zitiert unter dem vorhergehenden Abschnitt, S. 52.
61 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 56]
reden denn dieses reichen Hauswirts [Gottes] Wort; sonst ist es nicht die wahre Kirche. Darum soll es heißen: Gott redet.”216) Von hier aus verstehen wir Luthers sonderbar klingendes Wort, daß die christliche Lehre nicht „ins Vaterunser gehöre”. Luther will damit die Regel einschärfen, daß der Prediger nicht nötig haben solle, für die von ihm vorgetragene Lehre Gott um Vergebung der Sünden zu bitten.217) Vielmehr müsse der Prediger gewiß sein, er habe nicht sein, sondern Gottes Wort gepredigt, das ihm „Gott nicht vergeben soll noch kann, sondern bestätigen, loben, krönen und sagen: Du hast recht gelehret, denn ich habe durch dich geredet, und das Wort ist mein.” So ernst ist es Luther mit der Forderung, daß die innerhalb der Kirche vorgetragene Lehre Gottes eigene Lehre sein müsse, daß er hinzufügt: „Wer solches nicht rühmen kann von seiner Predigt, der lasse das Predigen nur anstehen, denn er leuget gewißlich und lästert Gott.” 218) Dasselbe Thema behandelt Luther bei der Beschreibung der Autorität der christlichen Kirche. Er spricht der Kirche jede Autorität ab, christliche Lehre zu machen oder Artikel des Glaubens zu setzen, und begründet dies mit der Tatsache, daß die Kirche gar kein eigenes, sondern nur Christi Wort habe und verkündige. Von jeder Lehre, die nicht Christi Wort ist, sagt er: „Ob man gleich auch viel Geschwätzes macht außerhalb Gottes Wort, noch ist die Kirche in dem Plaudern nicht. . . . Laß sie sich toll derwegen ,Kirche, Kirche!' schreien; ohne Gottes Wort ist es nichts.”219) — Und dies will Luther auch auf die Lehrer in der Kirche, die man im eminenten Sinne Theologen, Theologen κατ εξοχήν, nennt, angewendet wissen, nämlich auf die Professoren der Theologie. Ein Teil der neueren Theologen hat die Stellung vertreten, daß wohl der schlichte Prediger sich damit begnügen könne, ja solle, die in der Schrift vorliegende Lehre vorzutragen, daß aber den Universitätstheologen, die die Wissenschaft zu vertreten haben, diese Restriktionen nicht aufzuerlegen seien.220) Dagegen fordert Luther auch von den Universitäts-
----------------------------
216) St. L. XII, 1413 f. 217) St. L. XVII, 1343 s.
218) St. L. VIII, 37. 219) St. L. XII, 1414.
220) So z. B. Kahnis in sehr ausgesprochener Weise in „Zeugnis von den Grundwahrheiten des Protestantismus gegen L.Hengstenöerg”, Leipzig 1862, S. 133: „Ich habe meine Dogmatik nicht fürs christliche Volk, nicht für gebildete Nichttheologen, sondern nur für wissenschaftliche Theologen geschrieben. Nachdem aber v. Hengstenberg und v. Münkel in durchaus unberechtigter Weise die Sache in weitere Kreise gebracht haben, habe ich in dieser Schrift wenigstens mich an weitere
62 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 57]
theologen die strengste Gedankenzucht. Sie sollen bei sich schonungslos alle Gedanken über Gott und göttliche Dinge ausscheiden, die nicht in klaren Schriftworten ausgedrückt vorliegen. Dafür führt er sein eigenes Beispiel an. Es könne, sagt er, nicht ausbleiben, daß uns bei der Behandlung der hohen Dinge, die Gott und göttliche Dinge betreffen, eigene Gedanken kommen. Auch bei ihm seien mancherlei eigene Gedanken aufgetaucht. Aber Gott habe ihm die Gnade verliehen, sich die Gedanken wieder ausfallen zu lassen, die ohne Wort bei ihm sich einstellten. Luther kommt auf diesen Punkt, wenn Zwingli und Genossen ihm Mangel an „Geist” vorwarfen und sein Hangen an den Worten der Schrift als Kopferkenntnis, Buchstabendienst, geistlose Theologie usw. bezeichneten. Dagegen bemerkt Luther, daß ihm wohl mehr eigene Gedanken gekommen seien als allen Schwärmern zusammengenommen. Er habe aber solche Gedanken fahren lassen weil sie kein Heimatsrecht in der Kirche haben. Er schreibt:221) „O wie manche feine Einfälle Hab' ich in der Schrift gehabt, die ich Hab' müssen lassen fahren, welche, so sie ein Schwärmer hätte gehabt, wären ihm freilich alle Druckereien zu wenig gewesen.” Luther nennt, wie wir schon hörten, alle Lehrer, die wirklich unter der Direktion des Heiligen Geistes stehen, „Katechumenen und Schüler der Propheten”, „als die wir nachsagen und predigen, was wir von den Propheten und Aposteln gehört und gelernt” haben?222) Man hat sich an diesem „Nachsagen” als einer Beschreibung der Lehrtätigkeit eines christlichen Lehrers gestoßen. Aber Luther versteht das „Nachsagen” nicht dahin, als ob der christliche Lehrer „nicht sollte brauchen mehr oder andere Worte, als in der Schrift
--------------------------------------
Kreise als die Leser meiner Dogmatik wenden müssen.” S. 118 f. gegen P. Münkel insonderheit: „Ich kann mir nicht denken, daß ?. Münkel, der sich Doktor der Theologie schreibt, so wenig von Theologie versteht, daß er nicht wissen sollte, daß es Schwierigkeiten gibt, welche besprochen werden müssen. Natürlich sind solche Untersuchungen nicht fürs Volk. Wer bringt sie denn aber ins Volk? Solche Blätter, wie sie P. Münkel schreibt. ... Er also, dieser Zwischenträger zwischen Wissenschaft und Volk, der keinem von beiden Kreisen recht angehört, er verwirrt das Volk, nicht ich. Wenn ?. Münkel die Höhen nicht vertragen kann, wo Lawinen und Felsblöcke fallen, so bleibe er doch in der Lüneburger Heide bei den Heidschnucken, pflege Bienen und ziehe Spargel.” So redet Kahnis von seinem Standpunkt aus, daß die Heilige Schrift nicht „das inspirierte Lehrbuch der reinen Lehre sei” (S. 127) und daher erst durch die Wissenschaft der Theologen festgestellt werden müsse, was christliche Lehre sei.
221) St. L. XX, 792. Erl. 30, 46.
222) St. L. III, 1890. Erl. 37, 12.
63 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 57-58]
stehen"; denn „das kann man nicht halten”.223) Wohl aber will Luther mit dem „Nachsagen” nachdrücklich einschärfen, daß der christliche Lehrer „soll außer der Schrift nichts lehren in göttlichen Sachen”. Seine Lehre soll inhaltlich eine bloße Wiedergabe der Lehre der Propheten und Apostel, also doctrina divina, sein, ohne Beimischung von eigenen menschlichen Anschauungen. Denn das ist, setzt Luther hinzu, die Eigenart aller treuen Lehrer, die nach der Apostel Zeit das Lehramt in der Kirche verwalten, daß sie „nichts Eigenes noch Neues setzen, wie die Propheten tun, sondern lehren, das sie von den Propheten haben”. Die Lehrer an den theologischen Anstalten der Missourisynode übertreiben nicht, wenn sie die Studenten erinnern, ihre ausgearbeiteten Predigten noch einmal daraufhin genau zu prüfen, ob nicht etwa ein „schriftloser” Gedanke [Luthers Ausdruck] sich eingeschlichen habe, und ihn schonungslos zu streichen, weil er als Ichprodukt keine Berechtigung in Gottes Kirche habe, die auf den Grund der Apostel und Propheten erbaut ist.
Was die alten lutherischen Theologen betrifft, so wurde schon zu Anfang dieses Abschnitts darauf hingewiesen, daß ihnen die christliche Theologie, als Lehre gefaßt, nichts anderes sei als eine geordnete Zusammenstellung der in der Heiligen Schrift vorliegenden göttlichen Lehre. Daher ihre Definitionen des Lehrobjekts der Theologie: Doctrina e revelatione divina hausta, doctrina ex Verbo Dei exstructa usw. Daher auch ihre Mahnung, daß in den kirchlichen Lehrleib (doctrinae corpus) nur das gehöre, was sich als in der Schrift vorliegend Nachweisen lasse. Um diese Beschaffenheit der christlichen Lehre nachdrücklich hervorzuheben, nennen die alten Theologen die Theologie, als Lehre gefaßt, auch theologia έκτυπος, abbildliche Theologie, das ist, eine Wiedergabe oder einen Abdruck der theologia αρχέτυπος, der urbildlichen Theologie, das ist, der Erkenntnis von Gott und göttlichen Dingen, die sich ursprünglich nur in Gott findet, die Gott aber aus Gnaden den Menschen durch sein Wort vermittelt oder mitgeteilt hat. Diese Terminologie ist nicht überflüssig und veraltet, wie man gemeint hat,224) sondern durchaus schriftgemäß und für die Theologen aller Zeiten sehr instruktiv. Von neueren Theologen hat dies Rudelbach anerkannt. Er sagt: „Ich weiß nicht, ob jemand
– – – – – – – – –
223) St. L. XVI, 2212.
224) Bretschneider, Systematische Entwicklung aller in der Dogmatik vorkommenden Begriffes S. 68.
64 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 58]
auf den Schriftgrund dieser Einteilung [in αρχέτυπος und έκτυπος], dieses Begriffes der Theologie, aufmerksam gemacht hat. Allein, wo könnte er wohl zu suchen sein als in den Worten des HErrn Matth. 11, 27: ‘Niemand kennet den Sohn denn nur der Vater, und niemand kennet den Vater denn nur der Sohn, und wem es der Sohn will offenbaren.'"225) Unsere alten Theologen haben den Schxiftgrund reichlich aufgezeigt. Scherzer: Theologia αρχέτυπος est ipsius Dei de se ipso cognitio, Nattü. 11, 27; 1 Cor. 2,10 sq.226) Die alten Theologen führen die folgenden Gedanken aus: 1. Nur Gott erkennt Gott; für uns Menschen wohnt Gott in einem uns unzugänglichen Licht, 1 Kor. 2, 10. 11; Joh. 1, 18a; Matth. 11, 27 — 1 Tim. 6, 16. 2. Gott ist aus dem uns Menschen unzugänglichen Licht durch Selbstoffenbarung herausgetreten. Die göttliche Selbstoffenbarung liegt in zweifacher Weise vor: in Gottes Naturreich und in seinem Wort. Die im Reich der Natur vorliegende Selbstoffenbarung (Röm. 1, 19 ff. 32; 2,14.15; Apost. 14, 17; 17,26.27) ist die Erkenntnisquelle der natürlichen Theologie; die in Gottes Wort vorliegende Selbstoffenbarung (Joh. 1, 18b; 8,31.32: Eph. 2. 20) ist die einzige Erkenntnisquelle der christlichen Theologie. Daher ist m der Christenheit nur die Theologie existenzberechtigt die έκτυπος, da ist, lediglich Wiedergabe der in der in der Heiligen Schrift fixiert vorliegenden göttlichen Lehre ist. Man kann hierüber Gerhard nachlesen.227) Theologia έκτυπος ist sachlich nichts anderes, als wenn Luther von den christlichen Lehrern nach der Apostel
---------------------
225) Zeitschr. f. luth. Theol. u. K. 1848, I, 7. Zitiert in Baier-Walther I, 5.
226) Systema, Proleg. de Theologia, p. 2. Bei Quenstedt, Systema I, 5 sq., unter Thesis IV.
227) Gerhard sagt, L. de de Natura Theologiae, § 15 sqq., über die Einteilung der Theologie in theologiam αρχέτυπον καί έκτνπον: 'Αρχέτυπος seu πρωτότυπος est in Deo Creatore, qua Deus seipsum novit in seipso et extra se universa per seipsum actu scientiae individuo et immutabili. . . . ’Έκτυπος theologia est ex priori quasi expressa et efformata per gratiosam communicationem. Das Mittel der Mitteilung der Erkenntnis, die ursprünglich nur in Gott ist, ist das äußere Wort, quo [Deus] in tempore homines alloqnitur. Daraus ergibt sich für die christliche Theologie: principium theologiae supernaturalis adaequatum et proprium esse divinam revelationem, quae cum hodie nonnisi in sacris literis, hoc est, in propheticis Veteris et apostolicis Novi Testamenti libris descripta exstet, inde scriptum Dei Verbum sive, quod idem est, Scripturam Sacram dicimus esse unicum et proprium theologiae principium. Ebenso und noch ausführlicher Quenstedt, Systema I, 5 sqq.
65 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 59-60]
Zeit sagt, daß sie nicht „Propheten” sind, sondern: „der Propheten Kinder”, „Katechumenen und Schüler der Propheten”, weil sie nur nachsagen und predigen, was sie von den Propheten gehört und gelernt haben. Und wenn z.B. Scherzer die Theologie, sofern sie nicht dem in der Schrift vorliegenden Urtyp (theologin entspricht, unter die Kategorie mataeologia bringt und als häretisches, nichtiges Geschwätz bezeichnet,228) so ist das auch nichts Neues, sondern dasselbe, als wenn Luther alles, was ohne Schrift in der Kirche gelehrt wird, nicht Kirchenlehre nennen will, sondern als „Plaudern:” bezeichnet.
Dieser Charakter der christlichen Lehre, daß sie im Gegensatz zu allen menschlichen Gedanken: und Anschauungen doctrina divina sein müsse, ist, wie bereits eingangs bemerkt wurde, von der modernen Theologie prinzipiell völlig aufgegeben. Die Ursache hierfür ist ihre veränderte Stellung zur Heiliger: Schrift. Wem: Luther es den: christlicher: Theologen zur Pflicht macht, sich jeden Gedanken, der nicht den Schriftworten entnommen ist, wieder ausfallen zu lassen, und wenn die Dogmatiker einen Lehrer nur insofern christlich nennen, als seine Lehre theologia έκτυπος, lediglich Wiedergabe der Schriftlehre ist, so hat das seinen Grund darin, daß sie — Luther sowohl als die Dogmatiker — die Heilige Schrift für Gottes eigenes Wort oder für „Gottes Mund” halten. Weil die modernen Theologen diese Stellung zur Schrift ablehnen229) und es für die einzig wissenschaftlich richtige Methode halten, wenn sie sich aus „das fromme Bewußtsein des theologisierenden Subjekts” zurückziehen,230) so ist damit die Theologie anstatt aus die objektive göttliche Wahrheit auf die subjektive menschliche Anschauung eingestellt. Wir haben die Situation, die in den bekannter: Worten Luthers, die Hase seinem Hutterus Redivivus als Motto voranstellt, zum Ausdruck kommt: „Es will jedermann im Laden feil stehen, nicht daß er Christum:
------------------------------
228) Systema, p. 2: In quantum [viatorum theologia] illud αρχέτυπον in Verbo nobis revelatum refert et exprimit, in tantum theologia vera est. Quae ab illo archetypo recedit, falsa et haeretica mataeologia est.
229) Nitzsch-Stephan, S. 258: “In der Gegenwart hat die orthodoxe Imspirationslehre kaum mehr dogmatische Bedeutung.” Horst Stephan, Glaubenslehre, 1921, S. 52: ,„Heute ist die Inspirationslehre von der wissenschaftlichen Theologie ansgegeben; sie wirkt nur in der Laienorthodoxie . . . noch kräftig nach.”
230) Nitzsch-Stephan, S. 12 ff. 15: “Niemand gründet seine Dogmatik in altprotestantischcr Art auf die norma normans” (Bibel).
66 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 60]
oder sein Geheimnis wolle offenbaren, sondern sein eigen Geheimnis und schöne Gedanken, die er über Christi Geheimnis hält, nicht will umsonst gehabt haben, damit er hofft auch die Teufel zu bekehren, so er doch nie eine Mücke bekehrt hat oder bekehren kann, wo nicht das Verkehren das Ärgste daran wäre.”231) Daß dieses Diktum Luthers die Situation in der Kirche der Gegenwart beschreibt, dafür wurde schon ein Zeugnis aus dem modern-theologischen Lager angeführt. Es wird zugestanden, daß die große Übereinstimmung in dem „Prinzip”, nach welchem die christliche Lehre nicht aus der Bibel, sondern aus dem frommen Selbstbewußtsein zu beziehen ist, eine „schier unendliche Fülle” von verschiedenen Richtungen in der Lehre zur Begleiterscheinung habe.232) So tief ist die moderne Theologie durch die Beiseitesetzung des Schriftprinzips unter das christliche Niveau herabgegangen, daß sie „verschiedene Richtungen” in der Lehre sogar als Schönheiten der christlichen Kirche einschätzt und die Übereinstimmung in Lehre und Glauben, die doch in der Schrift so klar gefordert ist,233) als eine Abnormität und als „Repristination” eines „überwundenen” theologischen Standpunktes bezeichnet.
Unter den neueren lutherischen Theologen „konservativer” Richtung ist Hofmann-Erlangen besonders entschieden für die Ichtheologie eingetreten. Man hat ihn deshalb auch wohl den Vater der Ichtheologie innerhalb der lutherischen Kirche des neunzehnten Jahrhunderts genannt. Kürzlich hieß es im Leipziger „Theologischen Literaturblatt”, „daß Hofmann und erst recht Frank bewußt und grundsätzlich die volle Selbstgewißheit des Christentums und seiner Theologie in sich selbst vertraten”.234) Hofmann nämlich erteilt dem Theologen die Weisung, bei der Darstellung der christlichen Lehre nicht nur das, was die Kirche gelehrt hat, sondern auch das, was in der Heiligen Schrift über die christliche Lehre aus-
------------------------------
231) St. L. XIV, 397. Erl. 63, 371.
232) Nitzsch-Stephan, Lehrb. d. ev. Dogmatik 3, S. 16, und Einleitg., S. IX.
233) Die Schrift fordert 1 Kor. 1, 10 αντό λέγειν . . , εν τω αντφ νοΐ και εν tfj avrfj γνώμτ) Eph. 4, 5 die μία πίστις, 2 Tim. 1, 13 νγιαίνοντες λόγοι. Der Ausdruck „gesunde Lehre” (Luther: „heilsame Lehre”), η διδασκαλία ή νγιαί-νονοα, Tit. 1, 9; 1 Tim. 6, 3; 2 Tim. 1,13; 4, 3; 1 Tim. 1,10, ist „reine Lehre” in dem Sinne, daß die in der Kirche vorzutragende Lehre Gottes eigene Lehre sein müsse, ohne Beimischung von menschlichen Gedanken, wie der Ausdruck 1 Tim. 6, 3 vom Apostel selbst erklärt wird.
234) Theol. Literaturblatt, herausgegeben von Ihmels, Leipzig, 8. Dez. 1922. S. 395.
67 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 60-61]
gesagt ist, zunächst gänzlich außer Augen zu tun und statt dessen das theologische Ich zu veranlassen, „in geschlossener Selbständigkeit” über die christliche Lehre auszusagen. Wir setzen eine Stelle aus Hofmanns „Schriftbeweis” hierher. Hofmann meint:235) „Jenes Verhältnis zu Gott [in Christo], nachdem ich seiner teilhaftig geworden, hat ein selbständiges Dasein in mir begonnen, welches, obwohl nur innerhalb der schriftgläubigen Kirche möglich, doch nicht von der Kirche abhängt noch von der Schrift, auf die sich die Kirche beruft, auch nicht, an jener oder dieser die eigentliche und nächste Verbürgung seiner Wahrheit hat, sondern in sich selbst ruht und unmittelbar gewisse Wahrheit ist, von dem ihm selbst einwohnenden Geiste Gottes getragen und verbürgt. Demnach will und muß dasselbe, wo man es sich zur Erkenntnis und Aussage [Lehrdarstellung] bringen lassen will, rein nur es selber bleiben, unvermengt mit dem, ungestört durch das, was außer ihm, also außer uns, wo irgend gelegen ist. Und ob das außer uns Gelegene in noch so naher, in ursächlicher Beziehung steht zu dem in uns, und ob es sich als die gleiche Wahrheit unzweifelhaft zu erkennen gibt: hier gilt es, die eine nächste Aufgabe rein für sich, in geschlossener Selbständigkeit, zu vollziehen. Freilich werden, wo es recht hergeht, Schrift und Kirche ganz das Gleiche bieten, was wir in uns selbst erheben. Aber es dort aufzufinden, ist eine zweite Aufgabe nach jener.” Aus den letzten Worten Hofmanns geht hervor, daß Hofmann nachträgliche Revision des Ichprodukts nach der Schrift, als oberster Norm, verspricht. Dieses Versprechen hat Hofmann den Vorwurf der Inkonsequenz, das ist, den Vorwurf des Abfalls vom Ichprinzip und des Rückfalls in „Biblizismus” und „Intellektualismus”, eingetragen. Ganz neuerdings tadelt wieder Horst Stephan an Hofmann die Hinzufügung eines „Schriftbeweises” mit der Begründung: „Damit nahm man der dogmatischen Methode die Einheitlichkeit; man kam im Grunde auf die biblizistische und konfessionalistische Dogmatik zurück.”236) Und dieser Vorwurf der Inkonsequenz ist, vom erlebnis-theologischen Standpunkt Hofmanns aus angesehen, berechtigt. Hofmann leugnet ja sehr entschieden, daß die Heilige Schrift durch Inspiration Gottes unfehlbares Wort ist. Ist aber die Schrift nicht Gottes unfehlbares Wort, sondern muß in ihr der Theolog zwischen Wahrheit und Irrtum unterscheiden, so ist ihm die Schrift nicht mehr eine Norm,
---------------------------
235) Schriftbeweis 2 1.11. 236) Glaubenslehre, Gießen 1921, S. 21.
68 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 61-62]
sondern eine norma normata, die von dem Ich des Theologen zu examinieren und zu korrigieren ist. Überhaupt steht es ja so, daß sich die Funktionen der Schrift, wonach sie beides, Quelle und Norm der christlichen Lehre,' ist, nicht voneinander trennen lassen. Die Schrift ist nur dadurch und deshalb die Norm der christlichen Lehre, weil sie deren einzige Quelle ist. Und wer von uns in der abnormen theologischen Verfassung sich befindet, daß er meint, zum Zweck der Darstellung der christlichen Lehre die Bibel zunächst gänzlich aus den Augen tun und statt dessen in das eigene Ich hineinschauen zu müssen, der wird schwerlich hinterher die Bibel wieder zu dem Zweck öffnen, sie als korrigierende Norm gegen sein Ichprodukt zu verwenden. Vielmehr wird er kraft der einmal eingeschlagenen falschen Richtung die Bibel hinterher zu dem Zweck öffnen, sie auf seine Menschengedanken zu ziehen. So hat denn auch Hofmann die versprochene nachträgliche Revision an dem, was er unter Beiseitesetzung der Schrift „rein für sich, in abgeschlossener Selbständigkeit” in seinem Ich „gefunden” hatte, nicht vollzogen. Er hat vielmehr auch solche Teile des Ichprodukts wie die Leugnung der satisfactio vicaria auch gegen warnende Freunde in seinen „Schutzschriften” in geradezu fanatischer Weise verteidigt, wie man damals sagte: mit dem Zorn der Löwenmutter, der man ihr Junges rauben will. Es sollte doch jedem Theologen völlig klar sein, daß wir an diesem Punkte vor einem aut — aut stehen. Entweder lassen wir die Schrift Gottes eigenes Wort sein und lehren aus ihr, als der einzigen Quelle und Norm der Theologie, doctrinam divinam, oder wir leugnen, daß die Schrift Gottes unfehlbares Wort ist, unterscheiden in ihr zwischen Wahrheit und Irrtum und lehren aus unserm Ich heraus in Gottes Kirche unsers eigenen „Herzens Gesicht”. Die göttliche Autorität, die wir der Schrift absprechen, sprechen wir notwendig unserm eigenen menschlichen Geist zu. Wir schwimmen im Meer des Subjektivismus. Die menschliche Meinung wird in der Kirche auf den Lehrstuhl gesetzt. Die Theologie ist nicht mehr theozentrisch, sondern anthropozentrisch orientiert.
Wie ernstlich die Lossagung von der Schrift und damit von der doctrina divina seitens der modernen Theologen gemeint ist, geht daraus hervor, daß sie nicht bloß defensiv auftreten (z.B. durch die Behauptung, daß sie nur „alte Wahrheit” in „neuer Weise” lehren), sondern auch zu einer stark ausgeprägten Offensive übergehen. Sie belegen das Beziehen der christlichen Lehre aus der Schrift mit einer ganzen Reihe von bösen Namen wie: Intellektualismus,
69 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 62-63]
Biblizismus, Buchstabentheologie, mechanische Schriftauffassung, [see page 62, C.D. I] Auffassung der Schrift, als ob sie ein Lehrgesetzbuch, ein vom Himmel gefallener Gesetzeskodex, ein papierner Papst usw. wäre. Wir stoßen an diesem Punkte bei den modernen Theologen so ziemlich auf das ggnze Vokabular von Scheltworten, das sowohl die Römischen als die reformierten Schwärmer gegen Luther und die lutherische Kirche verwendeten. Auch römische Theologen haben darüber gespottet, daß die christliche Kirche hinsichtlich ihrer Lehre von „Papier” und „Pergament” abhängig sein sollte.237) Sie hatten dabei das Interesse, das Ich des Papstes als Quelle und Norm der christlichen Lehre festzuhalten. Ebenso schalten die reformierten Schwärmer Luthers Festhalten am Schriftwort tote Buchstabentheologie und unevangelisches Christentum. Sie hatten dabei das Interesse, dem „Heiligen Geist”, dem ein „Wagen” (vehiculum, plaustrum) weder nötig noch anständig sei,238) freie Bahn in der Kirche zu schaffen. Weil aber Gottes Heiliger Geist die Weise hat, einen „Wagen”, nämlich die Gnadenmittel, zu gebrauchen, so war das Interesse — bewußt oder unbewußt — tatsächlich kein anderes, als den angeblich unmittelbar erleuchteten eigenen Geist in der Kirche Gottes auf den Herrscherthron zu setzen. Und wenn nun die modernen Theologen das Beziehen und Normieren der christlichen Lehre aus der Heiligen Schrift als Intellektualismus, Buchstabentheologie usw. bezeichnen und vom papiernen Papst reden und an Stelle der Schrift das „Erlebnis” des Theologen zur Quelle und Norm der christlichen Lehre machen, so ist das Interesse — bewußt oder unbewußt oder halbbewußt — kein anderes, als das Produkt des eigenen Geistes in Gottes Kirche als oberste Autorität zu etablieren. Die göttliche Autorität, welche der Schrift abgesprochen wird, wird tatsächlich dem Ich des Theologen zugesprochen. Wir haben das Resultat, das Luther als Folge der papistischen Diskreditierungen der Schrift so beschreibt: „Sie reden solch Ding nur darum, daß sie uns aus der Schrift führen und sich selbst zu Meistern über uns erheben, daß wir ihre Traumpredigten glauben sollen.”239) Und gegen die
------------------------
237) Mit überaus törichter Berufung auf 2 Kor. 3, 3: „nicht mit Tinte, sondern mit dem Geist des lebendigen Gottes”. Franz Coster behauptet in seinem Enchiridion Controversiarum Praecipuarum, c. 1, p. 43: Christum nec ecclesiam suam a chartaceis Scripturis pendere nec membranis mysteria sua committere voluisse. (Bei Quenstedt I, 90. 92.)
238) Vgl. die Zitate unter dem Abschnitt „Die Ursache der Parteien innerhalb der äußeren Christenheit”, S. 26.
239) St. L. V, 334 f.
70 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 63-64]
reformierten Schwärmer, die sich wider das Schriftwort auf ihren unmittelbar erleuchteten „Geist” beriefen, schreibt Luther: „Grund und Ursach' solches ihres Dünkels ist, daß man diese Worte, ‘Das ist mein Leib' müsse aus den Augen tun und zuvor durch den Geist die Sachen bedenken. . . . Dieser Teufel geht frei daher ohne Larve und lehrt uns öffentlich die Schrift nicht ansehen,240) gleichwie der. Münzer und Carlstadt auch taten, welche hatten auch ihre Kunst aus dem Zeugnis ihrer Inwendigkeit und durften der Heiligen Schrift nicht für sich selbst, sondern für die andern zu lehren als ein äußerlich Zeugnis des Zeugnisses in ihrer Inwendigkeit.”
Wie allgemein die Ichtheologie gegen das Schriftprinzip auf den Plan tritt und den modern-theologischen Markt beherrscht, geht daraus hervor, daß nicht nur die ausgesprochen liberalen Theologen, sondern auch die als Positiv geltenden von „Intellektualismus” usw. reden, falls die christliche Lehre aus der Schrift anstatt aus dem Innern des Theologen geschöpft und normiert werde. Auch Ihmels z. B. beschuldigt sowohl die erste Kirche als auch die Kirche der Reformation und insonderheit die Dogmatiker einer intellektualistischen Schriftauffassung, weil sie sich für die christliche Lehre direkt auf die Schrift beriefen.241) Ihmels hat zwar eine Entschuldigung für die erste Kirche. Die „junge Theologie” habe es mit einem Gegensatz zu tun gehabt, der „zum guten Teil selbst religiös orientiert war”. Deshalb habe es nahe gelegen, sich auf eine einzigartige übernatürliche Offenbarung zu berufen. Gemeint ist die Berufung auf das Wort der Propheten und Apostel als Gottes Wort und Lehre. Aber verkehrt sei diese Methode doch gewesen, weil „wesentlich intellektualistisch”. Ebenso hat Ihmels eine Entschuldigung für das „reformatorische Christentum”. Die Kirche der Reformation hatte es ebenfalls mit einem Gegensatz zu tun, der stark religiös orientiert war. Die römische Kirche nahm für die in ihr geltende traditionelle Lehre göttliche Autorität in Anspruch. War demgegenüber das Interesse der Kirche der Reformation auf reine Lehre gerichtet, „dann konnte dies Interesse am sichersten dadurch gewährleistet scheinen, daß diese Lehre ganz direkt mit der
------------------------------
240) St. L. XX, 1022 f. Vgl. Zwinglis Mahnung, „daß sich niemand verärgern lasse in den ängstigen Ersuchungen der Worte (die Abendmahlsworte find gemeint); denn wir setzen unsern Grund nicht darein”. Abgedruckt in Luthers Werken, St. L. XX, 477.
241) Zentralfragen 2, S. 56 ff.
71 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 64]
Autorität göttlicher Offenbarung gedeckt werde”. Aber auch diese Methode des reformatorischen Christentums war verkehrt, weil wesentlich intellektualistisch. Ihmels urteilt: „Auch die Reformation und erst recht die alte Dogmatik blieb im wesentlichen bei dem intellektualistischen Offenbarungsverständnis stehen.” Auch Ihmels will daher, um dem Verstandeschristentum, dem Intellektualismus, dem Biblizismus usw., zu entgehen, die christliche Lehre wenigstens nicht allein aus der Schrift schöpfen.
Es drängt sich die Frage auf, wie die modernen Theologen wohl zu der sonderbaren Meinung kommen, daß das Festhalten am Schriftprinzip Intellektualismus, ein bloßes Verstandeschristentum, tote Orthodoxie ohne innere Wärme, involviere. Der sonderbaren Meinung entspricht eine sonderbare Begründung. Man meint, es fehle bei der alten Methode die „psychologische Anknüpfung” oder „Vermittlung”. Richard Rothe 242) legt die angebliche Sachlage so dar: „Es ist verkehrt, wenn die alte Dogmatik die (göttliche) Offenbarung sogleich mit einer Mitteilung übernatürlicher Wahrheiten einsetzen läßt. Sie [die alte Dogmatik] muß dabei an eine mechanische Eingießung solcher Wahrheiten denken, und diese trägt notwendig magischen Charakter, weil ihr die psychologische Anknüpfung bei den Menschen fehlt.” Das wäre freilich eine böse Sachlage. Dagegen ist zu erinnern: Weder muß die alte Dogmatik an eine mechanische Eingießung der übernatürlichen Wahrheiten denken, noch hat sie an eine solche Eingießung gedacht. Vielmehr hat die alte Dogmatik die „psychologische Vermittlung” sich genau so gedacht wie der Apostel Paulus 1 Kor. 2, nämlich so, daß bei der Verkündigung „der göttlichen Predigt” (bei dem μαρτνριον τον ϑεον) der Heilige Geist gegenwärtig und psychologisch wirksam ist, das heißt, daß der Heilige Geist der göttlichen Predigt in der Psyche, in den Herzen der Zuhörer, durch Wirkung des Glaubens Anerkennung verschafft. Es ist außer Frage, daß gerade auch die alte Dogmatik die psychologische Vermittlung sich so gedacht hat. Quenstedt ist ja allgemein als ein Repräsentant der alten Dogmatik anerkannt. Quenstedt aber schreibt:243) „Das Evangelium von Christo empfängt sein Wahrheitszeugnis durch das Zeugnis des Heiligen Geistes, das der Heilige Geist inwendig in unsern Herzen ablegt (perhibet). . . . Der Heilige Geist legt
----------------------
242) Zitiert bei Ihmels, Zentralfragen, S. 60. Ihmels selbst über die „psychologische Vermittlung” a. a. O., S. 78.
243) Systema 1715, I, 145.
72 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 64-65]
Zeugnis ab, daß die Lehre des Heiligen Geistes ‘Wahrheit', das ist, durchaus wahr sei, wenn er innerlich durch die von ihm geoffenbarte und in der Schrift begriffene Lehre in den Menschenherzen wirkt, sie berührt, zieht und bewegt, so daß sie die Lehre als von Gott stammende oder als wahrhaft göttliche Lehre glauben.” Es ist also in der alten Dogmatik „die psychologische Vermittlung” völlig in Ordnung. Und — so müssen wir hinzusetzen — eine andere „psychologische Vermittlung” der übernatürlichen Wahrheiten des Christentums gibt es überhaupt nicht, weil das Evangelium von Christo, dem Gekreuzigten, nicht nur in keines Menschen Herz gekommen ist,244) sondern auch jedem natürlichen Menschen als ein Ärgernis und eine Torheit erscheint.245) Die gesamte apologetische Tätigkeit, die uns zur Verfügung steht, ist nicht imstande, das menschliche Herz zu andern und so dem Evangelium von Christo innerlich Anerkennung zu verschaffen. Auch diesen Punkt stellt der Apostel Paulus klar ins Licht. ' Er berichtet 1 Kor. 2 ausdrücklich, daß er sich des „Psychologischen Anknüpfungspunktes” durch vernünftige Reden menschlicher Weisheit (εv πειϑοϊς σοφίας λόγοις) enthalten habe, damit der Glaube der Korinther nicht auf Menschenweisheit zu stehen komme, sondern in Beweisung des Geistes und der Kraft seinen Bestand habe. Es liegt daher eine große Verirrung in der Behauptung, daß durch direktes Lehren der göttlichen Wahrheiten aus der Schrift eine bloße Verstandeserkenntnis, „Intellektualismus”, erzeugt werde oder eine „mechanische Eingießung übernatürlicher Wahrheiten” stattfinde. Und, nebenbei bemerkt: Welche innerliche Überhebung der Ichtheologie tritt uns hier entgegen! Wir dürfen wohl auf allgemeine Zustimmung rechnen, wenn wir sagen: Kann das geschriebene Wort der Apostel und Propheten Christi sich in den Menschenherzen nicht Anerkennung verschaffen oder sich „psychologisch” vermitteln, so wird es noch viel weniger das Wort tun, das doch nur dem „Erlebnis” moderner Theologen entstammt. Bekanntlich ist auf diesen Punkt auch in den Schmalkaldischen Artikeln hingewiesen, wenn es dort von den Enthusiasten in der kräftigen Sprache Luthers heißt: „Das ist alles der alte Teufel und alte Schlange, der Adam und Eva auch zu Enthusiasten machte, vom äußerlichen Wort Gottes auf Geisterei und Eigendünkel (proprias opiniones) führte und tat's doch auch durch andere äußere Worte. Gleichwie auch unsere Enthusiasten das
------------------------------------
244) 1 Kor. 2, 9; Röm. 16, 25. 245) 1 Kor. 1, 23; 2, 14.
73 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 66]
äußerliche Wort verdammen, und doch sie selbst nicht schweigen, sondern die Welt voll plaudern und schreiben, gerade als könnte der Geist durch die Schrift oder mündlich Wort der Apostel nicht kommen, aber durch ihre Schrift und Wort müßte er kommen!"246)
Überhaupt bewegt sich die ganze Terminologie der neueren Theologen, die die christliche Lehre aus dem eigenen Innern beziehen wollen, auf dem Gebiet der Selbsttäuschung und damit auf dem Gebiet der Unwahrheit. Das ist klar erkennbar, wenn wir uns das hierher gehörende Vokabular in seinen Hauptpunkten vergegenwärtigen. Die theologischen Lehrer unserer Zeit haben die unabweisbare Pflicht, der studierenden Jugend die hier vorliegenden Selbsttäuschungen aufzudecken.
Eine Selbsttäuschung liegt vor in der Berufung auf das christliche „Erlebnis”. Es gibt freilich ein christliches Erlebnis. Ohne persönliches christliches Erlebnis gibt es kein Christentum. Jeder Mensch, der ein Christ ist, erlebte und erlebt noch immerfort erstlich seine persönliche Verdammungswürdigkeit vor Gott und sodann das Vertrauen des Herzens auf die Vergebung der Sünden, die Christus durch seine satisfactio vicaria erworben hat. Aber dieses doppelte Erlebnis vermittelt sich nur durch die Verkündigung oder das Lehren des Wortes Gottes, erstlich des Gesetzes und dann des Evangeliums. Wie Christus in seinem Namen unter allen Völkern zu predigen befiehlt Buße (μετάνοιαν) und Vergebung der Sünden (αφεσιν αμαρτιών).247) Denselben Auftrag erhielt in einer Spezialerscheinung Christi der Apostel Paulus, und erhaltenem Aufträge gemäß verkündigte Paulus Juden und Heiden Buße und Bekehrung zu Gott (μετανοεϊν καί επιοτρέφειν έπι τον θεόν).248) Beiderlei Wort, das Wort des Gesetzes und das Wort des Evangeliums, hat nun die christliche Kirche bis an den Jüngsten Tag in dem schriftlich fixierten Wort der Apostel. Und aus diesem Wort, das Gottes eigenes Wort ist und Gottes eigenes Urteil in re „Sünde” und „Vergebung der Sünden” zum Ausdruck bringt, und nicht aus dem Erlebnis der Theologen, unter Beiseitesetzung des Schriftworts, wie die Ichtheologie uns zumutet, ist Buße (contritio) und Vergebung der Sünden (remissio peccatorum sive fides in Christum) in der christlichen Kirche zu lehren. Was „Großvater” und „Vater” der Ichtheologie im neunzehnten Jahrhundert, Schleiermacher und Hofmann, samt ihren Nachfolgern aus ihrem Innern über die Sünde
---------------------------
246) M. 322, 5. 6. 247) Luk. 24, 46. 47. 248) Apost. 26, 20.
74 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 66-67]
gelehrt haben, dadurch kann in keinem Menschen contritio und fides, nämlich fides in Christum crucifixum, gewirkt oder „erlebt” werden. Es ist ziemlich allgemein zugestanden, daß Schleiermacher von seinem reformiert-pantheistischen Standpunkt aus den Begriff der Sünde überhaupt nicht kennt. Und wenn Hofmann aus seinem der Schrift gegenüber „selbständigen” Glaubensbewußtsein die Erbsünde leugnet,249) so ist auch er konsequenterweise ein schlechter Bußprediger. Beide, Schleiermacher und Hofmann, leugnen ferner die satisfactio vicaria, und damit liegt auf der Hand, daß sie, soweit die aus ihrem Ich geschöpfte Lehre in Betracht kommt, die Läss an den gekreuzigten Sünderheiland nicht wirken oder „erleben” lassen können. Es gilt, klar zu erkennen und festzuhalten, daß erstlich die contritio nicht aus menschlichen, speziell auch nicht aus „wissenschaftlich vermittelten” Anschauungen von der Sünde zu lehren ist, sondern aus Gottes eigenem Gesetzesurteil, das die Kirche ebenfalls bis an den Jüngsten Tag in dem in der Schrift geschriebenen Gesetz besitzt, gelehrt werden muß, und zwar ohne Zusatz und ohne Abtun.250) Das ist dann „die Donneraxt Gottes, damit er beide die offenbarlichen Sünder und falschen Heiligen in einen Haufen schlägt und läßt keinen recht haben, treibt sie allesamt in das Erschrecken und Verzagen. . . . Das ist nicht activa contritio, eine gemachte Reu', sondern passiva contritio, das rechte Herzeleid, Leiden und Fühlen des Todes. Und heißt die rechte Buße anfangen, und muß der Mensch hie hören [nämlich aus Gottes Wort] solch Urteil: Es ist nichts mit euch allen; ihr seid öffentliche Sünder oder Heilige, ihr müßt alle anders werden und tun, weder ihr jetzt seid und tut, ihr seid, wer und wie groß, weise, mächtig und heilig, als ihr wollt; hie ist niemand fromm"251) Und in bezug auf den Glauben, der zur contritio, zu den terrores conscientiae, hinzukommen muß, ist festzuhalten, daß er ebenfalls nicht aus menschlichen Anschauungen — auch nicht aus „wissenschaftlich vermittelten Anschauungen” — von der Vergebung der Sünden zu lehren ist, sondern lediglich aus Gottes Anschauung, das ist, aus Gottes Wort, das die Kirche, Gott sei Dank, in dem in der Schrift geschriebenen Evangelium besitzt. Das ist dann das Evangelium Gottes, το εναγγέλιον τον θεοΰ, zu dem Paulus ausgesondert war,252) das er tatsächlich verkündigte 253) und das er sich weder durch theologisierende
-----------------------------
249) Schriftbeweis 2 I, 562. 250) Matth. 5, 17—19. Gal. 3, 10. 12.
251) Schmalk. Art., 312, 1—3. 252) Röm. 1,1.
253) Röm. 15, 16.
75 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 67-68]
Menschen noch auch durch einen Engel vom Himmel verändern lassen will.25st Wenn dies Evangelium Gottes in der Kirche verkündigt und gelehrt wird, dann ist da, wie Luther sagt, „die tröstliche Verheißung der Gnade durchs Evangelium”.255) Durch das Wort des Evangeliums entsteht der christliche Glaube, am Wort des Evangeliums hat er sein Objekt, und im Wort des Evangeliums ergreift er die von Christo erworbene Vergebung der Sünden. Luther: Haec est fides apprehensiva Christi, pro peccatis nostris morientis et pro iustitia nostra resurgentis. Hanc fidem Paulus praedicat, quam Spiritus Sanctus ad vocem evangelii in cordibus audientium donat et servat.256) Kurz, das christliche Erlebnis von Sünde und Gnade kommt zustande, nicht durch unmittelbare Wirkung Gottes, auch nicht durch Gottes Wirkung im Reich der Natur und in der Geschichte, sondern lediglich durch die Offenbarung Gottes in seinem Wort. Sofern wir uns, wir seien „Laien” oder „Theologen”, von der Heiligen Schrift als Gottes eigenem, an unsere Adresse gerichtetem Wort losmachen, machen wir uns auch vom christlichen „Erlebnis” los. Man beruft sich auf Ereignisse im Reich der Natur und in der Geschichte, durch welche Gott gewaltig in unser Leben eingreife. Nun, solche Ereignisse können hinzukommen, und sie kommen hinzu, um äußerlich des Menschen Aufmerksamkeit auf die Verkündigung des Wortes Christi zu richten. Aber das Erlebnis von Sünde und Gnade, wodurch ein Mensch ein Christ wird und ein Christ bleibt, wird nur durch das Lehren des göttlichen Wortes gewirkt, einerlei ob die Schrift ausdrücklich zitiert wird oder nicht. Ohne die Verkündigung des Wortes Christi bedeckt Finsternis das Erdreich und Dunkel die Völker, obwohl die Völker von „Geschichte” umgeben sind und auch reichlich Gottes Hand in Erdbeben, Kriegen, Hungersnot usw. „erleben”.257) Daher hatte und hat die Kirche Christi Missionspflicht unter allen Völkern bis an die Enden der Erde und bis ans Ende der Tage, einerlei was und wieviel sich dort auf dem Gebiet der Geschichte und im Reich der Natur ereignet. Denn wie sollen sie glauben, von dem sie nichts gehört haben? Der Glaube kommt aus der Predigt, das Predigen aber durch das Wort Gottes.258)
----------------------------
254) Gal. 1, 7—9. 255) Schmalk. Art., Art. von der Buße, 312, 4.
256) Opp. v. a. IV, 486.
257) Vgl. weitere Darlegungen über diesen Punkt II, 128 ff., auch II, Note 255; II, 536.
258) Röm. 10, 14. 17.
76 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 68-69]
Eine Selbsttäuschung liegt ferner vor, wenn die moderne Theologie an die Stelle der Schrift den „Glauben” oder das christliche „Glaubensbewußtsein” als Bezugsquelle der christlichen Lehre setzt, wie dies nicht nur die links-, sondern auch die rechtsstehenden neueren Theologen tun. 259) Es gibt freilich ein christliches Glaubensbewußtsein und auch ein Reden oder Lehren aus diesem Bewußtsein. „Ich glaube, darum rede ich”, επίστενοα, διό καί έλάλησα.260) Aber dieser christliche Glaube vermittelt sich in der Christenheit ebenfalls nur durch den Glauben an der Apostel Wort, wie Christus Joh. 17, 20 ausdrücklich erklärt, daß alle Gläubigen bis an den Jüngsten Tag durch der Apostel Wort an ihn glauben werden. Der Glaube, welcher nicht Glaube an der Apostel Wort ist, nicht der Apostel Wort zur Quelle und Norm hat, sondern sich von diesem Wort losmacht, ist ex toto, seinem ganzen Umfange nach, menschliche Einbildung, wie der Apostel Paulus 1 Tim. 6, 3 ausdrücklich erklärt, indem er jedem Lehrer, der nicht bei den gesunden Worten Christi bleibt, Typhose und Unwissenheit zuschreibt. Auch Luther sagt: „Der Glaube lehrt und hält die Wahrheit”, fügt aber sofort hinzu: „Denn er haftet an der Schrift, die lügt und trügt nicht.” „Glaube” und „Gottes Wort” sind allerdings unzertrennlich miteinander verbunden. Aber nicht in der Weise, daß der Glaube das erste und die Lehre das zweite wäre, so daß der Glaube die Lehre setzte, sondern umgekehrt so, daß Gottes Wort das erste ist, das den Glauben setzt und bestimmt. Wie Luther sagt: „Das Wort Gottes ist das erste von allem; dem folgt der Glaube.” „Was seine Ankunft [Herkunft] aus der Schrift nicht hat, das ist gewißlich vom Teufel selbst.” Dadurch, sagt Luther, daß die Theologen von der Schrift abgekommen sind, „die allein aller Weisheit Quelle [in der Theologie] ist”, sind „Ungeheuer” (portenta) von Theologen geworden, „wie Thomas, Scotus und andere”.261) Dieses scharfe Urteil Luthers trifft voll und ganz die moderne Theologie, sofern sie nicht Gottes Wort, die Heilige Schrift, Erkenntnisquelle und Objekt des Glaubens sein lassen will, sondern den Glauben
------------------------
259) Nitzsch-Stephan, S. 7: „Am schärfsten vertreten diese Ansicht Julius Kaftan und Herrmann; aber auch Ihmels betont kräftig, daß es immer nur ,auf eine scharfe begriffliche Fixierung dessen abgesehen sein kann, was dem Glauben unmittelbar gewiß ist'. (Zentralfragen, S. 101.)"
260) 2 Kor. 4,13; Ps. 116,10.
261) St. L. XI, 162; XIX, 34; XIX, 1080; I, 1289 f. Exeg. opp Lat.. Erl. IV, 328.
77 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 69-70]
zu seiner eigenen Quelle und zu seinem eigenen Objekt macht. Manche Vertreter der Ichtheologie sind zu der abenteuerlichen Behauptung fortgeschritten, daß die christliche Religion es überhaupt „nicht eigentlich” mit Lehre zu tun habe, und daß daher auch die Heilige Schrift nicht als „ein göttliches Religionslehrbuch” 262) aufzufassen sei. Diese Auffassung, die sich bei den alten Dogmatikern und auch noch bei Luther finde, sei als ein Überbleibsel aus dem Papsttum anzusehen. Auch in Meusels „Kirchlichem Handlexikon” hat dieser moderne sowohl schriftwidrige als auch unvernünftige Gegensatz zwischen Lehre und christlicher Religion Aufnahme gefunden, wenn es dort heißt: „Es handelt sich innerhalb des Neuen Testaments, auch bei dem Apostel Paulus, zunächst nicht um Lehre, sondern um Offenbarung und Religion. Was Grau (in Zöckler, Handbch. d. theol. Wissensch. 1,561) für den Paulinismus bemerkt, der Inhalt desselben sei Religion und Leben, nicht Lehrbegriff oder Lehrsystem, gilt vom ganzen Neuen Testament.” 263) Auch bei Ihmels finden sich wiederholt Äußerungen wie diese: „Es muß deutlich werden, wie gerade der evangelische Glaube ein Verständnis der Offenbarung aufdrängt, das nicht in einer Lehrmitteilung das Wesentliche sieht, sondern in einem tatsächlichen Aussichheraustreten Gottes.” 264) Als ob nicht Christi Wort, das wir im Wort seiner Apostel haben, ein „Aussichheraustreten” Gottes und eine „Lehrmitteilung” wäre, auf welche allein der Glaube, der die Wahrheit erkennt, sich gründet, wie Christus Joh. 8 ausdrücklich erklärt: „So ihr bleiben werdet an meiner Rede (λόγος), . . . so werdet ihr die Wahrheit erkennen.” Mit Recht hat in neuerer Zeit Eduard König 265) vor dem Unterfangen, dem Glauben sein Objekt, nämlich die in der Schrift vorliegende Lehre, zu entziehen, gewarnt, weil dadurch der biblische Begriff von „glauben” aufgegeben und die Art der christlichen Religion als einer positiven Religion umgestoßen werde. Es liegt in der Tat eine fast unbegreifliche Geistesverirrung vor, wenn man von der christlichen Religion, selbst auch nur „zunächst”, die „Lehre” oder die „Lehrmitteilung"
----------------
262) Nitzsch-Stephan, S. 249.
263) Kirchl. Handlexikon IV, 209, sub „Lehrbegriff”.
264) Ihmels, Aus der Kirche usw., 1914, S. 18. Vgl. a. a. O., S. 110. 137. 144 u. öfter.
265) In der Schrift „Der Glaubensakt des Christen, nach Begriff und Fundament untersucht”, 1891, S. 119. Auch in seiner neuesten Schrift, „Theologie des A. Ts.”, 1921, S. 313, kommt Könit auf diesen Punkt zurück.
78 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 70-71]
ausscheidet und allen Ernstes behauptet, nicht „Lehre”, sondern „Glaube” sei zu predigen, mit der hinzugefügten Begründung, daß nur auf diese Weise „lebendiges Christentum entstehe und der toten Orthodoxie”, dem „Intellektualismus”, gewehrt werde. Die Sache liegt doch so, daß die christliche Religion von allem Anfang an als Lehre oder Lehrmitteilung in die Welt getreten ist. Lehre sind schon die Worte von dem Weibessamen, der der Schlange den Kopf zertreten wird, 1 Mos. 3,15. Ja, der Apostel Paulus versichert uns, daß das ganze Alte Testament uns zur Lehre, εις την ήμετέ-ραν διδασκαλίαν, προς διδασκαλίαν, geschrieben sei, Röm. 15, 4; 2 Tim. 3,16. Und als die Zeit erfüllt, der Sohn Gottes im Fleisch erschienen war und hier auf Erden wandelte, da übte er selbst die Lehrtätigkeit aus. Er lehrt aus dem Schiff (Luk. 5,3), vom Berge (Matth. 5, 2), in den Synagogen (Luk. 4, 15), zieht lehrend durch das Land (Matth. 4, 23). Auch die vierzig Tage zwischen Auferstehung und Himmelfahrt benutzt Christus noch zum Lehren (Apost. 1,3), und vor seiner Himmelfahrt gibt er seiner Kirche den Auftrag, die Völker bis an den Jüngsten Tag zu lehren: „Lehret sie halten alles, was ich euch befohlen habe!” Dem sind die Apostel nachgekommen. Der Apostel Paulus hat nicht abgelassen, öffentlich und sonderlich (κατ’ οϊκονς) den ganzen Rat Gottes zu lehren, Apost. 20,20.27. Und wie Paulus seine eigene Lehrtätigkeit betont, so gebietet er auch Timotheus und Titus, an der Lehre festzuhalten, die sie von ihm gelernt haben, 2 Tim. 1, 13; Tit. 1, 9; 2 Tim. 2, 2. Ein Bischof soll lehrhaftig, διδακτικός, sein (1 Tim. 3,2), und der erste Gebrauch der Schrift ist der Gebrauch zur Lehre, προς διδασκαλίαν(2 Tim. 3,16). Und wie die Lehrer in den Gemeinden, so sollen auch die Gemeinden an der Lehre bleiben und die Lehre unter sich in Übung halten, Kol. 3,16: „Lasset das Wort Christi unter euch reichlich wohnen in aller Weisheit; lehret und vermahnet euch selbst!” und 2 Thess. 2,15: „So stehet nun, liebe Brüder, und haltet an den Satzungen, die ihr gelehret seid, es sei durch unser Wort oder Epistel.” An den Christen zu Jerusalem wird gelobt, daß sie beständig blieben in der Lehre (διδαχή) der Apostel, Apost. 2,42; und der Apostel Johannes hält das Bleiben an der Lehre Christi für so wichtig, daß er die Weisung erteilt, jedem, der die Lehre Christi nicht bringt, die christliche Bruderschaft zu verweigern, 2 Joh. 9—11. Wenn nun trotzdem moderne Theologen behaupten, daß die Heilige Schrift, das geschriebene Wort der Apostel und Propheten, nicht als „Lehre” oder
79 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 71-72]
als „Lehrbuch” der christlichen Religion anzusehen und zu behandeln sei, so haben wir es jedenfalls mit einer Auffassung der christlichen Religion zu tun, die zu der Auffassung Christi und seiner Apostel und Propheten in einem diametralen Gegensatz steht.
Eine Selbsttäuschung liegt ferner vor in der Berufung auf das „wiedergeborne Ich” oder den neuen Menschen des Theologen. Es gibt freilich ein Reden und Lehren aus dem wiedergebornen Ich oder aus dem neuen Menschen. Ja, es ist Gottes Wille, daß alle Lehrer der Kirche wiedergeborne oder neue Menschen seien, wie unter dem Abschnitt „Die nähere Beschreibung der Theologie als Tüchtigkeit gefaßt” dargelegt wurde. Aber es ist eine Beleidigung des wiedergebornen oder neuen Menschen, ihm die Torheit zuzutrauen, daß er die Schrift, wenn auch nur „zunächst”, aus den Augen tue und nach einer andern Quelle und Norm der christlichen Lehre Umschau halte. Wo diese Methode befolgt wird, da treibt der alte Mensch „Theologie”. Da betätigt sich der Revolutionär, der den Grund umstößt, auf den die christliche Kirche erbaut ist, Eph. 2, 20. Da ist Nietzsches „Übermensch” auf theologisches Gebiet geraten. Wie Nietzsche sein Ich über Gottes Sittengesetz stellt, „jenseits von Gut und Böse”, so nimmt auf theologischem Gebiet der moderne Theologe seine Stellung über Gottes Wort ein, wenn er behauptet, in der Schrift zwischen Wahrheit und Irrtum unterscheiden zu müssen und als Wahrheit nur das annehmen zu können, was sich an seinem Ich, seinem „Erlebnis” usw. als Wahrheit bewährt hat. Solche Theologie treibt der neue Mensch nicht. Der neue Mensch im Theologen ist so verständig, daß er die Schrift als Gottes Wort erkennt, sich ihr unbedingt unterstellt, nur nach dem „Es steht geschrieben” denkt und urteilt und daher mit Luther sich alles wieder ausfallen läßt, was ihm nach dem alten Menschen' ohne Schrift eingefallen ist. Der neue Mensch weiß aus Joh. 8,31.32, daß die göttliche Wahrheit nur durch das Bleiben an Christi Wort erkannt wird, und hält sich daher an die für alle Lehrer geltende Generalregel 1 Petr. 4, 11: „So jemand redet [nämlich in der christlichen Kirche], daß er's rede als Gottes Wort.” Wir sprechen, nicht allen Theologen, die in die Ichtheologie verstrickt sind, das persönliche Christentum ab. Es gibt auch hier eine „glückliche Inkonsequenz”. Es kommt auch vor, daß ein und derselbe Theologe in ein und derselben Schrift sich widerspricht, indem er es einerseits ablehnt, den Glauben auf die „Lehrmitteilung” der Schrift zu gründen, andererseits tatsächlich zugesteht, daß der Glaube ohne
80 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 72]
Schriftwort nicht Glaube, sondern Einbildung sei. Aber wenn der Theologe, der ein Christ ist, sich auf die Situation besinnt, so erkennt er nach dem neuen Menschen, daß in der Berufung auf den „Glauben” oder das „Glaubensbewußtsein” eine Selbsttäuschung vorliegt, wenn dabei das Schriftwort als einzige Quelle und Norm der Theologie beiseitegesetzt wird.
Eine große Selbsttäuschung liegt ferner vor in der Behauptung, daß es bei der Bestimmung, was christliche Lehre ist, nicht sowohl auf die Worte (gewöhnlich sagt man: auf den „Buchstaben”) der Schrift ankomme als aus ihren „Inhalt”. Diese Behauptung gehört in die große Zahl der Redeweisen, die von einer Generation auf die andere gedankenlos vererbt werden. Aber es wird uns damit eine logische und psychologische Unmöglichkeit zugemutet. Es steht doch so: Weil der Inhalt der Heiligen Schrift, wie der Inhalt jeder andern Schrift, nur durch die Worte der Schrift zum Ausdruck kommt, so ist auch ihr Inhalt nur deshalb gewiß, weil ihre Worte gewiß und zuverlässig sind. Können wir uns aus die Worte der Schrift nicht verlassen, so bleibt auch der Inhalt der Schrift, die Lehre der Schrift, auf dem Gebiet der Vermutung. Um uns dem Zustand der Ungewißheit zu entnehmen, der für heilsbegierige Seelen bitterer als der Tod ist,266) versichert uns unser Heiland, daß die Schrift nicht gebrochen werden könne, und verweist uns ausdrücklich aus seine Worte oder, was dasselbe ist, auf die Worte seiner Apostel. Die Belehrung und Ermahnung Joh. 8 lautet nicht: „So ihr bleiben werdet an dem Inhalt meiner Rede”, sondern: „So ihr bleiben werdet an meiner Rede” (λόγος), so . . . werdet ihr die Wahrheit erkennen. Und ebenso lautet Joh. 17,20 die Belehrung Christi nicht dahin, daß alle durch den Inhalt des apostolischen Wortes, sondern durch das apostolische Wort selbst (διά λόγον μυτών) an ihn glauben werden. Dieser Gegenstand wird bei der Lehre von der Heiligen Schrift weiter behandelt, namentlich auch bei dem Kapitel von den „variae lectiones”, die gegen die Zuverlässigkeit des Schriftwortes geltend gemacht werden. Es sei hier nur noch daran erinnert, daß gegen die versuchte Trennung des Schriftinhalts vom Schriftwort auch die christliche Erfahrung oder das christliche „Erlebnis” einen sehr entschiedenen Protest einlegt. Reden wie diese:
-------------------------
266) Apologie, S. 191: „Denn gute Gewissen schreien nach der Wahrheit und rechtem Unterricht aus Gottes Wort, und denselben ist der Tod nicht so bitter, als bitter ihnen ist, wo sie etwa in einem Stück zweifeln. Darum müssen sie suchen, wo sie Unterricht finden.”
81 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 73]
„Nicht auf die Worte, sondern aus den Inhalt der Schrift kommt es an” sind hinter dem sicheren Studiertisch entstanden. Vom Gesetz Gottes getroffene. Gewissen kommen nur dadurch zur Ruhe, daß sie sich auf das nicht wankende Fundament stellen können, auf das die ganze christliche Kirche erbaut ist, nämlich aus das Wort der Apostel und Propheten, Eph. 2,20, das Christi eigenes Wort ist, Joh. 17,20. Lessings Seufzer: „Wer erlöst uns von dem unerträglichen Joche des Buchstabens!” (nämlich des Schriftwortes) ist an der modernen Theologie vermittelst der Trennung des Inhalts der Schrift von dem Wort der Schrift in Erfüllung gegangen. Aber wir erinnern uns dabei der Tatsache, daß es Lessing nicht um die Wahrheit, sondern um den Zweifel zu, tun war, nach seinem viel zitierten Ausspruch: wenn Gott in seiner rechten Hand alle Wahrheit hielte und in seiner linken Hand das stete Suchen nach Wahrheit, obgleich mit dem Zusatz, immer und ewig zu irren, so würde er (Lessing) die linke Hand wählen.267) Bei Lessing stand es so: „Die Begriffe Sünde und Erlösung sind für Lessing als ihn persönlich angehend nicht vorhanden, und darum ist auch für ihn eine übernatürliche Offenbarung (das Schriftwort) wertlos.”268)
Eine Selbsttäuschung liegt endlich auch vor in der Berufung aus die „geschichtliche Art” des Christentums. Das Christentum hat freilich eminent geschichtliche Art an sich. Die Schrift bezeugt uns, daß der ewige Sohn Gottes Mensch geworden und damit in die „Geschichte” eingegangen ist. Der Ewige ist zeitlich geworden. Die Schrift bezeugt uns auch, daß dieses wunderbare göttliche Geheimnis auf Befehl des ewigen Gottes durch der Propheten Schriften in menschlicher Sprache geoffenbart vorliegt 269) und damit in „geschichtliche” Erscheinung getreten ist. Aber zur geschichtlichen Erscheinung des Christentums in der Welt gehört nun auch die Tatsache, daß die „Heilsoffenbarung” mit dem Wort Christi, das wir im Wort seiner Apostel haben, so völlig abgeschlossen ist, daß alle nachfolgende „Geschichte” daran nicht das Geringste andern kann
-----------------------
267) Bei Eduard König, Der Glaubensakt, S. 63. Auch in Concise Dictionary of Religious Knowledge, by Jackson, sub “Lessing”.
268) Bertheau in RE.2 VIII, 611.
269) Röm. 16, 25. 26. Dasselbe geschah natürlich auch vor der schriftlichen Fixierung durch das mündlich verkündigte Wort Gottes. Gott hat sein geschichtliches Tun zur Erlösung der Menschheit von allem Anfang an durch sein geschichtliches Wort begleitet, damit die Menschen nicht auf eigene Anschauungen über die Erscheinung des Sohnes Gottes im Fleisch angewiesen wären.
82 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 74]
noch soll. Richard Grützmacher sagt ganz richtig, obwohl er selbst nicht völligen Ernst damit macht, „daß uns die geschichtliche Heilsoffenbarung nur in der sie wiedergebenden Heiligen Schrift enthalten ist”.270) Wenn nun neuere Theologen die „geschichtliche Art” des Christentums dahin deuten und dazu verwenden, um die Heilige Schrift als einzige Duelle und Norm der christlichen Lehre aus den Augen zu tun und die christliche Lehre der eigenen Inwendigkeit zu entnehmen, so stehen wir vor einem ganz ungeschichtlichen Angriff auf die wirkliche Geschichte, des Christentums. Die Berufung auf die „Geschichte” schließt daher eine Selbsttäuschung in sich. In Wirklichkeit geht die Tendenz dahin, daß sich das „dogmatisierende Subjekt” in der Kirche Christi auf den Lehrstuhl setzt an Stelle Christi, der in seinem Wort die einzige Lehrautorität (εις 6 διδάσκαλος) in der Kirche ist bis an das Ende der Zeit. 271)
Um die eben besprochenen Punkte zusammenzufassen: Wenn wir theologischen Lehrer die Heilige Schrift nicht Gottes eigenes Wort fein lassen und deshalb auch nicht als einzige Quelle und Norm der Theologie verwenden, so lehren wir auch nicht Gottes Lehre (doctrinam divinam), sondern die eigene Anschauung (proprias opiniones). Es ist sachlich indifferent, ob wir die subjektive Quelle und Norm christliches Erlebnis oder Glaube und Glaubensbewußtsein oder wiedergebornes Ich oder geschichtliche Auffassung des Christentums oder sonstwie nennen. Alle Wege, die an der Schrift als der einzigen Quelle und Norm der Theologie vorbeiführen, führen in die Ichtheologie, und wir Christen sind berechtigt, uns das schon zitierte Wort Luthers zuzurufen: „Sie reden solch Ding nur darum, daß sie uns aus der Schrift führen und sich selbst zu Meistern über uns erheben, daß wir ihre Traumpredigten glauben sollen”, oder wie Luther den Ausdruck noch etwas drastischer gestaltet, „daß sie uns mögen aus der Schrift führen, den Glauben verdunkeln, sich selbst über die Eier setzen und unser Abgott werden”.272)
Daher steht es in bezug auf die moderne Theologie so, daß sie erst nach prinzipieller Umkehr den Anspruch erheben kann, als christliche Theologie anerkannt zu werden. Die prinzipielle Umkehr besteht aber darin, daß sie die Schrift und Gottes Wort wieder „identifizieren” lernt, das heißt, nach dem Vorgang Christi und
-----------------------------
270) Studien zur systematischen Theologie, 3. Heft, S. 40.
271) Matth. 23, 8; 28,19. 20; Joh. 8, 31. 32; 17, 20.
272) St. L. V, 336.
83 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 74-75]
seiner Apostel als Gottes eigenes, unfehlbares Wort gelten läßt.273) Aus dieser Erkenntnis ergibt sich dann von selbst die einzig richtige theologische Methode, nämlich die Methode, nach welcher wir die christliche Lehre weder aus dem Ich anderer. Menschen noch aus dem eigenen Ich beziehen, sondern die Schrift voll und ganz als „göttliches Religionslehrbuch” anerkennen und behandeln und von Herzen dem Diktum zustimmen: Quod non est biblicum, non est theologicum. Es verschwinden dann auch die häßlichen Scheltworte von Buchstabentheologie, Intellektualismus, Biblizismus, vom papiernen Papst samt dem vom Himmel gefallenen Lehrgesetz usw. An die Stelle dieser Scheltreden tritt die Erkenntnis und das Bekenntnis, daß die aus der Schrift geschöpfte Lehre, weil sie Gottes eigene Lehre, doctrina divina, ist, auch sicherlich imstande sein wird, sich innerliche Anerkennung zu verschaffen und so anstatt „tote Orthodoxie” lebendiges, „lebenswarmes” Christentum zu vermitteln. Ebenso verstummt der in mehrfacher Form auftretende Spott über „reine Lehre”. An die Stelle des Spottes tritt die Erkenntnis, daß reine Lehre (ύγιαίνονσα διδασκαλία) die einzige Art von Lehre ist, die nach göttlicher Ordnung einem christlichen Lehrer anständig ist.274) Diese Erkenntnis schafft vornehmlich drei Tugenden im Theologen: 1. Er wird an aller eigenen Weisheit verzagen und in der demütigen Gesinnung an die Schrift herantreten, die durch das Wort „Rede, HErr, denn dein Knecht höret!” zum Ausdruck kommt. 2. Er wird, weil die Schrift auch für den Theologen das einzige Lehrbuch der christlichen Lehre ist, die in der Schrift geoffenbarte göttliche Lehre durch den Glauben als das einzige medium cognoscendi in sich aufnehmen und treu wiedergeben. Er wird Gott bitten, ihn davor zu bewahren, daß er das Stroh eigener Einfälle in den Weizen der göttlichen Gedanken menge (Jer. 23,28). 3. Er wird durch Gottes Gnade Mut und Freudigkeit gewinnen, für die aus der Schrift geschöpfte Lehre, weil sie Gottes Lehre ist, Alleinberechtigung zu beanspruchen und so an seinem Teil dem Indifferentismus und damit dem Chaos in der Lehre zu wehren. Was den letzten Punkt, den Mut und die Freudigkeit, betrifft, so hat Theodor Kaftan 275) gelegentlich den Leuten, die er noch dem „alttheologischen” Lager Zu-
-------------------------
273) Joh. 10, 35; Matth. 4, 4. 7. 10; Luk. 24, 25. 44—46; Joh. 17,12; Matth. 26, 54; Röm. 16, 25. 26; 2 Tim. 3,15.16; 2 Thess. 2,15.
274) 2 Tim. 1, 13: νποτύπωαιν εχε νγιαινόντων λόγων, ών παρ' εμον ηκονσας; Tit. 1, 9: δυνατός . . . παρακαλεΐν εν τῃ διδαακαλία τῃ υγιαινοΰαῃ.
275) Moderne Theologie des Alten Glaubens, 1906, S. 120 f.
84 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 75-76]
Weist, „ein Manko an Freudigkeit und Kraft” zum Vorwurf gemacht. Er sagt. „Auf das Ganze gesehen, macht sich im alttheologischen Lager vielfach eine gewisse Mutlosigkeit breit, eine gewisse Verzagtheit, ein Gefühl der Schwäche: wir können nicht.” Wenn dies wirklich der Fall ist, so ist den verzagten Leuten im alttheologischen Lager die Überzeugung, daß die Schrift durch Inspiration Gottes eigenes unfehlbares Wort ist, unter dem Druck des Zeitgeistes in den Hintergrund getreten. Sobald sie sich aber darauf besinnen, worauf ihr Glaube und der Glaube der ganzen Christenheit auf Erden sich gründet, Eph. 2,20, und was sie in der Anfechtung von innen und außen unumgänglich nötig haben, werden sie nach der Anweisung Christi und seiner Apostel wieder freudig das γέγραπται, „Es steht geschrieben!” sprechen und Luthers Wort: „Das Wort sie sollen lassen stahn!” nicht bloß äußerlich, sondern von des Herzens Grund nachsagen. Sie werden dann auch die „größere Freudigkeit”, die Theodor Kaftan bei sich und andern modernen Theologen wahrnimmt, richtig einzuschützen und. zu klassifizieren wissen, nämlich als die 1 Tim. 6, 3 beschriebene Typhose, die in ihrer geschichtlichen Erscheinung durch den Papst und die Schwärmer aller Zeiten exemplifiziert Wird. Omnis fiducia vana est, quae non nititur Verbo Dei,276) unb: Deus solo suo Verbo voluit suam voluntatem, sua consilia deformari nobis, non nostris conceptibus et imaginationibus.277)
11. Einteilungen der Theologie, als Lehre gefaßt. ^
Unter diesem Abschnitt behandeln wir die Kapitel: 1. Gesetz und Evangelium. 2. Fundamentale und nichtfundamentale Lehren. 3. Offene Fragen und theologische Probleme.
1. Gesetz und Evangelium. ^
Frank hat darauf hingewiesen, daß eine von Luther und den alten Theologen sehr sorgfältig behandelte Lehre aus der modernen Theologie so ziemlich verschwunden ist und geradezu abgewiesen wird.278) Das ist die Lehre Vom Gesetz und Evangelium und speziell von dem Unterschied von Gesetz und Evangelium. „Ritschl hat es in bestimmtester Weise ausgesprochen, daß die hergebrachte Unterscheidung von Gesetz und Evangelium mit allen ihren Konsequenzen
---------------------
276) Luther zu Ies. 7, 9. Lrl., Dat.. XXII, 83; St. L. VI, 70.
277) Luther zu 5 Mos. 4, 12. Erl., Lat., XIII, 137. St. L. III, 1417.
278) Dogmatische Studien. Erlangen u. Leipzig, 1892, S. 104—135.
85 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 76-77]
unrichtig sei.” 279) Auch neuerdings lasen wir wieder: „Unter dem Titel Mort Gottes' die Teilung in Gesetz und Evangelium und das Verhältnis beider zu behandeln, wie die alte Dogmatik tat, dazu liegt keine Veranlassung vor.” 280) Frank urteilt mit Reckst: „Es ist für die Lage der Dinge in der Gegenwart charakteristisch, daß auch dieses Stück der evangelischen Lehre als ungeeignet befunden und der rechten evangelischen Erkenntnis zuwiderlaufend bezeichnet wird.” 281) Das ist allerdings für die Lage der Dinge in der Gegenwart „charakteristisch”. Aber zu gleicher Zeit ist es auch sehr selbstverständlich, weil eine notwendige Folge der allgemein gewordenen Leugnung der satisfactio Christi vicaria. Denn die Sachlage ist doch die: Hat Gott nicht dadurch, daß er Christum an Stelle der Menschen unter die Pflicht und Strafe des den Menschen gegebenen Gesetzes stellte, die ganze Menschheit vollkommen mit sich versöhnt, so ist die notwendige Folge, daß der Mensch noch irgendwie durch eigenes Tun und durch eigene Güte Gott versöhnen oder die Versöhnung, die durch Christum geschehen ist, ergänzen muß. Und die moderne Theologie lehrt dies auch sehr reichlich. Auch der positiven Richtung zugezählte Theologen lassen die durch Christum geschehene Versöhnung durch die menschliche Heiligung ergänzt werden. Einer von ihnen meint: „Wir sind darauf hingewiesen, die Umgestaltung der Menschheit in den Begriff des Versöhnungswerkes aufzunehmen.” 282) Damit ist dann der Unterschied von Gesetz und Evangelium aufgehoben. „Die Dinge werden”, wie Frank es ausdrückt, „in einen Brei zusammengerührt.” 283)
Nach der Schrift kommt außerordentlich viel darauf an, daß wir Gesetz und Evangelium nicht „in einen Brei zusammenrühren”, sondern scharf unterscheiden. Bekanntlich behandelt die Schrift das wichtige Thema, wie der sündige Mensch die Vergebung seiner Sünden und die Seligkeit erlangt. Zugleich sagt sie sehr bestimmt, daß dies nur auf eine Weise geschehen könne, nämlich so, daß dabei das Gesetz völlig ausgeschieden wird und allein das Evangelium in Geltung tritt. Gottes Methode der Vergebung der Sünden und der Verleihung der Seligkeit lautet dahin: „ohne Gesetz”,
-----------------
279) Frank, a. a. O., S. 124.
280) Horst Stephan, Glaubenslehre, 1921, S. 183.
281) A. a. O., S. 104.
282) Kirn, RE.3 XX, 574. Ebenso Ev. Dogmatik 3, S. 118. Bgl. den Abschnitt „Nähere Beschreibung moderner Versöhnungstheorien” II, 429 ff.
283) A. a. D., S. 124.
86 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 77-78]
„ohne des Gesetzes Werke” — „durch den Glauben an JEsum Christum”, „durch das Evangelium” (χωρίς νόμου, χωρίς έργων νόμον — διά πίστεως, πίστει, διά τον ευαγγελίου).284) Alle, die zur Erlangung der Gnade und Seligkeit das Gesetz nicht ausscheiden wollen, bleiben unter dem Fluch des Gesetzes, weil das Gesetz über jeden Menschen den Fluch ausspricht, der nicht geblieben ist in alle dem, das geschrieben steht im Buche des Gesetzes, daß er's tue.285) Daher sagt Luther mit Recht, daß jeder Christ die Kunst der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium verstehen müsse. „Wo es an diesem Stück mangelt, da kann man einen Christen vor einem Heiden oder Juden nicht erkennen.”286) Ein Mensch ist ein Christ und bleibt ein Christ nur dadurch, daß er in seinem Gewissen wider die Anklagen des Gesetzes sich mit dem Evangelium tröstet, das ihm die Vergebung seiner Sünden „ohne Gesetz” zusagt. Auch sind Heiligung und Werke nur bei den Menschen möglich, die nicht unter dem Gesetz, sondern unter der Gnade sind.287) Dies alles wird ausführlich dargelegt im Anschluß an die Lehre von den Gnadenmitteln unter dem Abschnitt „Gesetz und Evangelium”.288) Hier, wo es sich um die „Einteilung” der Schriftlehren und um die Charakterisierung der rechten „Theologie” und eines rechten „Theologen” handelt, möge der folgende kurze Umriß Platz finden.
Das in der Schrift vorliegende Wort Gottes teilt sich dem Inhalte nach in Gesetz und Evangelium.289) Beide muß der Theologe unverkürzt und unverändert lehren. Er darf weder etwas vom Gesetz preisgeben noch eine Änderung am Evangelium vornehmen. In bezug auf das Gesetz heißt es: „Bis daß Himmel und Erde vergehe, wird nicht vergehen der kleinste Buchstabe noch ein Tüttel vom Gesetz (ιώτα εν η μία κεραία), mit der hinzugefügten Warnung: „Wer eins von diesen kleinsten Geboten auflöset und lehret die Leute also, der wird der Kleinste heißen im Himmelreich.” 290) Und was das Evangelium betrifft, so spricht der Apostel Paulus den Fluch aus über jeden, der ein anderes Evangelium lehrt, als er selbst gelehrt hat.291)
----------------------
284) Röm. 3, 21. 28; Gal. 2,16; Röm. 3, 22; 1 Kor. 15, 2; Eph. 2, 8.
285) Gal. 3,10. 286) St. L. IX, 798.
287) Röm. 6,14. 288) III, 259 ff.
289) In der ganzen Schrift ist Gottes Gesetz gelehrt (Matth. 22, 37—40); ebenso ist in der ganzen Schrift Gottes Evangelium gelehrt (Röm. 1, 1. 2; 3, 21; Apost. 10, 43). Daher die Apologie (M., 87, 5): Universa Scriptura in hos duos locos praecipuos distribui debet: in legem et promissiones. Alias enim legem tradit, alias tradit promissionem de Christo.
290) Matth. 5,17—19. 291) Gal. 1, 7—9.
87 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 78-79]
Nun sind aber Gesetz und Evangelium ihrem Inhalte nach vollkommene Gegensätze, „plus quam contradictoria”.292) Wie denn? Das Gesetz verflucht den Menschen, der es nicht vollkommen gehalten hat.293) Nach dem Evangelium rechnet Gott dem Menschen die Übertretung des Gesetzes nicht zu.294) Was soll bei dieser Sachlage der Theologe tun? Er muß, um nicht selbst in Verwirrung zu bleiben und bei andern Verwirrung anzurichten, Gesetz und Evangelium voneinander zu scheiden wissen. Die rechte Scheidung besteht darin, daß er beide auf die von der Schrift bestimmten Gebiete zu beschränken weiß, auf denen sie nach Gottes Willen und Ordnung Geltung haben.
1. Aus dem Gesetz soll der Theologe die Erkenntnis der Sünde lehren, διά γάρ νόμον επίγνωσις αμαρτίας 295) Vergebung der Sünden hingegen oder die Rechtfertigung nur aus dem Evangelium, λογιζόμεθα ovv πίστει δικαιονσθάι άνθρωπον χωρίς έργων νόμον.296) Wer die Vergebung der Sünden auch aus dem Gesetz lehrt, ist kein christlicher Theologe, sondern ein Verführer, der vom Christentum abfallen lehrt, κατηργήθητε άπό Χρίστον οΐτινες εν νόμω δικαιούσθε, τής χάριτος εξεπέσατε.297) Er gehört zu der Klaffe von Lehrern, in bezug auf welche der Apostel ihrer Schäd-lichkeit wegen den Wunsch ausspricht: Όφελον και άποκόψονται oi αναστατοϋντες νμας.298) Damit hängt die Scheidung von Gesetz und Evangelium nach der Beschaffenheit der Personen zusammen. Das Gesetz ist den Menschen vorzuhalten, die noch stolz und sicher sind, das heißt, sich nicht des Zornes Gottes und der ewigen Verdammnis schuldig geben. Was das Gesetz sagt, so belehrt uns der Apostel, das sagt es denen, die unter dem Gesetz sind, ΐνα παν στόμα φραγή και νπόδικος γένηται πας δ κόσμος τφ θεω.299) Das Evangelium hingegen ist denen vorzulegen, die durch das Gesetz gedemütigte und zerschlagene Herzen haben, πτωχοί εναγγελίζονται,300) εναγγελίζεσθαι πτωχοϊς.30l)
--------------------
292) Luther zum Galaterbrief. Ed. Erl. II, 105; St. L. IX, 447.
293) Gal. 3,10; Röm. 3, 9—19; auch 2 Kor. 3,9: ή διακονία τής κατακρίοεως.
294) 2 Kor. 5, 19: μη λογιζόμενος αντοΐς τα παραπτώματα αυτών. Apost.
20, 24: τδ εναγγελιον τής χάριτος τον ϑεον. Auch 2 Kor. 2, 9: ή διακονία τής: δικαιοσύνης.
295) Röm. 3, 20. 296) Röm. 3, 28. 297) Gal. 5, 4.
298) Gal. 5,12. 299) Röm. 3, 19. 300) Matth. 11, 5.
301) Luk. 4, 18.
88 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 79-80]
2. In bezug auf gute Werke soll der Theologe aus dem Gesetz lehren, was gute, das ist, Gott wohlgefällige, vou Gott gebotene Werke sind, wie Christus die Frage nach guten Werkelt aus dem Gesetz beantwortet.302) Dies ist auch noch bei Christen nötig, insofern sie den παλαιός ανϑρωπος an sich haben und Speise- und Trankgebote, Ehelosigkeit usw. für von Gott gebotene Werke halten.303) Was aber das Tun der von Gott gebotenen Werke betrifft, so muß der Theologe wissen und sich stets gegenwärtig halten, daß er die Lust und Kraft zum Tun solcher Werke, die vor Gott gut sind, nur durch das Evangelium bewirken kann. Dies ist des Apostels Praxis: „Ich ermahne euch, liebe Brüder, durch die Barmherzigkeit Gottes, διά των οικτιρμών τον ϑεον, daß ihr eure Leiber begebet zum Opfer, das da lebendig, heilig und Gott wohlgefällig sei.”304) Axiom: Lex praescribit, evangelium inscribit.305) Luther sagt in bezug auf die theologische Kunst, gute Werke zustande zu bringen: „Ein Gesetztreiber dringet mit Drohen und Strafen; ein Gnadenprediger locket und reizet mit erzeigter göttlicher Güte und Barmherzigkeit.” 306)
3. Auch was die Bekämpfung der Sünde betrifft, so muß der Theologe wissen, daß er durch die Lehre des Gesetzes im besten Falle der Sünde äußerlich wehrt, innerlich aber die Sünde mobil macht und mehrt. Paulus berichtet aus der Erfahrung: Οτε ημεν εν τη οαρκί [das ist, υπό τον νόμον, τα παθήματα των άμαρτιών τά διά τον νόμον ίνηργεΐτο έν τοΐς μέλεοιν ημών εις το καρποφορηοαι τφ βανάτω.307) Nur durch das Evangelium wird die Sünde im Menschen getötet: Κατηργήΰεμεν από τον νόμον, άποϑανόντες εν φ κατειχόμεδα, ώοτε δονλενειν ημάς εν καινότητι πνεύματος.308) Ebenso Röm. 6, 14: „Die Sünde wird nicht herrschen können über euch, sintemal ihr nicht unter dem Gesetz seid, sondern unter der Gnade.” Axiom: Lex necat peccatorem, non peccatum; evangelium necat peccatum, non peccatorem. „Darum, welcher diese Kunst, das Gesetz vom Evangelio zu scheiden, wohl kann, den setze obenan und heiße ihn einen Doktor der Heiligen Schrift.” 309)
-----------------------------
302) Matth. 15,1 ff.; 22, 35 ff.; 19,16 ff.
303) Kol. 2,16—23; 1 Tim. 4,1 ff.
304) Röm. 12,1. 305) Jer. 31, 31-34.
306) St. L. XII, 318. 307) Röm. 7, 5.
308) Röm. 7, 6. 309) Luther, St. L. IX, 802.
89 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 80]
2. Fundamentale und nichtfundamentale Lehren. ^
Selbstverständlich kann die Unterscheidung zwischen fundamentalen und nichtfundamentalen Lehren nicht den Zweck haben, von der Annahme gewisser Lehren, die in der Schrift stehen, zu dispensieren. Dies steht keinem Menschen zu und ist in der Schrift ausdrücklich verboten. Dies gilt sowohl von der Unterscheidung zwischen fundamentalen und nichtfundamentalen Lehren als auch von der weiteren Unterscheidung zwischen primären und sekundären Fundamentalartikeln.. Christi Auftrag an seine Kirche lautet dahin: „Lehret sie halten alles, was ich euch befohlen habe, διδάσκοντες αντονς τηρεΐν πάντα δσα ένετειλάμην νμΐν.310) Ebenso war es im Alten Testament Menschen verboten, zu dem geschriebenen Wort hinzuzutun oder davon abzutun.311) Damit ist auch zugleich gesagt, daß nichts in der Schrift für überflüssig oder unnütz zu erklären ist; denn δσα προεγράφη, εις την ήμετεραν διδασκαλίαν εγράφη.312) Dennoch ist die Unterscheidung von fundamentalen und nichtfundamentalen Lehren nach der Schrift berechtigt. Auch hat diese Unterscheidung großen praktischen Wert, wie aus dieser ganzen Darlegung hervorgehen wird.
In welchem Sinne die Unterscheidung zwischen fundamentalen und nichtfundamentalen Lehren schriftgemäß und praktisch wichtig ist, wird erkannt, wenn wir z.B. die Lehren von Christo und vom Antichrist nebeneinanderstellen. Beide Lehren stehen in der Schrift. Sie stehen aber in einem ganz verschiedenen Verhältnis zur Entstehung des seligmachenden Glaubens. Die Lehre von Christo bildet das Fundament dieses Glaubens, weil der seligmachende Glaube Christum in seiner stellvertretenden Genugtuung zum Objekt hat oder Glaube an Christum ist, Gal. 3, 26: „Ihr seid alle Gottes Kinder διά της πίστεως h Χριστώ Ίησον.” Die Lehre vom Antichrist hingegen steht nicht in diesem fundamentalen Verhältnis zum christlichen Glauben. Die Schrift sagt nicht, daß ein Mensch durch die Erkenntnis des Antichrists die Vergebung der Sünden und die Seligkeit erlangt, wie sie dies durchweg von der Erkenntnis Christi oder vom Glauben an Christum sowohl im Alten als im Neuen Testament aussagt. Daß trotzdem auch die Lehre vom Antichrist nicht vergeblich in der Schrift steht, sondern dem seligmachenden Glauben insofern dient, als sie vor Gefahren warnt, die dem christ-
------------------------
310) Matth. 28, 20. Demgemäß Paulus Apost. 20, 27.
311) Jos. 1,8; 5 Mos. 17,19.
312) Röm. 15, 4 und 2 Tim. 3, 16; 1 Kor. 10, 11; Röm. 4, 23. 24.
90 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 81]
lichen Glauben durch die Verführung des Antichrists drohen, liegt auf der Hand und ist später noch näher darzulegen. Hier sei nur noch daran erinnert, daß auch die alten lutherischen Lehrer die Lehre vom Antichrist nicht zu einem „Fundamentalartikel” gemacht haben, wie man ihnen wohl zugeschrieben hat. Vielmehr haben sie ausdrücklich erklärt, daß es vor und selbst nach der Offenbarung des Antichrists durch die Reformation viele Christen gab und gibt, die im Papsttum nicht den Antichrist erkannt haben.
Wenn wir hier den Begriff „Fundamentallehren” im Unterschied von nichtfundamentalen Lehren bestimmen wollen, so handelt es sich um die Frage, welche Lehren die Schrift dem christlichen Glauben zum Fundament gibt. Welche Lehren sind dies?
Bekanntlich wird sonderlich zu unserer Zeit im Interesse der Lehrfreiheit behauptet, daß der Begriff „Fundamentallehren” sich nicht klar bestimmen lasse, wie auch die Erfahrung genugsam beweise. So meint z. B. der Erlanger Theologe Hofmann, daß „über den Unterschied von Fundamentalem und Nichtfundamentalem bis auf diesen Tag fruchtloser Streit gewesen” sei.313) Dagegen ist zu sagen, daß wir über die articuli fundamentales nur so lange im ungewissen bleiben können, als wir nicht den schriftgemäßen Begriff vom Objekt des seligmachenden Glaubens festhalten. Der seligmachende Glaube, den die Schrift lehrt, ist der Glaube an die Vergebung der Sünden um Christi satisfactio vicaria willen; noch anders ausgedrückt: der Glaube an die göttliche Rechtfertigung ohne des Gesetzes Werke, durch den Glauben. Nur wer diese Vergebung der Sünden oder Rechtfertigung durch Wirkung des Heiligen Geistes glaubt, ist an Christum gläubig im Sinne der Schrift.314) und ein Glied der christlichen Kirche.315) Wer diese Lehre nicht glaubt, befindet sich nach der sehr bestimmten Aussage der Schrift außerhalb der Zahl der Gläubigen oder außerhalb der christlichen Kirche.316) Hierher gehören Luthers Worte: Hic locus [iustificationis] caput et angularis lapis est, qui solus ecclesiam gignit, nutrit, aedificat, servat, defendit; ac sine eo ecclesia Dei non potest una hora subsistere.317) Ferner: Quotquot sunt in mundo, qui eam
-------------------------
313) Der Schriftbeweis 2 I, 9.10.
314) Gal. 2,16: „Weil wir wissen (είδότες), daß der Mensch durch des Gesetzes Werke nicht gerecht wird, sondern durch den Glauben an JEsum Christum, so glauben wir auch an Christum JEsum.”
315) Apost. 5, 14: Προοετίΰεντο [zur Gemeinde] πιατενοντες τω κνρίω.
316) Gal. 3, 6—10. 317) Opp. v. a. VII, 512; St. L. XIV, 168.
91 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 81-82]
[nämlich doctrinam iustificationis] non tenent, snnt vel Indaei vel Tureae vel Papistae vel haeretici.318) Die Dogmatiker nennen die Lehre von der Rechtfertigung auch wohl omnium fundamentalissimum.319)
Die Schrift belehrt uns aber sehr nachdrücklich, und auf einzelne Lehren eingehend, darüber, welche Lehren der Glaube an die Vergebung der Sünden um Christi willen voraussetzt und in sich schließt.
1. Die Schrift lehrt sehr klar, daß der seligmachende Glaube die Erkenntnis der Sünde und der Folge der Sünde, der ewigen Verdammnis, voraussetzt. Wo diese Sündenerkenntnis, das ist, die Erkenntnis der eigenen Verdammungswürdigkeit, nicht vorhanden ist, sondern noch Vertrauen auf eigene Würdigkeit sich findet, da kann auch kein Glaube an die göttliche Vergebung der Sünden um Christi willen vorhanden sein. Daher soll nach der von Christo vorgeschriebenen Lehrmethode unter allen Völkern erst Buße und dann Vergebung der Sünden gepredigt werden.320) Das illustriert Christus auch durch das Beispiel des Pharisäers und Zöllners. Christus verwirft sehr entschieden den Glauben des Pharisäers, der sich nicht des Zornes Gottes und der Verdammnis schuldig gab, sondern Gott dankte, daß er nicht sei wie andere Leute, das ist, sich vor Gott für besser hielt als Räuber, Ungerechte, Ehebrecher oder auch wie jener Zöllner.321) Hierher gehören alle Schriftaussagen von den „zerbrochenen Herzen”, bei denen Gott mit seiner Gnade einkehrt und wohnt.322)
2. Die Schrift lehrt ferner sehr bestimmt, daß der seligmachende Glaube die Erkenntnis der Person Christi in sich schließt, nämlich den Glauben, daß Christus θεάνθρωπος, Gott und Mensch, ist. Die Frage Christi Matth. 22, 42: „Wie dünket euch um Christum? Wes Sohn ist er?” hat nicht bloß „intellektuellen”, sondern einen sehr praktischen Wert. Daß ohne den Glauben an die wesentliche Gottheit Christi kein Glaube an Christum vorhanden ist, sagt Christus selbst. Er verwirft den Glauben des jüdischen Publikums, das ihn für Johannes den Täufer, Elias, Jeremias oder der Propheten einen hielt, und bestätigt den Glauben seiner Jünger, die ihn als des lebendigen Gottes Sohn durch des Vaters Offen-
---------------------------
318) Ad Gal. Erl. 1,20; St. L. IX, 29.
319) Die Zitate bei Baier-Walther III, 245 sq.
320) Luk. 24, 47. 321) Luk. 18, 9—14.
322) Ies. 66, 2; 57, 15; Ps. 34, 19; 51, 19; Luk. 4, 18.
92 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 82-83]
barung erkannt hatten.323) Wo man Christum allenfalls honoris causa Gott nennen, aber ihn nicht den ewigen wahren Gott sein lassen will, da kann kein seligmachender Glaube vorhanden sein. Die Unitarier und die auf unitarischen Wegen wandelnden modernen Theologen haben nach der Schrift ihren Standort extra ecclesiam.324) Was die Trinität betrifft oder die Erkenntnis, daß der unus Deus Vater, Sohn, Heiliger Geist ist, so ist nach der Schrift der Glaube an die drei Personen in der Weise ineinandergeflochten, daß es keine Erkenntnis des Sohnes ohne den Vater gibt 325) und keine Erkenntnis des Vaters ohne den Sohn,326) und niemand den Vater Vater nennen und den Sohn einen HErrn heißen kann ohne durch den Heiligen Geist.327) — Es ist dagegen eingewendet worden, daß wir den ersten Christen nicht wohl eine „Reflexion” über Vater, Sohn und Heiligen Geist zutrauen könnten. Man ist so weit gegangen, auch aus dieser angenommenen Ignoranz der ersten Christen „die Ungeschichtlichkeit des matthäischen Taufbefehls” (Taufet sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes) beweisen zu wollen. Allein damit schiebt die moderne Theologie ihr eigenes Defizit in der christlichen Erkenntnis ganz ungeschichtlich den ersten Christen unter.328) über die Offenbarung der Trinität auch im Alten Testament folgt ein besonderer Abschnitt bei der Lehre von Gott (De Deo).
3. Die fides salvifica schließt auch die Erkenntnis des Werkes Christi in sich. Nach der Schrift ist Christus Objekt der fides salvifica, nicht insofern er Lehrer des göttlichen Gesetzes, auch nicht insofern er vollkommenes Tugendvorbild ist, sondern insofern er der Mittler zwischen Gott und den Menschen ist, der sich selbst gegeben hat für alle zur Erlösung (άντίλυτρον), oder insofern er Gottes Lamm ist, das der Welt Sünde trägt.329) Wer Christi satisfactio vicaria nicht glaubt, glaubt nicht an Christum im Sinne der Schrift, sondern gründet — tertium non datur — seine Versöhnung mit Gott irgendwie auf eigenes Tun oder eigene Würdigkeit und scheidet sich eo ipso von der von Christo erworbenen Gnade, wie die Schrift
----------------------
323) Matth. 16, 13—17; — 1 Joh. 1, 1—4.
324) 1 Joh. 5, 12. 13. Apol., S. 77.
325) Matth. 16, 17; 11, 27a. 326) Matth. 11, 27b.
327) Röm. 8, 15; 1 Kor. 12, 3; Joh. 16, 13—15.
328) Dieser Punkt ist ausführlicher bei der Lehre von der Taufe behandelt, III, 297 ff.
329) 1 Tim. 2, 5. 6; Joh. 1, 29.
93 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 83-84]
ausdrücklich lehrt.330) Daß innerhalb solcher Gemeinschaften, die die Vergebung der Sünden um Christi vollkommenen Verdienstes willen als Fundament des seligmachenden Glaubens verbieten (Rom), dennoch gläubige Kinder Gottes sich finden, kommt daher, daß diese wider das kirchliche Verbot allein auf den für ihre Sünden gekreuzigten Christus ihr Vertrauen vor Gott setzen. Daher legt die Apologie einerseits dar, daß die römische Kirche allerdings im Fundament des christlichen Glaubens irrt:331) „Viel Artikel bei unsern Widersachern stoßen den rechten Grund nieder, das Erkenntnis Christi und den Glauben. Denn sie verwerfen und verdammen den hohen, größten Artikel, da wir sagen, daß wir allein durch den Glauben, ohne alle Werke, Vergebung der Sünden durch Christum erlangen. Dagegen lehren sie vertrauen auf unsere Werke, damit Vergebung der Sünden zu verdienen, und setzen anstatt Christi ihre Werke, Orden, Messe, wie auch die Juden, Heiden und Türken mit eigenen Werken Vorhaben, selig zu werden. Item, sie lehren, die Sakramente machen fromm sx oxsrs oxsrato, ohne Glauben. Wer nun den Glauben nicht nötig achtet, der hat Christum bereits verloren. Item, sie richten Heiligendienst an, rufen sie an anstatt Christi als Mittler.” Andererseits bemerkt dieselbe Apologie: Mansit tamen apud aliquos pios semper cognitio Christi.332)
4. Die Schrift lehrt auch, daß der seligmachende Glaube stets Glaube an das Wort Christi ist. Gemeint ist das äußere Wort des Evangeliums, das Christus seiner Kirche zu predigen und zu lehren aufgetragen hat.333) Dies Wort ist sowohl Objekt des Glaubens, πιστεύετε έν τω εναγγελίφ,334) als auch das Mittel, wodurch der Glaube entsteht, ή πίστις έξ ακοής.335) Die Schrift verwirft den Glauben, der nicht Christi Wort, das im Wort seiner Apostel vorliegt (Joh. 17, 20), zum Objekt hat und nicht durch dies Wort gewirkt ist. Sie beschreibt solchen Glauben als eine Einbildung und ein Nichtwissen und als ein menschliches Machwerk (πίστις ... έν σοφία άνϑρώπων).336) Luther nennt den Glauben, der sich nicht auf das äußere Wort gründet, einen Glauben „in die Luft"?337) Daß
------------------------
330) Gal. 5, 4: κατηργήΰητε άπό τοϋ Χρίστου . . . της χάριτος εξεπέσατε.
331) M. 156, 22. 332) M. 151, 271.
333) Mark. 16, 15.16; Röm. 1,1. 2. 334) Mark. 1,15.
335) Röm. 10,17. 336) 1 Tim. 6, 3; 1 Kor. 2,1—5.
337) Vgl. die ausführliche Darlegung II, 535, unter dem Abschnitt „Der seligmachende Glaube ist Glaube an die Gnade, die im Wort des Evangeliums dargeboten wird”. Wenn alte Dogmatiker zwischen dem fundamentum
94 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 84-85]
innerhalb der kirchlichen Gemeinschaften, die offiziell das äußere Wort Christi als Medium der Sündenvergebung verwerfen, dennoch gläubige Kinder Gottes vorhanden sind, kommt daher, daß es immer eine Anzahl Seelen gibt, die im Widerspruch mit der offiziellen Lehre ihren Glauben auf das äußere Wort gründen.338)
5. Die Schrift spricht den christlichen Glauben allen ab, die die leibliche Auferstehung der Toten und das ewige Leben leugnen. Bekanntlich wollten neuerdings auch Führer des Interchurch World Movement Kirche und Welt bereden, es sei genug, in diesem Leben an Christum zu glauben; das hereafter, die Auferstehung samt Himmel und Hölle, könne man auf sich beruhen lassen.339) So im wesentlichen auch die liberal-protestantische Theologie, die die Loslösung der christlichen Lehre von der Heiligen Schrift konsequenter vollzieht als die „positive” Richtung. Horst Stephan meint vom Auferstehungsglauben: „Er ist von einem Interesse am menschlichen Leib und seinem verklärten Eingehen in die Ewigkeit erfüllt, das mit dem christlichen Glauben keinen unbedingt notwendigen Zusammenhang hat, sondern manchmal eher als eine Nachwirkung des jüdischen Vergeltungsglaubens erscheint.” 340) Die Heilige Schrift sagt von denen, die, wie Hymenäus, Alexander und Philetus, die zukünftige leibliche Auferstehung der Toten ablehnten und „vergeistigen” Wollten (λέγοντες την άνάστασιν ήδη γεγονέναι), daß sie am Glauben Schiffbruch erlitten und der Wahrheit gefehlt hätten περί την πίστιν ενανάγηααν — περί την αλήθειαν ήοτόχηοαν).341) Und was ihr Verhältnis zur christlichen Kirche betrifft, so spricht der Apostel ihnen die Gliedschaft in der Kirche ab mit den Worten: Όνς παρέδωκα τφ αατανα, damit sie gezüchtigt werden und nicht
----------------------
sudstantiale (Christus) und demfundamentum organicum (das Wort des Evangeliums von Christo) unterscheiden, so lehren sie damit nicht ein doppeltes Fundament des Glaubens. Hollaz (Examen, Proleg., a. 2, qu. 19) weist ausdrücklich darauf hin, daß Christus, das lunckamenturn supstantialk, uns vermittelst des Wortes von Christo, des fundamentum substantiale, zum Fundament des Glaubens wird. Anders die neueren Theologen. Weil sie das Wort der Apostel und Propheten Christi als Gottes Wort ablehnen, so wollen sie den Glauben auf „Christi Person”, auf „den lebendigen Christus” usw. gründen unter Beiseitesetzung des Wortes der Schrift. Aber wer an Christi Wort vorbeiglaubt, glaubt eo ipso auch an dem „lebendigen Christus” vorbei.
338) Die nähere Darlegung II, 535 ff. Über die „glückliche Inkonsequenz” in den reformierten Gemeinschaften III, 188 ff.
339) Die Belege in L. u. W. 67,1 ff. 340) Glaubenslehre, 1921, S. 119.
341) 1 Tim. 1, 19. 20; 2 Tim. 2,17. 18.
95 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 85-86]
mehr lästern.342) Und als unter den Korinthern etliche sagten, „die Auferstehung der Toten sei nichts"?343) belehrt sie der Apostel dahin, daß sie nichts von Gott wissen 344) und die ganze christliche Religion leugnen, die nun einmal den Glauben an die Auferstehung der Toten in sich schließe?345)
Wenn wir so von „Fundamentallehren” reden, die der Glaube an die Vergebung der Sünden um Christi willen notwendig teils voraussetzt, teils in sich schließt, so versteht sich von selbst, daß nicht die kirchlich-dogmatische Formulierung dieser Lehren gemeint ist. Daran haben auch die alten Dogmatiker reichlich erinnert;346) ebenso Luther, wenn er ausführlich darlegt, daß die Konzilien mit ihren kirchlichen terminis „nichts Neues im Glauben gestellet”, sondern nur den alten Glauben, den die Christen vor allen Konzilien halten, „durch die Heilige Schrift erhalten” haben. Dies bezieht Luther auch auf das Nicänum. Die Christen haben stets die gleichwesentliche Gottheit Christi geglaubt, ehe Arius gegenüber der Terminus όμοούσιος in Aufnahme kam.347)
Primäre und sekundäre Fundamentallehren. ^
Auch diese weitere Einteilung der fundamentalen Lehren braucht niemand zu erschrecken. Sie ist nicht eine Erfindung der orthodoxen Dogmatik, sondern sachlich berechtigt und praktisch wichtig. Es ist z. B. in den Streitigkeiten zwischen der lutherischen und der reformierten Kirche auch darüber verhandelt worden, ob Taufe und Abendmahl zum Fundament des christlichen Glaubens gehören.348) Die Schrift entscheidet diese Frage. Auf Grund der Schrift müssen wir sagen, daß neben dem Wort des Evangeliums auch beide Sakra-
--------------------------
342) Huther zu den Worten ονς παρεδωκα τφ σατανά: „Dieselbe Exkommunikation, von der der Apostel 1 Kor. 5, 5 redet.”'
343) 1 Kor. 15, 12: άνάστασις νεκρών ονκ εστιν.
344) 1 Kor. 15, 34: αγνωσίαν ϑεον τινες εχονσιν. Dasselbe urteilt Christus von den Sadduzäern Matth. 22, 29: „Ihr irret und wisset die Schrift nicht noch die Kraft Gottes.”
345) Hierher gehört das ganze 15. Kapitel des ersten Korintherbriefes. Die ausführliche Darstellung der Schriftlehre von der Auferstehung der Toten III, 600 ff.
346) Baier-Walther I, 61, nota e.
347) „Von Konziliis u. Kirchen”, St. L. XVI, 2233. 2214.
348) Vgl. zur Literatur II, Note 647. Außer Nikolaus Hunnius' Διάσκεψις Theologica de Fundamentali Dissensu (1626) gehört vornehmlich hierher Joh. Hülsemanns Calvinismus Irreconciliabilis (1646). Die gesamte Literatur auch von reformierter Seite bei Walch, Bibliotheca Theologica II, 486 ff.
96 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 86]
mente dem Glauben an die Vergebung der Sünden um Christi willen zum Fundament gegeben sind. Die Taufe geschieht εις Άφεοιν άμαρτιών,349) und im Abendmahl wird Leib und Blut Christi dargereicht als υπέρ υμών διδόμενον und υπέρ υμών έκχννόμενον εϊς αφεοιν άμαρτιών.350) Liegt somit in beiden Sakramenten eine Zusage oder Darbietung der Vergebung der Sünden vor, so soll sich der Glaube auch auf diese Sakramente gründen,351) und Taufe und Abendmahl werden deshalb mit Recht zu den Fundamentallehren gerechnet. Es kann aber jemand in bezug auf Taufe und Abendmahl aus Schwachheit in der Erkenntnis irren und doch im Glauben an die Vergebung der Sünden stehen, wenn er sich an das gehörte oder gelesene Wort des Evangeliums hält. Der Grund ist der, daß das Wort des Evangeliums die ganze von Christo erworbene Vergebung der Sünden darreicht und Taufe und Abendmahl dieselbe Gnade nur in anderer und besonders tröstlicher Form (verbum visibile — applicatio individualis) darbieten. Es steht demnach so: Wer Taufe und Abendmahl nicht als Gnadenmittel erkennt und braucht, hat weniger Stützen für seinen Glauben an den um Christi willen gnädigen Gott, als Gott ihm zu gedacht hat. Trotzdem hat er, wenn er das Wort des Evangeliums glaubt, durch diesen Glauben die ganze Vergebung der Sünden und somit auch die Seligkeit. So steht es bei allen Kindern Gottes in den reformierten Kirchengemeinschaften, die unter Anleitung ihrer gestorbenen und lebenden Lehrer aus Schwachheit in der Erkenntnis Taufe und Abendmahl nicht als von Gott geordnete Rechtfertigungsmedien erkennen und gebrauchen. Hierauf macht sowohl Luther 352) als auch die Vorrede zum Konkordienbuch 353) aufmerksam. Solche Lehren nun wie Taufe und Abendmahl, die ihrer Beschaffenheit nach dem Glauben an die Vergebung der Sünden auch zugrunde liegen sollen, aber doch nicht schlechthin zu diesem Glauben nötig sind, weil derselbe schon anderweit (durch das Wort des Evangeliums) die unbedingt nötige Stütze hat, sind nicht unpassend articuli fundamentales secundarii genannt worden. So rechnet auch Quenstedt die Lehre von den Sakramenten Zu den Artikeln, qui non simpliciter fundamentales seu causa salutis sunt, ad fundamentum tamen pertinent.354)
---------------------------
349) Apost. 2, 38. 350) Luk. 22,19 ff.; Matth. 26, 26 ff.
351) Die ausführliche Darlegung bei der Lehre von der Taufe unter dem Abschnitt „Der Gnadenmittelcharakter der Taufe (Baptismal Grace)” III 308 ff
352) St. L. XVII, 2212. 353) M., S. 17 ff.
354) Systema I, 355.
97 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 87]
Hieraus ergibt sich, daß Zurückhaltung am Platze ist, wenn es sich um ein Urteil über den persönlichen Glaubensstand einzelner Personen handelt, die sekundäre Fundamentalartikel leugnen. Einerseits ist freilich festzuhalten: Wer sekundäre Fundamentalartikel leugnet, stößt konsequenterweise auch die Primären um wegen des engen Zusamenhangs, der zwischen ihnen besteht. Wir können dies ebenfalls an den Lehren von der Taufe und vom Abendmahl illustrieren. Wer leugnet, daß Gott durch Taufe und Abendmahl Vergebung der Sünden geben könne, weil Taufe und Abendmahl nur äußere Mittel seien, muß konsequenterweise auch die Sündenvergebung durch das Wort des Evangeliums leugnen, weil das Evangelium gleicherweise ein äußeres Mittel ist. Ein anderes Beispiel: Wer die Mitteilung der Eigenschaften (communicatio idiomatnm) in Christo leugnet auf Grund des Axioms, daß das Endliche des Unendlichen nicht fähig sei (Finitum non est capax infiniti), leugnet konsequenterweise auch die Mitteilung der göttlichen Person des Sohnes Gottes an die menschliche Natur, das heißt, er leugnet die Menschwerdung (incarnatio) des Sohnes Gottes. Die Erfahrung lehrt aber, daß es hier eine „glückliche Inkonsequenz” gibt, vornehmlich bei den sogenannten Laien, aber auch bei den Lehrern und gelehrten Theologen. Es ist, wie wir wiederholt erinnern müssen, mit der Logik nach dem Sündenfall bei uns Menschen schlecht bestellt, und diese Logik wird außerdem noch im Streit durch erregte Leidenschaften verschlechtert. Hierauf gründet sich Luthers relativ mildes Urteil über Nestorius. Luther sagt bekanntlich: „Wiewohl nun, gründlich zu reden, aus Nestorii Meinung folgen muß, daß Christus ein purer Mensch und zwei Personen sei, so ist's doch seine Meinung nicht gewesen. Denn der grobe, ungelehrte Mann sah das nicht, daß er unmögliche Dinge vorgab, daß er zugleich Christum ernstlich für Gott und Mensch in einer Person hielt und doch die idiomata der Naturen nicht wollte derselben Person Christi zugeben. Das erste will er für wahr halten, aber das soll nicht wahr sein, das doch aus dem ersten folget. Damit er anzeigt, daß er selbst nicht versteht, was er verneinet.”355) Luther führt dafür weitere Beispiele an, weil „solcher Unverstand nicht seltsam in der Welt” ist.356) Die römische Lehre vom Meßopfer stößt an sich den Grund des Glaubens, die sola gratia, um. Aber manche haben bei sich, für ihre Person, diese Konsequenz nicht ge-
------------------------------
355) St. L. XVI, 2230. 356) St. L. XVI, 2238.
98 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 87-88]
zogen. Luther schreibt Ende des Jahres 1521 in seiner Schrift „Vom Mißbrauch der Messe”: „Es geschieht noch ohne Zweifel viel frommen Christen, daß sie in einem einfältigen Glauben ihres Herzens Messe halten und achten, es sei ein Opfer. Aber dieweil sie sich auf das Opfer [vor Gotte] nicht verlassen, ja, sie halten's dafür, daß alles, was sie tun, Sünde sei, und hangen allein an der lautern Barmherzigkeit Gottes, werden sie erhalten, daß sie in diesem Irrtum nicht verderben.”357) Luther schreibt ferner im Jahre 1539 in seiner Schrift „Von den Konziliis und Kirchen”: „Jetzt sind viel großer Herren und gelehrter Leute, die bekennen frei und fest, daß unsere Lehre vom Glauben, der ohne Verdienst gerecht mache aus lauter Gnade, recht sei; aber daß man darum sollte Klosterei und Heiligendienst oder dergleichen lassen und verachten, das stößt sie vor den Kopf, so es doch die Folge und Konsequenz erzwinget. Denn es kann ja niemand gerecht werden ohne durch den Glauben; daraus folget, daß man durch Klosterleben nicht könne gerecht werden.” Ja, Luther „nimmt sich selbst bei der Nase” und führt seine eigene Person als ein Beispiel der Inkonsequenz an. Er habe schon vor zwanzig Jahren gelehrt, „daß allein der Glaube ohne Werke gerecht mache”, und dabei doch noch hart an Möncherei und Nonnerei gehalten. Zur Begründung fügt er hinzu: „Ich unbedächtiger Narr konnte nicht sehen die Folge, die ich müßte nachgeben, daß, wo es der Glaube allein täte, so könnte es die Möncherei und Messe nicht tun.”358) Vom Synergismus, wie er ihm in Erasmus' facultas se applicandi ad gratiam entgegentrat, urteilt Luther, daß er den Menschen im Vertrauen auf eigenes Können in Sachen der Erlangung der Seligkeit bestärke und dadurch den christlichen Glauben an die Vergebung der Sünden ohne des Gesetzes Werke unmöglich mache.359) Zugleich gibt Luther die Möglichkeit einer glücklichen Inkonsequenz bei einzelnen Personen zu, nämlich daß sie zwar in der Theorie, in Schriften und Disputationen, dem Menschen in geistlichen Dingen noch ein Vermögen zuschreiben, aber in der Praxis, „sooft sie vor Gott treten, um zu ihm zu beten oder mit ihm zu handeln, gehen sie einher in gänzlicher Vergessenheit ihres freien Willens, verzweifeln an sich selbst und erbitten für sich nichts anderes
---------------------------
357) St. L. XIX, 1131. 358) St. L. XVI, 2238.
359) Opp. v. a. VII, 154: Quamdiu [homo] persuasus fuerit, sese vel tantulum posse pro salute sua, manet in fiducia sui, nec de se penitus desperat, ideo non humiliatur coram Deo, sed locum, tempus, opus aliquod sibi praesumit, vel sperat, vel optat saltem, quo tandem perveniat ad salutem..
99 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 88-89]
als die bloße Gnade"?360) Ähnliche Aussprachen finden wir auch bei späteren lutherischen Theologen. So sagt Hülsemann, daß nicht jede falsche Lehre, die ihrer Beschaffenheit nach den Glaubensgrund zerstört, diese Wirkung auch bei jedem irrenden Individuum hat, weil eben eine „glückliche Inkonsequenz” vorliegen kann.361)
Mit dieser Konzession wurde und wird im Interesse des Indifferentismus viel Mißbrauch getrieben. Es gilt daher, klar zu erkennen und festzuhalten, daß die „glückliche Inkonsequenz”, vermöge welcher durch Gottes besondere Bewahrung ein Irrender für seine Person nicht aus dem Glauben fällt, dem Irrtum selbst nimmermehr Existenzberechtigung in der christlichen Kirche verschaffen kann. Diese irrige Folgerung erlaubten sich römische Theologen im Kampf gegen Luther. Wenn Luther darauf bestand, daß die römischen Irrrtümer abzutun seien, so wurde ihm entgegengehalten, daß die von Luther als Irrrtümer bezeichneten Lehren auch von „Heiligen” vorgetragen worden seien, und zwar auch von solchen Heiligen, die Luther selbst unter die wahren Kinder Gottes zähle. Diese römische Weise zu argumentieren wiederholt sich in der Kirche, sooft eine Berufung auf die Väter der lutherischen Kirche zu dem Zweck stattfindet, Abirrungen der Väter gegen das Zeugnis der Schrift eine Berechtigung in der Kirche zu sichern. Die sich zum Schutze irriger Lehren auf den Vorgang frommer irrender Väter berufen, werden von Luther auf die Möglichkeit hingewiesen, daß sie den frommen Vätern zwar Nachfolgen, „aber zu ihnen werden sie nicht kommen” 362) Es ist ein überaus ernstes Ding um das Lehren in Gottes Hause, der christlichen Kirche. Die in diesem Amte stehen, sollten nie vergessen: 1. In der Schrift wird nirgends und niemand Lizenz erteilt, in irgendeinem Punkte von Gottes Wort abzuweichen. Vielmehr gilt für die christliche Kirche bis an den Jüngsten Tag als Hausordnung: „Lehret sie halten alles, was ich euch befohlen habe!” 363) 2. Jede Abweichung von Christi Wort, das die Kirche im Wort seiner Apostel hat, wird ausdrücklich als ein Ärgernis (σκάνδαλον ποιέΐν) bezeichnet.364) Der Irrtum, welcher dem ersten Irrenden durch Gottes besondere Bewahrung unschädlich sein
---------------------------
360) St. L. XVIII, 1730. Erl. Opp. V. a. VII, 166.
361) Calvinismus Irreconciliabilis, p. 432; zitiert Baier-Walther 1,62: Non omne dogma, quod ex sua natura aliquod fidei necessario praesuppositum aut eam consequens astruit vel destruit, idem in hominis cuiusque mente illud efficit.
362) St. L. XIX. 1133. 363) Matth. 28. 20. 364) Röm. 16.17.
100 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 89-90]
kann, ist und bleibt ein Ärgernis für andere, die den Irrtum bei sich nicht diskontieren, sondern ihn auffassen, wie er lautet, ihn weitertragen und Wohl gar mit Berufung auf die „Väter” weitere Trennung in der Kirche anrichten. Um das Ärgernis, das die Abweichung von Gottes Wort naturgemäß anrichtet, möglichst abzutun, haben öffentliche Lehrer das Bedürfnis empfunden, früher vorgetragene Irrrtümer öffentlich zu widerrufen. Deshalb hat Augustinus seine Retraetationes geschrieben,365) und deshalb bittet auch Luther, man wolle seine ersten Schriften „mit vielem Erbarmen” lesen, weil sie von römischen irrigen Lehren noch nicht ganz frei seien.366) 3. Jeder, der in einer Lehre das Zeugnis der Schrift beiseitesetzt, stellt tatsächlich, wenn ihm selbst auch nicht klar bewußt, das ganze christliche Erkenntnisprinzip in Frage. Wir dürfen doch nicht vergessen, daß alle Artikel der christlichen Lehre ein gemeinschaftliches und in seiner Autorität unteilbares Erkenntnisprinzip haben, nämlich das Wort der Heiligen Schrift. Wenn wir nun aus Gründen der „Undenkbarkeit”, Irrationalität oder aus andern in unserm Ego gelegenen Ursachen die Autorität der Schrift in gewissen Lehren beiseitesetzen, z. B. in den Lehren von der Taufe, vom Abendmahl, von der Bekehrung, von der Gnadenwahl, von der Inspiration der Schrift usw., so setzen wir konsequenterweise auch die Autorität der Schrift beiseite, wenn sie uns von dem Gotteslamm sagt, das der Welt Sünde trägt, und von dem Blut Christi, das uns rein macht von aller Sünde.367) Darauf sieht Luther, wenn er warnend sagt: „Der Heilige Geist [der in allen Worten der Schrift redet] läßt sich nicht trennen noch teilen, daß er ein Stück sollte wahrhaftig und das andere falsch lehren oder glauben lassen.”368) Freilich setzt Luther auch hier hinzu: „Ohne wo Schwache sind, die bereit sind, sich unterweisen zu lassen und nicht halsstarriglich zu widersprechen.” Zu den Schwachen, die bereit sind, sich unterweisen zu lassen, gehören alle, in deren Herzen noch der Glaube an die von
----------------------
365) Über den Beweggrund spricht sich Augustinus im Prolog zu seinen Rectractationes so aus: De tam multis disputationibus meis sine dubio multa colligi possunt, quae, si non falsa, at certe videantur, sive etiam convincantur non necessaria. Quem vero Christus fidelium suorum non terruit, ubi ait: Omne verbum otiosum quodcunque dixerit homo, reddet pro eo rationem in die iudicii. Dann fährt er fort: Restat igitur, ut me ipsum iudicem sub magistro uno, cuius de offensionibus meis iudicium evadere cupio. Ed. Basil.. I, 1.
366) Opp. v. a. I, 15; St. L. XIV, 439; XIX, 293. 296 und oft.
367) Joh. 1. 29; 1 Joh. 1. 7. 368) St. L. XX, 1781.
101 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 90-91]
Christo erworbene Vergebung der Sünden wohnt. Aber die Sachlage ist auch für die Schwachen stets mit Gefahr verbunden, namentlich wenn Kontroversen sich erheben. Luther erinnert mit Recht daran, daß nicht nur die weltlichen, sondern auch die geistlichen Kriege gefährlich sind. Auch in den geistlichen Kriegen geht es nicht ohne Verwundete und Tote ab. Die Klimax der Gefahr tritt dann ein, wenn in Lehrkontroversen das klare Schriftwort auf den Plan gebracht wird und diesem Schkiftwort gegenüber, in dem ja der Heilige Geist wirksam ist, der Irrtum festgehalten wird. Dann kann der Fall eintreten, daß das „christliche Irren”, das ist, das Irren aus Schwachheit, wobei der Glaube noch besteht, aufhört und das „unchristliche Irren” oder das Irrrenwollen einsetzt, das den Glauben unmöglich macht.369) Dies ist dann der Fall, der Tit. 3, 10.11 so beschrieben wird: „Einen ketzerischen Menschen meide, wenn er einmal und abermal ermahnet ist, und wisse, daß ein solcher verkehrt ist und sündigt, als der sich selbst verurteilt hat”, αμαρτάνει ών αυχοκατάκριτος.370) 4. Wir sollten auch nicht vergessen, daß, wie jede Sünde auf dem Gebiet der Moral,371) so auch jeder Irrtum auf dem Gebiet der Lehre die Tendenz hat, sich durchzusetzen, das ist, andere Lehren in Mitleidenschaft zu ziehen und schließlich die ganze Lehre zu verderben. Das meint der Apostel, wenn er Gal. 5,9 sagt, daß ein wenig Sauerteig den ganzen Teig versäure.372) Auf diese Tendenz jedes Irrtums sieht Luther, wenn er die christliche Lehre mit einem Ring vergleicht, der nicht mehr ganz ist, wenn er nur einen Bruch hat, und weiterhin von den Artikeln der christlichen Lehre sagt, „daß ein Artikel alle und alle Artikel einer sind, und daß, wenn man einen verloren hat, allmählich alle verloren werden"373) Die Kirchengeschichte aller Zeiten liefert hierfür die Belege. An die Stelle
---------------------------
369) Luthers klassisches Diktum in bezug auf den „christlichen Irrtum”: „Du kannst nicht sprechen: Ich will christlich irren. Ein christlicher Irrtum geschieht aus Unwissenheit.” (St. L. XIX, 1132.)
370) Das αντοκατάχριτος, das nur hier vorkommt, kann gar nicht mißverstanden werden. Es bezeichnet die innerliche Selbstverurteilung, suopte iudicio condemnatus. Gottes Wort, das ihm vorgehalten wurde, hat ihn verurteilt, und diese Verurteilung hat er selbst in seinem Gewissen empfunden. Huther z. St.: „Er sündigt mit Bewußtsein seiner Schuld und Verurteilung.”
371) 1 Kor. 5, 6. Daher 2 Kor. 7, 1 die Mahnung zur Reinigung από παντός μολνσμον οαρκός και πνεύματος.
372) Auch Meyer bezieht, wie Luther und unsere alten Theologen, Gal. 5, 9 auf das Gebiet der Lehre.
373) Zu Gal. 5, 9. St. L. IX, 642 ff.
102 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 91-92]
der „glücklichen Inkonsequenz” tritt die „unglückliche Konsequenz”. So ist Reformierten die Verwerfung der Taufe und des Abendmahls als Gnadenmittel dahin geraten, daß sie konsequent auch das äußere Wort des Evangeliums als Gnadenmittel verwarfen, sich auf eine eingebildete „unmittelbare innere Erleuchtung” zurückzogen und dann dem vollendeten Rationalismus anheimfielen. Andere Reformierte hat die Leugnung der Möglichkeit der Mitteilung der Eigenschaften in der Person Christi zur Leugnung der Menschwerdung des Sohnes Gottes, nämlich in den Sozinianismus, geführt.374) Innerhalb der lutherischen Kirche hat die schwankende Stellung des späteren Melanchthon auch darin ihren Grund, daß Melanchthon meinte zur Rettung der allgemeinen Gnade den Synergismus (das „verschiedene Verhalten”) in die christliche Heilsordnung einfügen zu müssen. Von diesem Irrtum aus wurde ihm der klare Blick für die christliche Wahrheit überhaupt so getrübt, daß er an dem Leipziger Interim mitarbeitete, an einem Schriftstück, das G. Plitt so charakterisiert: „Eine rechte Verhöhnung, ja eine Verleugnung der Reformation und der evangelischen Kirche. Tief verstimmt kehrte Melanchthon nach Wittenberg zurück.” 375)
Nichtfundamentale Lehren. ^
„Nichtfundamental” im Unterschied von „fundamental” werden passend solche Schriftlehren genannt, die zwar in der Schrift stehen, aber für den Glauben nicht Fundament oder Objekt sind, insofern der Glaube Vergebung der Sünden erlangt und zu Kindern Gottes macht. Es sind Lehren, in denen der Glaube derer, die Vergebung der Sünden bereits erlangt haben oder bereits Kinder Gottes geworden sind, in Erkenntnis sich betätigt und nach Gottes Willen auch betätigen soll. Solche Lehren sind z. B. die Lehren vom Antichrist und von den Engeln. Daß die Lehre vom Antichrist nicht zum Fundament der fides salvifica gehöre, wurde bereits dargelegt. Dasselbe ist in bezug auf die Lehre von den Engeln zu sagen. Der Glaube, welcher die Vergebung der Sünden ergreift, ist nicht Glaube an die Engel, sondern lediglich Glaube an Christum. Dem Glauben an Christum kommt die rechte Erkenntnis auch dieser nichtfundamentalen Lehren insofern zugute, als sie die Gläubigen vor Gefahren warnen, wie die Lehre vom
---------------------------
374) Vgl. die weitere Darlegung II, 302 f., und das Beispiel Adam Neusers.
375) RE.2 VI, 777.
103 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 92-93]
Antichrist, oder die Güte Gottes noch mehr ins Licht stellen, wie die Lehre von den Engeln. Welche Güte und Gnade Gottes leuchtet daraus hervor, wenn es Hebr. 1,14 von den Engeln heißt: „Sind sie nicht allzumal dienstbare Geister, ausgesandt zum Dienst um derer willen, die ererben sollen die Seligkeit?”! So gilt auch m bezug auf die articuli non-fundamentales 2 Tim. 3,16: πάσα γραφή ϑεόπνενοτος καί ωφέλιμος. Aber auch bei der Leugnung von nichtfundamentalen Lehren liegt die Gefahr vor, daß die göttliche Autorität der Schrift geleugnet wird. Wer nicht glauben will, daß es Engel gibt, wiewohl ihm bekannt ist, daß die Schrift die Existenz und die Tätigkeit der Engel lehrt, der leugnet die göttliche Autorität der Schrift und gibt damit das Erkenntnisprinzip der ganzen christlichen Religion Preis. Baier sagt deshalb sehr richtig: Interim etiam in his cavendum est, ne errorem amplectendo aut profitendo in revelationem divinam Deumque ipsum temere peccetur.376) Dies gilt natürlich auch in bezug auf die historischen, geographischen, archäologischen usw. Angaben der Schrift. Diese sind freilich nicht Objekt des Glaubens, insofern der Glaube der Vergebung der Sünden teilhaftig macht. Es ist ein schwerer Irrtum Bellarmins, wenn er sagt: Catholici tam late patere volunt obiectum fidei iustificantis, quam late patet Verbum Dei.377) Dadurch wird aus dem Glauben ein Werk gemacht. Es ist durchaus festzuhalten, daß Objekt der fides iustificans nur die evangelische Verheißung ist, die Vergebung der Sünden um Christi willen darbietet.378) Aber wer der Schrift in den kleinen Dingen der historischen, geographischen usw. Angaben nicht glaubt, wie wird er unter den terrores conscientiae der Schrift in den großen Dingen glauben, die von des Sohnes Gottes Inkarnation und satisfactio vicaria handeln und gegen die alle religiösen Begriffe sprechen, die der Mensch von Natur bei sich beherbergt?379) Deshalb hat Philippi sich gedrungen gefühlt, in der dritten Auflage seiner Dogmatik die Zweifel zurückzunehmen, die er früher in bezug auf die Zuverlässigkeit der historischen usw. Angaben der Schrift geäußert
hatte.380)
------------------
376) Compendium I, 65.
377) Lib. 1 De Iustif., e. 4; bei Quenstedt II, 1362.
378) Dies ist ausführlich dargelegt II, 505 unter dem Abschnitt „Der seligmachende Glaube hat nur das Evangelium zum Objekt”.
379) 1 Kor. 1, 23; 2,14.
380) Vgl. Zusatz zur 3. Aufl. der Glaubenslehre I, 279. Vgl. Bericht d. Synodalkonf. 1886, S. 35.
104 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 93]
3. Offene Fragen und theologische Probleme. ^
Offene Fragen sind nicht solche, über die Menschen sich nicht einigen können, auch nicht solche, über die noch keine symbolische Entscheidung vorliegt, sondern nur solche Fragen, die die Heilige Schrift selbst nicht beantwortet und eo ipso offen läßt.
Es liegt auf der Hand, daß die Heilige Schrift als Quelle und Norm der christlichen Lehre abgesetzt wird, wenn nur das als allgemein verbindliche christliche Lehre gelten soll, worüber Menschen sich einigen können. Dadurch wird Christi Wort: „Lehret sie halten alles, was ich euch befohlen habe!”.umgesetzt in die Weisung: Lehret sie halten, wofür ihr die menschliche Zustimmung erlangen könnt! Dieser schriftwidrige Gedanke liegt den vielfachen Versuchen zugrunde, kirchliche Vereinigungen ohne Einigkeit in der chri st lichen Lehre zustande zu bringen. Beispiele hierfür haben wir in der „Evangelischen Allianz” (seit 1846), in der reformierten Kirche, die (Zwingli und Calvin eingeschlossen) immer Neigung gezeigt hat, sich ohne Beseitigung der Lehrdifferenzen mit der lutherischen Kirche zu vereinigen. Das neueste Beispiel eines kirchlichen Zusammenschlusses ohne tatsächliche Übereinstimmung in der Lehre liegt hierzulande vor in der United Lutheran Church (“Merger-Synoden”). 381) Dieselbe Beiseitesetzung des Schriftprinzips tritt uns entgegen, wenn neuere Lutheraner die sonderbare Ansicht aussprechen, daß nur solche Lehren als in der lutherischen Kirche verbindlich anzusehen und zu behandeln seien, über die eine Entscheidung in den symbolischen Büchern der lutherischen Kirche vorliege. Dies ist der Sache nach der römische Irrtum, den Luther mit den bekannten Worten zurückweist: „Die christliche Kirche hat keine Macht [also auch nicht die lutherische], einigen Artikel des Glaubens zu setzen, hat's noch nie getan, wird's auch nimmermehr tun.”382) Hierauf kommt das Dorpater Gutachten vom Jahre 1866 hinaus.383)
Hingegen ist festzuhalten, daß alle solche Fragen als offene anzuerkennen sind, die sich wohl bei dem Nachdenken über die in der Schrift vorliegenden Lehren aufdrängen, aber in der Schrift entweder gar nicht oder doch nicht klar beantwortet werden. Daß offene
----------------------
381) Vgl. F. Bente, American Lutheranism, II, S. 9. Derselbe Unionismus und Indifferentismus fand sich in der früheren Generalsynode, S. 19. 48. 170, dem General Council, S. 195. 224, und der United Synod in the South, S. 232 ff.
382) Erl. 31, 122. Opp. v. a. IV, 373; St. L. XIX, 958.
383) Weiteres hierüber bei der Lehre von der Heiligen Schrift unter dem Abschnitt „Schrift und Symbole”.
105 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 94]
Fragen in diesem Sinne anzuerkennen sind, geht aus allen Schriftaussagen hervor, in denen das Hinzutun zu Gottes Wort verboten ist.384) Jeder wahre Theologe muß nicht nur das Reden, sondern auch das Schweigen lernen. Er soll reden, wo und soweit Gottes Wort redet, aber auch schweigen, wo Gottes Wort schweigt, das ist, keinen Aufschluß gibt. Lernt er nicht diese Kunst des Schweigens, sondern erlaubt er sich zu reden, wo Gottes Wort schweigt, so gilt ihm das Wort: „So spricht der HErr Zebaoth: Gehorchet nicht den Worten der Propheten, so euch weissagen! Sie betrügen euch, denn sie predigen ihres Herzens Gesicht und nicht aus des HErrn Munde.”385) Offene Fragen in diesem Sinne werden auch „theologische Probleme” genannt, nämlich Probleme in dem Sinne, daß sie in der Kirche hier auf Erden nicht gelöst werden können, weil hier die göttliche Lösung durch die Heilige Schrift fehlt. Das ist der Sinn des alten Diktums, daß ein Theologe auf viele Fragen mit gutem Gewissen antworten könne: „Ich weiß nicht”, nescio.
Zu den theologischen Problemen in diesem Sinne gehört z.B. die Frage, wie die Sünde entstehen konnte, da doch alle Kreaturen, also auch alle Engel, ursprünglich gut geschaffen waren.386) Hierher kann auch die Frage gerechnet werden, ob die Seele des Kindes jedesmal unmittelbar von Gott geschaffen (Kreatianismus) oder von den Eltern auf das Kind übergeleitet, also mittelbar von Gott erschaffen werde (Traduzianismus).387) Zu den in diesem Leben unlös-
------------------------
384) 5 Mos. 4, 2; 12,32; 1 Petr. 4,11.
385) Jer. 23,16; auch 1 Tim. 6, 3 ff.
386) Der Versuch, dieses Problem Zu lösen, hat zum Dualismus in seinen verschiedenen Gestalten, auch zur Leugnung der Sünde geführt. Nitzsch-Stephan, Ev. Dogmätik 3, S. 438. Weiteres hierüber bei der Lehre von Gott.
387) Ausführliche dogmengeschichtliche Behandlung dieser Frage, die namentlich in den pelagianischen Streitigkeiten und dann auch später viel behandelt worden ist, bei Chemnitz, Loci, 1. De Peccato Originis, ed. 1599, I, 567 sqq. über Luthers Stellung zu dieser Frage sagt Chemnitz: Lutherus in disputationibus conclusit, se publice nihil velle affirmare de ista quaestione, sed privatim apud se tenere sententiam de traduce. Merito autem reprehendendos esse Pontificios, qui in re obscura, sine manifestis Scripturae testimoniis, temeraria auctoritate condiderunt articulum fidei ad eversionem purioris doctrinae de peccato originis. Seine eigene Meinung spricht Chemnitz in den folgenden Worten aus: Haec de quaestione illa volui annotare, quia usitata est et iudico sobriam eius explicationem aliquid conferre ad intelligendam causam efficientem [nämlich der Erbsünde].. Et discamus ex hoc exemplo pie et firmiter fundata simplicitate praecidere tales quaestiones, quae non sine periculo fidei subtilius disputantur. Satis ergo sit de causa efficiente
106 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 95]
baren Problemen gehört auch die sogenannte crux theologorum, nämlich die Frage, die sich, wie die Konkordienformel erinnert, angesichts der Tatsache erhebt: „Einer wird verstockt, verblendet, in verkehrten Sinn gegeben, ein anderer, so Wohl in gleicher Schuld (in eadem culpa), wird wiederum bekehret.” 388) Die Konkordienformel warnt davor, diese Frage in diesem Leben beantworten zu wollen. Sie verweist die Beantwortung in das ewige Lebens) Das rechte Urteil wird also dahin lauten: Alle Theologen, die wirklich offene Fragen in der Theologie schließen oder wirklich theologische Probleme lösen wollen, handeln a. schriftwidrig, weil sie nicht bei 1 Petr. 4,11 bleiben: Εΐ τις λαλεϊ, ώς λόγια θεοϋ; b. unwissenschaftlich, weil sie ein Wissen vorgeben, das sie nicht besitzen. Nach Joh. 8,31. 32 vermittelt sich alle christliche Wahrheitserkenntnis durch das Bleiben an Christi Wort. Was ohne das Bleiben an den gesunden Worten unsers HErrn JEsu Christi für Wahrheitserkenntnis ausgegeben wird, gehört nach 1 Tim. 6, 3 in das Gebiet der Einbildung oder des Nichtwissens (τετνφωται, μη επιοτάμενος).
------------------------------
scire, primos parentes lapsu suo meritos esse, ut quales ipsi erant post lapsum et corpore et anima, tales procrearentur omnes posteri. Quomodo autem malum illud contrahat anima, salva fide potest ignorari, quia Spiritus Sanctus non voluit hoc certis et perspicuis Scripturae testimoniis patefacere. Vgl. auch Baiers kurze dogmengeschichtliche Bemerkungen I, 67, nota c; ferner Luthardt, Dogmatik 11, S. 168 f.
388) M. 716, 57.
389) Der Versuch, diese Frage zu beantworten, hat einerseits zum Calvinismus (Leugnung der umversalis gratia), andererseits zum Semipelagianismus und Synergismus (Leugnung der sola gratia) geführt. Selbstverständlich ist, daß nicht die Frage an sich, die in mehrfacher Form (cur alii, alii non; cur non omnes; cur alii prae aliis) und so ziemlich zu allen Zeiten (auch von Luther und den alten lutherischen Theologen) gestellt worden ist, eine Sünde und einen Irrtum involviere. Gesündigt und Irrtum gelehrt haben die, welche mit Melanchthon, dem Vater des Synergismus innerhalb der lutherischen Kirche, die Frage vermittelst des „verschiedenen Verhaltens” beantwortet haben. Auch die Konkordienformel reiht ihre Aussage: „Einer wird verstockt usw., ein anderer, so Wohl in gleicher Schuld, wird wiederum bekehrt” unter die Fragen ein, wenn sie sagt: „In diesen und dergleichen Fragen” usw. Sie warnt aber vor der Beantwortung der Frage, wenn sie hinzusetzt: „In diesen und dergleichen Fragen setzt uns Paulus ein gewisses Ziel (certas metas), wie fern wir gehen sollen, nämlich nur so weit, daß wir bei dem einen Teil erkennen sollen Gottes Gericht, ... was wir alle Wohl verdient hätten”, und daß wir, der andere Teil, „Gottes Güte ohne und wider unser Verdienst ... erkennen und preisen”, weil Gott uns, die wir doch in gleicher Schuld sind, „nicht verstockt und verwirft”. Vgl. die ausführliche Darlegung bei der Lehre von der Bekehrung (II, 285 ff.) und bei der Lehre von der Gnadenwahl (III, 566 ff.).
107 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 95-96]
Halten wir so den schriftgemäßen Begriff von offenen Fragen und theologischen Problemen fest, so liegt auf der Hand, daß es töricht wäre, auf ihre Behandlung viel Zeit und Kraft zu verwenden. Nachdem Reusch die theologischen Probleme als Dinge beschrieben hat, denen das Schriftzeugnis fehlt, fügt er hinzu: Inutilis est eorum cognitio, et vanae sunt de eisdem disputationes.390) Dannhauer erinnert daran, daß von den Scholastikern viele Fragen behandelt werden, die in der Schrift entweder gar nicht oder doch nicht klar beantwortet sind; aber in bezug auf das Resultat und den praktischen Nutzen fügt er hinzu: „Einer melkt den Bock, der andere hält das Sieb unter.” 301) Wir haben wahrlich genug zu tun, wenn wir das lernen und lehren und dabei bleiben, was in der Schrift geoffenbart vorliegt. Luther rechnet das Behandeln unnützer Fragen, die uns nicht geboten sind, zu den „Hindernissen des Evangeliums”, weil dadurch die gebotenen großen Hauptsachen in den Hintergrund gedrängt werden und erfahrungsmäßig die große Menge nur zu leicht für Menschengedanken zu haben ist, die die Neugierde befriedigen. So ist's, sagt Luther, den Juden mit der Erforschung ihrer Geschlechtsregister ergangen, und so hat man auch im Papsttum um unnütze Fabeln und Geschwätze gezankt, weil jeder recht haben wollte.392) Luthers warnende Worte lauten so: „Das sind zwei Hindernisse des Evangelii: eines, so man anders lehrt, also daß man das Gesetz und Werke hinein auf die Gewissen treibt; das andere, so der Teufel, wo er sieht, daß er den Glauben nicht stracks umstoßen kann, mit List fährt und von hinten hereinschleicht und unnütze Fragen aufwirft, damit man sich bekümmere und dieweil das Hauptstück dahintenbleibe, als da sind von toten Heiligen und abgeschiedenen Seelen, wo sie bleiben, ob sie schlafen, und dergleichen.393) Da geht immer eine Frage nach der andern auf, daß ihrer kein Ende ist. Da bekümmert sich der leidige Vorwitz um unnötige und unnütze Dinge, das weder geboten ist noch zur Sache dient. So kommt der Teufel hinter die Leute, sperrt ihnen das Maul auf, daß sie danach gaffen und jenes verlieren. Und tritt denn ein Narr auf, der auch gesehen will sein, wirft etwas Neues und Seltsames auf,
----------------------
390) Annotationes in Baieri Comp. 1767, p. 52. [Baier-Walther, I, 67]
391) Hodosophia, Phaen. XI, p. 667, ed. 1713: Unus hircum mulget, alter supponit cribrum.
392) Zu 1 Tim. 1, 3. 4. St. L. IX, 863 f.
393) Wieviel wir über den Zustand der Seelen zwischen Tod und Auferstehung aus der Schrift gewiß wissen, ist III, 574. dargelegt.
108 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 96-97]
daß man sagen solle, er sei gelehrter denn andere: da platzt denn der Pöbel mit Haufen zu, sperrt Augen, Ohren und Maul auf. So wird des Glaubens und der Liebe geschwiegen; denn sie meinen, es sei täglich Brot, das sie alle genug gehört haben und wissen; [es] sei verdrießlich, immerdar ein Ding zu hören.”
In welchem besonderen Sinne neuere Theologen, weil sie die Inspiration der Schrift leugnen und die christliche Lehre aus dem eigenen Innern beziehen wollen, von „Problemen” reden, wird unter dem Abschnitt „Theologie und Gewißheit” behandelt werden.
12. Die Kirche und die kirchlichen Dogmen. ^
Ist nur die in der Heiligen Schrift vorliegende doctrina in der christlichen Kirche berechtigt, wie im vorhergehenden Abschnitt dargelegt wurde, so ist damit bereits der Sache nach die Frage, was kirchliche Dogmen seien und welcher Wert ihnen zukomme, beantwortet. Wir fügen hierüber noch einen besonderen Abschnitt bei, weil die Dogmenfrage ein in der Kirche der Gegenwart viel behandeltes Thema ist. Die einen treten sehr entschieden für ein „undogmatisches” (creedless) Christentum ein. Sie reduzieren das Christentum und die „eigentliche” Aufgabe der christlichen Kirche auf das „soziale Evangelium” (the social gospel). Das „soziale Evangelium” ist so gemeint, daß die Kirche das „Jenseits”, inklusive Himmel und Hölle, vergesse oder doch in den Hintergrund treten lasse und statt dessen auf das „Diesseits”, die Beglückung der Menschheit in dieser Welt, sich einstelle. Das „soziale Evangelium” betrachtet “Boston as of equal importance with the New Jerusalem, because it takes, almost literally, the vision of St. John, who saw the ‘New Jerusalem coming down out of heaven’ to occupy this earth”.394) Andere halten dafür, daß die Kirche ohne Dogma nicht wohl auskommen könne. Aber an die Stelle der alten Dogmen, die sich überlebt hätten, müsse ein neues, der Gegenwart angepaßtes Dogma treten, über das die Verhandlungen freilich noch nicht abgeschlossen seien. Manche haben sich auch dahin ausgesprochen, daß
---------------------
394) Winchester Donald, The Expansion of Religion., 1896 S. 125. Die ausführliche Darlegung L. u. W. 1920, S. 270 ff.: „Die moderne Diesseitigkeitstheologie.” Auch L. u. W. 1921, S. 2 ff.: „Das Christentum als Jenseitsreligion.” Hier finden sich auch die Literaturangaben. Auf denselben Gegenstand gehen ein die Lehrverhandlungen des Michigan-Distrikts, Bericht 1919, S. 44 ff.
109 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 97]
die alten Dogmen sehr wohl beibehalten werden könnten, nur müßten sie „fortgebildet” oder „liberalisiert” werden.395)
Auf das „undogmatische” Christentum gehen wir hier nicht weiter ein. Es verzichtet ja von Vorneherein auf alle kirchlichen Dogmen. Wenden wir uns dem andern Teil zu, der Dogmen für notwendig hält, so stehen wir vor der Tatsache, daß uns verschiedene Definitionen vom kirchlichen Dogma dargeboten werden.396) Um herauszustellen, welche Dogmen mit Recht das Prädikat „kirchlich” verdienen, gehen wir von einer ungenügenden Definition aus. Es ist der Vorschlag gemacht worden, solche Lehren kirchliche Dogmen zu nennen, die „kirchliche Anerkennung suchen oder beanspruchen”. Diese Definition wird viel gebraucht, ist aber ungenügend, weil die Erfahrung lehrt, daß gerade unkirchliche Lehren mit größter Entschiedenheit Anerkennung beanspruchen. Einige Beispiele beweisen dies. Ein Dogma Roms lautet dahin, daß die Rechtfertigung vor Gott nicht nur durch den Glauben an das Evangelium sich vollziehe, sondern auch durch das Halten der Gebote Gottes und der Kirche bedingt sei.397) Rom dringt auch so energisch auf Anerkennung dieses Dogmas, daß es über alle, die zur Erlangung der Rechtfertigung vor Gott allein auf Gottes Barmherzigkeit in Christo ohne des Gesetzes Werke vertrauen, das Anathema ausspricht.398) Dennoch ist dies römische Dogma nicht kirchlich, sondern so unkirchlich, daß es alle, die es glauben, von der Kirche ausschließt. „Ihr habt Christum verloren (κατηργήϑητε άττό Χρίστον), die ihr durch das Gesetz gerecht werden wollt, und seid von der Gnade gefallen.” „Die mit des Gesetzes Werken umgehen (δσοι εξ έργων νόμον ειαίν), die sind unter dem Fluch.”399) Rom hat auch das Dogma von der Oberherrschaft und Infallibilität des Papstes.”400) Auch für dieses Dogma beansprucht Rom Anerkennung in dem Maße, daß es alle, die es ab-
-----------------------
395) Zur Literatur über diesen Punkt vgl. R. Seeberg, „Brauchen wir ein neues Dogma?” 1892; derselbe, „Grundwahrheiten der christlichen Religion"5,1910, S. 61 ff.; Theodor Kaftan, „Moderne Theologie des alten Glaubens” 2, 1906; Loofs unter „Dogmengeschichte RE.3 IV, 753 ff.; Nitzsch-Stephan, „Dogmatik” 3, S. 2 ff. 47 ff.; Horst Stephan, „Glaubenslehre”, 1921, S. 19 ff.
396) In der Schrift kommt das Wort sowohl von staatlichen als kirchlichen Verordnungen vor, wie aus Luk. 2,1 und Apost. 16, 4 hervorgeht.
397) Trid. Sess. VI, sau. 10. 11. 12. 20. 398) A. a. O.
399) Gal. 5,4; 3,10; 4,21—31.
400) Vgl. die Belege III, Note 1639. Ganz ausführlich bei Günther, Symb.3, S. 378 f. [sic: 3rd ed. 1898 S. 394; 4th edition 1913, p. 378 f.]
110 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 98]
lehnen, verflucht.401) Dennoch ist es kein kirchliches Dogma, sondern in der christlichen Kirche ausdrücklich verboten, weil Christus der Alleinherrscher und die einzige Lehrautorität in seiner Kirche ist.402) Auf reformiertem Kirchengebiet begegnen wir dem Dogma von der unmittelbaren göttlichen Gnadenoffenbarung und Gnadenwirkung. Dux vel vehiculum Spiritui non est necessarium. “Efficacious grace acts immediately.”403) Auch dies Dogma strebte und strebt so energisch nach Anerkennung, daß die gegenteilige lutherische Lehre als die Majestät Gottes schädigend und ein bloßes Verstandeschristentum (Intellektualismus) fördernd verworfen wird.404) Dennoch haben wir es an diesem Punkte nicht mit einem kirchlichen Dogma, sondern mit einer menschlichen Einbildung zu tun, für die es auch nicht einen Schein des Schriftbeweises gibt,405) die vielmehr direkt dem διά όγον, διά τον εναγγελίον, εξ άκοής, διά λοντρου παλιγγενεοίας, τω λοντρφ τον νδατος widerspricht.406) Bei den arminianischen Reformierten und den synergistischen Lutheranern treffen wir auf das Dogma von der menschlichen Mitwirkung zur Bekehrung und Seligkeit. Auch dieses Dogma dringt mit nicht geringer Energie auf Anerkennung. Seine Protektoren behaupten, daß ohne „Einschränkung” der sola gratia eine Zwangsbekehrung, eine gratia particularis und anderes Unglück die notwendige Folge sei.407) Dennoch ist der Synergismus nicht ein kirchliches Dogma, weil die Schrift durchweg die sola gratia lehrt.408) Die neueren Theologen, und zwar auch solche, die den Dogmen abhold sind, treten bei großer Nichtübereinstimmung in der Lehre mit großer Übereinstimmung für die These ein, daß die christliche Lehre nicht aus der Heiligen Schrift, sondern aus dem Inwendigen, dem „Erlebnis” usw. des theologisierenden Subjekts zu schöpfen und zu normieren sei. Auch dies sonderbare Dogma tritt keineswegs bescheiden, sondern mit der Behauptung auf, daß
---------------------
401) Das Dekret des Vatikanischen Konzils, abgedruckt bei Günther, a. a. O., S. 379. [sic: 3rd ed. 1898 S. 394; ; 4th edition 1913, p. 379 f.; Engelder Popular Symbolics (1934), p. 162]
402) Luk. 22, 25; Matth. 23, 8. 10.
403) Vgl. den Abschnitt „Die Gnadenmittel und die Enthusiasten”, III, 150 ff.; ferner den Abschnitt „Zusammenfassende Beurteilung der reformierten Gnadenmittellehre”, III, 168 ff.
404) Die Vertreter der reformierten Gnadenmittellehre auf dem Kriegspfad, III, 192 ff. 150 ff.
405) Die Prüfung des reformierten Schriftbeweises III, 175 ff.
406) Joh. 17, 20; 1 Kor. 4, 15; Röm. 10, 17; Tit. 3, 5; Eph. 5, 26.
407) Die ausführliche Darlegung II, 564—598.
408) Vgl. den Abschnitt „Die bewirkende Ursache der Bekehrung” II, S. 546 ff.
111 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 98-99]
Intellektualismus, Biblizismus, tote Orthodoxie usw. resultiere, falls die Schrift als unfehlbares Werk anerkannt und als einzige Quelle und Norm der christlichen Lehre verwendet werde. Daß dies kein kirchliches, sondern ein den Grund der Kirche umstoßendes Dogma sei, wurde in dem vorhergehenden Abschnitt ausführlich nachgewiesen. Wir haben es also mit einer ungenügenden Definition von „Dogma” zu tun, wenn eine Lehre, „die kirchliche Anerkennung beansprucht”, unter die „kirchlichen Dogmen” eingereiht wird.
In positiver Darlegung ist zu sagen: Jedes Dogma ist kirchlich, das aus dem „Lehrbuch” der christlichen Kirche, der Heiligen Schrift, geschöpft ist; und jedes Dogma ist unkirchlich, das seine „Ankunft” (Luthers Ausdruck) nicht aus der Schrift hat. Die Sachlage ist ja die, wie ebenfalls in dem vorhergehenden Abschnitt ausführlich dargelegt wurde, daß die christliche Kirche gar keine eigene, sondern nur Christi Lehre hat, lehrt und bekennt. Luther: Ecclesia Dei non habet potestatem condendi ullum articulum fidei, sicut nec ullum unquam condidit, nec condet in perpetuum. Freilich lehrt, bekennt und billigt (approbat) die christliche Kirche articulos fidei seu Scripturas, aber nicht als Oberherr (more maioris sive auctoritate iudiciali), sondern als Untertan (more minoris), wie ein Knecht (servus) das Siegel seines Herrn.409) Und das gilt nicht nur von Lokalgemeinden, sondern auch von allen größeren kirchlichen Versammlungen, von Synoden, Konzilien usw.410) Es ist auch die Frage behandelt worden, ob Lehrbestimmungen, die nur dem Sinne nach, aber nicht dem Ausdruck nach in der Schrift gegeben sind, mit Recht kirchliche Dogmen genannt werden. In concreto handelt es sich um die Frage, ob wir z. B. von einem Dogma der „Trinität”, der „Homousie” usw. reden könnten. Wir werden Luther recht geben, wenn er in bezug auf das όμοούσιος sagt: „Es ist ja wahr, man soll außer der Schrift nichts lehren in göttlichen Sachen, wie St. Hilarius schreibt, 1. De Trin. Das meinet sich nicht anders denn, man soll nichts anderes [als die Schrift] lehren. Aber daß man nicht sollte brauchen mehr und andere Worte, das kann man nicht halten, sonderlich im Zank, und wenn die Ketzer die Sachen mit blinden Griffen wollen falsch machen und der Schrift Worte verkehren; da war vonnöten, daß man die Meinung der Schrift, mit so vielen Sprüchen gesetzt, in ein kurz und Summarienwort fassete und
------------------------
409) Opp. V. a. IV. 373. St. L. XIX, 958.
410) Vgl. die weitere Darlegung unter dem Abschnitt Ecclesia Repraesentativa III, 496 ff.
112 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 99-100]
fragte, ob sie Christum homousion hielten, wie der Schrift Meinung in allen Worten ist.” 411)
Was von Synoden und Konzilien und von allen großen und kleinen kirchlichen Versammlungen gilt, gilt natürlich auch von dem einzelnen Theologen und seiner Theologie und speziell von dem „Dogmatiker” und seiner „Dogmatik”. Die Theologen und speziell auch die Dogmatiker sind nur insofern kirchlich, als sie prinzipiell nur die Schrift als Quelle und Norm der Theologie anerkennen und das Praktische Resultat, die Lehre, nicht ein mixtum compositum von Schriftlehre und Menschengedanken, sondern theologia έκτυπος, nur Wiedergabe der in der Schrift geoffenbart vorliegenden Lehre, ist. Alle bloß menschlichen Lehrer, auch wenn sie die schriftgemäße Lehre darbieten, gebraucht der Theologe und speziell auch der Dogmatiker nicht als Quelle und Norm der Lehre, sondern nur als testes veritatis, „als Zeugen, welcher Gestalt nach der Apostel Zeit und an welchen Orten solche Lehre der Propheten und Apostel erhalten worden ist"412) Die wirklich lutherischen Dogmatiker beziehen dies auch auf die Symbole der lutherischen Kirche; denn sie bekennen sich „erstlich zu den prophetischen und apostolischen Schriften Altes und Neues Testaments als zu dem reinen, lautern Brunnen Israelis, welche allein die einige, wahrhaftige Richtschnur ist, nach der alle Lehrer und Lehre zu richten und zu urteilen sind”.413) Nebenbei ist hier für die „alte Dogmatik” ein gutes Wort einzulegen. Ziemlich allgemein wird behauptet, daß die alten lutherischen Dogmatiker ihre Lehre nicht aus der Schrift dargelegt, sondern die Schrift nur als „eine Sammlung von Beweisstellen” für die fertig herübergenommene Kirchenlehre benutzt hätten. Diese Behauptung ist geschichtlich unrichtig und beruht, wo sie bona fide auftritt, auf Unkenntnis der Sachlage. In der alten Dogmatik, wie sie z. B. durch Quenstedt repräsentiert wird, ist die christliche Lehre nicht bloß durch die Schrift bewiesen, sondern auch aus der Schrift dargestellt. Davon kann sich jeder überzeugen, der sich die Mühe gibt, in Quenstedts Systema Theologicum bei den einzelnen Lehren die εκϑεσις und ϑέσεως βεβαίωσις nachzulesen. Was für ein unvollziehbarer Gedanke uns in „dem Ganzen der Schrift” zugemutet wird, womit die moderne Theologie pro domo kämpft und die Schrift als Quelle und Norm der Theologie beseitigt, ist später noch darzulegen.
-----------------------
411) St. L. XVI, 2212. Erl.1 25, 292.
412) Konkordienformel. M. 568, 1.
413) Konkordienformel. M. 568, 3.
113 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 100-101]
Das „kirchliche Dogma”, das ist, die aus der Heiligen Schrift geschöpfte Lehre, ist auch der Faktor, der den inneren Zusammenhang zwischen den theologischen Disziplinen wahrt und ihnen den theologischen Charakter sichert, wenn wir die Theologie z. B. in dogmatische, historische, exegetische und Praktische Theologie einteilen. Die historische Theologie ist die vom Heiligen Geist gewirkte Tüchtigkeit, nicht nur die Ereignisse historisch genau darzustellen, sondern auch die dokumentarisch festgestellten Ereignisse und Zustände nach der Heiligen Schrift zu beurteilen, das heißt, unter Gottes eigenes Urteil zu stellen, das wir in der Heiligen Schrift besitzen. Diese Beurteilung nach der Schrift macht die Kirchengeschichte zu einer theologischen Disziplin. Die Beurteilung der Ereignisse nach der subjektiven Anschauung der mit Kirchengeschichte beschäftigten Persönlichkeit oder nach einer andern außerbiblischen Norm zerstört den theologischen Charakter der Kirchengeschichte. Eine christliche Kirchengeschichte berichtet uns, „wie es dem lieben Evangelium iu der Welt ergangen ist”, wie es Luther gelegentlich ausdrückt. Wo es daher in der Kirche recht zugeht, da wird bei der Wahl eines Professors der Kirchengeschichte darauf gesehen, daß der zu Erwählende die schriftgemäße Lehre in allen ihren Teilen Wohl innehabe, damit der kirchengeschichtliche Unterricht nicht verwirrend, sondern christlich belehrend wirke. Der Lehrer der Kirchengeschichte soll nicht „Ehrfurcht vor der Geschichte” bezwecken, wie wir kürzlich lasen, sondern wie jede Fachtheologie die Ehrfurcht vor Gottes Wort vermitteln und stärken. — Die exegetische Theologie ist die vom Heiligen Geist verliehene Tüchtigkeit, die Studierenden bei dem in den Worten der Schrift ausgedrückten Sinn festzuhalten und falsche Auslegungen als Text und Kontext widersprechend aufzuzeigen. Damit die Exegese nicht ihren theologischen Charakter gefährde, hat der Exeget das Scriptura Scripturam interpretatur und Scriptura sua luce durchweg festzuhalten. Alles außerbiblische Material, mag es die Sprache oder die historischen Umstände betreffen, darf in der Exegese nicht entscheidend sein. Dies gilt namentlich auch in bezug auf die historischen Umstände. Jede Auslegung ist abzuweisen, die die Worte der Schrift nach einem „historischen Hintergrund” deutet, der nicht in der Schrift selbst gegeben, sondern ganz oder teilweise zeitgenössischen Profanskribenten entnommen ist. Aller historische Hintergrund, der zum Verständnis der Schrift nötig ist, ist in der Schrift selbst gegeben. Dieser Gegenstand ist bei der Lehre von der Heiligen Schrift unter dem Abschnitt „Schrift und Exegese"
114 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 101-102]
wieder aufzunehmen. — Die praktische Theologie ist die vom Heiligen Geist gewirkte Tüchtigkeit, die aus der Heiligen Schrift erkannte reine christliche Lehre in allen Funktionen des öffentlichen Predigtamts praktisch anzuwenden, also in der öffentlichen Predigt und in der Privatseelsorge, in der katechetischen Unterweisung von jung und alt, in der Regierung der Gemeinde usw. Es liegt auf der Hand, wie der theologische Charakter auf dem praktischen Gebiet ganz direkt gefährdet wird, sobald hier Außerbiblisches Raum gewinnt.
Hieraus ergibt sich, daß die theologischen Disziplinen sich nicht voneinander trennen lassen. Wie der Dogmatiker zugleich Exeget, Historiker und praktischer Theologe sein muß, so müssen auch der Exeget, Historiker und der praktische Theologe zugleich gute Dogmatiker in dem Sinne sein, daß sie die Schriftlehre in allen ihren Teilen genau kennen. Dem Verlangen nach einem „undogmatischen” Christentum ist das Diktum entgegengestellt worden: „Nur die Dogmatik ist erbaulich.” Das ist ganz richtig, wenn unter Dogmatik die doctrina divina verstanden wird, die in der Schrift geoffenbart vorliegt und die allein in der Kirche Christi gelehrt werden soll. In der christlichen Kirche kommt alles auf die Lehre an, wie aus Christi Generalinstruktion Matth. 28 hervorgeht: „Lehret sie halten alles, was ich euch befohlen habe!” Das sollen sowohl die theologischen Lehrer als auch die Praktischen Prediger nie vergessen. Alle Theologen, welche die direkte Mitteilung „übernatürlicher Wahrheiten” aus der Schrift, also der Lehre der Schrift, als „Intellektualismus” fördernd abweisen, offenbaren damit, daß sie vergessen haben, was ihres Amtes ist. Und was die praktischen Prediger betrifft, so sollten auch sie insonderheit nicht vergessen, daß sie vor allen Dingen Lehre, die in der Heiligen Schrift vorliegende göttliche Lehre, zu predigen haben. Ihre Predigten müssen, wie wir es gewöhnlich ausdrücken, „Lehrpredigten” sein. Über Lehrpredigten, was sie seien, wie sie wirken und warum sie vielfach unterlassen werden, möchten wir Walther zu Worte kommen lassen. Er schreibt:414) „Mag eine Predigt noch so reich an Ermahnungen, Bestrafungen und Tröstungen sein, ist sie dabei ohne Lehre, so ist sie doch eine leere, magere Predigt, deren Ermahnungen, Bestrafungen und Tröstungen wie in der Luft schweben. Es ist nicht auszusagen, von wie vielen Predigern und wieviel in dieser Beziehung gesündigt wird. Kaum hat der Prediger seinen Text und Lehrgegenstand berührt, so fängt er auch schon an zu ermahnen oder zu strafen oder zu trösten. Seine
----------------------
414) Pastorale, S. 81 f.
115 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 102-103]
Predigt besteht fast aus nichts als Fragen und Exklamationen, Seligpreisungen und Weherufen, Aufforderungen zur Prüfung und Bearbeitungen des Gemüts und Gewissens, so daß der Zuhörer, immer im Gemüt und Gewissen angefaßt, zu gar keiner ruhigen Überlegung kommen kann. Weit entfernt aber, daß solches Predigen besonders zu Herzen gehen und wahres Leben wirken sollte, so ist es vielmehr dazu angetan, die Leute tot zu predigen, den etwa vorhandenen Hunger nach dem Brot des Lebens zu ertöten und methodisch Überdruß und Ekel an Gottes Wort zu wirken. Es muß notwendig jedem Zuhörer widerlich werden, wenn er immer und immer, ohne daß zuvor der Grund durch Lehre gelegt ist, sich ermahnt oder gestraft oder auch salzlos getröstet sieht. Es ist freilich leichter, dies aus dem Stegreif so zu tun, daß die Predigt doch den Anschein hat, lebendig und kräftig zu sein, als eine Lehre deutlich und gründlich darzulegen. Und daß jenes leichter ist, mag Wohl bei manchen die Hauptursache sein, daß sie so wenig Lehre predigen, daß sie meist selbst schon solche Themata wählen, die die Kenntnis der Sache bei den Zuhörern schon voraussetzen und daher schon nur praktische Anwendung des Gegenstandes versprechen. Bei vielen liegt aber der Grund hiervon ohne Zweifel auch darin, daß sie, weil sie selbst keine gründliche Kenntnis der geoffenbarten Lehren haben, dieselben natürlich auch andern nicht gründlich darlegen können. Noch andere aber mögen endlich wohl auch darum so wenig Lehre in ihren Predigten treiben, weil sie in dem Wahne stehen, ausführliche Lehrdarstellungen seien zu trocken, ließen die Zuhörer kalt, dienten nicht zur Erweckung, Bekehrung und einem wahren lebendigen und tätigen Herzenschristentum. Es ist dies aber ein großer Irrtum. Gerade die in der Schrift uns Menschen zur Seligkeit geoffenbarten ewigen Gedanken des Herzens Gottes, gerade diese von der Welt her verschwiegen gewesenen, aber durch der Propheten und Apostel Schriften uns kundgemachten Wahrheiten, Ratschlüsse und Glaubensgeheimnisse sind der himmlische Same, der in die Herzen der Zuhörer gesenkt werden muß, soll in denselben die Frucht einer wahren Buße, eines ungefärbten Glaubens und einer aufrichtigen, tätigen Liebe hervorwachsen. Wahres Wachstum einer Gemeinde in christlichem Wesen ist ohne an gründlicher Lehre reiche Predigten nicht möglich. Wer es daran fehlen läßt, ist in seinem Amte nicht treu, mag er immerhin durch sein stetes eifriges Ermahnen, ernstes Strafen oder sonderlich evangelisch sein wollendes Trösten das Ansehen haben, als ob er sich in treuer Sorge für die ihm anvertrauten Seelen verzehrte.”
116 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 103]
13. Der Zweck der Theologie, den sie an den Menschen erreichen will. ^
Der Theologe hat sich mit großem Fleiß davor zu hüten, daß ihm nicht falsche Zwecke seiner Tätigkeit untergeschoben werden. Zweck der Theologie, auf die Menschen gesehen, ist erstens nicht Kultur und bürgerliche Gerechtigkeit, wiewohl das Christentum am sichersten und schnellsten Menschen kultiviert und zu guten Staatsbürgern macht. Zweck der Theologie ist zweitens auch nicht die „Befriedigung des intellektuellen Bedürfnisses der Menschen” und die Bereicherung des menschlichen Wissens im allgemeinen, wiewohl die Theologie aus der Heiligen Schrift auf viele Fragen Antwort gibt, deren Beantwortung die menschliche Forschung vergeblich erstrebt.415) Der Zweck, den die Theologie am Menschen nach dem Sündenfall erreichen soll und will, ist die Errettung von der ewigen Verdammnis, der sämtliche Individuen des Menschengeschlechts verfallen sind, oder, was dasselbe ist, die Führung des Menschen zur ewigen Seligkeit (σωτηρία, salus aeterna). Dieser Zweck der christlichen Theologie ist 1 Tim. 4,16 ausgesprochen: Τοντο ποιων (nämlich, wenn du des christlichen Lehramtes wartest) καί σεαντόν σώσεις και τους άκονοντάς σου. Nach Matth. 13, 52 ist ein jeglicher Schriftgelehrter „zum Himmelreich gelehrt” (μαϑητευΰεις τη βασιλεία των ουρανών). Durch diesen Zweck ist das kirchliche Lehramt das wichtigste Amt auf Erden, das καλόν εργον im eminenten Sinnes.416) Wenn Luthardt an den alten lutherischen Theologen die „unmittelbare Beziehung der Theologie zur Seligkeit” zwar respektiert, aber zugleich als „wissenschaftlich nicht richtig” tadelt,417) so hat dieser Tadel darin seinen Grund, daß Luthardt eine Theologie vertritt, die ihren Daseinszweck aus den Augen verloren hat. Es ist dies die Theologie, die den Glauben schon in diesem Leben in ein Wissen verwandeln will und zur Erreichung dieses Zweckes die christliche Lehre nicht aus der Heiligen Schrift, sondern aus dem Ich des dogmatisierenden Subjekts beziehen will. Es ist zwar anerkennenswert, daß Luthardt diese Theologie nicht „unmittelbar” auf die Seligkeit bezogen haben wollte. Es wäre ja erschrecklich, wenn die Seligkeit auch nur irgendwie von einer Theologie abhinge, die prinzipiell statt aus dem
----------------------------
415) So gibt z. B. die Theologie zuverlässigen Aufschluß über die metaphysischen Probleme des Seins und Werdens (Kol. 1,16.17; 1 Mos. 1, 12. 13), über deren Lösung die Philosophie bekanntlich in alle Windrichtungen auseinandergeht.
416) 1 Tim. 3,1. 417) Kompendium 11, S. 4.
117 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 104-105]
Munde Gottes aus dem Innern des Theologen lehrt. Aber indem diese Theologie auf das Reden aus Gottes Munde und auf die unmittelbare Beziehung zur Seligkeit verzichtet, sollte sie auch auf den Anspruch verzichten, in der christlichen Kirche „ihren eigentlichen Lebensherd, ihr Recht und ihren Halt” zu haben.418) Sie ist in der Kirche ein exotisches Gewächs und gehört nicht zu den Pflanzen, die der himmlische Vater gepflanzt hat,419) weil in der Kirche Gottes nur Gottes Wort (λόγια ϑεον) geredet und dadurch der Menschen Seligkeit gesucht werden soll.420) Walther zitiert aus Meisners Philosophia Sobria über den Zweck der Theologie: „Wer diesen Zweck (die Seligkeit des Menschen) nicht immer beabsichtigt und nicht in aller seiner Theorie [oder γνώσις, Erkenntnis] im Auge hat, der verdient den Namen eines wahren Theologen nicht.” 421)
Die Terminologie der alten Theologen über den Zweck der Theologie ist gar nicht übel. Sie sagen: Subiectum operationis theologiae est homo peccator, quatenus ad salutem aeternam perducendus est.422) Auch die bürgerliche Gesellschaft oder der Staat hat es mit dem homo peccator zu tun, aber nicht insofern er zur Seligkeit zu führen ist, sondern insofern der Staat den Zweck hat, das leibliche Leben und die leiblichen Güter gegen die Ausbrüche der sündigen Menschennatur mit leiblichen Strafen zu schützen. Der Theologe hingegen und die christliche Kirche überhaupt geben sich nicht mit der bürgerlichen Bestrafung der Sünden ab, sondern lediglich mit der Offenbarung der Sündenschuld vor Gott durch die Predigt des göttlichen Gesetzes, um danach durch die Predigt des Evangeliums die Vergebung der Sünden und die Seligkeit zu vermitteln. Dieser Zweck der Theologie, die salus aeterna, wird aber an den Menschen nicht auf mehreren Wegen, sondern nur auf einem einzigen Wege erreicht. Jeder Mensch, der zur salus aeterna gelangt, erreicht dieses Ziel nur durch den Glauben an Christum oder, was dasselbe ist, durch den Glauben an das Evangelium von der Gnade Gottes in Christo, Joh. 3, 36: Ό πιοτενων εις τον υιόν έχει ζωήν αιώνιον ο δε άπειϑών τω νιω ονκ δψεται ζωήν, άλλ ή οργή τον ϑεον μένει Ιπ αυτόν. So bezweckt die Theologie als „Mittelzweck” (finis intermedius) vor allen Dingen die Erzeugung und Erhaltung des Glaubens an Christum, wie der Apostel Paulus von sich sagt, daß er sein Amt habe εις νπακοήν πί'στεως.423) Freilich bezweckt die
---------------------------
418) Luthardt, Komp., S. 6. 419) Matth. 15, 13.
420) 1 Petr. 4,11; 1 Tim. 1, 4; 6, 3. — Tit. 1,1- 2 (επ ελπίδι ζωής αιωνίου).
421) L.u.W. 14, 76 f. 422) Baier I, 40. 423) Röm. 1, 5.
118 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 105]
Theologie auch Heiligung und gute Werke. Titus soll die Gläubigen lehren, καλών έργων προΐστασϑαι.424) Aber nicht als Ursache oder Vorbedingung oder Mittel der Erlangung der Vergebung der Sünden und Seligkeit, was ein Charakteristikum der Lehrer ist, die der Apostel Paulus mit dem Fluch belegt,425) sondern als Folge und Wirkung der ohne Werke durch den Glauben bereits erlangten Vergebung der Sünden und Seligkeit. Auf diese Weise erzielt der Theologe sowohl die rechte Qualität als auch eine erfreuliche Quantität der guten Werke.426)
14. Die äußeren Mittel der Theologie, wodurch sie ihr Ziel an den Menschen erreicht. ^
Wie der Theologe den schriftgemäßen Zweck der Theologie, der in der Erzeugung des Glaubens an Christum und in der Führung zur Seligkeit besteht, nicht aus dem Auge verlieren darf, so darf er sich auch nicht den Blick trüben lassen in bezug auf die Mittel, durch welche dieser Zweck erreicht wird. Solche Mittel sind nicht: weltliche Gewalt, äußerer Zwang, Staatshilfe, social affairs usw. Die Versuchung, auf solche unkirchliche Mittel zu verfallen, ist nicht gering. Sofern der Theologe noch das Fleisch an sich hat, ist er geneigt, seine Stellung als Pastor einer Gemeinde oder auch als Professor der Theologie für ehrenvoller und gesicherter zu halten, wenn der Staat mit seiner Autorität und Gewalt hinter ihm steht. Dies hat früher und jetzt gar manche veranlaßt, für staatskirchliche Verhältnisse einzutreten und die „Freikirche”, die einzige von Gott geordnete äußere Gestalt der Kirche Christi, abzulehnen. Aber auch die Theologen, welche Freikirchen angehören, sind der Versuchung ausgesetzt, zum Bau der Kirche zu unkirchlichen Mitteln zu greifen, wie wir dies hierzulande in den social affairs, community churches, in dem Dringen auf ein „starkes Kirchenregiment” usw. vor Augen haben. Daher gehört zu der Ικανό της εκ τον θεον, die einem Theologen eigen sein soll,427) eine herzliche Zuversicht zu den von Gott geordneten, vor der Welt und dem eigenen Fleisch unscheinbaren Gnadenmitteln, zu dem εναγγέλιον της χάριτος τον θεον.428) Das hat Christus seiner Kirche zu lehren und zu predigen geboten, und als sein Apostel von den Pastoren und Gemeinden von Ephesus für dieses Leben Ab-
------------------------
424) Tit. 3, 8. 425) Gal. 1, 8.
426) Die nähere Darlegung III, 56 ff. 427) 2 Kor. 3, 5.
428) Apost. 20, 24.
119 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 106]
schied nimmt, da tut er es mit den Worten: „Und nun, liebe Brüder, ich befehle euch Gott und dem Wort seiner Gnade, der da mächtig ist, euch zu erbauen und zu geben das Erbe unter allen, die geheiliget werden.” 429) Das haben wir alle, Pastoren und Professoren, immer wieder von neuem im Glauben zu lernen. Was insonderheit das Kirchenregiment betrifft, so hat Schleiermacher auch die „Leitung” der Kirche als letzten Zweck der Theologie genannt.430) Das können wir uns gefallen lassen, sofern das rechte Leitungsmittel, Gottes Wort, gemeint ist. Die christliche Kirche wird lediglich mit Gottes Wort geleitet oder regiert. Die äußeren Ordnungen, welche kleinere oder größere kirchliche Körperschaften für gemeinschaftliche Zwecke treffen, sollten nicht „Regiermittel der christlichen Kirche” genannt werden. Luther: „Die Christen kann man mitnichten, ohne allein mit Gottes Wort, regieren. Denn Christen müssen im Glauben regiert werden, nicht mit äußerlichen Werken. Glaube aber kann durch kein Menschenwort, sondern nur durch Gottes Wort kommen, wie St. Paulus sagt Röm. 10, 17: ,Der Glaube kommt durchs Hören, das Hören aber kommt durchs Wort Gottes.’” 431)
15. Theologie und Wissenschaft. ^
Wir müssen uns auf die Frage, ob die Theologie eine Wissenschaft sei, nicht eher einlassen, als bis eine Verständigung über den Begriff Wissenschaft stattgefunden hat, weil das Wort Wissenschaft in verschiedenem Sinne und noch öfter ohne allen Sinn gebraucht wird.
Versteht man unter Wissenschaft „ein geordnetes natürliches Wissen”, das heißt, ein Wissen, das der Mensch ohne die Offenbarung der Heiligen Schrift auf dem Wege der Beobachtung der Natur und seiner selbst gewonnen hat, so ist die christliche Theologie nicht eine Wissenschaft. Der Grund hierfür liegt in der Tatsache, daß von dem, was den spezifischen Inhalt der christlichen Lehre bildet, nämlich von dem Evangelium von Christo, weder das große Gebiet der Natur noch das Gewissen des Menschen Kunde gibt, wie die Schrift klar lehrt.432) Aus der Offenbarung Gottes, die in der Natur und im menschlichen Gewissen vorliegt, läßt sich nicht die christliche, sondern nur die sogenannte natürliche Religion oder die Gesetzesreligion erkennen.433) Ferner: Versteht man unter
----------------------------
429) Apost. 20, 32.
430) Der christliche Glaube, nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhänge dargestellt, 1,16.
431) St. L. X, 406. 432) 1 Kor. 2, 6—16.
433) Röm. 1,18 ff.; 2,14.15.
120 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 107]
Wissenschaft auf dem Gebiete der Theologie eine höhere Stufe der Erkenntnis im Vergleich mit der Erkenntnis des Glaubens, so ist auch in diesem Sinne die Theologie nicht eine Wissenschaft. Der Grund hierfür liegt in der Tatsache, daß auch die gelehrtesten Theologen mit ihrer Erkenntnis von geistlichen Dingen nicht über die ausdrückliche Offenbarung der Heiligen Schrift hinauskommen. Auch bei ihnen, wie bei allen Christen, bleibt in diesem Leben das Organ des Erkennens der geistlichen Dinge (das medium, cognoscendi) lediglich der Glaube. Noch anders ausgedrückt: Auch der Theologe erkennt von geistlichen Dingen nur so viel, als er auf Grund des geoffenbarten Wortes Gottes glaubt.434) „Anfang, Mitte und Ende der Theologie ist, Gottes Wort glauben.” Daß die Erkenntnis des Theologen in der Regel extensiv größer ist, kommt daher, daß derselbe infolge anhaltenden Studiums mehr Einzelheiten oder Nebenumstände aus der Offenbarung der Schrift erkennt. Nicht steht es etwa so, daß der Theologe das wüßte, was die andern Christen nur glauben. Auch bei dem Theologen ist Wissen Glaube und Glaube Wissen. Die philologischen, philosophischen, historischen usw. Kenntnisse des Theologen, die er vor andern Christen voraushat, gehören zum äußeren theologischen Apparat, nicht zum inneren Wesen des Erkennens, und dienen, recht verwendet, nur der Erkenntnis des Glaubens. Sie dienen nämlich dem genauen Verständnis des Schriftwortes, also der genauen Auffassung der göttlichen Offenbarung, nicht befähigen oder berechtigen sie den Theologen, eigene, das heißt, aus sich selbst geschöpfte, Gedanken über geistliche Dinge zu haben. Wenn eine Anzahl neuerer Theologen die Theologie mit Vorliebe als die Wissenschaft vom Christentum in dem Sinne definieren, als ob es die Aufgabe der Theologie sei, den Glauben zum Wissen zu erheben, so liegt eine große Selbsttäuschung und ein Abfall vom Erkenntnisprinzip der Theologie vor.
Versteht man unter Wissenschaft ein gewisses Wissen im Gegensatz zu bloßen Ansichten, Meinungen, Hypothesen usw., dann ist die Theologie die Wissenschaft κατ εξοχήν, das ist, die vollendetste Wissenschaft, die es auf Erden geben kann. Der Grund dafür ist dieser: Während wir auf allen Wissensgebieten, die in das Reich der Natur gehören, nur eine Zusammenstellung von menschlichen Beobachtungen und menschlichen Schlußfolgerungen haben, die der Natur der Sache nach (errare humanum est) mehr oder minder unsichere Resultate ergeben (Philosophie, Astronomie, Medizin usw.), so
-----------------------
434) 1 Kor. 13,12; Joh. 8, 31. 32; Röm. 1, 5.
121 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 108]
hat der christliche Theologe über alle Gegenstände, mit denen er es als Theologe zu tun hat, in der Heiligen Schrift Gottes Wort, also Gottes eigene Beobachtung, Anschauung und Lehre, wobei natürlich (errare in Deum non cadit) jeder Irrtum und jede Unsicherheit schlechthin ausgeschlossen ist. Joh. 17,17: „Dein Wort ist die Wahrheit” und Joh. 10,35: „Die Schrift kann nicht gebrochen werden.”
Dagegen wurde und wird eingewendet: Zugegeben, daß das, was die Schrift lehrt, Wahrheit oder objektiv gewiß ist, so bleibt noch immer die subjektive Gewißheit in Frage, nämlich, ob auch der Mensch die in der Schrift geoffenbarte Lehre recht erkenne oder auffasse. Es wird etwa gesagt: „Die reine Objektivität derer, die sich lediglich an die Heilige Schrift halten wollen, nämlich nicht nur als Norm, sondern auch als Quelle, ist nur Schein.” Und dies wird damit begründet, daß der Schriftinhalt notwendig durch die subjektive Auffassung des Theologen hindurch müsse.435) Darauf ist zu sagen: Auch der Glaube, durch den der christliche Theologe, wie jeder andere Christ, Gottes eigene Lehre in der Schrift auffaßt oder erkennt, ist nicht eine von Menschen selbst erzeugte Meinung oder Anschauung (fides humana), sondern eine vom Heiligen Geist durch das göttliche Wort selbst gewirkte Erkenntnis oder Überzeugung (fides divina), also ganz sicheres Wissen oder sichere Erkenntnis. Weil der christliche Glaube sein Entstehen und Bestehen nicht έν δυνάμει θεov hat,436) so wird er im Gegensatz zum Wissen der Welt auch als ein gewisses Wissen in der Schrift beschrieben: „Wir haben nicht empfangen den Geist der Welt, sondern den Geist aus Gott, iva είδώμεν τα υπό τον ϑεού χαρισϑέντα ήμΐν.”437) Doch dieser Gegenstand wird unter dem Abschnitt „Theologie und Gewißheit” weiter behandelt. Es sei hier nur noch darauf hingewiesen, wie Luther die Gewißheit beschreibt, welche in der Theologie herrscht. Er sagt: „Der Heilige Geist ist kein Skeptiker und hat nicht Zweifel oder Meinungen in unsere Herzen geschrieben, sondern Behauptungen, die gewisser und fester sind als das Leben selbst und alle Erfahrung.” 438) Auch spätere lutherische Dogmatiker, die scientia als Gattungsbegriff für die Theologie ablehnen, geben zu, daß man die Theologie sehr wohl eine Wissenschaft nennen könne, wenn auf die in ihr herrschende Gewißheit im Gegensatz zu einer Meinung
----------------------
435) Bei Nitzsch-Stephan, S. 11. 436) 1 Kor. 2, 5. 437) 1 Kor. 2,12.
438) Opp. v. a.VII, 123 sq.: Spiritus Sanctus non est scepticus nec dubia aut opiniones in cordibus nostris scripsit, sed assertiones ipsa vita et omni experientia certiores et firmiores. St. L. XVIII, 1680.
122 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 108-109]
gesehen werde. So sagt Calov: „Zu beachten ist, daß es sich nicht darum handelt, ob die Theologie in einem allgemeineren Sinne des Worts eine Wissenschaft genannt werden könne, auch nicht darum, ob die Theologie wegen ihrer Vollkommenheit nicht vielmehr eine Wissenschaft als eine Meinung oder eine unvollkommene Fertigkeit (habitus) genannt werden sollte. . . . Beides geben wir leicht zu, weil sie auch vom Heiligen Geist in einem weiteren Sinne Wissenschaft genannt wird, 1 Kor. 12,8, und richtig von Thomas [von Aquino] wie auch von Augustinus hie und da gelehrt wird, daß sie nicht bloß eine Meinung, sondern auch eine Wissenschaft sei.”439)
Zu unserer Zeit nennen wir die Theologie nicht gern eine Wissenschaft, weil das Wort durch neuere Theologen in Mißkredit gebracht worden ist. Die Diskreditierung ist durch jene Theologen geschehen, die der Theologie die Aufgabe zuweisen, den Glauben zum Wissen zu erheben oder die christliche Lehre als wahr vor der menschlichen Vernunft zu erweisen. Dies ist unmöglich, weil der natürliche Mensch die Wahrheit des Evangeliums nicht erkennen kann, ψυχικός άνθρωπος ου δέχεται τα του πνεύματος του θεοϋ . . . ου δύναται γνώναι.440) Deshalb lautet auch Christi Befehl nicht dahin, der Welt das Evangelium zu beweisen, sondern es der Welt zu verkündigen, κηρύξατε το εύαγγέλιον πάοη τη κτίσει. Der Apostel Paulus besaß eine wissenschaftliche Bildung. Aber gerade dieser Apostel betont sehr stark, daß er sich der wissenschaftlichen Demonstration auch vor einem wissenschaftlich gebildeten Publikum, z. B. vor den Korinthern, enthalten habe, um ihrem Glauben nicht falsche Stützen unterzuschieben.441) Alte Theologen drücken dies trefflich und kurz so aus: Theologia non est habitus demonstrativus, sed exhibitivus. Sie wollen damit sagen: Die theologische Tüchtigkeit besteht darin, die christliche Lehre der Welt vorzulegen oder kundzutun, nicht darin, sie der Welt mit Vernunftgründen als wahr zu erweisen. Für den Wahrheitsbeweis sorgt der Heilige Geist, der mit dem verkündigten Wort verbunden ist, indem er durch die Verkündigung des Gesetzes Gottes die sicheren Herzen zerschlägt und durch die Verkündigung des
-------------------
439) Systema I, 42: Observandum autem, non disquiri, utrum theologia scientia dici possit laxiori vocis significatione, nec etiam, an theologia potius scientia ob sui perfectionem quam opinio aut imperfectus habitus dici debeat. ... Utrumque illud facile admittimus, cum et a Spiritu Sancto vocetur scientia laxa significatione 1 Cor. 12, 8 etc. et recte a Thoma ut et ab Augustino passim doceatur, eam non solum opinionem, sed et scientiam esse.
440) 1 Kor. 2, 14; 1, 23. 441) 1 Kor. 2, 1—5.
123 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 109-110]
Evangeliums Gottes den Glauben an das Evangelium iu den Herzen erzeugt und eo ipso den Wahrheitsbeweis für das Evangelium führt. Nehmen wir doch die Sache, wie sie tatsächlich liegt! Im Zustande der durch das Gesetz Gottes gewirkten contritio verschwindet das Interesse an Vernunftgründen, weil der Mensch „in einen Haufen” geschlagen ist. Und wenn dann durch die Verkündigung des Evangeliums der Glaube an den Sünderheiland entstanden ist, freut sich der Mensch der rettenden göttlichen Wahrheit, ohne nach Vernunftgründen für dieselbe Umschau zu halten. In diesem Sinne ist das Axiom gemeint: „Die beste Apologie der christlichen Religion ist ihre Verkündigung.” Kirn meint, daß der Mensch genügend auf das Verständnis des Evangeliums vorbereitet sei, wenn er „Gott sucht und nach sittlicher Vollkommenheit strebt”.442) Gerade die Verzweiflung an aller sittlichen Vollkommenheit oder die persönliche Erkenntnis der Verdammungswürdigkeit (terrores conscientiae, contritio) ist die unumgänglich nötige, aber auch genügende Vorbereitung auf das „Verständnis” des Evangeliums. Was die Vernunftbeweise für die christliche Religion betrifft, so können wir freilich dem natürlichvernünftigen Menschen, insonderheit auch dem gebildeten, dartun, daß es doch Wohl vernünftiger sei, die christliche Religion gelten zu lassen, als sie zu verwerfen. Dies gehört in das Gebiet der Apologetik. Aber der Apologet muß sich bewußt bleiben, daß es nicht seine Aufgabe ist, dem Ungläubigen die Wahrheit der christlichen Religion zu demonstrieren, sondern ihm die Unwahrhaftigkeit des Unglaubens aufzudecken, weil der Unglaube, ob bewußt oder unbewußt, die Intelligenz vorschiebt, während ihm doch die böse Richtung des Willens zugrunde liegt, wie Christus bezeugt: Ό φαύλα πράσσων μισεΐ το φως καί ονκ ερχεται προς το φως, ΐνα μη έλεγχϑη τά εργα αΰτοΰ.443) Es gibt keine wissenschaftlichen Gründe gegen das Christentum. Dieser Gegenstand wird unter dem Abschnitt „Die göttliche Autorität der Heiligen Schrift”, speziell bei der „fides humana”, weiter behandelt.
16. Theologie und Gewißheit. ^
Bekanntlich wird zu unserer Zeit die „erkenntnis-theoretische Frage” viel erörtert. Das ist die Frage, wie ein Theologe zur subjektiven oder persönlichen Gewißheit (personal assurance) der christlichen Lehre komme. Es fehlt nicht an Geständnissen aus
-------------------------
442) Ev. Dogmatik 3, S. 37.
443) Joh. 3,19. 20.
124 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 110-111]
dem modern-theologischen Lager „Positiver” und „liberaler” Richtung, daß die Behandlung dieser Frage Schwierigkeiten darbiete.444) Die Schwierigkeiten sind selbstgemachte. Sie haben ihren Grund in dem Abfall von der Schrift als Gottes Wort.
In der Schrift ist die „erkenntnis-theoretische Frage” sehr klar und allgemeinverständlich beantwortet. Christus belehrt alle Christen, die Theologen eingeschlossen, dahin: „So ihr bleiben werdet an meiner Rede, ... so werdet ihr die Wahrheit erkennen.” 445) In diesen Worten kommt ein Doppeltes zur Aussage: 1. daß es eine christliche Gewißheit gibt, γνώσεσϑε τήν αλήϑειαν, ihr werdet die Wahrheit erkennen; 2. daß die christliche Gewißheit im Bleiben, das ist, im Glauben an Christi Wort besteht, εάν υμείς μείνψε έν τφ λόγω τφ έμψ, wenn ihr an meinem Wort bleibet. In dieser Aussage Christi ist klar gelehrt, daß die christliche „Wahrheitsgewißheit” mit dem Glauben an Christi Wort zusammenfällt. Und wenn weiter gefragt wird, wie es zu dem Glauben, der an Christi Wort bleibt, komme, so läßt uns auch darüber die Schrift nicht im Zweifel. Christi Wort hat die Eigenschaft, daß es selbst den Glauben wirkt.”446) Der Grund hierfür ist der, daß mit dem Wort Christi, wenn es durch Hören oder Lesen in den menschlichen Geist ausgenommen wird, die Wirkung des Heiligen Geistes verbunden ist, wie Paulus 1 Kor. 2,5 vom christlichen Glauben sagt, daß er nicht έν σοφία άνϑρώπων, sondern έν δυνάμει ϑεον sein Entstehen und sein Bestehen habe. Luther bringt diese Tatsache durch das Axiom zum Ausdruck: Der Mensch ist certus passive, sicut Verbum Domini certum est active. Luther erklärt dies näher so: „Wo dieses Wort (Gottes Wort) ins Herz kommt mit rechtem Glauben, da macht's das Herz ihm gleich, auch fest, gewiß und sicher, daß es so steif aufrecht und hart wird wider alle Anfechtung, Teufel, Tod und wie es heißen mag, daß es trotzlich und hochmütiglich alles verachtet und spottet, was zweifeln, zagen, böse und zornig sein will, denn es weiß, daß ihm Gottes Wort nicht lügen kann.”447) Aber die Schrift erteilt in bezug auf die „erkenntnis-theoretische Frage” noch weiteren wichtigen und nötigen Unterricht. Sie schärft nämlich mit besonderer Beziehung auf die Lehrer der Kirche sehr
-------------------------------
444) Frank, System der christlichen Gewißheit 2 1,128. Ihmels, Die christliche Wahrheitsgewißheit, 1901, S. 8. Horst Stephan, Glaubenslehre, 1921, S. 66.
445) Joh. 8, 31. 32.
446) Röm. 10, 17: Ή πίστις εξ ακοής, ή δε ακοή διά ρήματος ϑεοΰ.
447) St. L. III, 1887. Erl. 37, 8.
125 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 111]
nachdrücklich ein, daß das Bleiben am Wort Christi die einzige Weise ist, durch die die christliche Wahrheitserkenntnis sich vermittelt. Der Apostel Paulus bezeugt jedem Lehrer, der nicht bei den gesunden Worten unsers HErrn JEsu Christi bleibt, daß er an Einbildungen leide, nichts wisse, in die Seuche der Fragen und Wortstreitigkeiten Verfallen sei (νοοών περϊ ζητήσεις και λογομαχίας), also an der christlichen Wahrheitsgewißheit vorbeigeht. Wir finden demnach in der Schrift wirklich die Frage von der „christlichen Gewißheit” und speziell die Frage von der „christlichen Wahrheitsgewißheit” allseitig beantwortet.
Die „erkenntnis-theoretische” Belehrung der Schrift anzunehmen und zu befolgen, ist sowohl für alle Christen als auch insonderheit für die Theologen von großer praktischer Wichtigkeit. Wem die christliche Gewißheit am Herzen liegt, der flüchtet, sooft ihm die Gewißheit entschwinden will, in das Wort Christi, in die Heilige Schrift, hört, liest und bewegt das Wort in seinem Herzen, glaubt dem Wort durch Wirkung des Heiligen Geistes im Wort und unterwirft seinen Sinn dem gehörten und gelesenen Wort in der demütigen Gesinnung: „Rede, HErr, denn dein Knecht höret!” So flüchtete Luther, wenn ihm die christliche Gewißheit, sei es die „Heilsgewißheit”, sei es die „Wahrheitsgewißheit”, entschwinden wollte, in die Schrift. Er sagt: 448) „Ich weiß nicht, wie stark andere im Geist sind; aber so heilig kann ich nicht werden, wenn ich noch so gelehrt und voll Geistes wäre, als etliche sich dünken lassen. Noch widerfährt mir es allezeit, wenn ich ohne das Wort bin, nicht daran denke noch damit umgehe, so ist kein Christus daheim, ja, auch keine Lust und Geist; aber sobald ich einen Psalmen oder Spruch der Schrift vor mich nehme, so leuchtet es und brennt es ins Herz, daß ich andern Mut und Sinne gewinne. Ich weiß auch, es soll's ein jeglicher täglich also bei sich selbst erfahren.” Luther gibt daher jedem Christen und jedem Theologen weiterhin den Rat, daß man „sich mit den Gedanken an die Buchstaben [der Schrift] hefte, wie man sich mit der Faust an einen Baum oder Wand halten muß, auf daß wir nicht gleiten oder zu weit flattern und irrefahren mit eigenen Gedanken. Das mangelt unsern Schwärmern, daß sie meinen, wenn sie in ihre hohen geistlichen Gedanken fahren, so haben sie es troffen, und sehen nicht, wie sie ohne Wort des Holzweges fahren, lassen sich eitel Irrwische verführen”. In diesen Worten Luthers kommt schon zur Aussage, auf welche Weise wir der christlichen Gewißheit
------------------------
448) Predigt über Joh. 17,1. St. L. VIII, 749 f.
126 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 112]
aus dem Wege gehen. Wir bleiben ungewiß, oder wir sinken wieder in Ungewißheit zurück, wenn wir in der Meinung, wir „könnten” sie schon (Luthers Ausdruck), unfleißig mit der Schrift umgehen und so der Schrift nicht einmal äußerlich Gelegenheit geben, sich selbst als göttliche Wahrheit zu bezeugen. Überaus gefährlich gestaltet sich aber die Sachlage dann, wenn wir der Schrift gegenüber sogar eine kritische Haltung annehmen. Dann gehen wir an der christlichen Gewißheit nicht nur vorbei, sondern in diesem Falle erfahren wir auch die verblendende Wirkung des Wortes Christi, die Christus in den Worten beschreibt: „Ich Preise dich, Vater und HErr Himmels und der Erde, daß du solches den Weisen und Klugen verborgen hast (άπέκρνψας ταντα από σοφών καί συνετών) und hast es den Unmündigen offenbaret.”449) Und abermal: „Ich bin zum Gericht auf diese Welt kommen, auf daß, die da nicht sehen, sehend werden, und die da sehen, blind werden.” 450) Auch diese Warnung gehört zur allseitigen Behandlung der „erkenntnis-theoretischen Frage”. Wir kommen später noch einmal auf diesen Punkt zurück.
Halten wir uns gegenwärtig, was die Schrift über die „erkenntnis-theoretische Frage” lehrt, so gewinnen wir das richtige Urteil über die Bemühungen um die „Wahrheitsgewißheit”, denen wir im Lager der modernen Theologen begegnen. Trotz ihrer Reden von „unmittelbarer” christlicher Gewißheit suchen sie doch nach einem zuverlässigen Grund oder Stützpunkt für die Gewißheit. Dieser gesuchte zuverlässige Stützpunkt ist auch die „sturmfreie Burg” genannt worden, eine Burg, in die der Christ sich „zuletzt zurückzieht” und in der er allen feindlichen Angriffen gegenüber geborgen ist. Wo ist die „sturmfreie Burg” zu finden? Christus verweist, wie wir gesehen haben, seine Kirche auf sein Wort, das wir im Wort seiner Apostel und Propheten haben. Christus versichert uns auch, daß sein Wort eine feste Burg sei, fester stehe als Himmel und Erde.451) Die christliche Kirche hat diese Weisung auch verstanden. Sie hat sich auf die Heilige Schrift gestellt und von dieser Gewißheitsbasis aus den Angriffen der Feinde gegenüber sich behauptet. Von dieser Basis aus behauptete sich auch zu Worms der eine Mann Luther gegen die ganze Welt. Nach der Ansicht der modernen Theologen war Christus, die christliche Kirche und natürlich auch Luther in einem Irrtum befangen. Sie meinen, daß die bisher für „sturmfrei”
------------------------------
449) Matth. 11, 25.
450) Joh. 9, 30. Vgl. Luther zu Matth. 13,15. St. L. VII, 194 f.
451) Matth. 24, 35; Mark. 13, 31; Luk. 21, 33.
127 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 113]
gehaltene Burg zu unserer Zeit endgültig gestürmt sei. Dem durch moderne wissenschaftliche Methoden scharf entwickelten „Wirklichkeitssinn” sei es unmöglich, die Schrift für Gottes eigenes Wort zu halten. Wir hören: „In der Gegenwart hat die orthodoxe Inspirationslehre kaum mehr dogmatische Bedeutung. Doch wird sie von einzelnen, wie Kölling und Nösgen, noch immer mit einigen Abwandlungen behauptet. Ein durchaus positiver Theologe sagt von solchen Nachzüglern: ,Ihre Zahl ist gering, ihre Bemühungen fruchtlos, ihr Unwille auf die Genossen, welche sich den Weg nach vornehin neu bahnen, eindruckslos? . . . Die übrigen Theologen — auch die konservativen — verwerfen die alte Lehre.” 452) Steht es so, dann gilt es allerdings, sich nach einer Gewißheitsbasis umzusehen, die gewisser und zuverlässiger ist als die Heilige Schrift. Die modernen Theologen meinen eine solche Basis im Menschen selbst, im christlichen Ich, im Selbstbewußtsein des theologisierenden Subjekts, gefunden zu haben. Sie geben zwar dieser „sturmfreien Burg” verschiedene Namen: frommes Selbstbewußtsein des theologisierenden Subjekts, wiedergebornes Ich, christliches Glaubensbewußtsein, christliche Erfahrung usw. Sie stritten und streiten auch darüber, an welchem Punkt auf dem Territorium des Ich der eigentliche Sitz der Gewißheit zu finden sei, ob im Gefühl oder im Denken oder im Wollen oder auch in einer Kombination der genannten Faktoren. Auch darüber wurde und wird gestritten, ob die Gewißheit sich auf die moralische („ethische”) Beschaffenheit oder auf den „Glauben” des christlichen Ich gründe. Alle aber stimmen, weil sie die Schrift als Gottes Wort aufgegeben haben, naturgemäß darin überein, daß die Gewißheitsburg nicht außerhalb, sondern innerhalb des „christlichen Subjekts” zu finden sei.
Diese Theologie der „Selbstgewißheit” hat Schleiermacher im ersten Viertel des vorigen Jahrhunderts in seiner „Glaubenslehre” auf den theologischen Markt geworfen 453) und damit allgemeine und anhaltende Bewunderung erregt, und zwar nicht nur im liberalen, sondern auch im Positiven, sonderlich auch im „lutherisch-konfessionellen” Lager. Bei Nitzsch-Stephan 454) ist Schleiermachers „Glaubenslehre” „eine reformatorische Tat”, eine „innerste Großtat”, „die
-------------------------
452) Nitzsch-Stephan, S. 258.
453) Der christliche Glaube, nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhänge dargestellt von D. Friedrich Schleiermacher. Das Vorwort zum ersten Druck ist datiert: Berlin, am Sonnabend vor Trinitatis des Jahres 1821.
454) Ev. Glaubenslehre, S. 43 ff.
128 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 113-114]
weitaus bedeutendste Dogmatik der ganzen neueren Theologie"; „ihre Leistung ist, daß sie das menschliche Selbstbewußtsein zur Höhe seiner Entwicklung führt”. Aber auch R. Seeberg nennt Schleiermacher den „Reformator der Theologie unsers Jahrhunderts” und seine „Glaubenslehre” „das vollkommenste und großartigste dogmatische Werk, das die evangelische Kirche bisher hervorgebracht hat"; „dies Buch hat das 19. Jahrhundert Theologie gelehrt"455) Diese Bewunderung ist auch, wie bereits erwähnt wurde, in das „lutherisch-konfessionell” benannte Lager eingedrungen. R. Seeberg berichtet: „Man kann sagen, daß die gesamte dogmatische Arbeit der Kirche im 19. Jahrhundert ihre Ziele und Bahnen durch dieses Werk Schleiermachers erhalten hat.” 456) Namentlich hat auch die sogenannte „Erlanger Theologie” sich auf die Theologie der Selbstgewißheit festgelegt. Es ist neuerdings von den Erlanger Theologen Hofmann und Frank gesagt worden:457) „Hofmann und erst recht Frank haben bewußt und grundsätzlich die volle Selbstgewißheit des Christentums und seiner Theologie vertreten.” Hofmanns entschiedene Erklärung über die Selbstgewißheit wurde schon mitgeteilt. Hofmann sagt vom christlichen Bewußtsein, daß es „nicht von der Kirche abhängt noch von der Schrift, auf die sich die Kirche beruft, auch nicht an jener oder dieser die eigentliche und nächste Verbürgung seiner Wahrheit hat, sondern in sich selbst ruht und unmittelbar gewisse Wahrheit ist, von dem ihm selbst einwohnenden Geiste Gottes getragen und verbürgt"458) Was Frank betrifft, so hat er zum Erweis der „Selbstgewißheit” des Christentums und der Theologie sein „System der christlichen Gewißheit” geschrieben, das in erster Auflage 893 Seiten und in zweiter Auflage 954 Seiten umfaßt. Frank sagt:459) „Wir haben es hier mit dem zentralen und spezifischen Wehen der christlichen Gewißheit zu tun, wo keine irgendwie von außen kommende Autorität für sich, sondern das christliche Subjekt selbst und persönlich über den Grund und das Recht seiner Gewißheit entscheidet.” Wie entschieden Frank gerade auch die Heilige Schrift als Fundament der von ihm gemeinten „Gewißheit” ausgeschieden haben will, sagt er an einer
-----------------------
455) R. Seeberg, Die Kirche Deutschlands im 19. Jahrhundert, 1903, S. 90.84.
456) A. a. O., S. 84.
457) Bachmann-Erlangen im Theol. Literaturblatt. Ihmels, Leipzig 1922, S. 395.
458) Schriftbeweis 2, S. 11.
459) System der christl. Gewißheit 2 1,49.
129 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 114]
Stelle, wo er etwas unhöflich wird. Er schreibt:460) „Wer [Philippi ist gemeint] mir die ‘objektive' Versöhnungstat [Christi] und das Wort Gottes entgegenhält statt meines ‘subjektiven' Standpunktes, mit dem vermag ich mich nicht auseinanderzusetzen, weil er die Fragestellung nicht verstanden hat.” Damit ist allerdings, wie Bachmann sagt, „bewußt und grundsätzlich die volle Selbstgewißheit des Christentums und seiner Theologie” gelehrt. Nur möchten wir Bachmanns „bewußt und grundsätzlich” in etwas limitieren. Frank vertrat ohne Zweifel „die volle Selbstgewißheit des Christentums und seiner Theologie”, wenn er auf dem Katheder saß oder in seiner Studierstube Bücher schrieb. Wir haben freilich Frank licht persönlich gekannt. Aber auf Grund von Mitteilungen anderer und auf Grund dessen, was Frank sonst geschrieben hat, glauben wir doch annehmen zu dürfen, daß sich sein Verkehr mit Gott nicht mf der Basis seiner „Selbstgewißheit” vollzogen hat, sondern sich genau auf der Basis vermittelte, an die Philipps ihn erinnerte, nämlich auf der Basis der objektiven Versöhnungstat Christi und des objektiven Wortes Gottes. Wie Frank in seiner “Theologie der Konkordienformel” 461) annimmt, daß Melanchthon seinen Synergismus nie selbst geglaubt habe, so nehmen wir an, daß auch Frank „die Selbstgewiß heit des Christentums und seiner Theologie” selbst nie geglaubt hat. Wir bemerken dies hier auch zu dem Zweck, um den Gedanken abzuwehren, als ob wir allen Vertretern der Selbstgewißheitstheorie das persönliche Christentum absprächen. So gewiß es auf Grund der Heiligen Schrift ist, daß diese Theorie bei konsequenter Durchführung in der Praxis das persönliche Christentum völlig unmöglich macht, so lehrt uns andererseits die Erfahrung, daß es auch auf dem Gebiet des theologischen Betriebs eine „glückliche Inkonsequenz” oder eine „doppelte Buchführung” gibt. Hieran haben wir bereits früher erinnert, und daran werden wir auch später noch wiederholt erinnern. Vor einigen Jahren berichteten deutschländische Blätter, daß ein Theologe, der theoretisch ebenfalls die Theologie der Selbstgewißheit betrieb, auf dem Kranken- und Sterbebette die Äußerung tat, er finde nun seine ganze Theologie in Joh. 3,16 zusammengefaßt, womit er tatsächlich aus seinem Ich heraus und „über sich” fuhr, wie Luther es ausdrückt, und sich damit auf ein außer ihm gelegenes Fundament stellte. Doch dies nur nebenbei.
----------------------
460) A. a. O., S. 115. 461) Bd. I, S. 135.
130 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 115-116]
Was die in Frage stehende Sache selbst, die „Selbstgewißheit” der Theologie, betrifft, so ist festzuhalten: Eine Gewißheit, die grundsätzlich Gottes Wort als Basis abweist, ist 1. nicht christlich, 2. nicht Gewißheit, 3. nicht wissenschaftlich.
1. Christlich ist, was Christus lehrt und tut. Das wird allseitig zugegeben. Nun belehrt uns Christus, wie bereits zu Anfang dieses Abschnitts dargelegt wurde, sehr bestimmt auch über die Methode, wie es zur Erkenntnis der Wahrheit, also zur „Wahrheitsgewißheit”, kommt, nämlich durch das Bleiben an seinem Wort. Und weil Christus bekanntlich stets recht hat, so sind Schleiermacher, Hofmann, Frank und alle, die ihnen in der Methode folgen und dem „christlichen Subjekt” ganz oder halb „Selbstgewißheit”, das ist, von Christi Wort unabhängige Gewißheit, zuschreiben, im Irrtum. Sie denken nicht christlich, sondern unchristlich. Jeder Theologe, der dem Bewußtsein, das sich selbständig etabliert, das Prädikat „christlich”, „fromm”, „wiedergeboren” usw. zukommen läßt, täuscht damit sich selbst und andere. Alle Frömmigkeitsprädikate sind ohne sachliche Berechtigung.
2. Die behauptete „Selbstgewißheit”, die sich vom Schriftwort, der einzigen Gewißheitsbasis, losgemacht hat, ist nicht Gewißheit, sondern Einbildung. Schon in der apostolischen Kirche zeigte sich die Meinung, daß man auch ohne Christi Wort in der Wahrheitsgewißheit stehen könne. Innerhalb der korinthischen Gemeinde gab es Leute, die sich selbst als „Propheten” und „geistlich” einschätzten, aber dabei das apostolische Wort beiseitesetzten. Paulus fordert jedoch von diesen Leuten ganz entschieden, daß sie ihre Selbstgewißheitsbasis fahren lassen und sich auf die Basis seines Apostelworts stellen, weil sein, Pauli, Wort Christi Wort sei. „Was ich euch schreibe, sind des HErrn Gebote.” Und wenn jemand sich auf diese Basis nicht stellen wolle, so solle die Gemeinde ihn als inkurabel seine Wege gehen lassen. Das ist der Sinn der scharfen Worte: „Ist jemand unwissend, der sei unwissend.”462) Auch an andern Orten gab es „selbstgewisse” Lehrer. Aber der Apostel deckt auch diesen ihre Selbsttäuschung auf mit den Worten: „So jemand anders lehrt und bleibt nicht bei den gesunden Worten unsers HErrn JEsu Christi ... der ist verdüstert und weiß nichts, sondern ist seuchtig (νοσών, krank) in Fragen und Wortkriegen.” 463) Kurz, ohne Christi Wort oder, was dasselbe ist, ohne der Apostel Wort als Basis gibt es keine Wahrheitserkenntnis oder Wahrheitsgewißheit.
-------------------------
462) 1 Kor. 14, 37. 38; 2 Kor. 13, 3.
463) 1 Tim. 6, 3.4.
131 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 116]
Das findet nun seine Anwendung auf die ganze Schar der neueren Theologen. So gewiß diese prinzipiell Christi Wort als Entstehungsgrund und Basis der Gewißheit Ausscheiden, so gewiß ist ihre Gewißheit eine eingebildete. Wie sie gegen die Schrift, die Gottes Wort ist, eine Barrikade errichten, so verbarrikadieren sie sich auch gegen das Wahrheitszeugnis des Heiligen Geistes, das in dem Schriftwort als Gottes Wort wirksam ist. Sie sind darauf angewiesen, sich selbst ein Wahrheitszeugnis, das testimonium veritatis, auszustellen auf Grund dessen, was sie auf dem Wege der „Selbstbesinnung” bei sich selbst empfinden, selbst tun und über sich selbst urteilen. Wir finden daher auch, daß die Vertreter der Selbstgewißheitstheologie eine entschiedene Antipathie gegen das Zeugnis des Heiligen Geistes an den Tag legen. Teils erklären sie es ausdrücklich für logisch falsch, indem sie es mit den römischen Theologen unter die Rubrik „Zirkelbeweis” bringen, teils halten sie es doch für ungenügend. Und das ist von ihrem Standpunkt aus naturgemäß. Wer selbstgewiß ist, sieht in dem Zeugnis des Heiligen Geistes ein unberechtigtes Konkurrenzunternehmen, ein unberechtigtes Sicheindrängen in ein Geschäft, das der Theologe selbst zu besorgen habe. Daß der Theologe sich selbst gewiß machen müsse, spricht sehr klar z. B. auch Zöckler aus, der dem rechts stehenden Teil der neueren Theologen zugezählt wird. Zöckler will 464) „die Berufung der altprotestantischen Dogmatiker auf das testimonium Spiritus Sancti” nicht ganz verwerfen, bezeichnet sie aber als die Sache nicht deckend und fügt hinzu: „Es gilt eine von uns selbst abhängige, unserer Verantwortung anheimfallende freie Tat, eine moralisch notwendige, darum aber der Freiheit überlassene Konsequenz. Durch diese freie Tat erst schaffen wir selbst die Gewißheit.” 465) Aber alles, was in der Theologie auf den Menschen selbst gebaut wird, sei es die „Heilsgewißheit”, sei es die „Wahrheitsgewißheit”, bricht zusammen, sobald und sooft die Donneraxt des göttlichen Gesetzes auch die „Heiligen” in einen Haufen schlägt, und läßt keinen recht haben, treibet sie allesamt in das Schrecken und Verzagen.466) Frank hat in seinem „System der christlichen Gewißheit” gelegentlich an Archimedes' πον στώ erinnert.467) Dies Diktum spricht aber gegen ihn und gegen jede Form der Ichtheologie. Es kommt nichts darauf an, ob
---------------------------
464) Handbuch der theol. Wissenschaften 2 III. 65.
465) Der letzte Satz von Zöckler selbst durch den Druck hervorgehoben.
466) Schmalk. Art. M. 312, 2. 467) 1,133 f.
132 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 117-118]
Archimedes den Ausspruch: Δός που στώ, καί τον κόομον κινήοω, „Gib mir einen festen Standpunkt, so will ich die Welt bewegen”, wirklich getan hat oder nicht. Jedenfalls soll damit gesagt sein, daß es einen Standpunkt außerhalb der Welt erfordern würde, um die Welt zu heben. Dies ist ein treffliches Bild der wichtigen Wahrheit auf geistlichem Gebiet, daß wir für unser persönliches Christentum und unsere Theologie einen außer uns und der ganzen Welt gelegenen Standpunkt nötig haben, um uns gegen Welt, Teufel und unser Ich behaupten zu können und den Sieg zu gewinnen. Bekanntlich haben wir alle diese Mächte gegen uns, speziell auch in Sachen der christlichen Lehre und ihrer Gewißheit. Diesen festen, außer uns gelegenen Standpunkt haben wir in Christi Wort. Christus sagt, wie wir uns bereits belehren ließen, von seinem Wort: „Himmel und Erde werden vergehen, aber meine Worte vergehen nicht.” Zugleich hörten wir bereits, daß Christus dies sein Wort, das fester steht als Himmel und Erde, als den Standpunkt bezeichnet, auf den alle sich zu stellen haben, die in Wahrheit seine Jünger sein und die Wahrheit erkennen wollen. Diese Belehrung und Ermahnung Christi hat Luther verstanden. Aus eigener tiefer Erfahrung berät er daher unaufhörlich alle Christen und insonderheit alle Theologen dahin, ja aus ihrem Ich herauszutreten und „durch das Wort über sich zu fahren”.468) Durch diese Methode, die in diametralem Gegensatz zur Selbstgewißheitstheologie steht, kam es bei Luther zu der unerschütterlichen Wahrheitsgewißheit, wie sie sich z.B. in seiner „Antwort auf des Königs zu England Lästerschrift” ausspricht: 469) „So wahr Gott lebt, welcher König oder Fürst meint, daß sich der Luther vor ihm demütige der Meinung, als reue ihn seine Lehre und habe unrecht gelehrt und suche Gnade, der betrügt sich selbst weidlich und macht ihm selbst einen güldenen Traum, da er eitel Dreck finden wird, sobald er aufwacht. Der Lehre halben ist mir niemand so groß, ich halte ihn für eine Wasserblase und noch geringer; da wird nichts anders aus. . . . Wen es gereuet, der lasse ab; wer sich fürchtet, der fliehe. Mein Rückhalter ist mir stark und gewiß genug, das weiß ich. Ob mir schon die ganze Welt anhinge und wiederum abfiele, das ist mir eben gleich, und denke: ist sie mir doch zuvor auch nicht angehangen, da ich allein war. Wer nicht will, der lasse es; wer nicht bleibt, der fahre immer hin.” Das ist Luthers Wahrheitsgewißheit. Und diese Wahrheitsgewißheit
----------------------------------
468) Luther. St. L. XI, 1727.1736. 469) St. L. XIX, 413. 422.
133 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 118]
hat ihren Grund in Luthers Stehen auf der Schrift als Gottes eigenem Wort, also auf einem außer seinem Ich und außer der ganzen Welt gelegenen Standpunkt. Von diesem Wort, als außer ihm gelegen, sagt Luther: „Es ist größer denn hunderttausend Welten, ja größer denn Himmel und Erde. Dasselbe Wort soll mein treuer Rat und starker Baum sein, daran ich mich halten will, auf daß ich's ertragen und ausstehen könne. Wo wir uns an den Baum nicht halten, so ist unsere Natur viel zu schwach, daß sie den grimmigen Haß und Neid der Welt ertragen und die listigen Anschläge und feurigen Pfeile des Teufels ausstehen könne.”470) Und um noch einmal an Luthers Bemerkungen zu 2 Sam. 23 zu erinnern: Allein Gottes Wort macht gewiß, certum est active; est der Mensch aber wird durch Gottes Wort gewiß gemacht, er ist certus passive; aber so gewiß, daß das Herz „trotzlich und hochmütiglich alles verachtet und spottet, was zweifeln, zagen, böse und zornig sein will; denn es weiß, daß ihm Gottes Wort nicht lügen kann”. 471)
Wie steht es hingegen mit der Gewißheit bei der Selbstgewißheitstheologie? Daß die Theologie der Selbstgewißheit tatsächlich eine Theologie der Selbstungewißheit ist, geht aus einer ganzen Reihe von Tatsachen hervor. Auf Ungewißheit weist deutlich hin der herrschende Indifferentismus in bezug auf die christliche Lehre. Die Übereinstimmung in der Lehre wird geradezu als eine Abnormität angesehen. „Reine Lehre” wird mit einem „sogenannt” eingeführt und zu einem Objekt des Spottes gemacht. Nun steht es doch so: Wer der Wahrheit gewiß ist, der ist in bezug auf die Lehre nicht indifferent, sondern hält entschieden auf reine Lehre, wie denn auch diese Qualität der christlichen Lehre, daß sie „rein”, das ist, nicht durch menschliche Ichprodukte befleckt, sei, durchweg in der Schrift Alten und Neuen Testaments gefordert ist.472) Auf Ungewißheit weist ferner hin der herrschende Unionismus, der wenig Bedenken trägt, auch mit Geistern, die ganz offenbar nicht von Gott sind, kirchliche Gemeinschaft zu halten. Wer der göttlichen Wahrheit gewiß ist, der denkt und handelt nach der Ordnung Christi: „Sehet euch vor vor den falschen Propheten!” und nach der Mahnung Pauli: „Weichet von denselbigen!” und nach der Weisung, die „der Apostel der Liebe” in bezug auf
--------------------------
470) St. L. XIII, 2621. 471) St. L. III, 1887.
472) Vgl. die ausführliche Darlegung unter dem Abschnitt „Die nähere Beschreibung der Theologie, als Lehre gefaßt”.
134 > Wesen und Begriff der Theologie. [Englishe edition 118-119]
christbrüderliche Gemeinschaft gibt: „So jemand zu euch kommt und bringet diese Lehre [nämlich die Lehre Christi] nicht, den nehmet nicht zu Hause und grüßet ihn auch nicht; denn wer ihn grüßet, der macht sich teilhaftig seiner bösen Werke.” 473) Auf Ungewißheit weist auch die Tatsache hin, daß die moderne Theologie aus den christlichen Lehren „Probleme” macht. Wir sahen unter dem Abschnitt „Offene Fragen und theologische Probleme”,474) daß es allerdings sano sensu offene Fragen und Probleme in der Theologie gibt. Das sind Fragen, die bei der Erwägung der in der Heiligen Schrift geoffenbarten Lehre auftauchen (quaestiones adnatae), für deren Beantwortung das Schriftzeugnis entweder ganz fehlt oder doch nicht in solcher Klarheit ausgesprochen vorliegt, daß vorsichtige Theologen zu sagen wagten: כֹּ֚ה אָמַ֣ר יְהוָ֔ה [HEBREW: Ex. 4:22 etc. “This saith the Lord”], γέγραπται. Vorsichtige Theologen nämlich tragen, wie Luther, eine große Scheu davor, der klar in der Schrift geoffenbarten göttlichen Lehre eine menschliche Meinung an die Seite zu stellen, selbst wenn diese Meinung auch eine Wahrscheinlichkeit für sich hat, wie z.B. der Traduzianismus. Luther sagt gelegentlich: „Wes ich selbst nicht gewiß bin [nämlich aus der Schrift nicht gewiß bin], das will ich niemand lehren.” 475) Solche Theologen sind freilich nicht zu tadeln, sondern zu loben. Durch ihre Weigerung, das zu entscheiden, was die Schrift nicht klar entscheidet, stellen sie die Majestät der Heiligen Schrift, ihre einzigartige göttliche Autorität, ins Licht, der sich keine menschliche Autorität an die Seite stellen darf. Sie reden und entscheiden, wo die Schrift redet und entscheidet; wo die Schrift nicht redet und entscheidet, da treten sie in Demut zurück und schweigen. In diesem Sinne reden christliche Theologen von offenen Fragen und Problemen. Aber bei den modernen Theologen tritt uns die Tatsache entgegen, daß sie gerade aus den Lehren; die in der Schrift klar gelehrt vorliegen, „Probleme” machen. Sie reden von einem Problem der Schöpfung und Erhaltung der Welt, der Person und des Werkes Christi, der Bekehrung und Rechtfertigung, der Inspiration der Schrift, des Verhältnisses zwischen den christlichen und den nichtchristlichen Religionen usw. Und von ihrem Standpunkt aus haben sie es wahrlich mit „Problemen” zu tun. Erstlich ist das menschliche Subjekt, das sie an Stelle der Heiligen Schrift als Quelle und Norm der Theologie eingesetzt haben, fehlbar. Das geben sie — freilich im Widerspruch mit der behaup-
---------------------
473) Matth. 7, 15; Röm. 16, 17; 2 Joh. 10. 11.
474) S. 104 ff. . 475) St. L. XX, 1062.
135 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 119-120]
teten „unmittelbaren Gewißheit” — teils tatsächlich, teils ausdrücklich zu. Aus einer fehlbaren Quelle und Norm kann aber keine Gewißheit kommen. Zum andern ziehen sie — abermal im Widerspruch mit der behaupteten „unabhängigen” Gewißheit — außerhalb des Ich gelegene Gewißheitsstützen herbei, die sämtlich ebenfalls ungewiß sind.476) Dem „christlichen Erlebnis” wird nämlich wegen der „möglichen Selbsttäuschung” teils empfohlen, teils ausdrücklich zur Pflicht gemacht, auf eine ganze Anzahl außerhalb des Subjekts gelegene Faktoren gebührende Rücksicht zu nehmen, nämlich auf „die vornehmsten Weltanschauungsformen”, auf „den sonstigen Wahrheitsbesitz der Menschheit”, auf „die wirklichen Resultate der übrigen wissenschaftlichen Forschung”, als da sind: Geschichtswissenschaft, sonstige Religionswissenschaft („Vergleichende Religionsforschung”), die naturwissenschaftliche Forschung usw. Durch diese herbeigezogenen auswärtigen Faktoren wird die Gewißheit noch mehr in unerreichbare Ferne gerückt, weil zugestandenermaßen allgemein gesicherte Resultate auf den genannten Gebieten bisher noch nicht vorliegen. So steht sich das der Gewißheit nachtrachtende „christliche Subjekt” vor eine Sammlung von lauter Ungewißheiten gestellt. Dazu kommt auch noch die Forderung, diese Sammlung von Ungewißheiten „zu einem einheitlichen Ganzen zu verknüpfen”. Das ist wahrlich saure Arbeit, ein „Problem” im vollsten Sinne des Worts. Der vielgebrauchte Ausdruck, der Theologe habe den Wahrheitsbegriff „herauszuarbeiten”, ist bezeichnend. Es ist das Wälzen des Sisyphussteins, das Wasserschöpfen der Danaiden. Kurz, die Theologie, welche die Schrift als einzige Quelle und Norm der Theologie verlassen und ihre Zelte auf dem „frommen Selbstbewußtsein des theologisierenden Subjekts” aufgeschlagen hat, ist eine Theologie der Ungewißheit.
Es ist zur Rettung der Gewißheit bei der Selbstbewußtseinstheologie darauf hingewiesen worden, daß nach der Schrift der Christ seinen Christenstand und sein Stehen in der Wahrheit doch auch von seinen christlichen Werken „ablesen”, also durch Reflexion auf sein Ich erkennen könne. Das ist wahr. Das ist Schriftlehre.477) Das ist auch Lehre des lutherischen Bekenntnisses.478) Wiewohl — ebenfalls nach Schrift und Bekenntnis 479) — „das Wetter so böse
--------------------------
476) Hier kann Ihmels verglichen werden, Zentralsragen, S. 159—166. Auch Kirn, Dogmatik, S. 1—6.
477) Joh. 8, 47; 1 Joh. 3, 14; 2, 3. 4; Matth. 6, 14; 2 Petr. 1, 10.
478) Apol. M. 135, 154 s.
479) 1 Joh. 3, 20; Röm. 4, 16.- F. C.. 620, 43 ff.
136 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 120-121]
werden kann” und tatsächlich nicht selten so böse wird, daß der Christ, um nicht in Ungewißheit umzukommen, darauf angewiesen ist, seinen Christenstand und sein Stehen in der Wahrheit lediglich vermittelst des Glaubens von dem objektiven Faktor des Schriftworts „abzulesen”. Aber dabei ist und bleibt es, wie gesagt, Gottes Wille, daß die Christen mit allem Fleiß danach trachten sollen, daß sie auch an ihren Werken ein testimonium für ihr Stehen in der Gnade und in der Wahrheit haben.480) Aber das gilt bekanntlich nur von den guten Werken der Christen. Prüfen wir aber die Werke oder die Früchte, welche am Baum „des frommen Selbstbewußtseins des theologisierenden Subjekts” gewachsen sind, so stellt sich sofort heraus, daß es böse Werke sind. Schleiermacher, der „Vater” der Selbstbewußtseinstheologie im 19. Jahrhundert, leugnet die Sündenschuld und die Tilgung der Sündenschuld durch die stellvertretende Genugtuung Christi, die ewige Gottheit Christi, die Dreieinigkeit, kurz, alle Grundartikel der christlichen Religion. Diese böse Beschaffenheit der Früchte des Schleiermacherschen Selbstbewußtseins geben auch neuere Theologen zu. Sie bewundern zwar die Methode Schleiermachers und befolgen sie. Aber dem Inhalt des Schleiermacherschen Selbstbewußtseins bringen sie „weitgehende Bedenken” entgegen. Doch, was für Lehrfrüchte haben auch die „lutherisch-konfessionellen” Theologen gebracht, die sich auf Schleiermachers Erlebnismethode eingelassen haben? Mit sichtlicher Schadenfreude notiert und publiziert der liberale Flügel der neueren Theologen die Tatsache, daß auch die neueren Lutheraner die Schrift als Gottes Wort und Christi Werk als satisfactio vicaria aufgegeben haben, außerdem die Erbsünde, die ewige, unveränderliche Gottheit Christi, die „Zweinaturenlehre”, die Rechtfertigung als actus forensis, die Gnadenmittel als einzige Mittel der Darbietung der Vergebung der Sünden und der Entstehung und Erhaltung des Glaubens. Das sind aber lauter böse Werke, die der Heilige Geist, der im Herzen der Christen wohnt, perhorresziert. Sie können daher nicht die „christliche Gewißheit” stützen, sondern nur als Stützpunkte dienen für eine imaginäre Gewißheit des „menschlichen
-------------------------
480) Wir haben mit den alten Theologen die guten Werke testimonia Spiritus Sancti externa genannt, im Unterschiede vom testimonium Spiritus Sancti internum, das in dem vom Heiligen Geist gewirkten Glauben an Gottes Wort besteht und mit diesem Glauben zusammenfällt. Vgl. die eingehendere Darlegung unter den Abschnitten „Glaube und Zeugnis des Heiligen Geistes”, II, 534 f., und „Die Rechtfertigung aus den Werken”, II, 654 ff.
137 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 121-122]
Selbstbewußtseins”, das sich von Christi Wort geschieden und damit gegen die Wahrheitserkenntnis eine Blockade errichtet hat.481)
3. Doch, wenn die Selbstgewißheit auch nicht zur Gewißheit, sondern zum Gegenteil dient, ist sie denn nicht wenigstens wissenschaftlich? Als Franks „System der christlichen Gewißheit” in erster Auflage erschienen war, erregte sie großes Aufsehen. Aber es regte sich auch die Kritik. Namentlich wurde Frank von jemand, den er selbst in der zweiten Auflage seiner Schrift einen „hervorragenden” Theologen nennt, der Gedanke nahegelegt, daß sein (Franks) großes Buch nur „geringen Nutzen” haben dürfte, und zwar nach des Autors eigener Theorie. Wenn die „christliche Gewißheit” wirklich, wie Frank behaupte, von jedem außer ihr gelegenen Dinge vollkommen unabhängig sei, so könne auch das Franksche Buch, weil es doch auch zu den außerhalb des christlichen Subjekts gelegenen Dingen gehöre, weder Frank selbst noch irgendeinen andern Menschen in der Welt irgend etwas zur Hervorbringung oder Erhaltung der christlichen Gewißheit nützen. Das ist
-----------------------
481) Daß auch bei Frank aus der von ihm befolgten Ichmethode die Artikel des christlichen Glaubens „verstümmelt und verkrüppelt hervorgehen”, ist in „Lehre und Wehre” 1896, S. 65 ff. 97 ff. 129 ff. 161 ff. 201 ff. 262 ff., ausführlich dargelegt. Der Artikel unter der Überschrift „Franks Theologie” ist von v. Stöckhardt geschrieben. Stöckhardt stellt Frank nicht in jeder Hinsicht auf gleiche Linie mit dem liberalen Flügel der Selbstgewißheitstheologie. Er erkennt an, „daß Frank doch gewisse Elemente der christlichen Wahrheit stehen läßt”, fügt aber mit Recht hinzu: „Das liegt nicht im System (Franks), das ist Inkonsequenz. Das ist ein Rest von Christentum, der sich dem fremdartigen theologischen Prinzip gegenüber noch behauptet hat. Und diese Inkonsequenz ist das Beste in seinem System und nicht sein Verdienst.” Stöckhardt weist nach, daß Frank die unfehlbare göttliche Autorität der Heiligen Schrift seinem Ich zum Opfer bringt. Während Christus und seine Apostel ohne Bedenken Schrift und Gottes Wort identifizieren, sagt Frank: „Ich möchte die Verantwortung nicht auf mich nehmen, einen Christen zu lehren, daß der Glaube an die Heilswahrheit involviere den Glauben an die absolute Irrrtumsfreiheit der Heiligen Schrift.” (L. u. W., a.a.O., S. 97.) Auch die satisfactio vicaria Christi läßt Frank fallen. Während die Schrift ausdrücklich lehrt, daß Christus die Strafe erlitten hat, die wir Menschen hätten erleiden sollen (Ies. 53, 5; 2 Kor. 5, 21; Gal. 3, 13), erklärt Frank: „Müßte man behufs der Stellvertretung Christi fordern, daß er gelitten habe, was die verdammte Menschheit hätte leiden müssen, so wäre die satisfactio vicaria hinfällig, da Christus eben dies nicht erlitten hat.” (L. u. W., a. a. O., S. 138.) In der Lehre von der Rechtfertigung redet Frank einerseits ganz orthodox von der iustitia extra nos posita; andererseits kommt nach Frank der Glaube in der Rechtfertigung nicht bloß als medium ληπτικόν, sondern auch qua Verhalten des Menschen, als Akt der freien Selbstbestimmung, in Betracht. (L. u. W., a. a. O., S. 169.)
138 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 122]
allerdings ein fataler Einwand gegen die „Selbstgewißheit”. Es ist das der Punkt, an dem die Ichtheologie — sie datiert ja nicht erst seit Schleiermacher, sondern ist reichlich vorher dagewesen — in eine Verlegenheit kommt, die sie nicht überwinden kann. Als die Schwärmer im 16. Jahrhundert behaupteten, sie hätten den „Geist” und natürlich auch die Wahrheitsgewißheit unabhängig vom „äußeren Wort”, da legte Luther ihnen nahe, sie möchten doch auch ihr eigenes Reden und Schreiben einstellen, es wäre denn, daß sie in der hochmütigen Meinung ständen, „der Geist könnte durch die Schrift oder mündlich Wort der Apostel nicht kommen, aber durch ihre [der Schwärmer] Schrift und Wort müßte er kommen"482) Frank erkennt die Berechtigung dieses Einwurfs an. Er gibt zu, daß sein „System der christlichen Gewißheit” allerdings niemand zur Erlangung der Gewißheit dienen könne noch auch solle. Gleichzeitig macht er aber darauf aufmerksam, daß es noch andere Interessen als die christliche Gewißheit in der Welt gebe, nämlich das wissenschaftliche Interesse, und diesem Interesse solle sein „System” dienen. Frank schreibt wörtlich in der zweiten Auflage seines Buches:483) „Wendet man ein, wie ein hervorragender, vor Jahren Hingeschiedener Theologe getan, wenn es so gemeint sei, so dürfte der Nutzen gering sein; denn wer solche Erfahrung gemacht habe und in der Gewißheit stehe, brauche jenen Nachweis nicht, und wer sie nicht gemacht habe und nicht darin stehe, dem helfe er nichts, so antworte ich: Nichts Weiteres begehrte ich, als einigermaßen zu verstehen das wirklich Vorhandene, die tatsächlich gegebene Gewißheit. . . . Wohl eine geringe Aufgabe, aber doch eine Aufgabe, nämlich eine wissenschaftliche: wer, in der Gewißheit stehend, kein Verlangen danach trägt, der lasse davon, und wer nicht darin steht, der lasse auch davon!”
Aber auch gegen diese Behauptung Franks, daß die Aufgabe, die er sich gestellt hat, wenigstens wissenschaftlichen Charakter trage, muß im Interesse der Wissenschaft Verwahrung eingelegt werden. Es ist nicht leicht, eine einigermaßen klare Vorstellung von dem Gedankengang zu gewinnen, durch den Frank den wissenschaftlichen Beweis für die christliche Selbstgewißheit erbringen will. Franks Klagen, daß man seine „Fragestellung” nicht verstanden habe, waren berechtigt. Demgegenüber haben aber seine Beurteiler nicht nur auf die Tatsache hingewiesen, daß Frqnk eine unnötig schwere Sprache rede, sondern auch an die Möglichkeit erinnert, daß Frank
---------------------
482) Schmalk. Art. M. 322, 6. 483) I,119 f.
139 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 123]
selbst Wohl den Überblick über den Gedankengang, durch den es bei ihm zur „Selbstvergewisserung” kommt, verloren habe. Soweit wir und andere Frank verstehen, soll es in der Weise zur wissenschaftlichen Gewißheit kommen, daß das Subjekt sich selbst „verobjektiviert”, das ist, sich selbst als Objekt der Betrachtung setzt. Geschieht dies, dann empfängt das Subjekt durch das Objekt, das es selbst setzt und das es selbst ist, „Eindrücke”, die es durch Denken zur „Erkenntnis” erhebt und so sich selbst wissenschaftlich gewiß macht. Dabei ist nun aber immer vorausgesetzt, daß das Subjekt sich ja nicht nach einem außer ihm gelegenen Objekt, namentlich auch nicht nach der Heiligen Schrift und dem testimonium Spiritus Sancti, umsehen darf. „Auf den Heiligen Geist”, sagt Frank, „kann ich mich dabei insofern nicht berufen, als ja erst in Frage steht, ob, was ich vernehme, Zeugnis des Heiligen Geistes sei, ganz ebenso wie ich mich nicht auf die Heilige Schrift berufen kann, wenn in Frage steht, wie ich dazu komme, diese Schrift mir als heilige gelten zu lassen.” 484) Das Verfahren verläuft daher so, als wenn jemand, der nach einem Halt sucht (denn die wissenschaftliche Gewißheit soll ja als „werdende” dargestellt werden), sich selbst an irgendeinem Körperteil ergreift und damit den nötigen Stützpunkt gefunden zu haben meint. Die Theologie der Selbstgewißheit kann sich nicht beklagen, wenn einige grobe, zum Teil ungalante Bilder zur Charakterisierung ihrer wissenschaftlichen Methode gebraucht worden sind. Man hat nämlich gesagt, die Methode der Vergewisserung unter Ablehnung jedes „auswärtigen” Stützpunktes durch Ergreifen des Ich als Objekt sei genau so „wissenschaftlich” wie die Münchhausens, der sich selbst samt seinem Pferde an den eigenen Haaren aus dem Sumpf zog. Hierzulande hat man zur Illustration der Wissenschaftlichkeit der Methode an die Methode des Mannes erinnert, “who raised himself by his own bootstraps”. Und wenn noch der Begriff der „geschlossenen Einheit” hinzugenommen werde, dem die Ichmethode nachtrachte und der dieser Methode in so überschwenglichen Ausdrücken nachgerühmt werde („systematische Meisterschaft”, „wissenschaftliche Genialität”, „Höhe der wissenschaftlichen Entwicklung” usw.), so ist ein etwas ungalantes Bild gebraucht worden. Die bewunderte „geschlossene Einheit” ist verglichen worden mit der Einheit, die die Katze dadurch herstellt, daß sie mit dem eigenen Schwänze spielt und, diesen Körperteil als Objekt ergreifend, sich mehr oder minder schnell um sich selbst bewegt. Ohne Bild ist die Sachlage dahin richtig
--------------------
484) System d. christl. Gewißheit 2 1,143.
140 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 123-124]
beschrieben worden, daß der Theologe, insofern er sich wirklich von der Heiligen Schrift losgemacht hat, nicht mit Gott und der göttlichen Wahrheit, sondern mit sich selbst und seinen menschlichen Gedanken Verkehr Pflegt oder, wie man es auch ausgedrückt hat, mit „Projektionen des menschlichen Ich” umgeht. Es läßt sich wirklich nichts zugunsten des wissenschaftlichen Charakters der theologischen Ichmethode sagen.485)
Als Resultat ergibt sich: Will die moderne Theologie wieder in Verbindung kommen mit nicht bloß eingebildeter, sondern wirklicher „christlicher Gewißheit”, und will sie auch wieder Kontakt gewinnen mit wirklicher Wissenschaft — zur Wissenschaft gehört doch auch eine geordnete Gedankenwirtschaft —, so muß sie — es geht wirklich nicht anders — durch sich selbst einen großen Strich machen. Sie muß den unchristlichen und unlogischen Gedanken der „Selbstgewißheit” auf dem Gebiet der christlichen Wahrheitserkenntnis aufgeben und sich wieder auf den objektiven Grund stellen, auf dem die christliche Kirche tatsächlich erbaut ist, auf das Wort der Apostel und Propheten oder, was dasselbe ist, auf das Wort Christi.486) Es gibt keine Selbstgewißheit in der christlichen Theologie, sondern es steht so, wie Luther sagt: Homo est certus passive, sicut Verbum Dei est certus active. Es gilt hier auch nicht die moderntheologische Berufung auf Christi Person im Gegensatz zu Christi Wort. Freilich ist Christi Person der Eckstein seiner Kirche.487) Aber auf Christum als Eckstein können wir uns nur vermittelst des Glaubens an Christi Wort, das wir im Wort seiner Apostel und Propheten haben, gründen, wie in den unmittelbar vorhergehenden Worten zum Ausdruck kommt: εποικοδομηϑέντες έπι τφ ϑεμελίω των αποστόλων και προφητών. Wer das Wort der
--------------------------
485) Frank beruft sich für den wissenschaftlichen Aufbau der Selbstgewißheit auf den Fichteschen Idealismus von der Objektsetzung durch das Subjekt. Er sagt: „Das ist die bleibende Wahrheit des Fichteschen Idealismus.” (Christl. Gewißheit I, 61.) O. Flügel beschreibt den Fichteschen Idealismus so in „Probleme der Philosophie und ihre Lösungen”, S. 96: „Nach Fichte besteht das Wesen der Dinge, wie bei Berkeley, in der bloßen Vorstellung; er geht aber dadurch noch über Berkeley hinaus, daß er nicht mehr nach einer äußeren Entstehungsursache dieser Vorstellungen sucht, sondern, von einer solchen ausdrücklich absehend, unsern Geist selbst als den alleinigen Urheber alles dessen ansieht, was er äußerlich wahrzunehmen glaubt.” Flügel findet bei Fichte „nur etwa zwei” Inkonsequenzen. H. Ulrici nennt den Fichteschen Idealismus „eine unsinnige Einseitigkeit” (RE.2 XV, 381).
486) Eph. 2, 20; Joh. 8, 31. 32; 17, 20. 487) Eph. 2, 20; 1 Petr. 2, 6.
141 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 124-125]
Apostel und Propheten beiseiteschiebt, der gründet sich nicht auf Christum, den Eckstein, sondern setzt sich daneben. Luther drückt dies, wie wir oben hörten, so aus: „Wenn ich ohne Wort bin, nicht daran denke noch damit umgehe, so ist kein Christus daheim.”
Zur Erklärung des geistlichen und geistigen Zusammenbruchs der Theologie der Selbstgewißheit, des Erlebnisses usw. gehört der Hinweis auf die Tatsache, die wir schon eingangs dieses Abschnitts berührten. Es ist dies die Tatsache, daß die Erlebnistheologie nicht eine gläubige, sondern eine kritische Stellung gegen Gottes Wort und damit gegen Gott selbst einnimmt. Dieser kritischen Stellung verdankt sie ihr Entstehen und Bestehen. Weil sie die Schrift als Gottes unfehlbares Wort verwirft, so hat sie sich auf das „religiöse Erlebnis” des theologisierenden Subjekts zurückgezogen und examiniert und kritisiert von hier aus die Heilige Schrift. Während Christus sagt: „Ich habe ihnen gegeben dein Wort” und diesem Wort das Zeugnis ausstellt: „Dein Wort ist die Wahrheit”,488) sagt die Erlebnistheologie vom äußersten linken bis zum äußersten rechten Flügel teils ganz offen heraus, teils in etwas verdeckter Weise, aber unisono: Dein Wort ist nicht die Wahrheit, sondern mit Irrtum durchsetzt. Und während Christus seiner Kirche geboten hat, daß sie sich zum Zweck der Wahrheitserkenntnis auf die Basis seines Wortes stelle, um auf diese Weise von jedem menschlichen Ich, insonderheit auch vom Ich der Theologen, erlöst zu sein, erteilt die Erlebnistheologie der Kirche die Weisung, sich von dem der Kirche gegebenen Wort Christi loszumachen und sich in die „sturmfreie Burg” des Selbstbewußtseins des christlichen Subjekts zurückzuziehen. Sie verschärft die Kritik noch durch die immer wiederholte Beteurung: wer diesen Basiswechsel nicht mitmache, sondern die christliche Lehre noch aus der Heiligen Schrift schöpfen und normieren wolle, wie die erste Kirche, die Kirche der Reformation und „sonderlich die alten Dogmatiker” getan haben, der richte Unglück in der Kirche an; der vermittele nicht „lebendiges Christentum” und „lebendigen Glauben”, sondern „Intellektualismus”, tote Orthodoxie. Das ist in genauer Darstellung die ausgesprochen kritische Stellung, die alle Erlebnistheologen gegen Gottes Wort und damit gegen Gott selbst einnehmen. Die Erlebnistheologie ist die Theologie der Erhebung über Gottes Wort. Es ist der Nietzschesche „Übermensch” auf dem theologischen Gebiet. Nun wissen wir aber aus der Heiligen Schrift, daß diese kritische Stellung gegen Gottes Wort ein überaus gefähr-
-----------------------
488) Joh. 17,14.17.
142 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 125]
liches Ding ist. Gott kann die Kritik seines Wortes nicht leiden. Christus hat den Menschen Gottes Wort gegeben, damit sie es glauben. Alle, die es kritisieren, anstatt es zu glauben, geraten in bezug auf die Wahrheitserkenntnis unter das Gericht, das Christus in den Worten Matth. 11, 25 beschreibt: „Du hast solches den Weisen und Klugen verborgen und hast es den Unmündigen offenbaret.” Gottes Wort hat primo loco eine erleuchtende, secundo loco eine verblendende Wirkung. Wer es durch Wirkung des Heiligen Geistes im Wort nicht als Menschenwort, sondern, wie es denn wahrhaftig ist, als Gottes Wort aufnimmt, wie die Thessalonicher,489) den erleuchtet es; wer ihm die Kritik seines Ich entgegensetzt, den verblendet es. Und diese richterlich blind machende Wirkung bindet auch die natürliche Urteilskraft. Wir weisen erstlich auf die Versuche hin, die wir so ziemlich bei allen Erlebnistheologen finden, die Ichtheologie unter die Protektion Luthers zu stellen. Schon Luther soll, wenn auch noch nicht ganz konsequent, die Theologen vom Schriftwort weggewiesen und das fromme Ich zum Richter über das Schriftwort eingesetzt haben. Äußerungen, in denen Luther sehr richtig betont, daß zum äußeren Schriftwort der Glaube hinzukommen müsse, werden so gedeutet, als ob Luther den Glauben vom äußeren Schriftwort loslösen wolle. Dieses Mißverständnis der Äußerungen Luthers reicht über das gewöhnliche Maß der Urteilsschwäche hinaus, das allen Menschen seit dem Sündenfall eigen ist.490) Sodann sehen wir uns der Tatsache gegenüber, daß die Vertreter der Erlebnistheologie einander des „Subjektivismus” beschuldigen. Diese Anschuldigungen sind sinnlos, weil die Prüfung derselben sofort zeigt, daß der Ankläger nicht minder als der Angeklagte im Hospital des Subjektivismus krank daniederliegt. W. Herrmann beschuldigt Frank des Subjektivismus, wie Ihmels berichtet und ausführlich darlegt.491) Herrmann aber will seinerseits die christliche Gewißheit dadurch begründen, daß das menschliche Subjekt das „innere Leben JEsu” in sich nachahmt. Als ob das nicht Subjektivismus im eminenten Sinne des Wortes wäre! Franks Subjektivismus wird auch von Ihmels beanstandet. Ihmels weist darauf hin, daß Frank die „ethische Betrachtungsweise” (die moralische Umwandlung des christlichen Subjekts
------------------------
489) 1 Thess. 2, 13.
490) Dieser Punkt wird bei der Lehre von der Heiligen Schrift unter dem Abschnitt „Luther und die Heilige Schrift” näher dargelegt.
491) Die christl. Wahrheitsgewißheit, S. 124—167.
143 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 125-126]
im Vergleich mit dem früheren unchristlichen Subjekt) als „Grundläge des ganzen Christenstandes” verwenden will. Ihmels urteilt sehr richtig, daß die ethische Beschaffenheit des Christen „mannigfachen Schwankungen” unterworfen sei und deshalb nicht Fundament des Christenstandes sein könne. Frank selbst habe diese „mannigfachen Schwankungen” zugegeben. Die Grundlage des Christenstandes, sagt Ihmels, könne nur die Rechtfertigung bilden. Aber auch Ihmels gelingt es nicht, über den Subjektivismus hinauszukommen, weil er, wie Frank, in den Rechtfertigungsglauben menschliches Tun mengt. Wenn die Worte, mit denen er seine „Zentralfragen” schließt, ernst zu nehmen sind, so stellt er das Kommen zum gnädigen Gott und die Wahrheitserkenntnis auf das menschliche Wollen. Er sagt dort:492) „Zuletzt heißt diese Wahrheit [die christliche Wahrheit] Gott, und Gott kann sich nur dem erschließen, der ihn will.” Das ist wahrlich eine klar ausgesprochene subjektive Begründung sowohl der Heils- als auch der Wahrheitsgewißheit. So dachte sich, wie die Konkordienformel erinnert, auch Chrysostomus die Sache: Trahit Deus, sed volentem trahit; tantum velis, et Deus praeoccurrit. „Gott zieht, er zieht aber den, der da will; du mußt nur wollen, so wird dir Gott zuvorkommen.” Mit Recht warnt die Konkordienformel vor diesen Reden, weil sie „zur Bestätigung des natürlichen freien Willens . . . wider die Lehre von der Gnade Gottes eingeführt” und „der Form gesunder Lehre nicht ähnlich” seien.493) Im Reiche Gottes liegt es nicht an jemandes Wollen oder Laufen, sondern an Gottes Erbarmen.494) Wie stehen wir armen Menschen uns doch im Wege, und wie töricht handeln wir, wenn wir nach einer subjektiven Begründung der Gewißheit suchen! Der Grund unserer Gewißheit liegt außer uns, in Gottes Wort, im Wort der Apostel und Propheten, worauf die christliche Kirche erbaut ist. Jeder Versuch, die Gewißheit, sei es die Heilsgewißheit, sei es die Wahrheitsgewißheit, durch etwas, was in uns selbst gelegen ist, zu begründen, macht die Gewißheit ungewiß, einerlei wie wir das in unser Ich verlegte Fundament benennen, ob Wiedergeburt oder sittliche Umwandlung oder Selbstbestimmung und Selbstsetzung oder menschliches Verhalten und geringere Schuld oder vorgängiges Wollen usw. Das hat Luther wohl erfahren. Deshalb ruft er Erasmus zu, als dieser ihm zumutete, das Kommen zum gnädigen Gott durch die facultas se applicandi ad gratiam bedingt sein zu
-----------------------
492) Zentralfragen 2, S. 166.
493) M. 608, 86. 494) Röm. 9, 16. 30—33.
144 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 126-127]
lassen: „Du bist mir an die Kehle gefahren.”495) Deshalb hält derselbe Luther in bezug auf die „Wahrheitsgewißheit” an dem Axiom fest, daß der Mensch sich nicht selbst gewiß macht, sondern durch Gottes Wort gewiß gemacht werde; homo certns est passive, sicut Verbum Dei est certum active. So fern ist Luther von altem Subjektivismus, zu dessen Beschützer man ihn machen möchte, daß er auch davor warnt, den wahren, vom Heiligen Geist gewirkten Glauben zum Fundament der Gewißheit zu machen und so den Glauben auf den Glauben zu gründen. Luther nennt den, der das tut, einen „abgöttischen, verleugneten” Christen. Luther schreibt: 496) „Wahr ist's, daß man glauben soll zur Taufe [und das bezieht Luther auch auf das äußere objektive Wort]; aber auf den Glauben soll man sich nicht taufen lassen. Es ist gar viel ein ander Ding, den Glauben haben und sich auf den Glauben verlassen und also sich darauf taufen lassen. Wer sich auf den Glauben taufen läßt, der ist nicht allein ungewiß, sondern auch ein abgöttischer, verleugneter Christ, denn er trauet und bauet auf das Seine, nämlich auf eine Gabe, die ihm Gott gegeben hat, und nicht auf Gottes Wort alleine, gleichwie ein anderer bauet und trauet auf seine Stärke, Reichtum, Gewalt, Weisheit, Heiligkeit, welches doch auch Gaben sind, von Gott ihm gegeben.”
Wir haben in dem vorstehenden Abschnitt scharf über die „Selbstbewußtseinstheologie” geurteilt. Aber es ist nicht unser, sondern Gottes Urteil, wie es klar in der Heiligen Schrift geoffenbart vorliegt. Dazu denken wir bei diesem scharfen Urteil auch an uns selbst. Die böse Art, welche sich in der Theologie des „menschlichen Selbstbewußtseins” geltend macht, wohnt noch in allen Christen, sofern sie noch das böse Fleisch an sich haben. Auch das Fleisch der Christen repräsentiert noch den von Gott abgefallenen Menschen, der, weil er von Gott, seinem Zentrum, abgefallen ist, sich selbst zum Zentrum der Dinge macht, selbstbewußt ist, „sich selbst setzt”, auch über Gottes Wort sich setzt, also den „Übermenschen” spielt. Wer von 'dieser Art herrschenderweise los ist, der preise Gottes Gnade, die ihn ohne sein Verdienst in kirchliche Verhältnisse geführt hat, die der wahren Theologie nicht hinderlich, sondern nur förderlich waren. Wer in hochmütiger Gesinnung bei sich sagen wollte: „Ich danke dir, Gott, daß ich nicht bin wie die andern Leute”, würde eo ipso in die Theologie der Selbstgewißheit zurückfallen, auch mitten in der äußeren Gemein-
--------------------------
495) St. L. XVIII, 1967. Opp. v. a. VII, 367. 496) St. L. XVII, 2213.
145 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 127-128]
schaft solcher kirchlichen Kreise, in denen die Theologie der Selbstgewißheit doktrinell auf das entschiedenste verworfen wird. Natürlich kann die Tatsache, daß die Theologie des Selbstbewußtseins nur eine Ausgestaltung der bösen Art ist, die sich in allen gefallenen Adamskindern findet, uns nicht von der Pflicht entbinden, sie mit großem Ernst zu bekämpfen. Diese Theologie ist in jeder Beziehung das nicht, was sie zu sein vorgibt. Um kurz zu wiederholen: Zur Sicherstellung des wissenschaftlichen Charakters der Theologie ersonnen, versetzt sie seine Vertreter in die Rolle des Mannes, der zur Sicherung des wankenden Ich sich an das eigene Ich anklammert. Wir sahen ferner, daß die Ichtheologie die böseste Form der Abgötterei darstellt, nämlich die Selbstvergötterung. Der Ich-theologe spricht die Autorität, die er der Heiligen Schrift abspricht, sich selbst zu. Und wie alle Abgötterei zuschanden macht,497) so speziell auch die Selbstvergötterung, in der das Wesen der Selbstgewißheitstheologie besteht. Ihr Resultat ist nicht Gewißheit, sondern Einbildung, Selbsttäuschung, Ungewißheit, wie ausführlich gezeigt wurde. Wir sahen auch, daß die Ichtheologie sehr ansteckend wirkt. Schleiermacher wurde und wird als der Reformator des 19. Jahrhunderts bewundert. Und das hat einen doppelten Grund. Der durch den Sündenfall dezentralisierte Mensch macht sich selbst zum Zentrum der Dinge. Daher ist er leicht für eine Theologie zu gewinnen, die seinem Ich eine Herrscherstellung zuweist. Sodann trat und tritt die Ichtheologie, obwohl ihr Wesen Gottlosigkeit ist, mit dem Schein der Frömmigkeit auf. Die Schwärmer des 16. Jahrhunderts hätten die Kirche nicht zerrissen, wenn sie offen herausgesagt hätten, daß ihre Einfälle Produkte ihres menschlichen Ich seien. Statt dessen schrieben sie ihre Einfälle dem Heiligen Geist aufs Konto. Sie vergossen auch, um ihre Frömmigkeit zu bekräftigen, „Mulden von Tränen”, wie Luther gelegentlich bemerkt. So redeten und reden auch Schleiermacher und alle, die seine theologische Methode befolgen, vom frommen Selbstbewußtsein des theologisierenden Subjekts, vom wiedergebornen Ich, vom christlichen Erlebnis usw. Und obwohl sie die Schrift als Gottes Wort und die satisfactio vicaria verwerfen, so reden sie doch von großem Fortschritt in der Exegese und von einer tieferen Erfassung des Schriftsinns. Dies alles täuscht und ist geeignet, auch „unschuldige Herzen” 498) zu verführen. Auf dem Gebiet der Natur kann die Fichtesche Methode
------------------------
497) Ps. 115,4—8. 498) Röm. 16, 18.
146 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 128]
der Setzung der Objekte durch das Subjekt keine Verwirrung anrichten, weil die vernunftlose Kreatur sich nicht nach den Ideen Fichtes, Platos oder irgendeines andern Ich richtet. Anders steht es auf geistlichem Gebiet. Da sehen wir, daß die Setzung der Objekte durch das menschliche Subjekt bei den vernünftigen Kreaturen zahlreiche Bewunderer und Abnehmer findet. Hieraus ergibt sich die Pflicht aller derer, die durch Gottes Gnade offene Augen haben, den Trug der Selbstbewußtseinstheologie aufzudecken und zu bekämpfen.
Wir haben im vorstehenden den unchristlichen und verderblichen Charakter der Bewußtseinstheologie vornehmlich an der Hand deutschländischer Schriften nachgewiesen. Aber diese Theologie beherrscht auch bei uns in den Vereinigten Staaten so ziemlich die ganze protestantische Theologie. Ja, sie ist bei uns, als im Lande der reformierten Sekten, recht eigentlich beheimatet. Zwingli und Calvin waren mit ihrer Lehre von einer unmittelbaren Wirksamkeit des Heiligen Geistes prinzipielle Vertreter der Ichtheologie. Daß das falsche Prinzip sich damals nicht vollständig entfalten konnte, lag in dem gewaltigen Einfluß Luthers. Weil dieser Einfluß Luthers zu Anfang des 19. Jahrhunderts fehlte, so braucht es uns nicht zu befremden, daß Schleiermacher mit seiner reformiert-pantheistischen Theologie hierzulande Bewunderer und Anhänger fand, wenn man auch im einzelnen Ausstellungen zu machen hatte.499) Gegenwärtig steht es in den Vereinigten Staaten so, daß unsere alten und neuen großen Universitäten mit einer teilweisen Ausnahme von Princeton die Selbstbewußtseinstheologie vertreten, soweit sie sich mit Theologie befassen. Wir berichteten kürzlich in „Lehre und Wehre” 500) von einer „Organisation der Laien” gegen das von den christlichen Grundwahrheiten (fundamentals) abgefallene Predigergeschlecht, das in den Universitäten und Predigerseminaren großgezogen worden ist und nun das Land überwuchert. Die Organisation wird damit begründet, daß in den Universitäten und den meisten Predigerseminaren ein Predigergeschlecht großgezogen worden ist, das die christlichen Grundwahrheiten (fundamentals) leugnet. Besonders wird darauf hingewiesen, daß an die Stelle der göttlichen Autorität das Ichbewußtsein (consciousness of the individual) und an die Stelle der stellvertretenden Genugtuung Christi moralische Bestrebungen nach
-----------------------
499) Instruktiv in bezug auf den Schkeiermacherschen Einfluß hierzulande ist Strongs langer Artikel "The Theology of Schleiermacher as Illustrated by His Life and Correspondence” in seinen Miscellanies, Vol. II, 1—57.
500) 1923, S. 89 f.
147 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 129-130]
dem Vorbilde des Idealmenschen Christus gesetzt werden.501) Wie weit diese „Laienorganisation” einen Damm gegen die Verderbensflut bilden wird, steht dahin. In unserer Kirchengemeinschaft, die sich unter dem Namen Synodalkonferenz zusammengeschlossen hat, ist bis jetzt, Gott sei Dank, noch keine Organisation der Laien gegen die Prediger nötig. Wir wissen unter den Tausenden von Predigern keinen einzigen, der die Inspiration der Schrift antastete und infolgedessen auf den Standpunkt der Ichtheologie gedrängt würde. Aber es gilt, die Gefahr im Auge zu behalten, die uns auch durch unsere amerikanische Umgebung droht.
17. Theologie und Lehrfortbildung. ^
Bekanntlich wird gerade auch zu unserer Zeit die Fortbildung der christlichen Lehre für nötig und nützlich gehalten, und zwar nicht nur von den verschieden abgestuften liberalen Theologen, sondern auch von den „konfessionell” gerichteten neueren Lutheranern. Beispiele werden im folgenden beigebracht werden. Die Theologen, welche sich gegen Lehrfortbildung ablehnend verhalten, haben den Namen „Repristinationstheologen” bekommen, sonderlich die sogenannten Missourier;502) aber auch andere, z.B. Philippi.503) Auch innerhalb der lutherischen Kirche Amerikas wurde die Fortbildung der lutherischen Lehre aufs Programm gesetzt.504)
-------------------------
501) Wir setzen einige Worte aus der Zeitschrift The Fundamentalist, Vol. II, No. 1, hierher: "The Radicals are set on substituting ‘evolution’ for creation, ‘the principle animating the cosmos’ for the living God, consciousness of the individual for the authority of the Bible, reason for revelation, sight for faith, ‘social service’ for salvation, reform for regeneration, the priest for the prophet, ecclesiasticism for evangelism, the human Jesus for the divine Christ, a man-made ‘ideal society’ for the divinely promised kingdom of God, and humanitarian efforts in this poor world for an eternity of joy in God’s bright home.” Sonderlich wird auf D. Fosdicks kürzlich in New York gehaltene und im Lande weitverbreitete Predigt hingewiesen: "Dr. Harry Emerson Fosdick, for example, not only preached his now famous sermon here in New York on the question, ‘Shall the Fundamentalists Win?’ in which he repudiated the inspiration of the Scriptures, the virgin birth, the vicarious atonement, and the second coming of our Lord, but this sermon was then put into pamphlet form, and has been broadcasted throughout the nation.”
502) Vgl. das Vorwort zu L. u. W. 1875, S. 1 ff. 33 ff., besonders S. 65 ff.
503) Hofmann in „Schutzschriften”, 1. Heft, S. 2, gegen und über Philippi: “Mag immerhin fortschlafen, wer es gern bequem hat.”
504) Hierher gehört der Artikel „Die falschen Stützen der modernen Theorie von den offenen Fragen”, L. u. W. 1868, S. 100 ff. [Ed. – sic! Not 97 ff.; ferner „Die moderne Lehrentwicklungshäresie”, 1877, S. 129 ff.
148 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 130]
Eine Fortbildung der christlichen Lehre kann es deshalb nicht geben, weil die christliche Lehre eine mit der Lehre der Apostel völlig abgeschlossene Größe ist, die im Laufe der Zeit nicht fortzubilden, sondern völlig unverändert festzuhalten und zu lehren ist. Christi Lehrauftrag, den wir Matth. 28, 18—20 haben, deckt die ganze Zeit des Neuen Testaments bis an den Jüngsten Tag und lautet dahin, daß seine Kirche die Völker halten lehre alles, was er (Christus) ihr befohlen hat. Daß wir aber Christi Lehre in der Lehre seiner Apostel haben, bezeugt uns ebenfalls Christus selbst, wenn er Joh. 17, 20 sagt, daß alle Glieder seiner Kirche bis an den Jüngsten Tag durch der Apostel Wort an ihn glauben werden. Dessen waren sich auch die Apostel sehr klar bewußt. Paulus ermahnt die Gemeinden, die durch seine Lehrtätigkeit entstanden waren: „So stehet nun (οτήκειε), liebe Brüder, und haltet an den Satzungen (κρατείτε τάς παραδόσεις), die ihr gelehret seid, es fei durch unser Wort oder Epistel.”505) Und daß Paulus dabei nicht bloß an temporäre Geltung seiner Lehre dachte, geht aus den Stellen hervor, in denen er ausdrücklich auf die zukünftigen Zeiten Rücksicht nimmt: „Das weiß ich, daß nach meinem Abschied werden unter euch kommen greuliche Wölfe, die der Herde nicht verschonen werden. Auch aus euch selbst werden aufstehen” (άναστήσονται, Futurum) „Männer, die da verkehrte Lehren reden, die Jünger an sich zu ziehen.”506) „In den letzten Zeiten werden etliche vom Glauben abtreten” (απoστήσονται, Futurum) „und anhangen den verführerischen Geistern und Lehren der Teufel.”507) Alles, was Paulus lehrt, lehrt er angesichts des Jüngsten Tages und damit als bis an den Jüngsten Tag geltend.508) Und die Lehre Pauli ist so unveränderliche göttliche Wahrheit, daß er über jeden, der sich an seinem Evangelium eine Änderung erlaubt, den Fluch ausspricht.509) Daher auch die Ermahnung des Apostels, von allen Anderslehrenden zu weichen und sie getrost für aufgeblasene Schwätzer und Nichtswisser zu halten.510) Besonders zu beachten für unsere Zeit ist die Tatsache, daß Paulus die Vollkommenheit der apostolischen Lehre auch solchen Lehrern gegenüber festhält, die unter dem Schein einer höheren philosophischen Erkenntnis und einer höheren Geistlichkeit die Lehre Christi ergänzen wollten. Er sagt von allen,
----------------------
505) 2 Thess. 2, 15. 506) Apost. 20, 29—31.
507) 1 Tim. 4, 1 ff. Ebenso 2 Tim. 3, 1 ff.
508) 2 Tim. 4, 1 ff.; 1 Tim. 6, 14. 15. Ebenso Petrus, 1 Petr. 5, 1—4.
509) Gal. 1, 6—9; 5, 12. 510) Röm. 16, 17; 1 Tim. 6, 3. 4.
149 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 130-131]
welche die von den Aposteln verkündigte Lehre Christi glauben, daß sie dadurch in Christo vollkommen sind, εστε έν αντω πεπληρωμένοι. 511) [130 |131]
Dagegen ist von Vertretern der Lehrfortbildung eingewendet worden, daß die Kirche im Laufe der Zeit sich genötigt gesehen habe, dem sich erhebenden Irrtum gegenüber die christliche Lehre in besonderen Formulierungen, wie όμοούσιος, πεοτόκος, homo mere passive se habet usw., zum Ausdruck zu bringen. Das ist Tatsache. Aber durch den Gegensatz hervorgerufene neue Formulierungen der Schriftlehre wie die ebengenannten sind kein Beweis für Lehrfortbildung, sondern vielmehr ein Beweis für das Gegenteil, nämlich für das Bleiben bei der Schriftlehre (μένειν
-----------------------
511) Kol. 2, 6—9. 16—20. Peake meint z. St. (in The Expositor’s Greek Testament) : “There is no condemnation of philosophy in itself, but simply of the empty, but plausible, sham that went by that name at Colossae.” Ähnlich Meyer und wohl die meisten neueren Exegeten. Nach Text und Kontext steht es so, daß der Apostel vor aller Philosophie warnt, sofern sie in Sachen der christlichen Lehre mitreden und die christliche Lehre ergänzen oder vollkommener machen will. Darin, sagt der Apostel, liegt ein leerer Betrug, weil die Philosophie Menschenlehre ist, κατά την παράδοαιν των άνπρώπων während die Christen κατά Χριοτόν gelehrt sind, der nicht ein bloßer Mensch ist, sondern in dem die ganze Fülle der Gottheit wohnt, so daß die christliche Lehre im Unterschied von aller Menschenlehre göttliche Lehre ist. Vgl. Note 138. Kurz, in dieser Kolosserstelle ist alle Philosophie, weil sie ihrer Art nach Menschenlehre ist, von der Theologie schlechthin ausgeschlossen. Meyer meint, „Luthers häufige Verwerfungsurteile über die Philosophie” hätten darin ihren Grund, daß Luther „die Entartung derselben in der aristotelischen Scholastik vorschwebte”. Vgl. dagegen das S. 17 mitgeteilte Zitat aus Luther. Luther lobt die Philosophen, sofern sie Stücke des Gesetzes aus der natürlichen Vernunft lehren. Dabei hält er aber fest: „Die Philosophen find nicht Theologen; darum erinnert Paulus nicht vergebens [Kol. 2, 8], daß wir uns in acht nehmen sollen vor der Philosophie, das ist, vor aller Philosophie, weil ein solcher nichts hat als Worte menschlicher Weisheit, welche sicherlich mit dem Evangelio nicht Übereinkommen und damit auch nicht Übereinkommen können.” St. L. XXII, 1932. Ferner St. L. I, 484 f., zu 1 Mos. 6, 5.6: „Die Philosophen disputieren an etlichen Orten nicht so gar närrisch (inepte) von Gott, von Gottes Vorsehung, dadurch Gott alles regiert; und dünket solches etliche so christlich geredet zu sein, daß sie schier aus Sokrates, Xenophon, Plato usw. Propheten machen. Weil sie aber also davon disputieren, daß sie nicht wissen, daß Gott seinen Sohn Christum gesandt habe zur Seligkeit der Sünder, so sind diese köstlichen und schönen Disputationen die höchste Unwissenheit von Gott und eitel Gotteslästerung nach der Meinung dieses Textes, welcher kurz und rund ein solch Urteil fällt, daß alles Dichten und Trachten und Vornehmen des menschlichen Herzens durchaus böse ist.”
150 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 131-132]
iv τώ λόγω τον Χριοτοϋ). Luther weist schlagend nach, daß die ersten alten „Hauptkonzilia” mit ihrem όμοούσιος, ϑεοτόκος usw. nichts Neues gemacht, sondern nur die Lehren bekannt haben, die die Christenheit von allem Anfang an auf Grund der Schrift geglaubt hat.512) Auch durch die Reformation der Kirche ist die christliche Lehre nicht im geringsten fortgebildet, [131/132] sondern lediglich die alte Lehre der Schrift aus dem papistischen Wust der Menschenlehren wieder hervorgezogen, gelehrt und bekannt worden. Dessen war Luther sich wohl bewußt. Er sagt:513) „Wir erdichten nichts Neues, sondern halten und bleiben bei dem alten Gotteswort, wie es die alte Kirche gehabt; darum sind wir mit derselben die rechte alte Kirche, die einerlei Gotteswort lehret und glaubet. Darum lästern die Papisten abermal Christum selbst, die Apostel und ganze Christenheit, wenn sie uns Neue und Ketzer schelten. Denn sie finden nichts bei uns denn allein das Alte der alten Kirche.” Es liegt ein Nichtverstehen der Reformation vor, wenn moderne Theologen, um sich mit ihrer Lehrfortbildung unter Luthers Protektion zu stellen, von einem „neuen Verständnis des Christentums in der Reformation” reden. Daß sie nichts Neues lehre, ist auch der Ruhm der Augustana.514) Ebenso will die Konkordienformel nichts Neues setzen, wie aus ihrer prinzipiellen Erklärung hervorgeht: „daß die einige
-----------------------
512) Dies weist Luther in seiner Schrift „Von den Konziliis und Kirchen” von den einzelnen Konzilien nach und sagt dann in Zusammenfassung St. L. XVI, 2248 f.: „Also haben wir die vier Hauptkonzilia und die Ursachen, warum sie gehalten find. Das erste, zu Nicäa, hat die Gottheit Christi wider Arium verteidigt, das andere, zu Konstantinopel, die Gottheit des Heiligen Geistes Wider Macedonium verteidigt, das dritte, zu Epheso, in Christo eine Person wider Nestorium verteidigt, das vierte, in Chalcedon, zwo Naturen in Christo wider Eutychen verteidigt, aber damit keinen neuen Artikel des Glaubens gestellet. Denn solche vier Artikel sind gar viel reichlicher und gewaltiger auch allein in St. Johannis Evangelio gestellet, wenngleich die andern Evangelisten und St. Paulus, St. Petrus hiervon nichts hätten geschrieben, die doch solches alles auch gewaltiglich lehren und zeugen samt allen Propheten. Haben nun diese vier Hauptkonzilia (welche von den Bischöfen zu Rom den vier Evangelien nach ihrem Dekret gleichzuhalten sind, gerade als stünden solche Stücke nicht viel reichlicher neben allen Artikeln in den Evangeliis — so sein verstehen die Eselbischöse, was Evangelia oder Konzilia sind!) nichts Neues wollen noch können in Glaubensartikeln machen oder setzen, wie sie selbst bekennen, wieviel weniger kann man solche Macht geben den andern Konzilien, die man geringer muß halten, wo diese vier sollen die Hauptkonzilia sein und heißen. ... Setzen sie aber etwas Neues im Glauben oder guten Werken, so sei gewiß, daß der Heilige Geist nicht da sei, sondern der unheilige Geist mit seinen Engeln.”
513) St. L. XVII, 1324. 514) Art. XXI. M. 47,1—5; 48,1—6. [Trigl. P. 59]
151 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 132]
Regel und Richtschnur, nach welcher zugleich alle Lehren und Lehrer gerichtet und geurteilt werden sollen, sind allein die prophetischen und apostolischen Schriften Altes und Neues Testaments. . . . Andere Schriften aber der alten und neuen Lehrer, wie sie Namen haben, sollen der Heiligen Schrift nicht gleichgehalten, alle zumal miteinander derselben unterworfen und anders oder weiter nicht angenommen werden denn als Zeugen, welcher Gestalt nach der Apostel Zeit und an welchen Orten solche Lehre der Apostel und Propheten erhalten worden"515) Daß in der Konkordienformel auch im Artikel von der Person Christi und speziell von der communicatio idiomatum keine neue Lehre vorgetragen sei, wird dogmenhistorisch im Catalogus Testimoniorum nachgewiesen.516)
Daß es keine Fortbildung der christlichen Lehre gibt, tritt schließlich auch darin zutage, daß alle [132/133] Fortbildungsversuche, bei Licht besehen, sich als Umbildung und Zerstörung der christlichen Lehre erweisen. Und das ist nicht nur das Urteil Luthers und derer, die von der Ichtheologie gls Repristinationstheologen registriert werden, sondern so haben auch solche landeskirchliche Theologen des 19. Jahrhunderts geurteilt, denen das Bleiben an der christlichen Lehre am Herzen lag. So schrieb D. Münkel im Jahre 1862 im Vorwort zu seinem „Neuen Zeitblatt”: 517) „Schwerlich ist noch eine Lehre übriggeblieben, welche nicht Umbildung, Zusätze und Ausmerzungen in erheblichem Maße erfahren hat. Man hebe von der Dreieinigkeit an, gehe weiter zu den Lehren von der Person und dem Werke Christi, vom Glauben und der Gerechtigkeit, von den Sakramenten und der Kirche bis zu den letzten Dingen, man wird kaum noch etwas in seiner alten Gestalt und in seinem vormaligen Werte finden. Nicht selten ist es dermaßen verändert, daß nur der alte Rahmen noch an das alte Bild erinnert, und bisweilen ist sogar der Rahmen als gar zu knapp und altfränkisch zerschlagen. Eine kleine Probe mag das anschaulich machen. Wenn Christus nach der Kirchenlehre auch in seiner Niedrigkeit wahrhaftiger Gott ist, so hat man ihn jetzt der göttlichen Eigenschaften entleert, ohne welche die Gottheit gar nicht gedacht werden kann, oder man läßt sich seine Gottheit allmählich bis zur Auferstehung in ihn hineinarbeiten. Der Tod Christi hat es sich gefallen lassen müssen, daß er nicht mehr zur Sühne an unserer Statt und zur Versöhnung mit Gott geschehen ist. Die Gerechtigkeit des Glaubens durch die Gerechterklärung Gottes soll
------------------------
515) Epitome. M. 517,1. 2. [Trigl. 777, 1-2] 516) M. 731—760. [Trigl. 1107-1149; BookOfConcord.org here].
517) Zitiert in L. u. W. 1875, S. 71 ff.
152 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 132-133]
zu hölzern und äußerlich sein; in etwas verdeckter Weise zieht man wieder die Werke heran. Gesetz und Evangelium mengt man wieder zusammen. Das Wort Gottes und die Predigt wird so zurückgestellt, als wenn die Sakramente die Hauptsache tun, jedenfalls erst Leben in die Kirche bringen müßten. Die sichtbare Kirche kommt wieder zu solcher Wichtigkeit, als wenn sie die wahre Kirche, die Inhaberin aller Verheißungen Gottes wäre. Und was soll ich zu dem Verhältnis der Kirchen, von Amt und Regiment, von Chiliasmus und ewigem Leben sagen? Die Streitfragen liegen vor jedermanns Augen, und wenn der Streit nicht etwas auf sich hätte, so würde er nicht so heftig sein. ... Ich setze den Fall, daß wir in allen diesen aufgezählten oder nicht aufgezählten Abweichungen und Veränderungen einig wären, würde das noch lutherische Lehre heißen können, oder würde man den Mut haben, das Fortbildung der lutherischen Lehre zu nennen, was die wesentlichsten Stücke der lutherischen Lehre wie alten Schutt hinausfegt? Ich wenigstens würde nicht das Herz haben, mich einen Lutheraner zu nennen, und würde offen gestehen: Wir sind allesamt abgewichen. ... Es läßt sich freilich ziemlich sicher erwarten, daß die wissenschaftliche Theologie in nicht gar ferner Zeit ihren Kredit verlieren wird. Während die übrigen Wissenschaften sich mit ihren wahren und unleugbaren Fortschritten die Achtung der Welt erringen, weist die Theologie die grenzenloseste Verwirrung auf, und indem sie fortschreitet, weiß niemand recht, worin der Fortschritt besteht, da einer des andern Fortschritte als Rückschritte bezeichnet und die Kirche von allen Fortschritten nicht nur keinen Gewinn, sondern nur Streit und Beulen und Wunden aufzuweisen hat. So ist es gekommen, daß die übrigen Wissenschaften ein gemeinsames Band um alle gebildeten Völker geschlungen haben und alle Kräfte in ihren Dienst nehmen, indes die Theologie aller Art zersplittert und zerteilt, die doch ihrem Beruf und ihrem Stoffe nach einigen sollte in dem einen Heile, welches allen Völkern bestimmt ist. Das ist ein sehr kläglicher und niederschlagender Anblick, der wahrlich nicht dazu ermutigen wird, sich den Irrrgewinden theologischer Wissenschaft anzuvertrauen.” Im Jahre 1870 urteilte die Berliner, von Hengstenberg gegründete, von Tauscher fortgesetzte „Ev. Kirchenzeitung” vom Monat April: 518) „Wir müssen sagen, daß die gegenwärtige Zeit mit ihrer theologischen und kirchlichen Zerrissenheit zur Entwicklung der kirchlichen Lehre am wenigsten geeignet ist. Sind doch sogar die kirchlichsten (!) Theologen der
--------------------------
518) Zitiert in L. u. W., a. a. O., S. 70.
153 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 133-134]
Neuzeit, ein v. Hofmann, ein Thomasius, ein Hengstenberg sogar, mit ihren Versuchen, diese und jene Lehre der Kirche weiter zu entwickeln, so ziemlich — sit venia verbo — verunglückt.” Weiter unten heißt es: „Der in der Tat neue Anstoß, den die christliche Lehrentwicklung durch Schleiermacher erhalten hat, ist ebenso verderblich für die Lehre wie für das Leben geworden.”
Den ausführlichsten Nachweis, daß die von der modernen Theologie versuchte Lehrfortbildung nicht eine Fortbildung der christlichen Lehre, sondern einen Abfall von derselben darstellt, hat wohl D. Walther in einer Reihe von Artikeln geliefert, die sich unter der Überschrift „Was ist es um den Fortschritt der modernen lutherischen Theologie in der Lehre?” in drei Jahrgängen von „Lehre und Wehre” finden.519) Walther nennt die Theorie, wonach die Dogmen sich erst nach und nach bilden, „eine protestantisch maskierte Schwester des Romanismus” und eine Umbildung der Kirche „zu einer Philosophenschule, deren Arbeit es ist, die Wahrheit ewig zu suchen, während die Kirche nach Gottes Wort die ‘Hausehre’ ist, welcher die Wahrheit als ihr köstlichster Schatz, als ihre gute Beilage vertraut ist, daß sie sie bewahre durch den Heiligen Geist, 2 Tim. 1, 13. 14; 1 Tim. 6, 20”. Walther erinnert auch mit den alten lutherischen Theologen daran, daß die Kirche, geschichtlich betrachtet, nicht eine fortschreitende und aufwärts gerichtete Lehrentwicklung an sich wahrnehmen lasse, sondern vielmehr, was die öffentliche reine Lehre anlange, dem zunehmenden und abnehmenden Monde gleiche, „bald Zeiten sonderlicher Gnadenheimsuchungen, bald Eklipsen erfahre "520)
Wir weisen schließlich noch zurück auf das, was wir unter dem Abschnitt „Das Christentum als absolute Religion” gesagt haben.521) Fortbildungsversuche machen wir nur so lange und nur insofern, als wir die christliche Lehre noch nicht kennen. Nachdem wir sie und insofern wir sie durch Gottes Gnade im Glauben an Gottes Wort erkannt haben, stehen wir anbetend vor ihrer unveränderlichen göttlichen Größe. Bekanntlich ist das auch die Stellung der heiligen Engel den Dingen gegenüber, die uns die Apostel, durch den Heiligen Geist vom Himmel gesandt, verkündigt haben: εις α έπιϑνμοϋσιν άγγελοι παρακύψαι.522) Die „Repristinationstheologie” ist die einzige Theologie, die in der christlichen Kirche existenzberechtigt ist.523)
---------------------------------
519) Es sind dies die Jahrgänge 1875, 1876, 1878.
520) L. u. W. 1868, S. 136 f. 521) S. 36—42. 522) 1 Petr. 1,12.
523) Joh. 8, 31. 32; 17, 20; 1 Tim. 6, 3 ff.; Eph. 2, 20.
154 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 134-135]
18. Theologie und Lehrfreiheit. ^
Wie die Freiheit aller Christen darin besteht, daß sie vom eigenen Willen los und Gebundene oder Knechte Gottes geworden sind δουλωθέντες τώ ϑεφ),524) so besteht insonderheit die Lehrfreiheit der Lehrer der Kirche in ihrem völligen Gebundensein durch Gottes Wort. Diese Erklärung der Lehrfreiheit gibt Christus ausdrücklich in den Worten: „So ihr bleiben werdet an meiner Rede, so . . . werdet ihr die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch freimachen (ή αλήθεια ελευθερώσει υμάς).525) Sofern der Theologe das für christliche Lehre hält und ausgibt, was dem eigenen Ich oder dem Ich anderer Menschen entstammt, ist er der Menschenknechtschaft verfallen. Die Lehrfreiheit, die in unserer Zeit sonderlich für die Theologen gefordert worden ist und darin bestehen soll, daß der Theologe nicht durch das Wort der Heiligen Schrift gebunden sei (Buchstabenknechtschaft, unwürdiger Lehrzwang, gesetzlicher Geist usw.), ist die Freiheit des Fleisches, noch anders ausgedrückt: die Freiheit des „Übermenschen”, der über Gottes Wort und Willen erhaben zu sein meint.
Um zu erkennen, welche Abnormität in der allgemein geforderten Lehrfreiheit uns entgegentritt, achten wir noch auf die folgenden einzelnen Punkte:
1. Die christliche Kirche hat bis an den Jüngsten Tag nur einen Lehrer. Das ist Christus. Εις εστιν υμών δ διδάσκαλος, πάντες δε υμείς αδελφοί έστε .. . καθηγητής υμών Ιστιν εΐς δ Χρίστος.526) Was er, Christus, seinen Jüngern befohlen hat, sollen sie alle Völker bis ans Ende der Tage lehren.527) Obwohl Christus im Stande der Erhöhung nach seiner sichtbaren Gegenwart der Kirche entzogen ist, so ist und bleibt er doch auch im Stande der Erhöhung der einzige Lehrer seiner Kirche durch sein Wort, das er durch seine Apostel der Kirche gegeben hat und auf welches Wort er seine Kirche bis an den Jüngsten Tag verweist.528) So haben es auch die Apostel verstanden. Sie binden die Christen an ihre Lehre.529) Aber das tun sie, weil sie wissen, daß sie nur Christi Wort reden.530) So haben es auch nach der Apostel Zeit alle rechten Lehrer der Kirche verstanden. Luther: 531) „Will jemand predigen, so
------------------
524) Röm. 6, 22. 525) Joh. 8, 31. 32.
526) Matth. 23, 8.10. 527) Matth. 28,19. 20.
528) Joh. 8, 31. 32; 17, 20. 529) 2 Thess. 2,13; Gal. 1, 6—9.
530) 1 Kor. 14, 37; 2 Kor. 13, 3; 1 Tim. 6, 3.
531) St. L. XII, 1413.
155 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 135-136]
schweige er seiner Worte und lasse sie in weltlichem und Hausregiment gelten; allhier in der Kirche soll er nichts reden denn dieses reichen Hauswirts Wort; sonst ist es nicht die wahre Kirche. Darum soll es heißen: Gott redet.” Welche Abnormität liegt daher darin vor, wenn solche, die Lehrer in der Christenheit sein wollen, „Lehrfreiheit” für sich in Anspruch nehmen! Wer Lehrfreiheit fordert, stellt sich neben und eo ipso wider Christum. Daher heißen alle falschen Lehrer Antichristen, 1 Joh. 2, 18: Νυν αντίχριστοι πολλοί γεγόνααιν. Dieser Punkt ist ausführlich unter dem Abschnitt behandelt: „Christi Ausrichtung des prophetischen Amtes im Stande der Erhöhung.”532)
2. Die Christen haben in der Schrift den klaren und oft wiederholten Befehl, nur solche Prediger zu hören, die aus des HErrn Munde — das ist für unsere Zeit: aus der Heiligen Schrift — lehren und nicht aus dem eigenen Innern.533) Allen, die nicht Christi Lehre bringen, sollen sie den christlichen Brudergruß verweigern,534) sie für aufgeblasene Ignoranten halten535) und von ihnen weichen.536) Groß ist daher der Unverstand der Prediger, die keine Verpflichtung auf das Bekenntnis der christlichen Gemeinde wollen, mit der Begründung, daß dadurch ihre Lehrfreiheit ungehörig eingeschränkt werde. Schon die bloße Forderung der Lehrfreiheit bringt an den Tag, daß solche nicht wissen, was göttliche Ordnung ist in bezug auf die Lehre, die in der christlichen Kirche gelehrt werden soll. Noch größer aber ist der Unverstand der theologischen Professoren, wenn diese „Lehrfreiheit” als ein ihnen zukommendes Privilegium in Anspruch nehmen. Auf sie findet alles den Predigern Gesagte verschärfte Anwendung, weil sie die zukünftigen Prediger der Kirche heranbilden sollen. Der Einwand, daß ihnen als Vertretern der „theologischen Wissenschaft” Lehrfreiheit zukomme, ist nicht zutreffend, weil Christus sehr klar lehrt, daß alle Erkenntnis oder alles Wissen der christlichen Lehre sich nur durch das Bleiben an Christi Wort vermittelt. Schon die bloße Forderung der Lehrfreiheit seitens theologischer Lehrer stellt klar die Tatsache ins Licht, daß ihnen die Qualifikation für das theologische Lehramt abgeht.
Ein Blick in die Geschichte der Kirche zeigt uns die Tatsache, daß die sogenannte wissenschaftliche Theologie in den Landeskirchen der verschiedenen Länder schon ziemlich lange und ziemlich allgemein Lehrfreiheit genoß. Aber das ist auch eine Hauptursache des gegen-
--------------------
532) II. 400 ff. 533) Jer. 23,16. 31. 534) 2 Joh. 7—11.
535) 1 Tim. 6, 3 ff. 536) Röm. 16,17.
156 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 136-137]
wärtigen Chaos in diesen Kirchen. Doch auch unter freikirchlichen Verhältnissen, wie bei uns in den Vereinigten Staaten, ist der unchristlichen Forderung der „Lehrfreiheit” an kirchlichen Lehranstalten in weitem Umfange nachgegeben worden, selbst in lutherisch sich nennenden Kreisen. Auch an unsern Staatsuniversitäten, die naturgemäß keine theologische Fakultät haben, fordern Professoren dennoch Lehrfreiheit für ihre „religiösen Ansichten”.537)
Bekanntlich wird in neuerer Zeit allgemein behauptet, daß zwei Dinge sich nicht miteinander vertragen: das Gebundensein an Christi Wort und die dem Theologen notwendig zukommende „innere Freiheit”. Wenn dem Theologen zur Pflicht gemacht werde, sich an das Schriftwort schlechterdings gebunden zu erachten, so werde ihm das Schriftwort zu einem vom Himmel gesallenen Gesetzeskodex, zu einem papiernen Papst usw., und es liege in dieser Beziehung ein Rückzug auf den Katholizismus vor. Um dem „evangelischen” Geist des Protestantismus den unbedingt nötigen Spielraum zu gewähren, bleibe daher nur übrig, die Heilige Schrift als Quelle und Norm der Theologie fahren zu lassen und sich auf das „lebenswarme” und „lebendige” Ich des theologisierenden Subjekts zurückzuziehen. So argumentiert in wesentlicher Übereinstimmung die gesamte moderne Theologie vom äußersten linken bis zum äußersten rechten Flügel. Es ist gesagt worden, daß die rechte Theologie der Gegenwart von „der Saulsrüstung der alten Theologie”, namentlich von der Verbalinspiration der Schrift, loskommen müsse. Dann könne sie wie David „mit Gott über die Mauern springen”.538) Dagegen ist erstlich daran zu erinnern, daß — nach Christi maßgeblicher Ansicht — jene zwei Dinge sich nicht nur sehr gut miteinander vertragen, sondern daß auch das eine Ding, und zwar das Bleiben am Schriftwort, das einzige Mittel ist, wodurch es zur Erkenntnis der Wahrheit und zur theologischen Freiheit kommt. Das ist es, was uns Christus disertis verbis Joh. 8, 31. 32 einschärft: Έάν υμείς μείνητε έν τω λόγφ τω έμφ . . . γνώσεσθε την αλήθειαν, και η αλήθεια ελευθερώσει νμας. Zum andern weist Christus in demselben Zusammen-
--------------------------
537) Vgl. James H. Baker, American University Progress, 1916, unter dem Abschnitt "Academic Freedom”, S. 84 f.: "Problems may arise in discussion of . . . religious and political beliefs.” “The university is responsible for pioneer thought and must adhere to facts, and, like Huxley, let them lead where they will.” Die Verwaltungsbeamten haben ihre Pflicht erfüllt, "when they appoint able and fearless men to the faculties and attend to the business details of university management”.
538) Vgl. Theodor Kaftan, Moderne Theologie des alten Glaubens 2, S. 121.
157 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 137-138]
Hang auf die Tatsache hin, daß es zwei Klassen von Hörern, resp. Lesern seines Wortes gibt: solche, die sein Wort als Gottes Wort erkennen und willig annehmen, und solche, die sein Wort nicht als Gottes Wort erkennen, sondern für eine lästige „äußere Autorität” halten und dagegen rebellieren. Den Grund für diese ungleiche Stellung seinem Worte gegenüber gibt Christus mit den Worten an: „Wer aus Gott ist (ο ών έκ τον §εον). der höret Gottes Wort”,539) und im Bilde ausgedrückt: „Die Schafe folgen ihm [Christo] nach, denn sie kennen seine Stimme. Einem Fremden aber folgen sie nicht nach, sondern fliehen vor ihm, denn sie kennen der Fremden Stimme nicht.” 540) Von der andern Klasse sagt Christus, nämlich von den Juden, die sich gegen sein Wort als gegen eine unerträgliche „äußere Autorität” ablehnend verhielten: „Ihr höret nicht, denn ihr seid nicht von Gott” (έκ τον θεον ονκ έοτέ), und: „Ihr kennet meine Sprache nicht, denn ihr könnt ja mein Wort nicht hören.” 541) Kürzer ausgedrückt, sagt Christus: Gottes Kinder erkennen in Christi Wort Gottes Wort; die noch nicht Gottes Kinder sind, sind noch nicht in dem Zustande, in Christi Wort Gottes Wort erkennen und annehmen zu können. Deshalb ruft Christus den über sein Wort murrenden Juden gleichsam beschwichtigend zu: „Murret nicht untereinander! Es kann niemand zu mir kommen, es sei denn, daß ihn ziehe der Vater, der mich gesandt hat.” 542) Auf Grund dieser Belehrung Christi halten wir nicht dafür, daß wir einem Menschen, der noch außerhalb der christlichen Kirche steht, zuerst mit Vernunftgründen die göttliche Autorität der Schrift beweisen sollten, um ihn danach zur Erkenntnis seiner Sünden und zum Glauben an Christum, den Sündentilger, zu führen, sondern wir Predigen ihm, auch ohne die Schrift nur zu erwähnen, Buße und Vergebung der Sünden. Ist ein Mensch auf diese Weise — und es gibt keine andere Weise — ein Christ, ein Schäflein der Herde Christi, ein Kind Gottes geworden, dann erkennt er in dem Schriftwort Gottes Wort, gerade wie die Kinder Gottes unter den Juden Christi mündlich verkündigtes Wort als Gottes Wort erkannten und von Herzen annahmen. Ist, mit Ludwig Hofacker zu reden, das Kamel durch das Nadelöhr gegangen, ohne Bild ausgedrückt: ist ein Mensch auf dem Wege der vom Heiligen Geist gewirkten contritio und fides ein Christ geworden, dann läßt er auch solche Stellen der Schrift unkritisiert, die er noch nicht versteht, weil ihm die Wahrheit
------------------
539) Joh. 8, 47. 541) Joh. 8, 47. 43.
540) Joh. 10, 4. 5. 542) Joh. 6, 43.44.
158 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 138]
der ganzen Schrift durch die Autorität dessen gedeckt ist,543) den er im Glauben als seinen Gott und Erlöser anbetet. Das ist die Stellung zur Schrift, die Luther jedem Christen dringend empfiehlt: „Kannst du es nicht vernehmen, wie es [bei der Schöpfung der Welt] sechs Tage sind gewesen, so tu dem Heiligen Geist die Ehre, daß er gelehrter sei denn du. Denn du sollst also mit der Schrift handeln, daß du denkest, wie es Gott selbst rede.”544) Und das ist nicht eine des Christen unwürdige oder „unfreie” Unterwerfung unter eine „äußere Autorität”, sondern eine kindliche, willige, freie, herrliche Unterwerfung, die der Christ sein ganzes Leben hindurch in bezug auf Gottes Walten übt, sofern er dies Walten nicht versteht. Dieser Gegenstand wird wieder ausgenommen bei der Lehre von der Heiligen Schrift unter dem Abschnitt „Die göttliche Autorität der Heiligen Schrift”, speziell bei der Frage, wie die Heilige Schrift uns Menschen eine göttliche Autorität wird. Dort ist auch über den Nutzen und den Gebrauch solcher Argumente gehandelt, die menschlichen Glauben an die Göttlichkeit der Heiligen Schrift erzeugen können.
19. Theologie und System. ^
Auch das Wort System wird nicht immer in demselben Sinne gebraucht.545) Es ist daher herauszustellen, in welchem Sinne, und in welchem Sinne nicht, die Theologie ein System genannt werden könne.
Verstehen wir unter System ein in sich zusammenhängendes Ganzes, so ist die christliche Lehre ein System. Die christliche Lehre nämlich, die lediglich aus der Heiligen Schrift genommen wird, bildet ein in sich zusammenhängendes Ganzes in doppelter Hinsicht: 1. insofern als die Schrift ihrem Inhalt nach nicht differierende menschliche Lehrbegriffe (einen mosaischen, johanneischen, petrinischen, paulinischen usw. Lehrbegriff) vorlegt, sondern den einheitlichen Lehrbegriff Gottes (doctrinam divinam) darbietet, weil alle Schrift von Gott eingegeben und völlig irrtumslos
------------------------
543) Joh. 10, 35; 17,14.17.
544) Vorrede auf die Predigten über das erste Buch Mosis. St. L. III, 21.
545) Vgl. Bretschneider, Systematische Entwicklung 3, S. 39. Baier-Walther, Kompendium I, 76. Irgendein größeres Reallexikon, z. B. Center, Century Dictionary,, VII, 6142, unter “System”. Kliefoth, Der Schriftbeweis des Dr. I. Chr. K. von Hofmann. Schwerin 1859, S. 173—190. Nitzsch-Stephan, Ev. Dogmatik, S. 10 f. 18.
159 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 139]
ist; 546) 2. insofern als bei der lediglich aus der Heiligen Schrift geschöpften christlichen Lehre die Lehre von der Rechtfertigung διά της πίστεως χωρίς έργων νόμον so im Zentrum steht, daß alle andern Lehren entweder Voraussetzungen (articuli antecedentes) oder Folgen (articuli consequentes) der Lehre von der Rechtfertigung sind.547) Auch dieser Zusammenhang der christlichen Lehren ist nicht eine Konstruktion Luthers und der lutherischen Dogmatiker, sondern in der Heiligen Schrift gelehrt. Wenn Paulus einerseits sagt, daß er den ganzen Rat Gottes verkündigte,548) andererseits, daß er bei seiner Verkündigung nur den für die Sünden der Welt gekreuzigten Christum wußte,549) so lehrt er damit, daß die Vergebung der Sünden um des Versöhnungstodes Christi willen das Zentrum der ganzen christlichen Lehre ist. Ebenso bezeichnet Petrus die Vergebung der Sünden durch den Glauben an Christum als die Zentrallehre der ganzen Schrift Alten Testaments, wenn er sagt: „Von diesem [JEsu] zeugen alle Propheten, daß durch seinen Namen alle, die an ihn glauben, Vergebung der Sünden empfangen sollen.” 550) Der festgeschlossene innere Zusammenhang der christlichen Lehre tritt auch darin hervor, daß wir keinen Teil der christlichen Lehre andern können, ohne konsequenterweise das Ganze in Mitleidenschaft zu ziehen.551) Stellen wir z. B. in Frage, daß die Heilige Schrift Gottes eigenes unfehlbares Wort ist, so affiziert das den Charakter der ganzen christlichen Lehre. Was christliche Lehre sei, entscheidet dann nicht Gott in seinem Wort, sondern das theologisierende menschliche Ich. Wird die metaphysische Gottheit Christi geleugnet, so fällt damit die satisfactio vicaria hin,552) und wenn die satisfactio vicaria geleugnet wird, so gibt es keine Vergebung der Sünden durch den Glauben ohne des Gesetzes Werke, auch keine Gnadenmittel, die ex parte Dei die Vergebung der Sünden darbieten und ex parte hominis nur Glauben
-------------------
546) Vgl. die ausführliche Darlegung unter dem Abschnitt „Nähere Beschreibung der Theologie als Lehre”, S. 57 ff.
547) Vgl. die Kapitel „Die zentrale Stellung der Lehre von der Rechtfertigung” II, 617 ff.; „Die Voraussetzungen der Rechtfertigung durch den Glauben ohne Werke” II, 611 ff.; „Das Verhältnis zwischen Rechtfertigung und Heiligung im engeren Sinne” III, 6 ff.
548) Apost. 20, 27. 549) 1 Kor. 2, 2. 550) Apost. 10, 43.
551) Dies ist auch ausgesprochen Gal. 5, 9: μικρά ζύμη όλον τό φύραμα ζνμ.οΐ. Meyer z. St.: „in doktrineller Beziehung” gesagt. Besonders Luther z. St. St. L. IX, 642 ff.
552) Röm. 5,10; 8,32; 1 Joh. 1,7.
160 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 139-140]
fordern, keine christliche Kirche, die die Gemeinde der Gläubigen ist, keine Seligkeit, die durch den Glauben an Christum erlangt wird.553) Luther: In philosophia modicus error in principio in fine est maximus. Sic in theologia modicus error totam doctrinam evertit. ... Est enim doctrina instar-mathematici puncti; non potest igitur dividi, hoc est, neque ademptionem neque additionem ferre potest. . . . Debet igitur doctrina esse unus quidam perpetuus et rotundus aureus circulus, in quo nulla sit fissura. Ea accedente vel minima, circulus non est amplius integer.554) So entschieden lehrt Luther das festgeschlossene Ganze der christlichen Lehre und in diesem Sinne ein „System” der christlichen Lehre. Der festgeschlossene innere Zusammenhang der christlichen Lehre vom Zentrum der Rechtfertigungslehre aus liegt auch darin zutage, daß ohne den Artikel von der Rechtfertigung tatsächlich kein anderer Artikel der christlichen Lehre geglaubt wird. Es steht nicht so, daß man den Artikel z. B. von der Dreieinigkeit oder den von der Person Christi glauben und den von der Rechtfertigung nicht glauben könnte. Freilich, die fides humana an jene Artikel kann da sein, aber nicht die fides divina die der Heilige Geist wirkt. Denn der Heilige Geist hält ja erst mit dem Rechtfertigungsglauben Einzug in ein Menschenherz.555) Erst wenn ich durch Wirkung des Heiligen Geistes glaube, daß Gott mir um Christi satisfactio vicaria willen meine Sünden vergeben hat, glaube ich auch durch Wirkung des Heiligen Geistes, daß es einen Gott gibt, daß Gott dreieinig ist, daß Christus Gott und Mensch ist, daß es eine Auferstehung der Toten und ein ewiges Leben gibt usw. So sehr ist vom Artikel der Rechtfertigung aus die christliche Lehre unus quidam perpetuus et rotundus aureus circulus. Daß trotzdem bei uns der Ausdruck „System” zur Charakterisierung der christlichen Lehre nicht gerade beliebt ist, hat seinen Grund darin, daß die modernen Theologen die Theologie zumeist in dem Sinne ein System nennen, in welchem sie nicht ein System ist.
Versteht man nämlich unter „System” ein solches zusammenhängendes Ganzes, das unter Absetzung von dem tatsächlich Gegebenen aus einem obersten Grundsatz durch Denken abgeleitet oder entwickelt wird (spekulatives System), so ist die christliche Lehre kein System. Die Systembildung durch menschliches Denken ist nur
---------------------------
553) Die ausführliche Darlegung unter dem Abschnitt „Objektive und subjektive Versöhnung” II, 411 ff.
554) Ad Gal. Erl.. II. 334 sq.; St. L. IX, 644 f.
555) Gal. 3,1—3.
161 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 140-141]
auf dem Wissensgebiet möglich, das es nicht mit wirklich existierenden, sondern nur mit gedachten Dingen zu tun hat, wie dies bei der „reinen” Mathematik (im Unterschiede von der „angewandten” Mathematik) der Fall ist. Die spekulative Systembildung ist schon in ihrer Anwendung auf naturwissenschaftliche und geschichtliche Tatsachen nicht nur unwissenschaftlich, sondern geradezu unsinnig, weil ihr der Wahn zugrunde liegt, daß sich Tatsachen nach dem menschlichen Denken richten. Mit Recht ist der philosophische Idealismus eine Krankheit des menschlichen Geistes genannt worden, in der der Mensch sich einbildet, daß seine Gedanken (Ideen) Regel und Maß der Dinge seien. Edm. Hoppe bemerkte in der Zeitschrift „Der Alte Glaube”: „Die Natur” — und wir setzen analog hinzu: auch die Geschichte — „ist nicht so liebenswürdig, sich an das Schema des Lehrbuchs zu binden.” 556) Vollends ist in der Theologie jede menschliche oder spekulative Systembildung schlechthin ausgeschlossen, weil die christliche Lehre in der Schrift als eine göttliche Größe gegeben ist, an der menschliches Denken nichts andern kann noch soll. Hier ist jeder Zusatz und jeder Abzug ausdrücklich untersagt.557) Die Tätigkeit des Theologen besteht daher weder darin, die christliche Lehre aus einem obersten Grundsatz oder aus einer Tatsache, z.B. aus der Tatsache der Wiedergeburt, durch Denken zu entwickeln, noch auch darin, aus dem sogenannten „Ganzen der Schrift”, was ein logisches Monstrum ist, zu konstruieren, sondern lediglich darin, die christliche Lehre in allen ihren Teilen direkt den Schriftaussagen zu entnehmen, die von den betreffenden Lehren handeln (sedes doctrinae). Wenn wir so das, was die Schrift selbst über die einzelnen Lehren aussagt, an einen Ort zusammenstellen, haben wir das geordnete Wissen der christlichen Lehre, das in diesem Leben für uns Menschen erreichbar und nötig ist. Auch über den Zusammenhang der in der Schrift vorliegenden Lehren können wir selbstverständlich nur so viel lehren, als darüber in der Schrift gesagt ist. Bei dieser Methode bleiben Lücken für das menschliche Begreifen in diesem Leben. Als Beispiele hierfür wurden schon früher angeführt die Schriftlehren vom Seligwerden sola Dei gratia und vom Verlorengehen sola hominum culpa. Beide Lehren sind klar in der Schrift geoffenbart. Wer sie aber systematisieren, das heißt, zu einer Einheit im Sinne der menschlichen Vernunft
-----------------
556) Zitiert in L. u. W. 1907, S. 316.
557) Jos. 23, 6; Matth. 5, 17—19; Joh. 10, 35; 8, 31. 32; Gal. 1, 6—9.
162 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 141-142]
verbinden will, verdirbt entweder die eine oder die andere und wird entweder Calvinist oder Synergist. Die Versuche, die Schriftaussagen über die Dreieinigkeit auf eine vernunftgemäße Einheit zu bringen, haben einerseits zum Monarchianismus, andererseits zum Tritheismus geführt. Auch die Schriftaussagen über die Person Christi (verus Deus und verus homo) haben die meisten modernen Theologen „erkenntnismäßig” einheitlich gestalten wollen. Das Resultat ist, daß sie die „Zweinaturenlehre” verworfen und damit einen Standpunkt extra ecclesiam eingenommen haben. Wer die theologische Erkenntnis über die Schriftoffenbarung hinaus „einheitlich” gestalten will, bringt sich eo ipso um die Erkenntnis, die das Prädikat „theologisch” verdient. Um uns vor dieser Entgleisung zu bewahren, erinnert der Apostel die Theologen aller Zeiten an die Tatsache, daß die Gotteserkenntnis und daher auch unsere Gotteslehre in diesem Leben eine fragmentarische ist: Έκ μέρους γινώσκομεν και έκ μέρους προφητεύομεν. 558)
Dieses Thema, „Theologie und System”, erscheint uns so wichtig, daß wir einige bereits berührte Punkte noch etwas nachdrücklicher betonen.
1. Es gibt nur ein Buch in der Welt, das vollkommen und irrtumslos einheitlich ist, wiewohl seine Schreiber Menschen von verschiedenster Bildungsstufe und der erste und letzte Schreiber durch einen Zeitraum von etwa 1600 Jahren getrennt waren. Dieses Buch ist die Bibel. Die vollkommene irrtumslose Einheitlichkeit der Bibel ist darin begründet, daß sie durchweg von Gott eingegeben und einheitliche, unverbrüchliche Wahrheit ist. Dafür treten Christus und seine Apostel mit ihrer Autorität ein, und zwar sowohl hinsichtlich des Alten Testaments als auch hinsichtlich des Neuen Testaments.559)
2. Weil die moderne Theologie mit der Inspiration der Schrift die einheitliche Wahrheit derselben leugnet, so flüchtet sie zum Zweck der Erlangung eines „einheitlichen Ganzen” aus der angeblich nicht einheitlichen Schrift in das fromme Bewußtsein, das religiöse Erlebnis, das wiedergeborne Ich des menschlichen Subjekts. Aber diese Verlegung der Einheitsbasis leidet, etwas näher betrachtet, doch an einem Selbstwiderspruch. Trotz der Leugnung der irrtumslosen Einheit der Heiligen Schrift geben die modernen Theologen dennoch
----------------------
558) 1 Kor. 13, 9.
559) Joh. 10, 35; 2 Tim. 3, 16; 1 Petr. 1, 10. 11; 2 Petr. 1, 21; Joh. 17, 14. 17; 8, 31. 32.
163 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 142-143]
erstlich zu, daß dem frommen Ich oder dem religiösen Erlebnis auch nicht ganz zu trauen sei, sondern vielmehr die Möglichkeit der Selbsttäuschung vorliege. Ferner wird zugestanden, daß bei der Ichmethode sich eine schier unendliche Fülle von Verschiedenheiten ereignet habe und das Füllhorn der Verschiedenheiten sicherlich noch nicht leer sei. Aber noch mehr. Es wird weiterhin zugestanden, teils, daß die Heilige Schrift als eine „authentische Urkunde” der geschichtlichen Gottesoffenbarung zu werten sei, teils, daß die Zeit, in der die heiligen Schriften geschrieben wurden, der Gottesoffenbarung immerhin „näher” gestanden habe als wir, die Spätgebornen, im 19. und 20. Jahrhundert. Bei diesen Zugeständnissen legt sich entschieden der Gedanke nahe, daß es zum Zweck der Gewinnung einer „Einheit” doch wohl vernünftiger und sicherer wäre, bei der Schrift zu bleiben, als sich in das fromme Selbstbewußtsein des theologisierenden Subjekts zurückzuziehen, das sich möglicherweise selbst täuscht und das tatsächlich eine schier endlose Fülle von Verschiedenheiten aus sich herausgesetzt hat.
3. Wollen wir in die Selbsttäuschung und die Täuschung anderer, die mit dieser menschlichen Systembildung in der Theologie verbunden ist, nicht hineingezogen werden, so müssen wir durchaus festhalten, daß wir uns auf dem Gebiet der Theologie völlig auf dem Gebiet der gegebenen und feststehenden Tatsachen befinden, an denen kein menschliches Denken und also auch keine menschliche Systembildung auch nur das Geringste andern kann. Mit Recht ist auf die Analogie hingewiesen worden, die in dieser Beziehung zwischen der Naturwissenschaft und der Theologie besteht. Für die Naturwissenschaft sind die tatsächlich auf dem Gebiet der Natur gegebenen Dinge das „Wahrnehmungsgebiet” oder die „Wahrnehmungswelt”, wie es Passend ausgedrückt worden ist. Alles menschliche Wissen von natürlichen Dingen reicht immer nur so weit, als die Beobachtung und Erfahrung der vorliegenden Tatsachen reicht. Wenn der Naturforscher Pflanzen oder Tiere systematisch zusammenordnen will, so tut er das nicht, solange er wirklich wissenschaftlich verfährt, nach seinem von der Außenwelt unabhängigen Ich, das ist, nicht nach seinen eigenen Gedanken, wie die Pflanzen und Tiere beschaffen sein sollten, sondern er läßt die Zusammenordnung gänzlich von der gegebenen Beschaffenheit der außer ihm gelegenen Objekte abhängen. Mit andern Worten: Der wissenschaftlich arbeitende Naturforscher macht nicht oder konstruiert nicht sein System, sondern er nimmt Notiz davon und er erkennt es an, wo es und
164 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 143]
soweit es in den gegebenen Dingen tatsächlich ausgeprägt vorliegt. Wo die Vermutung, die Hypothese oder die Spekulation des Naturforschers anfängt, da hört die Naturwissenschaft auf. Um noch einmal an Hoppes Ausspruch zu erinnern: „Die Natur ist nicht so liebenswürdig, sich an das Schema des Lehrbuchs zu binden.” Man hat die Sache bei uns hierzulande auch so verdeutlicht, daß man zwischen einem Eisenbahnsystem und einem Gebirgssystem unterschieden hat. Ein Eisenbahnsystem können wir allerdings konstruieren, insofern es noch nicht existiert, sondern erst erbaut werden soll. Ein Gebirgssystem hingegen, weil es bereits unabhängig von unsern Gedanken existiert, können wir nicht konstruieren, sondern nur nach seiner gegebenen Beschaffenheit und nach dem bereits vorliegenden Verhältnis der einzelnen Gebirgsketten zueinander beschreiben. Dies findet nun seine Anwendung auf die Systembildung in der Theologie. Der Theologe und überhaupt jeder, der in der Kirche lehrend auftritt, hat es mit der gegebenen und unveränderlichen Tatsache des Wortes Gottes zu tun, das Christus seiner Kirche durch die Apostel und Propheten gegeben hat. Gottes Wort ist eine so unveränderliche und abgeschlossene Tatsache wie die Weltschöpfung. Wie wir Menschen die geschaffene Welt nicht andern können, sondern als eine abgeschlossene Tatsache gelten lassen müssen, so sind wir in der Kirche mit allem Lehren an Christi Wort gebunden. Christi Wort ist unsere „Wahrnehmungswelt”, und zwar unsere einzige „Wahrnehmungswelt”, so gewiß wir durch göttliche Ordnung gebunden sind, an Christi Wort zu bleiben, allein aus Gottes Munde und nicht aus dem eigenen Ich oder aus dem Ich anderer Menschen zu lehren.560) Was anderswoher stammt als aus Gottes Munde, das ist Stroh unter dem Weizen, nicht Wahrheitserkenntnis, sondern Einbildung, ein Produkt, das in Gottes Hause, in der christlichen Kirche, weder vorgetragen noch angehört werden soll. So steht fest, daß in der Theologie nicht der geringste Raum gelassen ist für die menschliche Spekulation oder, was auf dasselbe hinauskommt, für eine Systembildung zum Zweck der „erkenntnismäßigen” Erfassung der christlichen Wahrheit. Wo für unser beschränktes menschliches Erkennen Lücken auf unserm „Wahrnehmungsgebiet”, das ist, in dem geoffenbarten Wort Gottes, zutage treten, da hüten wir uns davor, die Lücken mit eigenen Gedanken auszufüllen. Da erinnern wir uns, wie bereits durch den Hinweis auf 1 Kor. 13, 9 dargelegt
-----------------
560) Joh. 8, 31. 32; Jer. 23,16.
165 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 143-144]
wurde, an die Tatsache, daß die fragmentarische Erkenntnis der geistlichen Dinge der für die Zeit dieses Lebens normale Zustand ist. — Und noch auf einen Punkt sollte in diesem Zusammenhang hingewiesen werden. Auch die modernen Theologen, die die Heilige Schrift als Quelle und Norm der Theologie aufgegeben und sich auf ihr Ich zurückgezogen haben, sollten selbst von ihrem Ichstandpunkt aus die Systembildung oder die Konstruktion eines einheitlichen Ganzen als unmöglich erkennen. Wer ein System im Sinne eines einheitlichen Ganzen konstruieren will, muß das Objekt, mit dem er es zu tun hat, durch und durch kennen oder mit seiner Erkenntnis vollkommen umspannen. Das Objekt der Theologie aber ist, wie doch auch die moderne Theologie zugibt, Gott, der Gott, den auch die natürliche Vernunft noch als den unendlichen und unbegreiflichen Gott erkennt. Darum sollte auch vom Standpunkt der Ichtheologie aus die einheitliche Systembildung als ein titanisches Unternehmen erkannt und — unterlassen werden.
4. Beachtenswertes über die Frage, in welchem Sinne und in welchem Sinne nicht die Theologie ein „System” genannt werden könne, hat seinerzeit Kliefoth in der Beurteilung der Hofmannschen Systembildung gesagt. Kliefoth schrieb:561) „Hofmann will, ausgehend von der zur einfachsten Selbstaussage gebrachten Tatsache seines Christentums, aus derselben in unverbrüchlicher Notwendigkeit und unter völligem Absehen nicht allein von der Kirchenlehre, sondern auch von der Schrift das Ganze christlicher Lehre herleiten; oder mit andern Worten: besagte Tatsache, indem sie sich selbst zur Aussage bringt, sich selbst entfalten lassen zum Ganzen christlicher Lehre, und zwar in unverbrüchlicher Notwendigkeit, und ohne daß von anderswoher etwas ausgenommen werde. So habe ich v. Hofmanns Intentionen verstanden und habe, daß ich ihn darin richtig verstanden, an seinen eigenen Äußerungen nachgewiesen. Nun gibt es zwei Weisen der systematischen Behandlung. Die erste geht bloß darauf aus, ihren Stoff seiner Natur gemäß zusammenzuordnen. Sie ist die auf empirische [tatsächlich gegebene oder vorliegende] Stoffe anwendliche. Daher besteht ihr Charakteristisches in zweierlei: Erstens muß sie immer vis-a-vis dieses ihres empirischen Stoffes arbeiten, sie kann diesen ihren empirischen
-----------------------
561) In der Kirchl. Zeitschr., herausgegeben von Kliefoth und Mejer, Jahrg. 6. Im Separatabdruck erschienen unter dem Titel „Der Schriftbeweis des D. von Hofmann”. Schwerin 1859, S. 174 ff.
166 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 144-145]
Stoff nur zusammenordnen, indem sie zugleich ihn empirisch erkennt. Zweitens kann solch Zusammenordnen empirischer Stoffe ein in sich geschlossenes Ganzes, ein System, nur dann ergeben, wenn dieser Stoff selbst in sich ein Ganzes ist. . . . Woraus wir denn auch zugleich sehen, daß solch System sich vor allem seine empirischen Quellen suchen und sich fortwährend an dieselben halten muß, sich nur Hand in Hand mit der empirischen Forschung erbauen und vor Abschluß dieser selbst nicht fertig werden kann.562) . . . Von ihr grundverschieden aber ist nun diejenige Weise von Systembildung, welche den spekulativen Philosophen aller Zeiten vorgeschwebt hat: sie wollten, ausgehend von irgendeinem Einfachsten, aus diesem Einfachsten unter Zurückweisung aller Empirie durch Selbstentfaltung jenes Einfachsten ein System von Erkenntnissen hervorgehen lassen der Hoffnung, die unverbrüchliche Notwendigkeit dieses Entfaltungsprozesses werde solchem System und seinen einzelnen Sätzen eine solche Richtigkeit und Gewißheit geben, daß es dann hinterher nicht allein mit allem, was die Empirie uns erkennen läßt, sich decken, sondern auch für das empirische Erkennen erst den rechten Schlüssel hergeben werde. ... Es bedarf nicht erst des Nachweises, daß diese grundsätzlich von der Empirie absehende spekulative Art von Systembildung ganz etwas anderes ist als jene bloß auf stoffentsprechende Zusammenordnung empirisch gewonnener Erkenntnisse ausgehende erste Art. Sehen wir nun beide auf ihr Verhältnis zu der Heilslehre an, so ist mir außer Zweifel, daß die spekulative Methode weder ganz noch halb anwendlich auf dieselbe ist, da Gott sein Heil geschichtlich in Wort und Werk offenbart hat, also auch will, daß es auf empirische Weise von uns erkannt werde. Dagegen ist ebenso gewiß und selbstverständlich, daß ich die erste empirische Art systematischer Behandlung für anwendlich auf die Heilslehre halte, ja, daß sie mir auf die Heilslehre mehr als auf irgend etwas anderes in der
----------------------------
562) Mit andern Worten und in Erinnerung an Edm. Hoppe: Die Natur, als etwas tatsächlich Gegebenes, ist nicht so liebenswürdig, sich nach dem Naturforscher zu richten, sondern der Naturforscher muß sich, solange er vernünftig bleibt, nach der Natur richten. Ebensowenig find die geschichtlichen Tatsachen so liebenswürdig, sich nach dem Geschichtschreiber zu richten, sondern der Geschichtschreiber muß sich, wenn er nicht in einen Romanschreiber ausarten will, nach den bezeugten geschichtlichen Tatsachen richten. Wo der Naturforscher und der Geschichtschreiber anfangen, zur Hypothese zu greifen oder „Exegese zu treiben”, da sollen sie das sagen, um so dem Publikum kenntlich zu machen, wo ihre — des Naturforschers und des Geschichtschreibers — Wissenschaft aufgehört habe.
167 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 145-146]
Welt anwendlich erscheint, weil die Worte und Werke Gottes zum Heil gewißlich in sich selbst ein harmonisches Ganzes sind. Wie denn auch alle christlichen Dogmatiker aller Zeiten von dieser Methode Gebrauch gemacht haben. Nur bestehe ich eben darum mit allen diesen Dogmatikern auch darauf, daß dann auch die Gesetze dieser Methode innegehalten werden sollen, daß die Bildung der christlichen systematischen Theologie nur vis-a-vis der ihr eignenden Empirie erfolgen dürfe. . . . Verglich ich nun hiermit v. Hofmanns Systemsforderungen, so lag in seinen eigenen Äußerungen zweifellos vor, daß ihm die empirische Art der systematischen Behandlung nicht wissenschaftlich genug dünkt, sondern daß er den Weg spekulativer Systembildung empfiehlt. Denn er sucht ein Einfachstes als Ausgangspunkt; das soll sich selbst entfalten, aus dem soll in unverbrüchlicher Notwendigkeit hergeleitet werden. Dabei soll von Schrift und Kirchenlehre abgesehen werden; aber was herauskommt, wird sich mit dem hinterher zu Vergleichenden decken. Von alledem, von diesen Kategorien von Notwendigkeit, Selbstentfaltung, Herleitung, weiß die empirische Art systematischer Behandlung nichts; aber die spekulative weiß nicht allein davon, sondern sie hat in ihnen ihr Wesen. ... Es ist nicht wahr, was Hofmann von sich selbst zeugt: seine Systematik ist nicht wesentlich dieselbe wie die Wissenschaftlichkeit des Augustinus; denn es handelt sich nicht um die Strenge oder die Nichtstrenge in den wissenschaftlichen Anforderungen, sondern es handelt sich um ein Herleiten und Sich-selbst-Entfaltenlassen mit Notwendigkeit und unter Absehen von der Schrift, wovon Augustinus usw. nicht ein Wort gewußt haben. Ebensowenig läßt seine Systematik sich als eine bloße Verschärfung der Methode früherer Dogmatiker fassen, sondern jene ist eine von dieser verschiedene Art; die früheren Dogmatiker haben die empirische Art der systematischen Behandlung, während v. Hofmann die spekulative will.”
5. Der Wunsch, Luther zum Protektor zu haben, hat die neueren systembildenden Theologen veranlaßt, dem Reformator der Kirche nachzusagen, daß er das Ganze der christlichen Lehre aus dem Artikel von der Rechtfertigung „genetisch entwickelt habe”. So schon Luthardt. Die „genetische Entwicklung” im Sinne Luthardts würde Luther allerdings unter die Systembauer einreihen. Luthardt sagt:563) „Wenn die Dogmatik die systematische Darstellung des christlichen Glaubens sein soll, so muß sie das Ganze der christlichen Lehre
------------------------
563) Kompendium der Dogmatik 11 S. 30.
168 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 146]
aus einer fundamentalen Einheit genetisch entwickeln, also nicht etwa bloß aus einem obersten Grundsatz ableiten, sondern den Tatbestand des Christentums selbst, wie er prinzipiell zusammengefaßt ist, auseinanderlegen. Als solches genetische Prinzip bezeichnet Luther den Artikel von der Glaubensgerechtigkeit: ‘In ihm hält uns David vor die Summa der ganzen christlichen Lehre und die Helle liebe Sonne, welche die christliche Gemeinde erleuchtet. Wenn dieser Artikel mit gewissem und festem Glauben gefaßt und behalten wird, so kommen und folgen die andern allmählich nach, als von der Dreieinigkeit usw.’ W. W. Erl. Ausg., Exeg. opp. Lat. XX, p. 193: Stante enim hac doctrina stat ecclesia etc. Comm, in ep. ad Gal. II, 23, ed. Irmischer. Locus igitur iustificationis, ut saepe moneo, diligenter discendus est. In eo enim comprehenduntur omnes alii fidei nostrae articuli, eoque salvo salvi sunt et reliqui. Aber die folgende Dogmatik führte diesen Gedanken nicht durch und bezeichnte nur die Schrift (im Gegensatz zum römischen Fundamentalartikel von der Infallibilität des Papstes; vgl. Gerhard, Conf. Cathol. I, 2, 1- p. 71) unicum principium cognoscendi, aus Welchem die Glaubenslehren nicht nur bewiesen, sondern entwickelt wurden.” Der hier von Luthardt behauptete Gegensatz zwischen Luther und „der folgenden Dogmatik” ist eine Fiktion. Was Luther von der zentralen Stellung der Rechtfertigungslehre sagt, daß nämlich dieser Artikel die Summa der ganzen christlichen Lehre enthält, über alle andern Lehren das rechte Licht wirft und dem Eindringen von Irrrtümern in allen andern Lehren wehrt usw., das findet sich auch bei den lutherischen Dogmatikern, indem sie z.B. alle andern Lehren in ihrem Verhältnis zu dem Artikel von der Rechtfertigung als articuli antecedentes und consequentes beschreiben.564) Und was Luthardt den Dogmatikern im Unterschied von Luther zuschreibt, daß ihnen die Schrift unicum principium cognoscendi war, woraus die Glaubenslehren nicht nur zu normieren, sondern auch direkt zu entnehmen seien, das findet sich auch durchweg und noch gewaltiger bei Luther. Luther kennt schlechterdings keine Konstruktionsmethode in der Theologie, auch keine Konstruktion der Glaubenslehren aus dem Zentralartikel von der Rechtfertigung unter Absehung von dem Schriftwort. Das sagt Luther nicht nur an den zahlreichen Stellen, in denen er jeden „schriftlosen” Gedanken verwirft und jedem
--------------------------
564) Quenstedt, Systema I, 352 sqq., die Thesen 6. 7. 8.
169 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 147]
Theologen rät, sich alle Gedanken, die ihm „ohne Schrift” in irgendeiner Lehre eingefallen sind, sich möglichst schnell wieder ausfallen zu lassen, sondern das sagt er gerade auch dort, wo er die christliche Lehre mit einer „goldenen Kette” und mit einem „geschlossenen Ringe” vergleicht. Dieser Beschreibung der christlichen Lehre bei Luther liegt stets die Voraussetzung zugrunde, daß jedes einzelne Glied der „goldenen Kette” direkt durch das Schriftwort gegeben ist. Luther setzt nämlich hinzu, daß jeder, der irgendeinen Artikel der christlichen Lehre leugne, damit Gott in seinem Wort leugne und zum Lügner mache. Luther schreibt:565) „Gewiß ist's, wer einen Artikel nicht recht glaubt oder nicht will (nachdem er vermahnet und unterrichtet ist), der glaubt gewißlich keinen mit Ernst und rechtem Glauben. Und wer so kühn ist, daß er darf Gott leugnen oder Lügen strafen in einem Wort [der Schrift], und tut solches mutwilliglich Wider und über das, so er eins oder zweimal vermahnet oder unterweiset ist, der darf auch (tut's auch gewißlich) Gott in allen seinen Worten leugnen und Lügen strafen. Darum heißt's, rund und rein, ganz und alles geglaubt oder nichts geglaubt. Der Heilige Geist (des die ganze Schrift ist, III, 1890) läßt sich nicht trennen noch teilen, daß er ein Stück sollte wahrhaftig und das andere falsch lehren oder glauben lassen. Ohne wo Schwache sind, die bereit sind, sich unterrichten zu lassen und nicht halsstarriglich zu widersprechen.” Luther kannte genau auch die Hofmannsche Konstruktionsmethode, deren Eigentümlichkeit, wie wir gesehen haben, darin besteht, erst die Lehre unter sorgfältiger Beiseitelegung der Heiligen Schrift aus dem eigenen Innern zu konstruieren, um dann nachträglich das Ich-produkt in der Schrift aufzusuchen und nach der Schrift zurechtzustellen. So muteten auch reformierte Sakramentsschwärmer im Streit um die Abendmahlslehre Luther die theologische Methode zu, die Schriftworte vom Abendmahl zunächst ganz aus den Augen zu tun, die Abendmahlslehre aus dem „Glauben” zu nehmen und danach dann die Schriftworte vom Abendmahl „auszulegen”. Luther äußert sich etwas kräftig über diese Konstruktionsmethode. Er sagt: 566) „Es ist der Übermut des leidigen Teufels, der unser spottet durch solche Schwärmer in dieser großen Sache, daß er vorgibt, er wolle sich mit der Schrift weisen lassen so ferne, daß er die Schrift zuvor aus dem Wege tue.” Luther seinerseits besteht darauf,
--------------------------------
565) St. L. XX, 1781. 566) St. L. XX, 780. 782.
170 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 147-148]
daß die Schwärmer die Abendmahlslehre nicht aus dem „Glauben” konstruieren, sondern sie in den Schriftworten, die vom Abendmahl handeln, ausgedrückt aufzeigen. „So ist das die Summa davon, daß wir die Helle, dürre Schrift für uns haben, die also lautet: ‘Nehmet, esset; das ist mein Leib.’.” So sollen auch der Zwingel und der Ökolampad „Schrift aufbringen, die also laute: ‘Das bedeutet meinen Leib’ oder: ‘Das ist meines Leibes Zeichen.’” So gänzlich fern liegt Luther alle Lehrkonstruktion unter Beiseitesetzung der Schriftworte, die von den einzelnen Lehren handeln. Luthers gewaltige „Predigt von der Christen Harnisch und Waffen” 567) ist dem Hauptgedanken nach eine Warnung vor jeder Lehrkonstruktion, nämlich eine Warnung vor einem „Glauben”, der nicht in allen Teilen auf dem ausgedrückten Schriftwort ruht. „Wir haben die Artikel unsers Glaubens in der Schrift genugsam gegründet, da halte dich an und laß dir es nicht mit Glossen drehen und nach der Vernunft deuten, wie sich's reime oder nicht.” Auf den Einwand, daß nicht eine Einheit, sondern Widersprüche herauskommen möchten, wenn man sich lediglich an die Schriftworte halte, antwortet Luther: „Die Schrift wird nicht Wider sich selbst noch einigen Artikel des Glaubens sein, ob es wohl in deinem Kopf widereinander ist und sich nicht reimt.” Kurz, nach Luther kommt der christlichen Lehre freilich „Einheit” zu, aber nicht eine Einheit „im Kopfe” des dogmatisierenden menschlichen Subjekts, nach der Konstruktionsmethode, sondern eine Einheit, die darin begründet ist, daß die christliche Lehre in allen ihren Teilen direkt aus der Schrift genommen wird, die Gottes Wort und deshalb nicht wider sich selbst, sondern völlig einheitlich ist. „Das hat den guten Mann Ökolampad betrogen, daß Schrift, so (in seinem Kopfs widereinander sind, freilich müssen vertragen werden und ein Teil einen Verstand nehmen, der sich mit dem andern leidet. . . . Wenn sie aber sich bedächten zuvor und sähen zu, wie sie nichts reden wollten denn Gottes Wort, wie St. Petrus lehrt, und ließen ihr Sagen und Setzen daheim, so richteten sie nicht so viel Unglücks an.”568)
6. Es sollte noch erwähnt werden, daß die Systembildung, welche auf eine „lückenlose”, „widerspruchslose” Einheit oder auf ein festgeschlossenes „logisches Ganzes” eingestellt ist, auch in der Gegenwart scharfe Kritik erfahren hat. Es ist gesagt worden, daß die ganze
----------------------------
567) St. L. IX, 810 ff. 568) St. L. XX, 798.
171 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 148-149]
Systembildung, die von dem „Reformator der Kirche des 19. Jahrhunderts”, von Schleiermacher, der Theologie des 19. Jahrhunderts eingeimpft worden ist, genau besehen, ein Taschenspielerkunststück darstelle. Jene auf der Linie Schleiermacher-Hofmann-Frank usw. gelegene Systembildung komme tatsächlich darauf hinaus, das Unbegreifliche, das nun einmal von der christlichen Religion nicht getrennt werden könne, entweder ganz zu streichen oder doch zu vermindern, um auf diese Weise den christlichen Glauben einem ungläubigen Geschlecht annehmbar zu machen. Jene allgemein bewunderte Systembildung ist auch mit dem Prokrustesbett verglichen worden. Dagegen haben nun auch moderne Theologen zur notwendigen Rettung des Unbegreiflichen im Christentum eine andere Weise empfohlen. Es müsse als Tatsache anerkannt werden, daß alles, was der Glaube in diesem Äon in bezug auf die christliche Lehre aussage, notwendig in der Form des „Irrationalen” oder des „Paradoxons” verlaufe. Das klingt gut und scheint mit 1 Kor. 13,9 im Einklang zu stehen: „Unser Wissen (in diesem Lebens ist Stückwerk, und unser Weissagen ist Stückwerk.” Aber solange die Vertreter der Theologie des „Irrationalen” nicht zur Heiligen Schrift als Gottes Wort und als der einzigen Quelle und Norm der Theologie zurückkehren, bestimmen sie das „Irrationale” oder das Überrationale, das sich im Christentum findet, nicht aus der Schrift, sondern aus dem Ich des theologisierenden Subjekts. Es liegt daher nur eine anders benannte Form der menschlichen Systembildung vor. Der Subjektivismus ist nicht überwunden, sondern bleibt prinzipiell in Geltung. Das „christliche Ich” bleibt bei der Methode, sich um die eigene Achse zu drehen. Und wir wollen nicht vergessen, daß dies der Fall ist bei jeder Form des Subjektivismus. Solange wir an die Stelle der sola gratia die Selbstbestimmung, die Selbstsetzung, die Selbstentscheidung, das menschliche Verhalten, die facultas se applicandi ad gratiam usw. setzen, und ferner: solange wir an die Stelle der sola Scriptura das „fromme” Selbstbewußtsein, das religiöse Erlebnis, das religiöse Erkennen, den „Glauben” usw. des theologisierenden Subjekts setzen, so lange bleiben wir — auf den wissenschaftlichen Charakter unsers Verfahrens gesehen — in dem großen Reigen derer, die sich, wie gesagt, ον κατ επίγνωσιν um die eigene Achse bewegen. Und das Resultat dieser Zirkelbewegung um das eigene Ich ist Heilsungewißheit und Wahrheitsungewißheit. Daher der
172 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 149-150]
Kampf Luthers um die sola gratia und um die sola Scriptura sowohl Rom als dem reformierten Schwärmertum gegenüber. Daher die Warnung der Konkordienformel, den Christenstand durch irgend etwas, was im Menschen selbst gelegen ist (durch „aliquid in homine”) zu fundamentieren. Daher auch unser eigener heißer Kampf hier in den Vereinigten Staaten gegen die Ichtheologie der reformierten Sekten und gegen die Ichtheologie des Synergismus, der sogar unter lutherischem Namen Existenzberechtigung forderte und noch fordert. Christliche Heilsgewißheit und christliche Wahrheitsgewißheit ist nur möglich, wenn wir mit Luther aus unserm Ich heraus „über uns” fahren oder — was dasselbe ist — einen Standpunkt außerhalb der Welt einnehmen. Das geschieht über allein dadurch, daß wir in Übereinstimmung mit der von Christo festgestellten Ordnung durch den Glauben an seinem (Christi) Wort bleiben, das wir im Wort seiner Apostel und Propheten, in der Heiligen Schrift, haben.
20. Theologie und Methode. ^
Hat die Frage nach der „dogmatischen Methode” den Sinn, woher der Theologe die christliche Lehre zu nehmen habe oder welches das der Theologie eigentümliche principium cognoscendi sei, so geht aus dem Dargelegten bereits hervor, daß jede Methode, wie sie sich auch nennen mag, zu verwerfen ist, die neben die Schrift noch ein anderes Erkenntnisprinzip stellt, sei es die Kirchenlehre oder das „Glaubensbewußtsein” des Theologen oder irgendein anderes außerhalb der Schrift (extra Scripturam) gelegenes Prinzip. Was hier über „Methode” noch zu sagen ist, betrifft vornehmlich die Frage, in welcher äußeren Gruppierung oder Reihenfolge die in der Schrift vorliegenden Lehren zum Zweck des Unterrichts (docendi causa) zur Darstellung kommen können oder sollen. Wir hätten diesen Abschnitt auch „Theologie und die äußere Ordnung der einzelnen Schriftlehren” überschreiben können. Wir behalten aber den Ausdruck „Methode” bei, weil es Sitte war und noch ist, namentlich von synthetischer und analytischer Methode zu reden, und im Anschluß hieran über die Wichtigkeit, resp. Unwichtigkeit der Gruppierung der Lehren (innerhalb eines corpus doctrinae) das Nötige gesagt werden kann.
Unter den alten lutherischen Theologen treten die einen für die synthetische, andere für die analytische Methode ein. Während
173 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 150]
Flacius meint: Theologia per synthesin commodissime traditur,569) sagt Baier ziemlich bestimmt: Partes theologiae revelatae iuxta ordinem analyticum collocandae sunt570) In allgemeiner Beschreibung versteht man unter synthetischer Methode die Anordnung der Gedanken oder des zu behandelnden Stoffes, wobei wir von den Ursachen zu den Wirkungen fortschreiten oder aus den gegebenen Bestandteilen das Ganze zusammensetzen.571) Die analytische Methode befolgt die entgegengesetzte Ordnung. Sie geht von den Wirkungen auf die Ursachen zurück oder sie sucht aus einem besondern Teil, z.B. dem Endzweck (finis), das Ganze abzuleiten.”572)
Auf die Theologie angewandt, handelt die synthetische Methode zuerst von Gott als dem Ursprung, wie aller Dinge, so auch der Seligkeit des Menschen, dann von den Ursachen und Mitteln, durch welche der sündig gewordene Mensch zur Seligkeit geführt wird, und schließlich von den letzten Dingen, abschließend mit der ewigen Seligkeit. Nach der analytischen Methode wird zuerst von den letzten Dingen, also von der Seligkeit des Menschen, gehandelt, um von dort aus nach Betrachtung des Menschen, der zur Seligkeit geführt werden soll, auf die Ursachen und Mittel (Patris gratiosa voluntas, Filii redemptio, Spiritus Sancti gratia applicatrix, media gratiae etc.) zurückzugehen. Die späteren Theologen meinen, die analytische Methode befolgen zu sollen, weil die Theologie eine praktische Tüchtigkeit sei, in der man zuerst das Ziel (finis: Seligkeit) erkennen müsse, um darauf den Gegenstand, an dem das Ziel erreicht werden soll (subiectum operationis, den Menschen) zu untersuchen und endlich mit der Erwägung der Ursachen und Mittel, durch welche der Endzweck an dem subiectum operationis erreicht wird, zu schließen.573)
Die synthetische Methode befolgen im allgemeinen die Dogmatiker von Melanchthon an bis Gerhard inklusive, also, um die Haupt-
--------------------
569) Clavis Scripturae, 5. Ausg., vom Jahre 1674, II, 56. Flacius fügt auch eine Tabelle bei, welche zeigt, wie die einzelnen Lehren nach den verschiedenen Methoden zu stehen kommen.
570) Compendium I, 76.
571) Flacius, Clavis, Ausg. Jena 1674, p. 58.
572) Flacius, a. a. O. Baier-Walther I, 29.
573) Quenstedt I, 25.
174 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 150-151]
Vertreter dieser Periode zu nennen: Melanchthon,574) Chemnitz,575) Hutter,576) Gerhard.577) Auch der dänische Theologe Brochmand gehört hierher.578)
Die analytische Methode finden wir bei den Dogmatikern etwas vor und dann nach der Mitte des 17. Jahrhunderts: bei Dann-
------------------
574) Loci Communes Rerum Theologicarum seu Hypotyposes Theologiae, 1521. Wie in späteren Ausgaben (1535, 1543, besonders 1548) die sola gratia ausgegeben und Melanchthon der Vater des Synergismus und Majorismus in der lutherischen Kirche geworden ist, ist genau dargelegt von F. Bente in der Concordia Triglotta, “Historical Introductions to the Symbolical Books”, S. 128 ff. [Ed.- see here, # 154. The Father of Synergism]
575) Loci Theologici, . . . quibus.et Loci Communes D. Philippi Melanchthonis perspicue explicantur et quasi integrum Christianae doctrinae corpus ecclesiae Dei sincere proponitur. Nach Chemnitz' Tode (1586) herausgegeben von Polykarp Leyser, 1591. Chemnitz' Loci sind nicht nur als Erweiterung, sondern auch als Korrektur der späteren Ausgaben von Melanchthons Loci gemeint. Doch war Chemnitz selbst mit seinen Loci nicht ganz zufrieden, sondern dachte an eine Neubearbeitung, zu der er aber nicht mehr Zeit und Kraft fand. Chemnitz' theologische Meisterschaft kommt zur vollen Geltung in seinem Examen Concilii Tridentini und in seiner Schrift De Duabus Naturis in Christo, 1571.
576) Loci Communes Theologici ex sacris literis diligenter eruti, veterum patrum testimoniis roborati et conformati ad methodum locorum Phil. Melanchthonis, 1619. Also ebenfalls eine Art Kommentar zu Melanchthons Loci und ebenfalls erst nach seinem Tode (1616) von der Wittenberger Fakultät herausgegeben (1619). Hutter nennt Melanchthon magnum illum Germaniae nostrae Phoenicem, virum undiquaque doctissimum deque re literaria universa praeclarissime meritum. Zugleich weist Hutter auf des späteren Melanchthon traurigen (tristis) Abfall von der reinen Lehre hin, aber nicht ohne die Bemerkung hinzuzufügen: Haud tamen dubitamus, quin sub finem vitae seria acta poenitentia huius etiam peccati veniam a Christo et petiverit et impetrarit. Hutters Loci bieten den Studenten der Theologie ausführlich, was in seinem Compendium Locorum Theologicorum für Gymnasien kurz zusammengefaßt ist.
577) Loci Theologici cum pro adstruenda veritate, tum pro destruenda quorumvis contradicentium falsitate. 1610—1621 in 9 Bänden; Nachtrag 1625. Ausgabe von Cotta (1762—1781) in 20 Bänden, mit zwei Registerbänden von G. H. Müller, 1787. 1789. Ausgabe von Ed. Preuß (Berlin 1863—1865, Leipzig 1875) in 9 Bänden, mit einem Registerband von Löbe nach G. H. Müller, Leipzig 1885.
578) Universae Theologiae Systema, 1633; in 6. Aufl. 1658 in Ulm erschienen. Walch lobt mit Recht dies Werk (Bibliotheca Theol. I, 67). Seine Ausstellung: quamvis haud diffitear, casus conscientiae haud apte ad theologiam dogmaticam relatos esse, ist unberechtigt, weil bei einer ausführlichen Darstellung der christlichen Lehre die Beantwortung von Gewissensfragen ganz in der Ordnung ist.
175 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 151]
hauer,579) Friedrich König,580) Calov,581) Quenstedt,582) Baier,583) Hollaz.584) Doch finden wir bei den Liebhabern der analytischen
----------------------------
579) Hodosophia Christiana, 1649. Dannhauer stellt in Bildern, die aus der Schrift genommen sind, die christliche Lehre in 12 Phaenomena dar: Der Mensch ein Wanderer, die Schrift das Licht, die Kirche der Leuchter, Gott das Ziel usw. Die beste Ausgabe ist die von 1713.
580) Theologia Positiva Acroamatica, 1664. Kurzer Leitfaden für theologische Vorlesungen, der auch Quenstedts Systema zugrunde liegt.
581) Systema Locorum Theologicorum, 1655—1677, in 12 Bänden. Sorgfältig sind die ersten, weniger sorgfältig die letzten Bände gearbeitet. Calov ist der scharfsinnigste Theologe des 17. Jahrhunderts. Auch ist er Schrifttheologe, was Buddeus an ihm rühmt (Isagoge Hist. Theol., 1730, S. 357). Noch heute ist ein klassisch-exegetisches Werk Calovs Biblia Illustrata. Calov wird von Tholuck gehässig und ungerecht beurteilt und geradezu geschmäht (RE.1 II, 506). Gerechtere Beurteilung Calovs in RE.3, S. 653 f., von J. Kunze.
582) Theologia Didactico-polemica sive Systema Theologiae, 1686, 1696, 1702, 1716. Von Tholuck „der Buchhalter und Schriftführer” der orthodoxen Theologie genannt (RE.1 XII, 421). Das Urteil trifft sachlich nicht zu, weil Quenstedt mit eigenem Urteil gearbeitet hat. Um über Quenstedt urteilen zu können, muß man ihn gelesen und mit andern Dogmatikern verglichen haben. Auch Walchs Urteil (Bibliotheca Theol. I, 68), von Quenstedt seien meritissimi ecclesiae nostrae doctores ob leviorem dissensum unter die Gegner gerechnet worden, ist ungerecht. Der Synergismus der Helmstedter und des Musäus ist nicht levior dissensus. Walch ist Indifferentst und hat außerdem zu viel geschrieben. Selbst Tholuck, obwohl er hämische Bemerkungen nicht ganz unterdrücken kann, beschreibt Quenstedt als einen anspruchslosen, frommen Charakter ohne „bittere Leidenschaftlichkeit” (RET XII, 422). Daß Quenstedt aus den Schriftbeweis viel Sorgfalt verwandt habe, erkennt auch Walch an (a. a. O.).
583) Compendium Theologiae Positivae, 1686 u. oft. Baier ist von Musäus', seines Schwiegervaters, synergistischem Standpunkt infiziert. Die St. Louiser Ausgabe, 1879, ist nicht ein bloßer Abdruck von Baiers Kompendium, sondern durch eingereihte Zitate so erweitert, daß sie drei Bände (im ganzen 1332 Seiten Großoktav) umfaßt. In den eingereihten Zitaten kommen nicht nur Luther und die alten Theologen, sondern auch die neueren Theologen des 19. Jahrhunderts reichlich zu Worte, so daß den Studierenden ein Quellenmaterial geboten ist, wodurch ihnen sowohl über die alte als über die moderne Theologie ein Urteil ermöglicht wird. Prof. Th. Bünger hat zu dieser Waltherschen Ausgabe ein Sach- und Namenregister geliefert, das mit vorzüglichem Fleiß und großer Sachkenntnis gearbeitet ist.
584) Examen Theologicum Acroamaticum, 1707. „Der letzte genuin lutherische Dogmatiker.” Hollaz hat nicht bloß abgeschrieben, sondern bietet in eigener Darstellung, was von Luther an bis auf seine Zeit innerhalb der lutherischen Kirche von ihren Vertretern gelehrt worden ist. Nach der analytischen Methode bringt er die Lehre von der ewigen Seligkeit schon im ersten Teil und schließt im vierten Teil mit der Lehre von der Kirche, vom Predigtamt, von der weltlichen Obrigkeit und vom Hausstand. Mit Recht wird auch Hollaz nachgerühmt, daß er einen sorgfäl-
176 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 152]
Methode bedeutende Verschiedenheiten in der Stellung einzelner Lehren. Baier z.B. behandelt die letzten Dinge: Tod, Auferstehung, Jüngstes Gericht und Weltuntergang, vor der Lehre von der Sünde und der Erlösung durch Christum (nämlich im unmittelbaren Anschluß an den finis theologiae ex parte hominis, die Seligkeit). Quenstedt hingegen stellt die genannten Lehren ganz an das Ende seiner Dogmatik.
Was das Urteil über die synthetische und analytische und iede andere Methode betrifft, so sollte nicht vergessen werden, daß die äußere Anordnung der einzelnen Lehren von untergeordneter Bedeutung ist, solange der Inhalt der Lehren nicht gefälscht wird. In der Theologie kommt, wie auch Rudelbach richtig bemerkt hat,585) alles darauf an, daß der Begriff der göttlichen Offenbarung durchweg festgehalten wird, das heißt, daß alle Lehren lediglich aus der Schrift genommen und nicht irgendwie in Befolgung der Methode des Prokrustes nach der Ansicht oder dem „Glauben” des theologisierenden Subjekts zurechtgeschnitten werden. In der Theologie ist jede Methode zu verwerfen, die unter Absetzung von dem Schriftwort irgend etwas erfinden will, mag die Methode sich synthetisch oder analytisch, wissenschaftlich oder praktisch oder sonstwie nennen. In der Theologie gibt es nichts zu erfinden, weder was den Inhalt noch was den Zusammenhang der Lehren betrifft. Daher ist der Theologie immer nur eine solche Methode angemessen, die sich prinzipiell darauf beschränkt, das durch die Offenbarung der Schrift bereits Vorhandene zusammenzuordnen. Dies geschieht bei der sogenannten Lokalmethode, nach welcher an einen Ort zusammengestellt wird (daher die einzelnen Lehren passend loci genannt
--------------------------
tigen Schriftbeweis führe (Krakewitz in der Vorrede zur editio tertia. Unhistorisch werden Hollaz Eigentümlichkeiten zugeschrieben, die ihm nicht zukommen, z. B. die Erklärung über die theologia irregenitorum (Wagenmann, RE.2 VI, 266 f.). Daß nur ein Wiedergeborner im eigentlichen Sinne des Worts ein Theologe genannt werden könne, ist reichlich von Luther an auch von den „Orthodoxen” gelehrt worden, wie Hollaz selbst nachweist (Proleg. I, qu. 18—21). Hases Bemerkung (Hutterus Red.10, S. 44), Hollaz erkenne das „religiöse Moment” nur an, „indem er es hintennach bringt in frommen Stoßseufzern”, erklärt sich teils aus Hases außerchristlichem Standpunkt, teils aus seiner übeln Gewohnheit, witzig klingende Schlagworte zu prägen, womit er viel Unheil unter der studierenden Jugend in der Kirche des 19. Jahrhunderts angerichtet hat. Auch die meisten Neueren beurteilen Hollaz ganz anders. Vgl. Wagenmann (a. a. O.).
585) Zeitschrift für luth. Theol. u. Kirche, 1857, S. 382. Zitiert in Baier-Walther I, 77.
177 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 152-153]
werden), was über eine bestimmte Lehre in der ganzen Schrift geoffenbart vorliegt. Und dies ist der Grundgedanke der synthetischen Methode. Neuere Theologen sagen den Dogmatikern, die die Lokalmethode befolgen, nach, daß sie den dogmatischen Stoff in Stücke zerschnitten und den gliedlichen Zusammenhang sowie den Fortschritt des Systems nicht zur Anschauung gebracht haben.586) Hingegen lassen sie die von den späteren Theologen befolgte analytische Methode als die mehr der Wissenschaft entsprechende gelten. Dorner sagt: „Georg Calixt hat die analytische Methode aufgestellt, die bald Anklang, auch bei seinen Gegnern, wie Calov, Dannhauer und Hülsemann, fand. Sie [die analytische Methode] sucht aus einer obersten Wahrheit, dem höchsten Gut des sterblichen Menschen, die einzelnen dogmatischen Sätze als Glieder und Vermittlungen des obersten Zweckes abzuleiten. Dieser oberste Zweck ist die Seligkeit des Menschen im Genüsse Gottes.”587) Es muß zugegeben werden, daß die analytische Methode formell mehr den Forderungen der modernen Theologie entspricht, die ja ihren wissenschaftlichen Charakter darin sieht, daß die christliche Lehre nicht aus der Heiligen Schrift genommen, sondern aus dem Ich des Theologen entwickelt wird. So erweckt die analytische Methode, auf die Theologie angewandt, allerdings den Schein, als ob sie, anstatt allein aus der Schrift zu schöpfen, die christlichen Lehren durch Vernunftschlüsse aus dem Endzweck ableiten, also finden wollte. Walther pflegte in Vorlesungen zu sagen: „Die analytische Methode sucht die Sache gleichsam zu finden. Wir können aber in der Theologie nicht aus dem Zweck die Mittel erschließen.” Zur Ehrenrettung der späteren Theologen ist jedoch zu sagen, daß sie die analytische Methode zumeist nur äußerlich befolgen, das heißt, diese Methode nur zur äußerlichen Gruppierung der Lehren verwenden, tatsächlich aber bei der Darlegung der einzelnen Lehren das Schriftprinzip festhalten. Wie dies Baier (I, 79) ausdrücklich betont: Finis cognitio ex revelatione divina petita natura prior est cognitione mediorum itidem ex divina revelatione petita. Kirn will daher auch unter den „altprotestantischen” Dogmatikern, weil sie das Schriftprinzip festhalten, keinen Unterschied gelten lassen. Er sagt: „Die altprotestantische Dogmatik verfährt trotz der wechselnden Bevorzugung der synthetischen und analytischen Anordnung nach einer
------------------------------
586 So Dorner, Geschichte der protestantischen Theologie, S. 531.
587) A. a. O.
178 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 153-154]
im wesentlichen einheitlichen Methode. Diese läßt sich kurz als die Methode der formalen [?] Schriftautorität bezeichnen. Sie besteht darin, daß die einzelnen biblischen Aussagen, die als Lehroffenbarung verstanden . . . werden, Inhalt und Form der dogmatischen Sätze unmittelbar bestimmen. Ihren Halt findet diese Methode in der Theorie [?] von der Verbalinspiration der Schrift.”588)
Ganz richtig sagt Kirn, daß die einheitliche Methode der altprotestantischen Dogmatik in der Verbalinspiration der Schrift ihren Halt finde. Die alten Dogmatiker hätten nicht so hart ob dem sola Scriptura gehalten — auch gegen Dissentierende in der eigenen Mitte, z.B. gegen Calixts Consensus quinquesaecularis —, wenn sie nicht überzeugt gewesen wären, daß die Heilige Schrift Gottes inspiriertes Wort ist. Weil nun aber die Verbalinspiration nicht, wie Kirn meint, eine „Theorie” ist, das ist, nicht eine unmaßgebliche Privatansicht der altprotestantischen Dogmatiker, sondern die maßgebliche Ansicht Christi und seiner Apostel, so dient es der dringend nötigen Klarheit im theologischen Unterricht, wenn wir die protestantischen Theologen der Gegenwart nach ihrer prinzipiellen Stellung zur Heiligen Schrift in zwei Klassen einteilen. Wir fragen nicht danach, ob sie die synthetische oder analytische Methode befolgen, auch nicht danach, ob sie innerhalb dieser Methoden nebenbei noch die Definitions- oder Kausalmethode oder beide verwenden. Wir fragen vielmehr bei allen Theologen, einerlei in welchem Lande sie leben, lediglich danach, ob sie die Heilige Schrift noch für Gottes Wort halten und aus ihr allein die christliche Lehre schöpfen und normieren wollen, oder ob sie bereits so „modern” geworden sind, daß sie die Schrift nicht mehr für Gottes Wort und die einzige Quelle und Norm der Theologie halten, sondern sich vorgenommen haben, der christlichen Kirche ein Ichprodukt darzubieten. Mit den ersteren ist eine Verständigung möglich, auch bei vorliegenden Irrrtümern. Mit den letzteren ist die Verständigung unmöglich, weil es an dem gemeinsamen Boden fehlt. Contra principium negantem disputari non potest. Dabei können wir der Liebe nach gewissen modernen Theologen, die vom Schriftprinzip abgekommen sind, gutschreiben, was sie inkonsequenterweise von der christlichen Lehre noch stehen lassen. Zugleich ist es aber unsere Pflicht, die Studierenden stets nachdrücklich daran zu erinnern, daß alle Theologen, die das Schriftprinzip aufgegeben haben, auf Grund der Schrift in eine
--------------------------
588) Grundriß der ev. Dogmatik 3, S. 4.
179 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 154-155]
Klasse gehören. Wir würden das theologische Studium unnötig belasten und zugleich verwirrend wirken, wenn wir z.B. den Studierenden als theologisch wichtig darlegen wollten, daß ein bestimmter Theologe, der sich prinzipiell von der Schrift als Gottes Wort losgesagt hat und ein Ichprodukt liefern will, mehr nach links durch Ritschl oder mehr nach rechts durch Frank bestimmt sei.
Um die christliche Kirche von der Schriftmethode abzudrängen und auf die Ichmethode einzustellen, erhebt die moderne Theologie den Einwand, daß der Theologe bei der Darstellung der christlichen Lehre aus der Schrift gar nicht wisse, wo er anfangen solle. Wir sahen schon, daß z. B. Frank so argumentiert. Ebenso argumentiert auch Ihmels, wenn er sagt:589) „Sie [die Dogmatik] darf sich nicht damit begnügen, lediglich die biblischen Lehraussagen zusammenzustellen. Ohne weiteres müßte auch ja jemandem, der noch so sehr zu einer derartigen Auffassung neigte, klargemacht werden können, daß die Frage ihn schon in Verlegenheit bringen müßte, an welchem Punkte er nun mit der Darstellung der Schriftaussagen zu beginnen habe und wie er sie zu verknüpfen habe.” Das wäre allerdings eine fatale Situation, wenn die, welche nur das Schriftprinzip gelten lassen, zwar eine Dogmatik schreiben wollten oder sollten, aber gar nicht wüßten, wo sie anfangen sollten. Ohne Anfang in der Dogmatik gäbe es auch keine Mitte der Dogmatik und kein Ende der Dogmatik. Kurz, alle, die in der Dogmatik am Schriftprinzip festhalten, wären tatsächlich minus Dogmatik. Wenigstens sollten sie „von Rechts wegen” ohne Dogmatik sein. Dagegen verweisen wir zunächst auf die Tatsache, daß wir bei Luther und den alten Theologen, obwohl sie hartnäckig am Schriftprinzip festhalten, gar keine „Verlegenheit” um den Anfang wahrnehmen. Bekanntlich erzählt Luther am Ende seiner Schrift „Bekenntnis vom Abendmahl Christi” (1528) „vor Gott und aller Welt” seinen Glauben „Stück für Stück”.590) Er beginnt mit dem „hohen Artikel der göttlichen Majestät, daß Vater, Sohn und Heiliger Geist drei unterschiedliche Personen, ein rechter einiger, natürlicher, wahrhaftiger Gott ist”, also mit dem Artikel von der Trinität. Dann folgen die Artikel von der Person Christi, vom Werk Christi, von der Sünde, von der Rechtfertigung (durch den Glauben an Christum im Gegensatz zu aller Werklehre), von den
------------------------
589) Aus der Kirche, ihrem Lehren und Leben unter dem Abschnitt „Ausgabe und Bedeutung der Dogmatik”, S. 121.
590) St. L. XX, 1094 ff.
180 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 155]
Gnadenmitteln, Von der Kirche. Den Schluß bildet der Artikel von der Auferstehung der Toten. Die freudige und zuversichtliche Art, mit welcher Luther seinen Glauben „Stück für Stück” bekennt, läßt gar nicht den Gedanken aufkommen, daß Luther um den Anfangspunkt verlegen gewesen sei. In seinen Katechismen, im Großen und im Kleinen, hat Luther einen andern Anfangspunkt. Er beginnt hier nicht mit dem Artikel von der Trinität, sondern mit den zehn Geboten, also mit dem Gesetz. Aber wiederum gewahren wir bei ihm keine Verlegenheit um den Anfangspunkt. Bei den alten Dogmatikern finden wir, weil sie teils die synthetische, teils die analytische Methode befolgen, sogar entgegengesetzte Anfangspunkte. Flacius sagt bei der Charakterisierung der synthetischen und der analytischen Methode ganz richtig: Methodus analytica prorsus contrarium cursum et ordinem synthesi tenet. Haec [die analytische Methode] incipit, ubi illa [die synthetische Methode] desiit, et contra, ibi desinit, ubi illa inceperat. Und obwohl Flacius die synthetische der analytischen Methode vorzieht, will er doch beide nebeneinander wachsen lassen: Licet theologia commodissime per synthesin tradatur, tamen et analyticam methodum aliquo modo recipere posset, ut adiuncta tabula testatur. Finis enim theologiae, de quo nos miseri homines maxime angimur, est vita aeterna, sicut ille [der reiche Jüngling] ex Christo quaerit, Matt. 19,16.591) So werden auch wir es nicht wagen, dem einen oder andern Teil wegen der verschiedenen Gruppierung der einzelnen Lehren die dogmatische Existenzberechtigung abzusprechen. Der Grund hierfür ist der, daß beide Teile, wie Kirn zugesteht, trotz der verschiedenen Anfangspunkte „eine im wesentlichen einheitliche Methode befolgen”, nämlich die einzelnen Lehren aus der Schrift nehmen. Tatsächlich steht es hinsichtlich des Anfangspunktes in der Darstellung der christlichen Lehre so, daß wir vorne oder hinten oder auch in der Mitte anfangen können. Geschieht der Anfang aus der Schrift und bleiben wir bei der Schrift, so kommen wir stets sehr bald in medias res, in das Zentrum der christlichen Lehre, nämlich zur Lehre von der Vergebung der Sünden durch den Glauben an den menschgewordenen Sohn Gottes, der die Versöhnung ist für unsere und der ganzen Welt Sünde. Der Grund hierfür liegt in der festgeschlossenen inneren Einheit, die der aus der Schrift genommenen Theologie eigen ist. Wir könnten anfangen mit der Ewigkeit, bei dem ewigen Evan-
------------------------
591) Clavis II, 58.
181 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 155-156]
gelium von Christo, das von der Welt her verschwiegen gewesen ist, nun aber offenbart und kundgemacht durch der Propheten Schriften aus Befehl des ewigen Gottes, den Gehorsam des Glaubens aufzurichten unter allen Heiden,592) wie Johannes sowohl sein Evangelium als auch seine erste Epistel anfängt von dem ewigen, in der Zeit erschienenen Sohn Gottes und von hier aus bald beim Zentrum anlangt, nämlich bei der Vergebung der Sünden durch den Glauben an das Blut und den Tod des Sohnes Gottes. Wir könnten auch anfangen bei der Ewigkeit, die für uns Menschen auf diese Zeitlichkeit folgt, nämlich bei der ewigen Seligkeit derer, die aus großer Trübsal gekommen sind und ihre Kleider gewaschen und ihre Kleider Helle gemacht haben im Blut des Lammes.593) Auch hier schließt sich nicht schwer an, was die Schrift vom Menschen und seinem Sündenelend lehrt sowie von der Erlösung, die durch Christum geschehen ist, und von der Aneignung der geschehenen Erlösung. Wir könnten auch in der Mitte anfangen, etwa bei der Predigt des Engels auf dem Felde bei Bethlehem: „Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird; denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der HErr.” 594) Von hier aus rückwärts und vorwärts gehend, könnten wir anschließen, was die Schrift von der tötenden Sündenschuld des Menschen und von der seligmachenden Gnade Gottes lehrt. Kurz, man kann bei der Darstellung der christlichen Lehre an verschiedenen Punkten anfangen, ohne daß es ein Unheil gäbe, vorausgesetzt, daß man mit der Schrift anfängt, fortfährt und aufhört. Nur ein Anfangspunkt ist innerhalb der christlichen Kirche unheilvoll und verboten. Anfangspunkt der Theologie darf nicht sein „das religiöse Erlebnis”, „das fromme Selbstbewußtsein des theologisierenden Subjekts”, des Subjekts, das die Heilige Schrift als Gottes unfehlbares Wort verwirft und daher auch, was es lehrt, nicht aus der Heiligen Schrift, sondern aus dem eigenen Subjekt nehmen und normieren will, im Widerspruch mit der Weisung Christi, bei seinem Wort zu bleiben, und im Widerspruch mit dem Urteil seines Apostels, der jedem Lehrer, der nicht bei den gesunden Worten Christi bleibt, die licentia docendi entzieht, weil solcher an Einbildung und Unwissenheit leide. Diesen in der Schrift verbotenen Anfangspunkt will auch Ihmels als den einzig mög-
----------------------------
592) Röm. 16, 25. 26. 593) Offenb. 7, 14—17; Matth. 25, 34.
594) Luk. 2, 10. 11.
182 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 156-157]
lichen schützen, wenn er sagt: „Selbst wenn auch die Schrift ein einheitliches Lehrganzes geben wollte [wollte? die Schrift will „einheitlich” Gottes Wort sein 505)] und es also für die Dogmatik möglich wäre, lediglich dieses Lehrganze nachzubilden, so könnte man sich doch um deswillen in der Dogmatik nicht dabei beruhigen, weil die Dogmatik grundsätzlich ja die Erkenntnis des Glaubens darstellen will.” Gewiß, die Dogmatik will grundsätzlich die Erkenntnis des Glaubens darstellen, aber die Erkenntnis des Glaubens, der an Christi Wort, am Wort der Apostel und Propheten, am Schriftwort bleibt, der immer nur vis-a-vis des Schriftworts aussagt. Der Glaube ohne Schriftwort ist ein Glaube „in die Luft”, nicht ein Glaube, welcher spricht: „Rede, HErr, denn dein Knecht höret!” sondern Unglaube, der nicht glaubt dem Zeugnis, das Gott gezeuget hat von seinem Sohne, und daher Gott in seinem Wort zum Lügner macht.596)
Vielleicht ist hiermit das Nötige über die äußere Gruppierung der christlichen Lehren innerhalb eines corpus doctrinae gesagt. Im Anschluß hieran tun wir noch einen Rückblick auf die Art der modernen Theologie, sofern sie von ihrem Standpunkt aus als Anklägerin gegen alle Vertreter der Schrifttheologie auftritt.
Die christliche Kirche unserer Zeit darf sich nicht verhehlen, daß sie an den modernen Theologen, die anstatt allein aus der Schrift aus dem eigenen Bewußtsein lehren wollen, eine feindliche Macht in der eigenen Mitte hat, die darauf aus ist, sie, die christliche Kirche, vom Schriftwort und damit von dem Fundament ihres Glaubens abzudrängen. Diese Feindschaft gegen das Schriftprinzip wird auch klar aus der Kritik erkannt, die von der modernen Theologie an den Personen und Schriften der alten Theologen, die das Schriftprinzip festgehalten haben, geübt wird. Diese Kritik wird auch ausgedehnt auf die Personen und Schriften solcher Theologen unserer Zeit, die ebenfalls an dem sola Scriptura festhalten. Sie werden, wie wir bereits in einem andern Zusammenhang sahen, als „Repristinationstheologen” registriert. Unter diese Kritik fällt auch die Kirchengemeinschaft, von welcher aus diese Dogmatik geschrieben ist, die Missourisynode. Andere Synoden hierzulande und in andern Ländern, die mit der Missourisynode in Kirchengemeinschaft stehen,
----------------------------
595) ϑεόπνενοτος 2 Tim. 3, 16; τα λόγια τον ϑεοϋ, Röm. 3, 2; ον δνναται λνϑήναι, Joh. 10, 35; Altes und Neues Testament „einheitlich” des Heiligen Geistes Wort, 1 Petr. 1, 10—12.
596) 1 Joh. 5, 9.10.
183 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 157-158]
werden derselben Kritik unterworfen. „Kritik” ist ein milder Ausdruck. Die Kritik nimmt tatsächlich die Gestalt entschiedener Anklagen an. Darauf glauben wir hier noch besonders Hinweisen zu sollen, obwohl die Sache in andern Verbindungen schon vielfach behandelt wurde. Die Theologen des 16. und 17. Jahrhunderts werden offen angeklagt, daß sie die Heilige Schrift für Gottes Wort gehalten oder, wie es häufiger ausgedrückt wird, Schrift und Gottes Wort „identifiziert” haben. Wir lesen: „Der Fehler . . . steckt in der mangelhaften oder mangelnden Unterscheidung zwischen Bibel und Wort Gottes.” 597) „Vollends ausgebildet wurde die Inspirationslehre von den protestantischen Scholastikern des 17. und 18. Jahrhunderts seit dem Vorbild, das Johann Gerhard bereits 1610 im Locus de Scriptura gab und 1625 in der Exegesis Uberior Loci de Scriptura weiterführte. Man glaubte, die Katholiken, die Sozinianer, die Arminianer und andere Parteien nur. dann siegreich bekämpfen zu können, wenn man das göttliche Ansehen der Schrift auf den Buchstaben [auf die Worte der Schrift] ausdehnte. Die Bibel war . . . ein göttliches Religionslehrbuch.” 598) Eine zweite Anklage, die mit der vorstehenden Generalanklage zusammenhängt, lautet dahin, daß die alten Theologen, weil sie nur aus und nach der Schrift lehrten, einen schädlichen Einfluß auf die christliche Kirche ausgeübt hätten. Sie hätten „Intellektualismus”, totes Verstandeschristentum, gefördert. „Lebendiges” Christentum könne nur durch das Lehren aus dem „christlichen Erlebnis” oder dem „frommen Selbstbewußtsein” des theologisierenden Individuums erzielt werden. Daß auch Ihmels sowohl gegen die erste Kirche als auch gegen Luther und die Reformationszeit sowie gegen die alten Dogmatiker die Anklage erhebt, sie hätten „Intellektualismus” gefördert, weil sie sich direkt auf die Schrift beriefen, wurde schon oben ausführlicher dargelegt.599) Eine weitere Anklage lautet dahin, daß sich unter den alten Theologen von Luther an bis auf Hollaz inklusive fast gar keine Uneinigkeit in der Lehre finde. Denn dies und nichts anderes ist der Sinn des Vorwurfs, daß es den einzelnen Dogmatikern an „selbständiger Reproduktion” der christlichen Lehre fehle. Sie hätten die Sache so angesehen, als ob „inhaltlich” an der überkommenen Glaubenslehre „nichts mehr geändert werden dürfte und der Fortschritt lediglich in einer bestimmteren begrifflichen Ausge-
-------------------
597) Bei Nitzsch-Stephan, S. 245. 598) A. a. O., S. 249.
599) Unter dem Abschnitt „Die nähere Beschreibung der Theologie, als Lehre gefaßt”, 70 ff.
184 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 158-159]
staltung unantastbarer Satzungen bestehen könnte”. Auch bei Quenstedt finde sich Neues „fast gar nicht”.600) Wir können es verstehen, daß dieser Mangel an Uneinigkeit die moderne Theologie befremdet. Nimmt sie doch in ihrer eigenen Mitte eine „schier endlose Fülle von Verschiedenheiten” wahr, nachdem sie sich auf eine „einheitliche Methode” geeinigt hat, nämlich auf die Methode, die christliche Lehre nicht aus der einen Heiligen Schrift, sondern aus dem „religiösen Erlebnis” der vielen theologisierenden Individuen zu beziehen. Selbst die Positiven unter den Erlebnistheologen sehen die Übereinstimmung in der christlichen Lehre als eine Abnormität an. „Reine Lehre” wird mit einem „sogenannt” eingeführt. Daher ist es allerdings verständlich, daß die Tatsache der „wesentlichen Übereinstimmung” der alten Theologen zwei Jahrhunderte hindurch den modernen Theologen unheimlich vorkommt. Sie suchen daher und finden auch eine Erklärung für diese Tatsache. Aber ihre Erklärung ist historisch unrichtig. Sie behaupten nämlich, die alten Dogmatiker hätten sich ganz allgemein der „dogmatischen Exegese” schuldig gemacht, die Schrift nach dem „kirchlichen Lehrbegriff”, insonderheit nach der Konkordienformel, ausgelegt. Nicht nur Quenstedt wird „gesunde Schriftforschung” abgesprochen, sondern auch Chemnitz wird nachgesagt, daß er Melanchthons Loci „nach dem Kanon der Konkordienformel auslegte”. Dieselbe falsche Beschuldigung wird von der großen Mehrzahl der neueren Theologen gegen die ganze „altprotestantische Dogmatik” erhoben.601) Wir setzen hierher, was wir anderswo 602) ausführlicher dargelegt haben: „Man muß es als eine Sage bezeichnen, die ungeprüft von Mund zu Mund geht, daß die lutherischen Dogmatiker Leute waren, die eigentlich nur Dogmen nach der Lehrtradition und nach Anleitung der Symbole registrierten, um den Schriftbeweis und die Erhebung der Lehre aus der Schrift sich aber wenig kümmerten. Wer sich die Mühe gemacht hat, die großen Dogmatiker, z. B. Gerhard, Quenstedt, Calov, nur einigermaßen kennen zu lernen — schon die Prüfung auch nur eines locus würde genügen —, wird ganz anderer Ansicht. Bei Gerhard ist die Darlegung der Lehre aus der Schrift Anfang, Mitte und Ende. Die Schriftstellen, welche die Irrrlehrer für sich
-------------------------------
600) Nitzsch-Stephan, S. 26 ff.
601) Kirn, Grundriß 3, S. 4. Nitzsch-Stephan, S. 25 ff. Dorner, Geschichte der protestantischen Theologie, S. 559. Gaß, Geschichte der protestantischen Dogmatik I, 338.
602) Zur Einigung der amerikanisch-lutherischen Kirche 2, S. 654.[sic:, page # is actually p. 65; Conversion and Election, p.90 f .].
185 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 159]
anführen, werden von Gerhard nach dem Zusammenhang, in dem sie stehen, und nach dem Sprachgebrauch so ausführlich behandelt, daß der Sache eher zu viel als zu wenig geschehen ist. Quenstedt, den man den großen ‘Buchhalter der lutherischen Theologie’ genannt hat, bietet in seinem großen dogmatischen Werk in den Noten zur ϑέσις sowie unter den Abschnitten βεβαίωσις und έκδίκησις [Ed.-- refutation] vornehmlich Schriftdarlegung. Daß Calov ein großer Schrifttheologe war, geht nicht nur aus seiner ‘Biblia Illustrata’, sondern aus allen seinen Hauptschriften hervor. Calov war es auch, der den Studenten der Theologie immer wieder einschärfte, daß ihnen die Kenntnis des Hebräischen und Griechischen viel nötiger sei als das Studium der Väter und der Scholastiker.603) Trefflich schreibt jemand im Meuselschen Lexikon gegen die beliebte Herabsetzung der alten Theologen als Schrifttheologen: ‘Der Schriftbeweis nimmt in der altlutherischen Dogmatik eine hervorragende Stelle und breiten Raum ein. Besonders die Verfasser der Loci, aber auch die der späteren Systemata machen vollen Ernst mit der Heiligen Schrift nicht bloß als nachträglicher Norm der anderswoher geschöpften Lehre, sondern als ihrer prinzipiellen Quelle und erheben aus ihr die dogmatischen Wahrheiten, welche sie logisch begründen und gegen die Einwendungen der Widersacher verteidigen, so daß z.B. die dogmatischen Werke eines Chemnitz und Johann Gerhard zugleich eine Fundgrube gründlichster exegetischer Erörterungen sind.” 604) Die Heimat der „dogmatischen Exegese” ist nicht bei der Theologie des 16. und 17. Jahrhunderts, wie die Anklage lautet, zu suchen, sondern findet sich bei der Anklägerin, im Lager der modernen Theologie. Diese Theologie lehnt es ja entschieden ab, ihren Glauben durch die Lehre der Schrift entstehen und normieren zu lassen. Das wäre nach ihrer eigenen ausdrücklichen Erklärung „intellektualistischer” Schriftgebrauch. Vielmehr will sie die Schrift nach der eigenen Anschauung, nach dem frommen Selbstbewußtsein des theologisierenden Subjekts, auslegen und normieren. Das ist wahrlich „dogmatische Exegese” im eminenten Sinne des Worts. Und aus dieser eminent dogmatischen Exegese erklärt sich auch leicht und ungezwungen „die schier endlose Fülle” der Lehr-Verschiedenheiten, denen die moderne Theologie doch mit etwas ver-
------------------------
603) Calov, Theol. Antisyncretistica, th. 4: Theologiae studioso longe magis necessaria est linguae Hebraicae et Graecae notitia quam theologiae scholasticae aut patrum studium aut philosophiae.
604) Sub voce „Schriftbeweis” VI, 93.
186 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 160]
legenem Gesicht gegenübersteht trotz der gelegentlichen Äußerungen der Freude ob „der Vielheit der Glaubensindividualitäten”. Daß es hingegen in der Periode von Luther bis auf Hollaz an der vermißten Fülle von Lehrverschiedenheiten fehlt, erklärt sich leicht und ungezwungen aus der Tatsache, auf die Kirn uns hinwies, wenn er sagte, daß „die altprotestantische Dogmatik trotz der wechselnden Bevorzugung der synthetischen und der analytischen Methode nach einer im wesentlichen einheitlichen Methode verfährt”, nämlich nach der Methode, die christliche Lehre aus der Heiligen Schrift zu nehmen. Diese einheitliche Methode ergibt naturgemäß ein einheitliches Resultat, scil. Einheit in der Lehre. Gott hat die Heilige Schrift so eingerichtet, daß die Erkenntnis der Wahrheit nicht bloß möglich, sondern das Abirren von der Wahrheit ausgeschlossen ist, solange wir bei den Worten der Schrift bleiben, wie Christus dies sehr klar bezeugt, wenn er uns Joh. 8 die Erkenntnis der Wahrheit zusagt, falls wir an seiner Rede bleiben. — So viel hier über die abfällige Kritik, die die moderne Theologie an den Personen und Schriften der alten lutherischen Dogmatiker übt.
Die verurteilende Kritik, die die moderne Theologie an der altprotestantischen Theologie von Luther an bis auf Hollaz übt, wird konsequenterweise auch auf die Theologen und Kirchengemeinschaften der Gegenwart ausgedehnt, die die Schrift noch für Gottes Wort halten und daher auch darauf bestehen, daß die christliche Lehre allein aus der Schrift genommen und beurteilt werde. Die Kritik fällt um so schärfer aus, als sie mit der Furcht verbunden ist, die Schrift möchte auch in der Kirche der Gegenwart wieder für Gottes Wort gehalten und damit die Theologie des frommen Selbstbewußtseins außer Kurs gesetzt werden. Einerseits führt die moderne Theologie, wie wir wiederholt hörten, eine sehr zuversichtliche Sprache. Zum Beispiel: „Die dogmatische Methode ist heutzutage verhältnismäßig einheitlich.” „Niemand gründet seine Dogmatik in altprotestantischer Art auf die norma normans, die Bibel.” „In der Gegenwart hat die orthodoxe Inspirationslehre kaum mehr dogmatische Bedeutung.” Die wenigen Theologen, die sie noch vertreten, sind „Nachzügler”, „ihre Zahl ist gering, ihre Bemühungen fruchtlos, ihr Unwille auf die Genossen, welche sich' den Weg nach vornehin neu bahnen, eindruckslos”. Andererseits fehlt es jedoch nicht an Äußerungen der Furcht, es möchte das, was gründlich abgetan ist und am Boden liegt, zu neuem Leben erwachen. So heißt es von den wenigen Theologen, die als „Nachzügler” auf ihre Standes-
187 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 160-161]
genossen keinen Eindruck machen, daß sie „für die Kirche nicht ohne Gefahr” seien. Ganz neuerdings beruhigt auch Horst Stephan das modern-theologische Lager zunächst mit der Versicherung: „Heute ist die Inspirationslehre von der wissenschaftlichen Theologie aufgegeben”, setzt aber doch hinzu: „Sie wirkt nur in der Laienorthodoxie . . . noch kräftig nach.” 605) Es regt sich also die Furcht vor einer Reaktion aus den Laienkreisen. In dem neuesten Heft der „Neuen Kirchlichen Zeitschrift” 606) rechnet ein Artikelschreiber mit der Möglichkeit, daß in der Gegenwart „in ähnlicher Weise der Rückzug auf einen unevangelischen Autoritätsstandpunkt vollzogen wird [gemeint ist der Rückzug auf die Schrift als Gottes Wort], wie man es an der Repristinationstheologie der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wahrnehmen kann”. Zugleich sehen wir aus diesen Äußerungen der Furcht, daß der modernen Theologie die christliche Erkenntnis in dem Umfange abhanden gekommen ist, daß sie die Rückkehr zur Schrift als Gottes Wort für ein Unglück hält, das mit Macht zu bekämpfen sei.607)
Wir dürfen uns daher nicht wundern, daß sonderlich auch die amerikanischen Lutheraner, die am Schriftprinzip festhalten und infolgedessen auch in der christlichen Lehre einig sind, für einen wenig wünschenswerten Teil der christlichen Kirche gehalten und als Vertreter der „Repristinationstheologie” in den Hintergrund gewiesen werden. Diese Kritik gilt insonderheit der Missourisynode und ihren Schriften. D. Walther, dem allerdings mit Recht die Führerrolle unter den Vätern der Missourisynode zugeschrieben wird, erscheint in Zöcklers „Handbuch der theologischen Wissenschaften” als Kuriosität neben Kohlbrügge, Gaußen und Kuyper, weil er „im altorthodoxen Sinne” die Inspiration der Heiligen Schrift lehre.608) Walther wird der Klasse der „Repristinationstheologen” des 19. Jahrhunderts zugezählt. Andere haben ihn „Zitatentheologe” genannt und damit — wiewohl nicht immer — andeuten wollen, daß er nicht als Schrifttheologe zu
--------------------
605) Glaubenslehre, 1921, S. 52.
606) Neue Kirchl. Zeitschrift, 1923, S. 110.
607) Auch hierfür liefert der eben erwähnte Artikel der „Neuen Kirchl. Zeitschrift” einen Beleg. Es wird als ein Trachten nach verwerflicher Repristinationstheologie angesehen, daß — nach einem Bericht Ebrards — Mitte der dreißiger Jahre des vorigen Jahrhunderts auf der Universität Erlangen die lutherischen Studenten der Theologie sich schon im ersten Studienjahr die symbolischen Bücher anschafften.
608) Handbuch 2 III, 149.
188 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 161-162]
klassifizieren sei. Walther ist sowohl in den Vereinigten Staaten als auch in Deutschland und andern Ländern sowohl schwer getadelt als auch, wenn auch mit Einschränkung, gelobt worden.609) Sein Name erscheint bis auf diese Zeit in dogmatischen Lehrbüchern, und zwar auch zu dem Zweck, um zugleich die theologische Art und die kirchliche Stellung der Missourisynode zu charakterisieren. Sollen wir unser eigenes Urteil über Walther zusammenfassen, so möchten wir ihn den Apologeten der Schrifttheologie Luthers und der Schrifttheologie der altprotestantischen Dogmatiker nennen, soweit die letzteren sich als genuine Vertreter der Schrifttheologie Luthers erwiesen haben. Damit wird Walther zugleich der Apologet der Theologen der Gegenwart, die unter die Benennung „Repristinationstheologen” gebracht werden, weil sie, was die Schriftmethode betrifft, in den Bahnen der altlutherischen Theologen wandeln. Die Anklagen, welche von der modernen Theologie gegen Luther und die altprotestantischen Dogmatiker bis auf Hollaz erhoben werden, lauten, wie wir sahen, auf Mangel an wissenschaftlichem Sinn in der Erfassung der theologischen Probleme, auf mechanischen Schriftgebrauch durch direkte Berufung auf das „Es steht geschrieben”, auf Verbreitung von Verstandeschristentum („Intellektualismus”), auf prüfungslose Herübernahme traditioneller Lehren usw. Alle diese Anklagen werden von Walther im einzelnen ausgenommen und als sachlich falsche Anklagen erwiesen. Und das geschieht nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch. Walther bekennt frei und offen: Wir amerikanischen Lutheraner wandeln in den von euch bekämpften Bahnen Luthers und der alten Theologen. Aber kommt zu uns und prüft das bei uns vor Augen liegende Resultat. Geht durch unsere Gemeinden, besucht unsere Pastoralkonferenzen und unsere Synodalversammlungen und fragt euch dann, ob das, was ihr gehört und gesehen habt, wirklich den Charakter eines bloßen Verstandeschristentums und einer bloßen Repristinationstheologie trage. Der großen Schar der Ankläger gegenüber sollte dem Verteidiger in bezug auf die Hauptanklagepunkte das Wort gegeben werden. Walther hat diese Punkte ausführlich im Vorwort zu „Lehre und Wehre” vom Jahre 1875 behandelt. Was die Stellung der christlichen Kirche zur Wissenschaft betrifft, so legt Walther dar, welche Wissenschaft sie eifrig zu Pflegen hat und welcher Wissenschaft sie nach Gottes Willen die Türe verschließen muß. Die Wissenschaft, welche die Kirche zu pflegen
------------------------
609) RE.2 IX, 85; XVIII, 687 ff.
189 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 162]
und als eine große Gabe Gottes anzusehen hat, ist die Schulung in allem weltlichen Wissen, das die Kirche als äußeren Apparat zur Ausrichtung ihres Berufes in der Welt, zum Lehren und Predigen des Evangeliums, nötig hat. Dahin gehört, was der allgemeinen Schulung des Geistes dient; überhaupt das, was man gewöhnlich unter humanistischer Bildung zusammenfaßt. Insonderheit dringt Walther mit Luther auf das Studium der Geschichte [Ed.- ? “humanities” in English edition], der klassischen Sprachen und für Theologen „in voller Ausrüstung” auf das Studium der Originalsprachen der Heiligen Schrift. Er sagt: „Der Geist Carlstadts, der Wiedertäufer und anderer die Wissenschaft als etwas Unnützes, ja Gefährliches und Fleischliches verachtender und dafür der Eingebungen des ‘Geistes’ sich rühmender Schwärmer hat unter uns keine Stätte. Wir sind nicht des Sinnes, daß die Kirche in die Wüste fliehen, um ihrer Selbsterhaltung willen sich auf den Isolierschemel setzen, sich von der ungläubigen Welt abschließen, die Feinde außer ihr gewähren lassen, die antireligiösen Gebildeten, welchen das Evangelium nur in einer gewissen Form nahegebracht werden kann, preisgeben und dahinfahren lassen und sich nur an das ungebildete Volk wenden sollen. Nein; wir erkennen es als unsere heilige Pflicht, allen alles zu werden, auf daß wir allenthalben ja etliche selig machen. Wir stimmen von Herzen mit Melanchthon überein, wenn derselbe einst schrieb: ‘Eine Ilias von Übeln ist eine ungelehrte Theologie.’ (Corpus Ref. XI, 278.)” Walther weist darauf hin, mit welchem Ernst Luther auf eine Bildung in allen „freien Künsten” als allen Ständen nützlich gedrungen hat, und fügt hinzu: „Wie könnten wir uns auch Lutheraner, ja auch nur Christen nennen, wenn wir Wissenschaftsverächter wären?"
Freilich, besonders ausführlich spricht sich Walther den Zeitumständen entsprechend darüber aus, in welchem Sinne der Wissenschaft kein Heimatsrecht in der Kirche zu gestatten sei. Er schreibt: „Wir wollen nichts von einer Wissenschaft wissen, welche der Schrift gegenüber die Hausherrin und Meisterin spielen, anstatt nur zur Auffindung der in der Schrift enthaltenen Wahrheit behilflich zu sein, über dieselbe zu Gericht sitzen und aus sich korrigieren will, die, anstatt in ihrer Sphäre zu bleiben, die zufällig auf ihrem Gebiete geltenden Gesetze zu allgemeinen erheben und dieselben auch dem Schriftgebiete aufnötigen will. Solche μετάβασις εις αλλο γένος halten wir für ebenso abgöttisch als unwissenschaftlich. Wir stimmen vollkommen mit Melanchthon überein, wenn
190 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. – 162-163]
derselbe schreibt: ‘Wie es ein Wahnsinn wäre, zu sagen, man könne aus den Regeln des Schuhmacherhandwerks über die christliche Lehre urteilen, so irren die, welche der Philosophie ein Urteil über dieselbe zuschreiben.’ (Scholia in epist. ad Col.,, S. 68.) Mag die Wissenschaft noch so zuversichtlich die. Resultate ihrer Forschungen für absolut gewisse Wahrheiten ausgeben, so halten wir doch nicht sie, wohl aber die Schrift für infallibel. Widersprechen die Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung der klaren Schrift, so ist uns von vornherein gewiß, daß sie nichts sind als gewisser Irrtum, selbst wenn wir nicht imstande sind, ihn als solchen anders als mit Berufung auf die Schrift nachzuweisen. Sooft wir zwischen Wissenschaft und Schrift zu wählen haben, sprechen wir daher mit Christo, unserm HErrn: ‘Die Schrift kann doch nicht gebrochen werden’ Joh. 10, 35, und mit dem heiligen Apostel: ‘Wir nehmen gefangen alle Vernunft unter den Gehorsam Christi’, 2 Kor. 10,5. Wir warten nicht darauf, daß die Wissenschaft uns unsern Grund erst erobere. Wir haben ihn schon, und er steht uns vor aller wissenschaftlichen Untersuchung oder Prüfung so fest als unser Gott, der ihn gelegt hat. Was auch immer die Wissenschaft zutage fördern mag, das gibt uns weder den Glauben noch nimmt sie ihn uns. Wir stehen auf einem Felsen, von dem wir wissen, daß denselben auch die Pforten der Hölle nicht, geschweige menschliche Wissenschaft, überwältigen kann, und lachen daher aller Feinde und ihrer wissenschaftlichen Sturmböcke und Mauerbrecher, mit denen sie den aus den tobenden Gewässern der Welt emporragenden himmelhohen Felsen mit wahnsinniger Wut berennen. Denn also spricht der HErr: ‘Wer auf diesen Stein fällt, der wird zerschellen; auf welchen er aber fällt, den wird er zermalmen’, Matth. 21,44.”
Walther deckt auch den Mißbrauch auf, den die moderne Theologie mit dem sogenannten wiedergebornen Ich oder der erleuchteten Vernunft treibt. Er sagt: „Durch die Erleuchtung erhält ja die Vernunft nicht ein eigenes Licht neben der Schrift, vielmehr besteht ihre Erleuchtung eben darin, daß durch Wirkung des Heiligen Geistes das Wort der Propheten und Apostel ihr einziges Licht in Sachen des Glaubens geworden ist. . . . Sofern sie aus ihren Prinzipien wider die Artikel des Glaubens disputieren will, insofern ist sie nicht wiedergeboren, weil die wiedergeborne Vernunft aus den Prinzipien des Wortes Gottes disputiert.” Sehr eindringlich warnt Walther auch die christliche Kirche vor der Meinung, daß ihre Lehre dem Inhalte nach durch die Mittel der neueren Wissenschaft fort-
191 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed.- 163-164]
gebildet werden könnte. Er begründet diese Warnung also: „Wir halten die Heilige Schrift in Absicht auf die Gegenstände unsers Glaubens für so klar, daß wir nicht im entferntesten hoffen, daß uns durch die neueren größeren wissenschaftlichen Hilfsmittel ein neuer, der Kirche bis daher unbekannter und verschlossen gewesener Glaubensartikel werde aufgeschlossen werden oder schon aufgeschlossen worden sei. Wir glauben nicht an ein durch allmähliches Entstehen der Dogmen sich vollziehendes Wachstum der Kirche an Erkenntnis. Wir glauben vielmehr, daß schon die Kirche des ersten Jahrhunderts im Besitze aller derjenigen Dogmen war, die wirklich biblische Dogmen sind. Wir sehen die apostolische Kirche nicht für die Kirche in ihrer Kindheit an, die erst nach und nach durch die-Arbeit wissenschaftlich gebildeter Theologen zum Mannesalter heranreife; wir sind vielmehr davon fest überzeugt, daß die Kirche in Absicht auf die Klarheit und Reinheit ihrer Erkenntnis dem Monde gleich sei, der bald ab-, bald wieder zunimmt und selbst zuweilen traurige Eklipsen erfährt. Wir sagen uns nicht nur von solchen Zutaten der Wissenschaft zur Theologie los, welche der biblischen Wahrheit geradezu widersprechen, sondern kurzum von allem, was unsere biblische Theologie ergänzen soll; denn Gott verbietet ja nicht nur, seinem Worte etwas entgegenzustellen, sondern ebenso streng, etwas dazuzutun, 5 Mos. 12,32.”
Über die in unserer Zeit angestrebte Versöhnung (Synthese) zwischen Theologie und Wissenschaft äußert Walther sich so: „So gewiß uns ist, daß Zwischen der christlichen Theologie und der wahren Wissenschaft, der Wissenschaft in abstracto, ein wirklicher Widerspruch nicht stattfinde und stattfinden könne, so halten wir es doch keineswegs weder für die Aufgabe eines Theologen noch für möglich, jemals unsere biblische Theologie und die Wissenschaft, wie sie in concreto vorhanden ist, miteinander zu versöhnen. Der Vorwurf, den man gegen uns erhebt, daß wir das gegenwärtige in Unglauben versunkene Geschlecht nicht dadurch auch an unserm Teile zum Glauben zurückzuführen suchen, daß wir der Welt die Harmonie des christlichen Glaubens und der Wissenschaft zeigen, dieser Vorwurf ist gegründet; aber wir achten denselben nicht für einen Vorwurf, sondern vielmehr für einen Ruhm, den wir uns durch Gottes Gnade nimmermehr nehmen lassen wollen. Denn wir sind des fest versichert, daß auch der jetzigen abgefallenen Welt nicht durch die Lüge, daß die göttliche geoffenbarte Wahrheit mit der Weisheit dieser Welt in dem schönsten Einklang stehe, sondern allein dadurch geholfen werden
192 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. – 164-165]
könne, daß ihr die göttliche Torheit, das alte unveränderte Evangelium, gepredigt werde, von welchem Paulus und die Geschichte der Kirche aller Zeiten und jedes einzelnen Christen bezeugt, daß es eine Kraft Gottes sei, die da selig macht alle, die daran glauben, die Juden vornehmlich und auch die Griechen. Ein Mensch, der dadurch für das Christentum gewonnen ist, daß ihm gezeigt wurde, wie das Christentum die schärfste Probe der Wissenschaft aushalte, ist noch nicht gewonnen, sein Glaube noch kein Glaube.”
Zur Widerlegung der Anklage, daß die Rückkehr zur Theologie Luthers und der Dogmatiker „eine sklavische Unterwerfung unter die Lehrentscheidungen der Dogmatiker oder Luthers oder der Symbole in sich schließe, erläßt Walther die folgende allgemeine Einladung: „Kommt und seht! Geht in unserer Gemeinschaft von Pfarre zu Pfarre und von Kirche zu Kirche und seht, ob da ein sogenannter toter Orthodoxismus und nicht vielmehr eine lebendige, unter inneren Kämpfen gereifte lebendige Erfahrungserkenntnis herrschend ist! Besucht unsere Pastoralkonferenzen, welche regelmäßig zwischen unsern alljährlichen Synodalversammlungen gehalten werden, und seht, ob da jener Geschäftsgeist, der das Amtieren für ein Handwerk zum Broterwerb ansieht, und ob nicht vielmehr ein reges theologisches Leben und die Sorge sich kundgibt, zu wissen, wie ein Diener Christi wandeln solle in dem Hause Gottes, welches ist die Gemeinde des lebendigen Gottes. Nehmt an unsern Synodalversammlungen teil und seht, ob da ein iurare in verba magistri und nicht vielmehr jener Sinn Luthers sich zeigt: ‘Es sei denn, daß ich mit Zeugnissen der Heiligen Schrift oder mit öffentlichen, klaren und Hellen Gründen und Ursachen überwunden und überwiesen werde, so kann und will ich nichts widerrufen.’” — Über die „Zitatentheologie”, die Walther sonderlich wegen seiner Schrift „Die Stimme unserer Kirche in der Frage von Kirche und Amt” 610) zugeschrieben worden ist, spricht er selbst sich so aus: „Als wir Lutheraner von Amerika wieder das alte gute Banner unserer Kirche entfalteten und uns um dasselbe wieder in geschlossenen Reihen scharten, während um uns her Zwinglianismus, Schwärmerei und Rationalismus unter lutherischer Flagge segelten, da hieß es alsbald: Wieder eine neue Sekte! Die einen riefen: Ihr seid auf dem Wege nach Rom! die ändern: Ihr seid Unionisten! noch andere: Ihr seid Independenten! wieder andere: Ihr seid Pietisten, Schwärmer,
– – – – – – – – –-
610) Erste Auflage 1852, 3 1874 [1875].
193 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. – 165-166]
Donatisten, Calvinisten! — und wer mag alle die Sekten nennen, die mit uns wieder auferstanden und neu geworden sein sollten? Kurz, alles sollten wir sein, nur nicht, was wir allein sein zu wollen selbst erklärten: Bekenner der Lehre der Reformation, Lutheraner. Was konnten und mußten wir nun tun, wollten wir uns nicht zu einer Sekte stempeln lassen? Wir mußten, solange man uns den Charakter, treue Lutheraner zu sein, absprach, fort und fort das teure Bekenntnis und die alten, unbestritten treuen Lehrer unserer Kirche aufrufen, als unsere Zeugen für uns aufzutreten. Und wir meinen, wir haben es in einer Weise getan, daß, wer es nur sehen wollte, es auch sehen mußte, daß wir jenen treuen Lehrern unserer Kirche nicht blindlings, sondern in lebendiger Überzeugung gefolgt, nicht ihre geistlosen Nachbeter und Nachtreter, sondern ihre Söhne sind, so daß wir allezeit haben sagen können: ‘Ich glaube, darum rede ich.’” — Auf die Anklage, daß die amerikanisch-lutherische Kirche die Symbole an die Stelle der Schrift gesetzt oder die Schrift nach den Symbolen ausgelegt oder „Symbololatrie” getrieben habe, antwortet Walther: „So unvergleichlich wertvoll uns vor allem das reine Bekenntnis unserer Kirche gewesen ist, so haben wir uns doch selbst diesem nie als einem uns aufgelegten Lehrgesetz unterworfen, sondern es vielmehr allein darum mit fröhlicher Danksagung gegen Gott für seine unaussprechliche Gnade angenommen, weil wir darin unser eigenes Bekenntnis gefunden haben. Gar manchen harten Kampf hat auch unsere amerikanisch-lutherische Kirche mit den hiesigen stolzen Sekten zu kämpfen gehabt, denen wir selbstverständlich das Zeugnis unserer Väter nicht entgegenhalten konnten, und wer Zeuge dieser Kämpfe gewesen ist, weiß, daß Gottes geschriebenes Wort auch in unsern schwachen Händen sich als eine siegreiche Waffe erwiesen hat.” — Über die Wertung der alten Dogmatiker äußert sich Walther so: „Übrigens kennen die uns nicht, welche unsere Theologie die des 17. Jahrhunderts nennen. So hoch wir die immense Arbeit schätzen, welche die großen lutherischen Dogmatiker dieser Periode getan haben, so sind doch eigentlich nicht sie es, zu denen wir zurückgekehrt sind, sondern vor allem unsere teure Konkordia und Luther, in welchem wir den Mann erkannt haben, den Gott zum Moses seiner Kirche des Neuen Bundes erkoren hat, seine in die Knechtschaft des Antichrists geratene Kirche, die Rauch- und Feuersäule des goldreinen und lauteren Wortes Gottes voran, aus derselben auszuführen. Die Dogmatiken jener Zeit, so unermeßlich reiche Schätze der Erkenntnis und Erfahrung auch darin aufgespeichert
194 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. ~ 166]
sind, so daß wir mit Lust und Freude Tag und Nacht daraus lernen, sind doch weder unsere Bibel noch unser Bekenntnis, vielmehr gewahren wir selbst in ihnen schon hie und da eine Trübung jenes Stromes, der im 16. Jahrhundert so kristallhell hervorsprudelte.” Auch in neueren theologischen Schriften finden wir die Notiz, daß Baiers Compendium Theologiae Positivae von Walther in St. Louis wieder neu herausgegeben sei. Dadurch ist wohl bei manchen die Meinung entstanden, als ob die alten Dogmatiker und speziell Baier von Walther und überhaupt innerhalb der Missourisynode als die eigentlichen „Normaltheologen” angesehen worden seien. So lesen wir z.B. bei Nitzsch-Stephan 611) die Notiz: „Baier verfaßte das Compendium Theologiae Positivae (1686), das die milde Orthodoxie des Musäus zusammenfaßt; es verbreitete sich überaus rasch und weit und vermittelt noch heute den neuorthodoxen Lutheranern (!), besonders Amerikas, die altprotestantische Dogmatik: neu herausgegeben Preuß, Berlin 1864, und von Walther, St. Louis 1879 ff.” Wir haben schon oben 612) bemerkt, daß die Walthersche Ausgabe nicht einen bloßen Abdruck von Baiers Compendium darbietet, sondern durch Einfügung von reichlichen und oft sehr ausführlichen Zitaten zu einem ganz neuen Buch erweitert worden ist. In den eingefügten Zitaten kommen nicht nur Luther und die Repräsentanten der altprotestantischen Dogmatik, sondern auch die Hauptvertreter der Dogmatik des 19. Jahrhunderts zu Worte. Der Zweck der Waltherschen Ausgabe ist, wie schon bemerkt wurde, der, den Studenten der Theologie ein möglichst reiches Quellenmaterial darzubieten, wodurch sie instand gesetzt werden, sich über den Stand der Theologie in der Vergangenheit und in der Gegenwart zu orientieren. Walther schreibt darüber: „Wir [amerikanischen Lutheraner] suchen uns selbst von dem, was gegenwärtig gegen die christliche Wahrheit geschrieben wird, eine genaue Kenntnis zu verschaffen, und verschweigen die Angriffe der Gegenwart mit ihrem speziösen Apparate selbst unserer studierenden Jugend nicht, überzeugt, daß derjenige, welcher die Wahrheit gründlich und lebendig erkannt hat, darin das sichere Präservativ gegen Infektion auch mit dem scheinbarsten Irrtum besitzt.”613) Ein Teil der Zitate, die Walther seiner Ausgabe von Baier eingefügt hat, sind auch als
---------------------
611) Lehrbuch der ev. Dogmatik, 3. Aufl., bearbeitet von Horst Stephan 1912. S. 29.
612) S. 175, Fußnote 583. 613) L. u. W. 1875, S. 68.
195 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. ~ 166-167]
Korrekturen des Baierschen Textes gemeint. Was „die milde Orthodoxie des Musäus” betrifft, die bei Nitzsch-Stephan Baier zugeschrieben wird und die sich namentlich in synergistischen Redeweisen Baiers zeigt, Pflegte Walther damit zu entschuldigen, daß Baier Musäus' Schwiegersohn war.614)
Im vorstehenden ist in Walthers Worten der kirchliche Zustand unserer amerikanisch-lutherischen Kirche, die angeblich einer bloßen „Repristinationstheologie” samt „mechanischer Schriftauffassung” und „toter Orthodoxie” verfallen ist, den Tatsachen entsprechend beschrieben. Der Verfasser dieser Dogmatik konnte nicht umhin, sich davon zu überzeugen, weil er in einem Zeitraum von mehr als vierzig Jahren Gelegenheit hatte, Hunderten von Gemeindeversammlungen, Pastoralkonferenzen und Synodalversammlungen beizuwohnen. Daß während der ganzen Zeit mehr oder weniger auch stets Schwächen und Gebrechen zutage traten und auch jetzt zutage treten, versteht sich in der ecclesia militans von selbst.— Wir möchten noch auf einen Punkt Hinweisen, der sich auf die Einigkeit in der Lehre bezieht. Diese völlige Übereinstimmung in der Lehre hat hierzulande und auch in Deutschland Anstoß erregt und ist oft recht unsachlich kommentiert und sogar als Resultat der Beugung unter die Autorität eines Mannes dargestellt worden. Nichts kann verkehrter sein. Wir haben die meisten Väter der Synode noch persönlich gekannt. Es waren nicht nur grundverschiedene, sondern zum Teil auch sehr starke und selbständige Charaktere, so daß man, menschlich zu reden, erwarten konnte, sie würden sehr bald in verschiedenen Richtungen auseinanderfahren. Daß dies nicht geschah, ist uns je länger, je mehr als ein Zeugnis für die einigende Kraft des Wortes Gottes erschienen. Auch die verschiedenen politischen Ansichten zur Zeit des amerikanischen Bürgerkrieges, die sich hie und da stark bemerklich machten und auch in öffentlichen Versammlungen hervortraten, konnte die durch Wirkung des Heiligen Geistes auf der Schrift beruhende Einigkeit des Glaubens nicht zerstören. Man rief sich gegenseitig zu: „Die Politik hat uns nicht zusammengeführt, sie soll uns auch nicht auseinandertreiben.”
Es möchte als nicht ganz passend erscheinen, daß in einer dogmatischen Schrift die kirchliche Lage in unserer amerikanisch-lutherischen Kirche etwas ausführlich geschildert wird. Indessen ist erstlich zu bedenken, daß unserer Kirche in der neueren und neuesten
----------------------
614) Zur Einigung der amerikanisch-lutherischen Kirche 2, S. 38. [English translation: Conversion and Election, pg 53; text file here]
196 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. ~ 167]
theologischen Literatur — und gerade auch in der dogmatischen — mehr oder weniger ausführlich gedacht wird. Und zwar geschieht das, wie wir gesehen haben, in anklagender und verurteilender Weise, als ob wir mit unserm Festhalten am Schriftprinzip tote Orthodoxie verbreiteten, also als ein Übel in der christlichen Kirche anzusehen seien. Schon insofern wäre eine oratio pro domo am Platze. Sodann behalten wir bei dieser abgenötigten Selbstverteidigung auch immer den Zweck der Selbstermahnung im Auge. Wenn wir daran denken, was Gott unsern Vätern gegeben hat und was durch Gottes Gnade herrschenderweise auch jetzt noch bei uns sich findet, so richten wir zugleich an uns selbst, an die gegenwärtige und etwa noch kommende Generation, die dringende Mahnung,an der Weise der ersten Kirche, der Reformation und der Väter unserer Synode festzuhalten. Endlich verlieren wir auch das Interesse der Gesamtkirche der Gegenwart nicht aus dem Auge. Mit Recht wird von modernen Theologen die Forderung gerade an die Dogmatik gestellt, daß sie sich nicht isoliere, sondern sich mitten in die tatsächliche Lage der Kirche der Gegenwart hineinstelle. Prüfen wir nun die Lage der Kirche und ihrer Theologie in der Gegenwart, so können wir uns nicht der Wahrnehmung entziehen, daß es eine Lage großer Verlegenheit ist. Zwar wird die Flucht der Theologie aus der Heiligen Schrift und der Einzug in die „sturmfreie Burg” des frommen menschlichen Selbstbewußtseins als ein notwendiger Fortschritt in der theologischen Methode bezeichnet. Aber daneben ist doch Unruhe bemerkbar ob des Resultats dieses theologischen Umzugs, nämlich ob des zutage liegenden Chaos in der Lehre. Dieses Chaos sieht eigentlich nur die äußerste Linke, die mit Lessing überhaupt keine „Wahrheitsgewißheit” will, als einen idealen Zustand an. Deshalb sind auch im modern-theologischen Lager bereits Stimmen dahin laut geworden, ob nicht doch an einen Wiedereinzug in die verlassene Burg der göttlichen Autorität der Schrift zu denken sei. Diese Stimmen haben bisher noch keinen wahrnehmbaren Eindruck auf das Gros der Ichtheologen gemacht. In großer Selbsttäuschung wird immer wieder der Befürchtung Ausdruck gegeben, daß mit der Rückkehr zum Schriftprinzip „tote Orthodoxie” ihren Einzug in die christliche Kirche halten werde. Daher dürfte Walthers ausführliche Beschreibung der Sachlage in unserer amerikanisch-lutherischen Kirche, die ja in der alten Burg geblieben ist, in ihr und von ihr aus gesiegt hat, doch auch außer unserer kirchlichen Gemeinschaft Beachtung finden und den Gedanken
197 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. ~ 168]
nahelegen, es möchte das, was sich in der amerikanisch-lutherischen Kirche bewährt hat, auch in andern Ländern als das rechte Kirch-baumittel sich bewähren. Experto crede Ruperto, pflegt Luther zu sagen, wenn er die Kraft des Wortes Gottes preist. Gesetzt den Fall, daß z. B. in Deutschland die theologischen Lehrer und die Pastoren, anstatt Luther und die Dogmatiker anzuklagen, durch Gottes Gnade zu deren theologischer Methode zurückkehren würden (sola Scriptura und sola gratia, resp. satisfactio vicaria), so würde der göttlichen Verheißung gemäß auch in Deutschland wieder ein wahres lutherisches Kirchenwesen entstehen, und an die Stelle der Lehrverwirrung würde Übereinstimmung in der Lehre treten; denn: Έάν υμείς μείνητε έν τφ λόγω τφ έμφ, . . . γνώαεσϑε την άλήϑειαν. [Ed.- John 8:31-32 – “if ye continue in My Word, then… ye shall know the truth”] [Ed.- NOTE!! – green shaded areas pp 197-202 missing in English edition.] Zurzeit ist ja auch in Deutschland die Trennung von Kirche und Staat offiziell ausgesprochen worden. Dies hat die Frage in den Vordergrund gedrängt, wie sich die Kirche Deutschlands zur Sicherung ihres Lebens unter den veränderten Umständen neu einzurichten habe. Man hat an die bischöfliche Verfassung gedacht und sie zum Teil bereits eingeführt. Gegen die bischöfliche Verfassung an sich ist ja nichts einzuwenden; aber ohne Rückkehr zu dem Wort der Apostel und Propheten als Gottes unfehlbarem Wort fehlt der Grund, auf dem die christliche Kirche erbaut ist, und sind auch die „Bischöfe” nur ein Dekorationsstück, das die traurige Sachlage in der Kirche verdeckt. Gegenwärtig geht durch lutherische Länder und lutherische Landesteile die Klage, daß nicht nur die große römische Sekte, sondern auch die verschiedenen reformierten Sekten sich besonders eifrig der Propaganda widmen. Ohne Rückkehr zur Schrift ist auch die Kirche Deutschlands nicht nur der Propaganda Roms gegenüber machtlos, sondern auch der Propaganda solcher reformierten Sekten nicht gewachsen, die neben Irrrtümern noch die Schrift als Gottes Wort gelten lassen und auch noch die satisfactio vicaria lehren. Durch Preisgebung der Schrift als des Wortes Gottes und durch die damit verbundene Preisgebung der satisfactio Christi vicaria haben die modernen Theologen Deutschlands die Waffen der christlichen Kirche den Feinden ausgeliefert und sind eo ipso ebenso machtlos gegen Rom und die Sekten, wie das politische Deutschland nach Auslieferung der Waffen ein Spielball der Willkür seiner Feinde ist. Die Theologie Deutschlands muß zu der Theologie zurückkehren, die sie an der „streng konfessionellen amerikanisch-lutherischen Kirche” als Repristinationstheologie verwirft. Übrigens sollten wir in diesem Zusammenhang daran erinnern, daß diese
198 > Wesen und Begriff der Theologie. [NOT in English ed.]
Theologie aus Deutschland stammt, und zwar aus Deutschlands bester Zeit im vorigen Jahrhundert. Nach den Freiheitskämpfen gegen die französische Weltherrschaft ging durch Deutschland eine bedeutende religiöse Erweckung. Sie ging vornehmlich von Laienkreisen aus, erstreckte sich aber auch auf einen Teil der studierenden Jugend. Die Mehrzahl der Väter der Missourisynode gehörte auf der Universität Leipzig zu dem Häuflein gläubiger Studenten, das also beschrieben wird: „Sie versammelten sich an gewissen Tagen jeder Woche zu gemeinsamem Gebet, zu gemeinsamer Lesung der Heiligen Schrift, zum Zweck der Erbauung und zu gegenseitigem Austausch über das eine, das not ist.” 615) Auch Franz Delitzsch († 1890) [ADB article] gehörte diesem Studentenkreise an. A. Köhler sagt in der Herzogschen Realenzyklopädie, daß Delitzsch nach seiner Bekehrung vom Rationalismus zum Christentum das Studium der Theologie gemeinsam betrieb „mit seinen gleichgesinnten Freunden, welche später größtenteils die Begründer der streng konfessionellen Richtung in der lutherischen Kirche Nordamerikas wurden”.616) In diesem Kreise war, wie weiter berichtet wird,617) anfänglich von dem Lehrunterschied zwischen den verschiedenen Kirchen keine Rede. Aber mit dem Wachstum in der Erkenntnis entstand nach einiger Zeit auch die Frage: Welches Glaubens seid ihr? Seid ihr lutherisch oder reformiert oder uniert? Die Folge hiervon war eine Sichtung, aber die meisten von ihnen erkannten bald, daß kein anderer als der lutherische Glaube es sei, den der Heilige Geist in den fleißigen und heilsbegierigen Schriftforschern als den wahren, in Not und Anfechtung allein feststehenden versiegelt hatte, noch ehe sie wußten, welcher Kirche Glaube es sei. Nun hat Delitzsch das, was er nach seinem Übergang „aus der Schule Spinozas und Fichtes in die Schule Christi” 618) als christliche Wahrheit erkannt hatte, später zum großen Teil wieder vergessen. Der spätere Delitzsch ist ein Beispiel für die unvermeidliche Degeneration der Theologie, wenn sie von ihrer einzigen Quelle und Norm abrückt und unter dem blendenden Schein der „Wissenschaft” sich der unwissenschaftlichen μετάβασις εις αλλο γένος [“change to different genus”] schuldig macht. Aber auch der spätere Delitzsch hat die Zeit seines Lebens, die er gemeinsam mit den Begründern „der streng konfessionellen Richtung in der lutherischen Kirche Nord-
---------------------------------
615) Hochstetter, Geschichte der Missourisynode, S. 65.
616) RE.3 IV. 566. [Ed. RE == Realencyklopädie für protestantische Theologie und Kirche, 1898 3rd edition, lines 13-15; full article by A. Köhler on Delitzsch, pgs 565 - 570 (PDF)]
617) Hochstetter, a. a. O, S. 66.
618) So beschreibt Delitzsch selbst seine Bekehrung zum Christentum im Vorwort zu seiner Schrift „Vom Hause Gottes oder Kirche”, Dresden 1849.
199 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. ~ 168]
amerikas” verlebte, für die glücklichste Zeit seines Lebens erklärt. Auch das berichtet A. Köhler a. a. O.: „Die drei letzten Jahre seines akademischen Studiums, 1832—34, nennt Delitzsch selbst die glücklichsten seines Lebens: ‘sie waren die Zeit meiner ersten Liebe, die Frühlingszeit meines geistlichen Lebens’.” Auch, ist darauf hinzuweisen, daß Delitzsch noch längere Zeit nach der Beendigung seines akademischen Studiums der lutherischen Wahrheit Zeugnis gegeben hat. Sein Biograph in der Realenzyklopädie berichtet, daß Delitzsch, nachdem er 1836 in Leipzig als Doktor der Philosophie promoviert hatte, bis zum Jahre 1842 die „gottesdienstlichen Übungen” der „Stillen im Lande” leitete, und daß „die religiöse Richtung dieser Kreise die eines in den Bahnen streng lutherischer Bekenntnis treue wandelnden gesunden Pietismus war”. Dies geht auch klar hervor aus einer Schrift, die Delitzsch im Jahre 1839 zum dreihundertjährigen Reformationsjubiläum der Stadt Leipzig herausgab unter dem Titel „Luthertum und Lügentum"619) An dieser Schrift ist uns immer interessant und lehrreich gewesen, daß hier Delitzsch in allen Hauptpunkten die Stellung beschreibt, die eine wahrhaft christliche Theologie der modernen Theologie gegenüber einzunehmen hat. Es ist dies aber die Stellung, die unsere amerikanisch-lutherische Kirche „streng konfessioneller Richtung” von allem Anfang an charakterisierte und dann auch gegen die Beschuldigung der „Repristination” in zusammenfassender Weise von Walther in „Lehre und Wehre” 1875 geschildert wird. Delitzsch' Festschrift ist als „mehr praktisch und erbaulich” klassifiziert worden; sie kann aber auch zugleich als dogmatisch und als dogmatisch lehrreich bezeichnet werden. Zudem zeigt sie in den Hauptpunkten eine sachliche Übereinstimmung mit den Vätern der Missourisynode, wenn die letzteren auch in der Regel dieselben Sachen in ruhigerem Tone behandelten. Doch Delitzsch' Schrift ist ja eine Festschrift. Der Autor redet die lutherischen Gemeinden Leipzigs an: „Evangelisch-lutherische Gemeinden meiner teuren geliebten Vaterstadt, nehmt zur bevorstehenden Jubelfeier der in unserer Mitte eingeführten Reformation auch meinen mit der innigsten Fürbitte verbundenen Festgruß.” In dem Vorwort sagt Delitzsch gegen die Anklage, daß er Repristinationstheologie treibe: „Ich bekenne, ohne mich zu schämen, daß ich in Sachen des Glaubens um dreihundert Jahre zurück bin, weil ich nach langem
---------------------------------
619) Der Gesamttitel lautet: Luthertum und Lügentum. Ein offenes Bekenntnis beim Reformationsjubiläum der Stadt Leipzig. Von Franz Delitzsch. Grimma 1839.
200 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. ~ 168]
Irrsal erkannt habe, daß die Wahrheit nur eine, und zwar eine ewige, unabänderliche und, weil von Gott geoffenbart, keiner Sichtung oder Verbesserung bedürftig ist.” Delitzsch will die Leipziger Gemeinden an drei Hauptlehren erinnern, „welche durch die Reformation unter Gottes Beistand nach langem Dunkel, das sie umhüllte, wieder ans Licht gebracht sind: die Lehre vom Ansehen der Heiligen Schrift oder des Wortes Gottes, die Lehre von der Rechtfertigung, die Lehre von den Gnadenmitteln”. Über die Heilige Schrift sagt er [pg 6-7]: „Sie allein ist der Grund, auf dem die christliche Kirche den Pforten der Hölle trotzt, der Prüfstein, nach dem sie Wahrheit und Lüge unterscheidet, nach der sie richtet, aber auch gerichtet werden soll. Diesem Worte muß sie sich mit Ehrfurcht, mit Demut, mit Selbstverleugnung unbedingt unterwerfen. Sie ist über dieses Wort nicht als Richterin, sondern als Haushälterin gesetzt, von der Gott Rechenschaft fordern wird; sie soll, wo sie nicht den Fluch Gottes auf sich laden will, zu diesem Worte weder etwas hinzutun noch davontun; sie soll ohne alle Menschenfurcht und Menschengefälligkeit ihren Glauben an dieses Wort bekennen und von aller Ungerechtigkeit oder ketzerischen Lehre nach dem ausdrücklichen Befehle Gottes abtreten.” Durch Mißachtung der Heiligen Schrift ist Rom gefallen [pg 8]. „Die Väter unserer lutherischen Kirche aber bekämpften nicht Antichristentum mit Antichristentum, sie ordneten der Heiligen Schrift nicht etwa eine andere Erkenntnisquelle, wie die Tradition, bei oder gar über. Sie setzten an die Stelle der langgewalteten Finsternis nicht das natürliche Licht der menschlichen Vernunft, auch nicht das übernatürliche einer unmittelbaren Erleuchtung, sondern das Licht der Heiligen Schrift, ohne welches die menschliche Vernunft, sie mag philosophieren oder schwärmen, auf immer blind und unerleuchtet bleibt. Freilich, ihr [Neologen] scheidet zwischen Buchstaben und Geist. [pgs 20-21] Ihr schmeichelt euch, daß Luther euer Patron sei. Nie aber versteht Luther unter dem Worte Gottes etwas von dem Buchstaben der Heiligen Schrift Verschiedenes, nie die Eingebung eines inneren Lichts, die Einfälle der blinden Vernunft oder die Trugbilder des verkehrten Gefühls, sondern stets das geschriebene Wort nach seinem einfachen Wortverstande, nach seinem klaren Sinne, mit Ausschluß aller menschlichen Vermittlung, Verfälschung und Vergeistigung — die Heilige Schrift, durch welche allein, aber durch welche auch immer Gott der Heilige Geist wirkt, sie werde dem Hörer oder Leser ein Geruch des Lebens zum Leben oder ein Geruch des Todes zum Tode.” Über die Stellung zu den symbolischen
201 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. ~ 169]
Büchern spricht sich Delitzsch so aus [pg 18-19]: „Die symbolischen Bücher, heißt es jetzt, waren gut für damals, jetzt sind sie reif, abrogiert zu werden, damit man die Lehrer, die darauf beeidet werden, nicht mehr dem Verdachte des Meineides aussetze. Denn die Lehren der Neologen widerstreiten schnurstracks den symbolischen Büchern, wenn man nicht etwa diese ebenso vergeistigend interpretieren will, wie man es mit der Bibel zu machen pflegt. Niemand ist ein Glied der lutherischen Kirche, als der die Schriftmäßigkeit dieses Bekenntnisses anerkennt und, wo er den Lehrerberuf hat, gemäß der Verpflichtung auf dasselbe lehrt. Dieses Bekenntnis gründet sich auf die Heilige Schrift Alten und Neuen Bundes und erkennt sowohl die alt- als neu-testamentlichen Bücher des Kanons für eingegeben durch den Heiligen Geist, für gleich ehrwürdig und unverbrüchlich, für übereinstimmig und beweiskräftig, für klar, vollkommen und hinreichend, von der in ihnen geoffenbarten, ungemischten Wahrheit die ihnen widerstreitende Lüge zu unterscheiden.” Von den alten lutherischen Theologen sagt Delitzsch [pg 24]: „Jene alten lutherischen Lehrer waren nicht bloß gelehrte, sondern auch geheiligte Theologen, unterwiesen in der Schule des Heiligen Geistes, erfüllt mit himmlischer Weisheit, süßem Tröste und lebendiger Erkenntnis Gottes; Gottes Wort war eingepflanzt in ihr Herz, es war mit ihrem Glauben gemengt und in Saft und Kraft bei ihnen verwandelt. Gottes Wort, nicht menschliche Weisheit, auch nicht verstanden durch menschliche Weisheit, sondern erfahren durch göttliche Gnade, war das himmlische Feuer, an dem sie ihre Fackel entzündeten. So schaue doch, mein Volk, in den Spiegel deiner Ahnen, gedenke der vorigen Zeit bis daher und betrachte, was Gott getan hat an den alten Vätern! Frage deinen Vater, der wird dir's verkündigen; deine Ältesten, die werden dir's sagen, 5 Mos. 32,7. So spricht der HErr: ‘Tretet auf die Wege und schauet und fraget nach den vorigen Wegen, welches der gute Weg sei, und wandelt drinnen, so werdet ihr Ruhe finden für eure Seele’, Jer. 6,16. Ich predige euch Rückschritt, nämlich zum Worte Gottes, von dem ihr gefallen seid. Eure Aufklärung ist für mich eine finstere, sternenlose, schaurige Nacht; ihr habt in eurem Taumel die Begriffe verwechselt, sonst könntet ihr eine ägyptische Finsternis, die das Strafgericht Gottes ist, weil ihr das Licht der Reformation verworfen habt, nicht dem sonnigen Tage vergleichen.” Nach Darlegung der Lehren von der Rechtfertigung und den Gnadenmitteln, die durch die Reformation wieder ans Licht gebracht sind, schließt Delitzsch seine Jubiläumsschrift also:
202 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. ~ 169-170]
„Zu euch wende ich mich zurück, geliebte Mitgenossen derselben Stadt und derselben Kirche, denen ich gleich an der Schwelle meines Büchleins mit freundlichem Festgruße entgegentrat. Ich habe mich unterwunden, euer Lehrer zu sein; denn ich weiß, ihr habt Lehrer, die berufen sind, euch zu lehren und zu weiden. Aber das Wort Gottes gebietet uns auch: ‘Lasset uns untereinander uns ermahnen, und das so viel mehr, soviel ihr sehet, daß sich der Tag nahet!’ Hebr. 10, 25. Diesem göttlichen Aufrufe habe ich Folge zu leisten gesucht, denn ich bin ja einer aus eurer Mitte, erfüllt mit herzlicher Liebe zu unserm vielgeliebten Leipzig, der Stadt der Menschenfreundlichkeit und Milde, und zu dem teuerwerten Sachsenlande, dem Lande des Biedersinns und der Treue. Was ich ausgesprochen und zu verteidigen gesucht habe, das ist nichts anderes als der Glaube der altlutherischen Kirche, zu dem unsere Vorfahren vor dreihundert Jahren am heiligen Pfingstfest unter brünstigem Dankgebet sich bekannten. Forscht in der Schrift; ihr werdet erfahren und erkennen, daß dieser Glaube der lutherische, daß er der christliche ist, gegründet auf das unwandelbare und unvergängliche Wort der ewigen Wahrheit. Dieser Glaube hat nichts zu schaffen mit wirrem Zweifel, brütendem Trübsinn und kränkelndem Siechtum, wie viele meinen; O nein, er bringt Helle Augen, getrosten Mut und kernige Frische. Die erleuchtete Vernunft erkennt seine unumstößliche Wahrheit; das wiedergeborne Herz findet in ihm himmlischen Trost, seligen Frieden und reiche Erquickung. Dieser Glaube überwältigt die Pforten der Hölle und hält durch die Tore des Todes einen ewigen Triumphzug. Sollen wir, meine Geliebten, einen solchen bewährten und festen und freudigen und sieghaften Glauben dahingeben für ein halbiertes Christentum, das auf zwei Seiten hinkt und Christum und Belial zu vereinigen sucht, oder gar für eine dummstolze Aufklärung, die Gottes Wort Lügen straft und die Vernunft vergöttert, die uns im Leben zu belustigen, aber im Sterben nicht zu trösten vermag? Wir würden töricht an uns selber und unverantwortlich an unsern Nachkommen handeln.”
Aber auch noch zehn Jahre später (1849), als er Professor der Theologie in Rostock war, hat Delitzsch seinen amerikanischen Freunden „streng konfessioneller Richtung” nicht nur seinen Gruß entboten, sondern auch sein Bekenntnis zum lutherischen Bekenntnis erneuert und die Mahnung hinzugefügt, an diesem Bekenntnis festzuhalten, weil darin die „Zukunft” der lutherischen Kirche beschlossen sei. Delitzsch hat nämlich seine Schrift „Vom Hause Gottes oder der
203 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. ~ 170]
Kirche” gewidmet „den evangelisch-lutherischen Pastoren Brohm, Bünger, Bürger, Fürbringer, Geier, Gönner, Gruber, Keyl, Löber, Schieferdecker, Ferdinand Walther, Wege in Missouri, Illinois, Wisconsin und New York”. Wir setzen einen Teil der Widmungsworte hierher, um den kirchlichen Zusammenhang Deutschlands mit der „streng konfessionellen Richtung” der Missourisynode noch etwas weiter zu veranschaulichen. Die Worte tragen zugleich stark dogmatischen Charakter und sind daher auch in einer Dogmatik am Platze. Sie lauten: „Mit dem Gruße alter, unverwelklicher Liebe begrüße ich euch, die ihr vom Hause des HErrn seid, euch Genossen meiner ersten Liebe zu Christo, Genossen meiner ersten Freude an der Kirche des lauteren Bekenntnisses und des ungeschmälerten Haushalts Gottes, Genossen martervoller, nun durch Gottes Erbarmen bestandener Kämpfe. Du, mein Walther, weihtest mich in den tiefen Ernst der göttlichen Gnadenordnung ein. Im Umgang mit dir und Bürger lernte ich die alten aszetischen Schriften unserer Kirche zuerst kennen und lieben. In deiner Gemeinde, lieber Keyl, hielt ich meine erste Predigt; dort sah ich Wunder amtlicher Seelsorge, dort verlebte ich unter deinen Pfarrkindern paradiesische Tage. Welch tödlichen Haß der Welt die schlichte Predigt des Heilsweges erregt, sah ich an dir, lieber Bürger. An eurem Wort und Beispiel, ihr lieben Wege und Brohm, Löber und Fürbringer, ward ich des lutherischen Bekenntnisses recht gewiß und froh. Und in einer Zeit abermaligen Schwankens lernte ich von dir, teurer Gruber, die rechten Kennzeichen der wahren Kirche, an denen ich sie wiederfand, um sie hinfort nimmer wieder zu verlieren. . . . Jeder eurer Namen, teure Brüder und Freunde, ist ein Stück meiner Lebensgeschichte, übersät mit unauslöschlichen Erinnerungen. Wir haben Jahre Pfingstlicher Freude, blutigen Ringens, drückenden Bannes, gnädiger Befreiung miteinander durchlebt, und blicken wir zurück, so muß unser Mund voll Lachens und unsere Zunge voll Rühmens sein. Denn der HErr hat uns gerichtet mit Lindigkeit und regiert mit viel Verschonen. Noch ist in unsern Herzen seine süße Liebe, in unserm Munde das Wort seiner Wahrheit, und wir sind nicht irre geworden an seiner heiligen Kirche. So empfangt denn dieses geringe Angebinde als ein Lebenszeichen der Liebe eures Freundes zu dem HErrn, seinem Hause und euch, seinen Hausgenossen. . . . Welch eine herrliche Zukunft wartet unserer Kirche, wenn sie die Lampe ihres guten Bekenntnisses mit Öl des Geistes versorgt und ohne Stillstand dem kommenden HErrn hurtig entgegengeht! Ihr geliebten Brüder alle jenseits des Meeres,
204 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. ~ 170]
laßt uns wachen und beten, daß wir das Erbe dieser Zukunft nicht verlieren!” Unter dem Druck der „unwissenschaftlichen Wissenschaft”, wie Walther es auszudrücken Pflegte, ist der spätere Delitzsch, wie bereits bemerkt wurde, von seinem eigenen Wahrheitszeugnis abgewichen. Aber das benimmt seinem früheren Zeugnis ebensowenig die Wahrheit, als des späteren Melanchthons Abirren vom rechten Wege die ursprünglich von ihm bekannte Wahrheit hinfällig macht. Nach und nach trat eine Entfremdung zwischen unserer amerikanisch-lutherischen Kirche und der Kirche Deutschlands ein. Wir blieben bei der Schrift als Gottes Wort und als der einzigen Quelle und Norm der Theologie und sahen in Luther, dem Reformator der Kirche, das rechte Vorbild, wie in der christlichen Kirche zu lehren sei. Die deutschländische Theologie gab je länger, je mehr die Schrift als Gottes Wort auf und wandelte in den Bahnen Schleiermachers, des „Reformators des 19. Jahrhunderts”, der die Kirche und ihre Theologie nicht auf den Felsen des Wortes Gottes zurückführte, wie dies der Reformator des 16. Jahrhunderts tat, sondern Kirche und Theologie in den Sumpf des Subjektivismus hineinzerrte, indem er die Parole ausgab, die christliche Lehre anstatt aus der Schrift aus dem angeblich frommen Ich des theologisierenden Subjekts, dem „Erlebnis” usw. zu beziehen. In diesem Sumpf des Subjektivismus bewegt sich gegenwärtig fast die ganze Theologie Deutschlands, soweit die öffentlichen Lehrer in Betracht kommen.
Ein Laie (ein Jurist) weist in der „N. Kirchl. Zeitschr.” (1923, S. 116) auf die unglückliche politische Lage hin, in der Deutschland sich gegenwärtig befindet und die wohl im allgemeinen den amerikanischen Lutheranern „streng konfessioneller Richtung” am tiefsten zu Herzen geht. Möchte durch Gottes Gnade, wie in andern Ländern, so auch in Deutschland die Theologie aus dem Sumpf der Ichtheologie herausgeführt werden! Der Laie schreibt u. a.: „Das deutsche Volk ist so tief gesunken wie in der Zeit nach dem Dreißigjährigen Kriege. Aber bedenken wir, daß in jener Zeit sich das Glaubensleben in der evangelischen Kirche am reichsten entfaltet hat. Damals entstanden die schönsten unserer Kirchenlieder, die uns allen von Kindheit an ein unverlierbarer Schatz des Gemütes sind. Hoffen wir, daß gerade in den Stürmen und Anfechtungen der neuen Zeit sich unsere Kirche als eine große Kraft des Lebens erweisen wird.” Das würde geschehen, und die Kirche würde auch jetzt die politische Not wegglauben und wegbeten wie nach dem Dreißigjährigen Kriege, wenn die kirchlichen Verhältnisse so lägen wie damals. Damals hielten die Lehrer
205 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. – 170-171]
des Volkes fast einmütig an der Heiligen Schrift als Gottes Wort und an der aus der Schrift geschöpften christlichen Lehre fest. Aus diesem Glauben heraus sangen die gottbegnadeten Sänger der lutherischen Kirche die schönen Kirchenlieder, die noch jetzt unser Herz erquicken. Jetzt steht es leider anders, nämlich so, daß die öffentlichen Lehrer der Kirche fast einstimmig die unfehlbare göttliche Autorität der Schrift leugnen und die christliche Lehre, die in jenen herrlichen Kirchenliedern besungen werden, als Repristinationstheologie verwerfen. Dies geschieht gerade auch in derselben Nummer der „Neuen Kirchlichen Zeitschrift” von seiten eines Theologen, der mit bedeutender sachlicher Unkenntnis von einem „unwiederbringlichen Fall der altdogmatischen Inspirationslehre” redet und mit einem entsprechenden Mangel an Wahrheitssinn anklagend auf ein „lutherisches Judentum” hinweist, „wo man in mechanischer, äußerlich vollzogener Aneignung der Autorität der Schrift wie der Bekenntnisschriften seine Aufgabe schon erfüllt zu haben glaubt”. Wir Theologen sind erfahrungsmäßig sehr schwer zu bekehren, wenn wir einmal gründlich vom rechten Wege abgekommen sind, z. B. nicht mehr wissen, ob wir aus der Heiligen Schrift oder aus dem eigenen Innern lehren sollen. Darum wird in Deutschland, auch diesmal, wie im vorigen Jahrhundert, das Heil vornehmlich aus den „Laienkreisen” kommen müssen, vielleicht unter der Führung bisher wenig beachteter Pastoren. Gerade wie bei uns in Amerika gegenwärtig die Laien unter den Baptisten eine durch das ganze Land sich erstreckende Vereinigung zustande zu bringen suchen, die den Zweck hat, Kirche und Welt vor einer Generation von ungläubigen Pastoren zu schützen, die das Produkt der Universitäten und Seminare sind, auf denen „für die göttliche Schöpfung die Evolution eingesetzt wird, für die göttliche Autorität der Heiligen Schrift das Glaubensbewußtsein des Individuums, für Christum, den Sohn Gottes, der Idealmensch Jesus, für den Glauben an die stellvertretende Genugtuung Christi moralische Bestrebungen nach dem Vorbilde des Idealmenschen Jesus, für den Himmel und die ewige Seligkeit irdische Glückseligkeit (social gospel).” 620)
Was in längerer Ausführung von der Lehrstellung der Missourisynode gesagt ist, gilt auch von den Synoden, die mit ihr in
---------------------------
620) Siehe S. 146 f. Die Mitteilungen aus The Fundamentalist,, Vol. II, No. 1.
206 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. – 171-171]
Kirchengemeinschaft stehen.621) Aus der Wisconsinsynode haben wir ein großes dogmatisches Werk von D. Adolf Hönecke († 1908).622) Diese Dogmatik ist ein Beweis für die Tatsache, daß ein Dogmatiker selbständig arbeiten und dabei doch in der Lehre mit andern vollständig übereinstimmen kann. Auch Hönecke gelangt zu dem Resultat, daß die Lehre, welche die lutherische Kirche in ihren Symbolen bekennt, die Lehre der Heiligen Schrift ist, und diese Lehre wird von ihm sowohl aus der Schrift dargestellt, als auch in scharfsinniger Polemik gegen die alten, die neueren und die neuesten Irrrlehrer siegreich behauptet. Besonders ausführlich find die Prolegomena gearbeitet, in denen der Verfasser sich auch eingehend mit der modernen Erlebnistheologie auseinandersetzt. Hönecke weist nach, daß diese Erlebnistheologie, die prinzipiell die christliche Lehre nicht aus der Schrift, sondern aus dem Innern des theologisierenden Subjekts schöpfen und normieren will, sowohl schriftwidrig ist, als auch an Selbstwidersprüchen leidet.623) Wir heben einige Hauptpunkte aus Höneckes Dogmatik hervor, die den Verfasser als Dogmatiker charakterisieren. Hönecke lehrt: Schrift und Gottes Wort sind schlechthin zu identifizieren. „Wir verwerfen alle Ansichten, nach welchen nicht alles in der Bibel Gottes Wort sein soll, oder, was dasselbe sagt, nach welchen nicht alles in der Schrift von Gott ein-
------------------
621) Das sind in Amerika die Vereinigte Synode von Wisconsin, Minnesota, Michigan u. a. St., die Slowakische Synode von Amerika und die Norwegische Synode, in Deutschland die Ev.-Luth. Freikirche von Sachsen u. a. St., in Australien die Ev.-Luth. Synode in Australien.
622) Der vollständige Titel lautet: Ev.-Luth. Dogmatik von D. theol. Adolf Hönecke, weiland Direktor und Professor am Seminar der Allgemeinen Ev.-Luth. Synode von Wisconsin, Minnesota, Michigan u. a. St. zu Wauwatosa, Wis. Zum Druck bearbeitet von seinen Söhnen Walther und Otto Hönecke. 1909 ff. Northwestern Publishing House, Milwaukee, Wis. Vier Bände zu je etwa 460 Seiten Großoktav.
623) Auch Franks „System der christlichen Gewißheit” bespricht Hönecke ausführlich mit der Begründung: „Dies nähere Eingehen hat seinen Grund nicht etwa in der Bedeutung dieses Systems; denn tatsächlich bringt es nichts Neues, weder nach Prinzip (das Operieren aus dem Bewußtsein ist, wie wir bisher gesehen, etwas, das längst zuvor da war) noch nach Methode und Tendenz (Gewißmachung, abgesehen von der Schrift, ist doch auch etwas Altes). Allein das Werk machte Aufsehen und fand Ansehen, welch letzteres das Bedenkliche ist. Dazu gilt Frank vielfach als positiver Theologe von echt lutherischem Standpunkt. Man begegnet in deutschen theologischen Schriften viel dem Ausdruck des Vertrauens zu ihm, und zwar als lutherischem Theologen. So fordert es das Interesse der lutherischen Kirche, daß wir näher auf dies Werk eingehen.” (1,120—150.)
207 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. ~ 172]
gegeben und aus göttlicher Eingebung geschrieben sein soll.” Weil Schrift und Gottes Wort Wechselbegriffe sind, so ist die Schrift auch die einzige Quelle und Norm der Theologie.624) Was in die Dogmatik gehört, entscheidet die Schrift und nicht etwa ein systematischer Aufbau. Die Systemmacherei führt auf Abwege. Man denke nur an die Gnadenwahllehre des Calvinismus oder die Wahl- und Berufungslehre der synergistischen Lutheraner hüben und drüben.625) Versteht man unter dogmatischer Methode die äußere Gruppierung der Lehren, so darf die Methode eine unterschiedliche sein. Methodus est arbitraria. Aber keine Methode darf so angewandt werden, daß dadurch irgend etwas in der Schrift Gegebenes hinausmethodisiert wird.626) Hönecke, beschreibt die synthetische und analytische Methode, erwähnt auch Coccejus' Föderalmethode und die biblisch-historische Methode, die die biblische Geschichte zugrunde legt und daran das Dogmatische anschließt. Keine ist schlechthin zu verwerfen. „Zu verwerfen ist aber die von Neueren (Frank usw.) angewandte Methode der Entwicklung aus dem christlichen Bewußtsein usw.” Mit dieser Methode wollen die Neueren „um die Schrift herumkommen. Sie öffnet dem Subjektivismus Tor und Tür”. „Die Dogmatik ist lediglich systematische, das ist, wohlgeordnete Darstellung der aus Gottes Wort im Glauben geschöpften theologischen Erkenntnis. Sie ist also beständig damit beschäftigt, sich aus Gottes Wort zu begründen und zu beweisen. Das Wort Gottes ist wie ihre Quelle (principium cognoscendi, norma causativa), auch ihre Richtschnur, nach der sie beständig gemessen wird.” über die Symbole sagt Hönecke: „Unsere [lutherische] Kirche hat ihre Erkenntnis aus Gottes Wort in den Symbolen niedergelegt, und so muß eine lutherische Dogmatik auch vor dem Richtmaß der Symbole bestehen. Doch ist damit nicht ein zweites Richtmaß gesetzt; denn die Symbole haben selbst ihr Richtmaß an der Schrift, sie sind selbst eine normierte Norm (norma normata).” Auch der altprotestantischen Dogmatiker nimmt Hönecke sich an: „Durch die ganze neuere Positive Dogmatik geht ein anderer Zug als durch die alte orthodoxe Dogmatik. Die alte Dogmatik ist theozentrisch, die neuere positive anthropozentrisch”.627) Für den vielgeschmähten Calov tritt Hönecke mit diesen Worten ein: „Der bedeutendste Theologe unter denen, die die Methode des Calixt anwenden, ist unstreitig Abraham Calov. Leiblich rüstig bis ins
---------------------------
624) I, 329 ff. 625) I, 259 f. 626) I, 325 ff. 627) I, 315.
208 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 171~ 172]
hohe Alter hinein und vom reichlichen Hauskreuz nicht gelähmt, ist er bis an sein Ende einer der treuesten, eifrigsten und kräftigsten Verfechter strengen Luthertums geblieben. Dieser sein redlicher polemischer Eifer wird ihm vielfach vorgeworfen. Nach dem Urteil der Neueren ist er ein Mann, der wie ein Wachthund beständig vor dem Hause seines Herrn steht und bissig alle anbellt, die auch nur am Zaun etwas abbrechen wollen. So ein Mann gefällt solchen Theologen natürlich nicht, die schier alles, selbst die Kernlehren, preiszugeben willens sind. Zu Calovs Zeit, gerade wie heute, fing man an, unter korrekt klingender Phrase so leise und still am Zaun der reinen Lehre abzubrechen; da konnte er als treuer Wächter nicht schweigen und muß es sich daher gefallen lassen, daß man ihn heute viel schmäht. Vielfach, sogar mit ehrenrührigen Worten (RE.1 II, 607), wirft man ihm seine sechste Ehe im hohen Alter vor, während man doch auf der andern Seite das wirklich unsittliche, jahrelange Verhältnis Schleiermachers, dem die Neueren alle huldigen, gar nicht oder wenigstens äußerst schonend (RE.1 XIII, 743) berührt. Sine ira et studio ist das gewiß nicht gehandelt.”
Was Höneckes Einfluß auf die Wisconsinsynode betrifft, so wird er von Prof. J. Schaller († 1920) als der Mann beschrieben, durch den die Wisconsinsynode zu einer klaren Lehrstellung gekommen ist. Schaller sagt: „Es handelte sich damals (als die Wisconsinsynode noch zum General Council gehörte) darum, der Wisconsinsynode eine unmißverständliche Lehrstellung zu verschaffen und ihr Verhältnis zu andern amerikanischen Kirchenkörpern wie auch zu der deutschländischen Kirche klarzustellen. Sie gehörte damals zum Generalkonzil, das zwar in seinem Bekenntnis zur lutherischen Lehre viel entschiedener stand als die Generalsynode, aber doch wegen unionistischer Praxis den entschiedenen Lutheranern, die der Wisconsinsynode angehörten, mißfiel. Auf der andern Seite stand die Missourisynode mit ihrem unzweideutigen Bekenntnis zu den symbolischen Büchern der lutherischen Kirche und ihrem entschiedenen Zeugnis gegen diejenigen, die mit dem lutherischen Bekenntnis in der Praxis nicht Ernst machten. An den Verhandlungen, die über die Bekenntnisfrage geführt wurden, nahm der junge Pastor Hönecke regen und bald auch entscheidenden Anteil. Denn er hatte sich auf das Studium der alten lutherischen Dogmatiker geworfen und schnell nicht nur eine gründliche Bekanntschaft mit ihrer Lehrstellung erlangt, sondern auch die Herzensüberzeugung gewonnen, daß jede unionistische Verbrüderung nicht nur Verleugnung des lutherischen
209 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. 171 & 173]
Bekenntnisses, sondern des Evangeliums selbst sei. Sein Einfluß trug in hervorragender Weise dazu bei, daß die Wisconsinsynode ihre Verbindung mit dem Generalkonzil löste, und machte sich auch kräftig geltend, als im Jahre 1868 Verhandlungen mit der Missourisynode gepflogen wurden, die mit der gegenseitigen Anerkennung der beiden Körperschaften abschlossen. Darum gehört er auch mit zu denen, die als Gründer der Synodalkonferenz, welche im Jahre 1872 entstand, in gutem Gedächtnis gehalten zu werden verdienen.” 628) Wir finden keine Lehrdifferenz zwischen Walther und Hönecke, worin wir mit Recht abermals ein Zeugnis für die einigende Kraft des Wortes Gottes sehen. Wie die Väter der Missourisynode untereinander, so waren auch Walther und Hönecke stark ausgeprägte und verschiedene Charaktere. Auch kamen sie aus verschiedenen kirchlichen Verhältnissen. Hönecke studierte Theologie in Halle unter Hupfeldt, Julius Müller und Tholuck, also zu einer Zeit, als in Halle die Herrschaft des Rationalismus bereits gebrochen war. Hönecke sagt in seiner Dogmatik 629) von Tholuck: „Tholuck hat viele von seinen Schülern auf den Weg des Lebens gewiesen, wurde ihnen aber gram, wenn sie strenger konfessionelle Bahnen einschlugen wie der Verfasser dieser Dogmatik, der ihn aber doch allzeit als einen Mann verehrt hat, dem er viel zu danken hatte.” Hönecke kam im Jahre 1863, also vierundzwanzig Jahre nach der Einwanderung der Sachsen, als Gesandter der Berliner Missionsgesellschaft nach den Vereinigten Staaten, um hier in der kirchlichen Versorgung der eingewanderten Deutschen tätig zu sein. Er wurde Glied der Wisconsinsynode und bald ihr theologischer Führer, wie bereits mit Prof. Schallers Worten oben berichtet wurde. Es wird hier wohl passend darauf hingewiesen, daß Hönecke in seiner Dogmatik 630) auch Walther als Theologen beschreibt. In dieser Schilderung Walthers beschreibt Hönecke zugleich sich selbst als Theologen, wie aus den beigefügten Urteilen hervorgeht. Er sagt über Walther: „Karl F. W. Walther war Schrifttheologe. Was der Ritschlianer Kattenbusch (Von Schleiermacher zu Ritschl, S. 3) als Schwäche Walthers hinstellt, daß er für die Dogmatik wieder die Parole: Nur loci! ausgegeben habe, da es die Signatur der Offenbarung sei, daß wir nur unzusammenhängende Stücke aus Gottes Geheimnissen erfahren, das muß Walther als Lob angerechnet
-----------------------
628) Im Vorwort zu Höneckes Dogmatik IX f.
629) I, 306. 630) I, 320 ff. [pp 320-323; English ed. pp. 347-349]
210 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. – 173-174]
werden. Er stellt sich damit in die Reihen der genuinen lutherischen Theologen, während die sogenannten konfessionellen Theologen drüben, da sie wirkliche Systeme erstreben, unter dem Einfluß Schleiermachers stehen, wie ihnen das Kattenbusch auch erklärt. Systeme machen, scheinbar widersprechende Lehren zu reimen, ist nach Walther nicht Aufgabe des Theologen. Im Gegenteil, alle Systemmacherei hält er für Schaden und nicht für Gewinn in der Theologie; sie bringt nicht Vertiefung, sondern nur Auflösung der Lehren. Er schließt sich da dem Worte Luthers an: “Wenn es soll Reimens gelten, so werden wir keinen Artikel im Glauben behalten.’ Ebensowenig wie systematisieren und Lehren reimen, hält er es für Aufgabe des Theologen, was auch die Neueren so viel wollen, Schrift und Wissenschaft, Glauben und Wissen zu versöhnen. Dabei muß nach ihm Schrift und Glaube leiden. — Bei aller Achtung vor wirklicher Wissenschaft (L. u. W. 21, Vorwort) ist ihm wissenschaftliche Theologie im Sinne der Neueren etwas Fremdes. Die Wissenschaft soll in der Theologie nur als Magd dienen; will sie mehr sein, so muß sie hinaus. Es verdirbt schon die Schrifttheologie, wo man meint, mit wissenschaftlichen Beweisen dem Schriftwort nachhelfen zu wollen. — Das einzige Erkenntnisprinzip der Theologie ist Walther die Schrift. Was nicht aus der Schrift ist, gehört nicht in die Theologie. ‘Nicht weniger stimmen wir’, schreibt er, ‘daher auch mit Johann Gerhard: Das einzige Prinzip der Theologie ist das Wort Gottes; darum ist, was nicht in Gottes Wort geoffenbart ist, nicht theologisch.’ Er verwarf daher absolut alles Theologisieren auf Grund der erleuchteten Vernunft (L. u. W. 21, 225 ff.). ‘Alle solche Apologetik’, sagt er (L. u. W. 34, 326) [Ed.- ref. L. u. W. 21, pg 41; Editorials from Lehre und Wehre, p. 135], ‘hassen wir von ganzem Herzen, denn sie setzt voraus, daß es noch etwas Gewisseres gebe als Gottes Wort, aus welchem Gewisseren sich der geheimnisvolle Inhalt der Offenbarung herleiten lasse.’ — Während die neueren konfessionellen Theologen drüben die Theologie als ‘kirchliche Wissenschaft vom Christentum’ (so Luthardt, Komp., S. 2) definieren und von ihrem ‘Verwandtschaftsverhältnis zur Philosophie’ (Öttingen, Dogm. I, 411) reden, bezeichnet sie Walther, was bei Öttingen als primitiver Standpunkt gilt (a. a. O., S. 397), mit Chemnitz und den andern Alten als habitus practicus. Er sagt: ‘Was Zweck des Amts ist, ist auch Zweck der Theologie. Es ist dies aber der wahre Glaube, die Erkenntnis der Wahrheit zur Gottseligkeit und endlich das ewige Leben’ (L. u. W. 14, 73). — Ein Theologe wird man nach Walther nur durch den Heiligen Geist aus dem Worte Gottes. Ein rechter
211 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. ~ 174]
Theologe ist nur der, der durch den Geist vermittels des Wortes wiedergeboren ist. In seiner Ausgabe von Baier führt er dazu (S. 69) Luthers Wort an: ‘Einen Doktor der Heiligen Schrift wird dir niemand machen denn alleine der Heilige Geist vom Himmel, wie Christus saget Joh. 6,45.’ Aus dem Wort der Theologe, und was er treibt, ist wieder das Wort. — Die Schrift war Walther Gottes Wort und nichts anderes. An der altkirchlichen Inspirationslehre ließ er nicht rütteln. Das rühmt an ihm Rohnert, daß er in den letzten Jahrzehnten wohl am entschiedensten für die altdogmatische Verbalinspiration eingetreten ist (Dogmatik, S. 105). An der Inspiration der Schrift hielt Walther fest, weil er wohl sah, daß, wenn man auch nur im geringsten hier nachgebe, man damit aufgebe, daß die Schrift allein Quelle und Norm der Theologie sei. — ‘Offene Fragen’, wie die Iowasynode, erkennt Walther nicht an. Es bedarf nicht erst der symbolischen Bearbeitung, um eine Lehre zur Kirchenlehre zu machen. Die Bekenntnisse machen keine neuen Kirchenlehren, sondern stellen sie nur dar. Die Schrift ist das Entscheidende. Daher ist die Bibellehre auch Kirchenlehre, wenn sie auch in den Symbolen noch nicht behandelt ist (L. u. W. 14, 133 ff.). Dabei hat aber Walther die Bekenntnisse hochgeschätzt. Überall zieht er dieselben in seinen Schriften an und dazu die Aussagen der treulutherischen Lehrer. Aber seine Theologie ist doch nicht im üblen Sinne eine Repristinationstheologie, wie die neueren Theologen drüben sie verschreien; denn bei ihm sind es nicht die alten Dogmatiker oder die Symbole, die den Ausschlag geben, sondern die Schrift. — Als Schrifttheologe hat er keine besonderen Lehren, die er vorzugsweise getrieben hat, aber die Zeitläufte brachten es mit sich, daß er etliche Lehren besonders treiben mußte und sie energisch durchgearbeitet hat: die Lehre von Kirche und Amt gegenüber der Buffalosynode, die Lehre von der Wahl und Berufung gegenüber der Ohio- und der Iowasynode, die Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung gegenüber der Erlangertheologie und dem Sektenwesen des Landes.”
So Hönecke über Walther. Der eigentliche Kampf um die Lehre von Kirche und Amt, der fast gleichzeitig auch in Deutschland geführt wurde, war schon beendet, als Hönecke nach den Vereinigten Staaten kam. Aber auch in diesen Lehren gibt er dem Irrtum gegenüber, der sich links und rechts erhoben hat, der christlichen Wahrheit Zeugnis, wie aus seiner Dogmatik hervorgeht. Er lehrt: 631) Die
-----------------------------
631) IV, 146 ff.
212 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. ~ 175 & 177]
Kirche im eigentlichen Sinne des Worts sind nur die gläubigen Christen, und nur sie sind die ursprünglichen Besitzer aller geistlichen Güter und Rechte. Sie sind es daher auch, die das öffentliche Predigtamt den dazu tüchtigen Personen durch den Beruf „übergeben”. In bezug auf die Frage, ob das öffentliche Predigtamt göttliche oder menschliche Ordnung sei, lehrt er entschieden die göttliche Ordnung.632) Er wendet sich einerseits gegen Grabau, Löhe, Kliefoth, Münchmeyer und andere, die, romanisierend, aus dem öffentlichen Amt ein Gnadenmittel neben Wort und Sakrament machen, andererseits gegen Hase, Köstlin, Höfling, Luthardt und andere, welche die göttliche Ordnung des öffentlichen Predigtamts in dem Sinne, als ob es ein göttliches Gebot habe, leugnen und behaupten, daß das Amt in concreto ohne ausdrücklichen göttlichen Befehl mit innerer Notwendigkeit aus der christlichen Gemeinde hervorgehe.
Was die Lehren von der Bekehrung und Gnadenwahl betrifft, so ist nicht nur in amerikanischen, sondern auch in europäischen Zeitschriften und Schriften gegen Hönecke, resp. gegen die Wisconsinsynode und andere Synoden innerhalb der Synodalkonferenz die Anklage erhoben worden, daß sie „seinerzeit bereitwillig die bittere missourisch-calvinistische Pille verschluckten”.633) Ohne Bild ausgedrückt, lautet die Anklage dahin, daß Hönecke und die Synoden, deren einflußreichster Theologe er war, ohne eigene, ja wider ihre eigene Überzeugung in dem Streit um die lutherische Lehre von der Bekehrung und Gnadenwahl sich auf die Seite der Missourisynode gestellt hätten. Mit der angeblich verschluckten „bitteren missourisch-calvinistischen Pille” hat es diese Bewandtnis: Anfangs der siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts wurde aus der Iowasynode heraus und etwa acht Jahre später auch aus der Ohiosynode heraus gegen die Missourisynode die Anklage erhoben, daß sie in einen „grundstürzenden Irrtum”, nämlich in „Calvinismus”, gefallen sei. Was war denn vorgefallen? Innerhalb der Missourisynode war das geschehen, was zu allen Zeiten geschehen ist, wenn in der christlichen Kirche über die christliche Lehre ernstlich gehandelt und nachgedacht wurde. Bei den Lehrverhandlungen auf Synoden und Konferenzen war man gelegentlich auch auf die sogenannte crux theologorum gekommen, nämlich auf die Tatsache, die die Konkordienformel so
-----------------------
632) IV, 175 ff.
633) So die Leipziger Allgemeine Ev.-Luth. Kirchenzeitung 1893, Nr. 2.
213 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. ~ 175]
formuliert: „Einer wird verstockt, verblendet, in verkehrten Sinn gegeben; ein anderer,, so Wohl in gleicher Schuld, wird wiederum bekehret.” Diese Frage wurde in der apostolischen Kirche behandelt,634) dann dem Pelagianismus und Semipelagianismus gegenüber im vierten, fünften und sechsten Jahrhundert,635) namentlich auch zur Zeit der Reformation, z. B. in der scharf zugespitzten Frage, warum Saul verworfen, David angenommen wird, Petrus umkehrt, Judas verloren geht.636) Was innerhalb der Missourisynode gelehrt wurde (und noch gelehrt wird), läßt sich in drei Sätze zusammenfassen: 1. Wir kennen aus der Schrift ganz genau den Grund der Bekehrung: es ist Gottes Gnadenwirkung allein. 2. Wir kennen auch aus der Schrift ganz genau den Grund der Nichtbekehrung: es ist allein des Menschen Widerstreben gegen die Wirksamkeit des Heiligen Geistes (sola hominis culpa). 3. Weil aber die Gnade Gottes sowohl allgemein als ernstlich ist und alle Menschen in dem gleichen gänzlichen Verderben liegen, so bleibt es in diesem Leben für unser menschliches Begreifen ein Geheimnis, warum die einen bekehrt werden und die andern nicht. Die Lösung dieses Geheimnisses erwarten wir im ewigen Leben. Jeder Lösungsversuch in diesem Leben bringt uns in Widerspruch mit der Schrift. Das Geheimnis wäre leicht gelöst, wenn wir mit Erasmus und dem späteren Melanchthon irgend etwas im Menschen (aliquid in homine) als Grund oder Erklärungsgrund für die Bekehrung eines Menschen annehmen dürften (facultas se applicandi ad gratiam, verschiedenes Verhalten, Unterlassung des mutwilligen Widerstrebens usw.), oder wenn in der christlichen Kirche zu lehren erlaubt wäre, daß die Bekehrung nicht allein von Gottes Gnade, sondern auch vom Verhalten des Menschen abhänge. Aber diese Lösung tritt in Widerspruch zu all den Schriftaussagen, die so klar die Entstehung des Glaubens der Gnaden- und Allmachtswirkung Gottes zuschreiben und dem Menschen nicht nur jede Neigung zum Evangelium absprechen, sondern ihm auch Feindschaft gegen das Evangelium zuschreiben. Das Ge-
--------------------------
634) Röm. 11, 33—36. überhaupt gehört der ganze Abschnitt Kap. 9—11 hierher.
635) Schriftgemäße Stellung zur crux theologorum in den Canones von Arausio (Orange) 529. Bei Mansi VIII, 712 ff. Ich habe die 25 Sätze abdrucken lassen in „Die Grunddifferenz in der Lehre von der Bekehrung und Gnadenwahl”, 1903, S. 34 ff. Vgl. auch „Zur Einigung” 2, 1913, S. 3 f. [English: Conversion and Election, p. 5, text here]
636) Der Gegensatz zwischen Luther und dem späteren Melanchthon II, 583,
214 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. ~ 176]
heimnis Wäre auch dann völlig gelöst, wenn wir als Grund der Nichtbekehrung mit Calvin an die Stelle der gratia univsrsalis die gratia particularis setzen dürften. Aber auch diese Lösung ist verboten, weil sie uns in Widerspruch zu all den Schriftaussagen bringt, die so klar und gewaltig die gratia universalis, seria et efficax lehren und die auf Bekehrung abzielende Wirkung des Heiligen Geistes ausdrücklich auch auf die Menschen ausdehnen, welche nicht bekehrt und selig werden. Darum ist angesichts der gleichen Gnade Gottes und angesichts des gleichen gänzlichen Verderbens der Menschen auf eine vernunftgemäße („erkenntnismäßige”) Beantwortung der Frage: Cur alii, alii non? in diesem Leben zu verzichten. Mit andern Worten: Es ist die einzig rechte gottgewollte Theologie, an diesem Punkte ein in diesem Leben unlösbares Geheimnis anzuerkennen. So Luther und Chemnitz. So auch sehr ausgesprochen die Konkordienformel, die nach Angabe der Tatsache: „Einer wird verstockt, verblendet, in verkehrten Sinn gegeben, ein anderer, so Wohl in gleicher Schuld, wird wiederum bekehrt” ausdrücklich hinzufügt, daß hier eine „Frage” vorliege, deren Beantwortung in diesem Leben unmöglich sei, weil die Schriftoffenbarung über Hos. 13,9 nicht hinausführe („Israel, daß du verdirbest, die Schuld ist dein; daß dir geholfen wird, ist lauter meine Gnade”), und sehr bestimmt darlegt, daß wir nach der Schrift bei einer Vergleichung der Seligwerdenden mit den Verlorengehenden bei den ersteren die gleiche Schuld und das gleich üble Verhalten lehren müßten wie bei den letzteren. Dagegen ist aus den vorhin genannten lutherischen Synoden sonderbarerweise behauptet worden: „Es ist nicht wahr, daß die lutherische Kirche die Frage, warum bei dem einen Menschen Tod und Widerstreben weggenommen wird, bei dem andern nicht, unbeantwortet läßt. Es ist nicht wahr, daß die Lutheraner diese Frage Niederschlagen.” „Daß von zwei Menschen, welche das Evangelium hören, bei dem einen Widerstreben und Tod weggenommen wird, bei dem andern nicht — das hat seinen Grund in dem Willen des Menschen, es hat seinen Grund darin, daß der eine der Gnade Gottes beharrlich, hartnäckig und mutwillig widerstrebt, während der andere sein natürliches Widerstreben vom Heiligen Geist überwinden läßt. Es hat seinen Grund in der freien Selbstentscheidung des Menschen.” Gott „läßt es von der Entscheidung des Menschen abhängen, wessen er sich erbarmen und wen er verstocken wird”. „Wir werden den Grund davon, daß bei dem einen Menschen Widerstreben und Tod weggenommen wird,
215 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. ~ 177]
bei dem andern nicht, ... in dem verschiedenen Verhalten der Menschen gegen die angebotene Gnade suchen.”637) „Also erklärt sich das verschiedene Wirken der bekehrenden und seligmachenden Gnade wohl aus dem verschiedenen Verhalten der Menschen ihr gegenüber.” 638) Diese Lehre, wonach das „verschiedene Verhalten” des Menschen als Erklärungsgrund für die Tatsache verwendet wird, warum von zwei Menschen, die das Evangelium hören, der eine glaubt,- während der andere nicht glaubt, und wonach die Bekehrung und Seligkeit in des Menschen eigener Hand steht, ist die Lehre des späteren Melanchthon, die in der Konkordienformel so nachdrücklich verworfen wird. Es ist dies auch die Lehre moderner Lutheraner wie Dieckhoff und Luthardt, welche meinen, die sola gratia streichen zu müssen, um die Kirche vor Calvinismus zu bewähren.639) Und weil die Missourisynode wie die allgemeine Gnade, so auch die sola gratia festhielt, so ist die Sage von dem missourischen „Calvinismus” in der Welt verbreitet worden, und darum redete auch die „Allgemeine Ev.-Luth. Kirchenzeitung” von der „bitteren missourisch-calvinistischen Pille”, die angeblich die Synoden von Wisconsin, Minnesota usw. verschluckt hätten. Mit welcher klaren Erkenntnis der Lehre der Heiligen Schrift, Luthers und des lutherischen Bekenntnisses diese, wir müssen sagen, so leichtsinnig angeklagten Synoden alle einschlägigen Lehrpunkte behandelt haben, ergibt sich aus ihrem Bericht über die Synodalversammlung im Jahre 1882.640) Um zu verhüten, daß irgend jemand wider seine Überzeugung zu dem Resultat der Verhandlungen ja sage, wurde nach den eingehenden Verhandlungen „beschlossen, nachmittags wieder zu gemeinschaftlicher Sitzung zusammenzutreten und ein jedes Glied der beiden Synoden zu veranlassen, seine Übereinstimmung mit der vorgetragenen Lehre zu erklären oder, wo es sich zu derselben nicht bekennen könne, dies ebenfalls kundzugeben”.641) Die Stellung der beiden Synoden zur Lehre der Schrift und des lutherischen Bekenntnisses geht aus den folgenden ausschlaggebenden Sätzen hervor:642) „Der Mensch kann zu seiner Bekehrung weder durch sein Tun noch durch sein Verhalten das Geringste beitragen, und daß einige bekehrt werden, während
--------------------------
637) Monatshefte 1872, S. 80. 87. 103.
638) Zeitblätter 1911, S. 526. 639) II, Note 1296; II, Note 1317.
640) Verhandlungen der 32. Versammlung der Synode von Wisconsin in Gemeinschaft mit der Synode von Minnesota in La Crosse, Wis., vom 8. bis zum 14. Juni 1882.
641) Bericht, S. 34 f. 642) A. a. O., S. 23. 39. 56. 41.
216 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. ~ 177-178]
doch andere in ihrem Verderben bleiben, ist ebensowenig mit Setzung einer Verschiedenheit der Menschen wie mit Leugnung des allgemeinen Gnadenwillens Gottes zu erklären.” „Es bleibt ein Geheimnis, warum einige bekehrt werden, während doch andere unbekehrt bleiben. Nur das muß mit Entschiedenheit festgehalten werden, daß ebensowenig wie das Bleiben der einen im unbekehrten Zustande in Gottes Vorsatz, ebensowenig die Bekehrung der andern in einer Verschiedenheit des Widerstrebens begründet ist.” „Wenn man die doppelte Frage stellt: Woher kommt es, daß die einen bekehrt werden, die andern nicht? so kann man nicht antworten: ,Das kommt von Gott' oder: ,Das kommt von Menschen', sondern daß ein Mensch bekehrt wird, das kommt von der gewaltigen Wirkung der Gnade Gottes im Evangelium, die sich an ihm betätigt hat. Daß aber der andere nicht bekehrt wird, das kommt von der gewaltigen Kraft und Wirkung seines bösen Herzens, das Gottes Gnade widerstrebt hat.” „Die Konkordienformel weiß von einer Lösung des hier vorliegenden Geheimnisses durch eine Unterscheidung zwischen natürlichem und mutwilligem Widerstreben nichts, sondern sagt, wo sie von den Geheimnissen redet, über die wir nicht grübeln sollen: ,Einer wird verblendet, in verkehrten Sinn gegeben, ein anderer, so wohl in gleicher Schuld, wird wiederum bekehret.’” In seiner Dogmatik 643) rechnet Hönecke die Einschiebung des „verschiedenen menschlichen Verhaltens” in den ordo salutis zu der menschlichen „Systembauerei”, die im Interesse eines Vernunftsystems über die Schrift hinaus klug sein will. Tatsächlich ist das „verschiedene Verhalten” auf den theologischen Markt gebracht worden, um die Tatsache: „Einer wird verstockt, verblendet, in verkehrten Sinn gegeben, ein anderer, so Wohl in gleicher Schuld, wird wiederum bekehret” vernunftgemäß zu erklären. Darüber werden dann die Schriftaussagen, die auf das gleiche gänzliche Verderben aller Menschen lauten, gestrichen. „Wo man streng systematisch [im Sinne der „Systembauerei"] Verfahren wollte, ist das Resultat die schwerste Abirrung von der Schrift gewesen. Immer erfordert ein solches System, welcher Art es auch sein mag, eine Antwort auf die Frage, warum aus den vielen Berufenen wenig selig werden. Da führt die Systemmacherei auf Abwege. Man denke nur an die Gnadenwahllehre des Calvinismus [Leugnung der universalis gratia] oder an die Wahl- und Berufungslehre der synergistischen Lutheraner hüben und drüben” (Leugnung der sola gratia).
-------------------------
643) I, 260.
217 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. ~ 178]
Im vorstehenden sind zwei theologische Vertreter der „streng konfessionellen Richtung” der amerikanisch-lutherischen Kirche geschildert worden. Daß Walthers Wirkungskreis der größere war, hat mehrere Ursachen, ändert aber nichts an der Tatsache, daß beide Männer trotz der Verschiedenheit der Charaktere und der Lebensführungen durch das Band der völligen Einheit in der christlichen Lehre verbunden waren und bis an ihren Tod verbunden blieben. Beide waren „Repristinationstheologen” im rechten, gottgefälligen Sinne des Worts und eine konkrete Illustration solcher Worte Luthers wie dieser: „Das Wort und die Lehre soll christliche Einigkeit oder Gemeinschaft machen; wo die gleich und einig ist, da wird das andere wohl folgen"; ferner: „Es folge eine Kirche der andern sin äußerlichen Dingen) freiwillig, oder man lasse eine jede bei ihren Gebräuchen; wenn nur die Einigkeit des Geistes im Glauben und im Worte erhalten wird, so schadet die Verschiedenheit und Mannigfaltigkeit in irdischen und sichtbaren Dingen nichts"; endlich: „Mir nicht des Friedens und Einigkeit, darüber man Gottes Wort verliert; denn damit wäre schon das ewige Leben und alles verloren. Es gilt hier nicht weichen noch etwas einräumen, dir oder einigem Menschen zuliebe, sondern dem Wort sollen alle Dinge weichen, es heiße Feind oder Freund. Denn es ist nicht um äußerlicher oder weltlicher Einigkeit und Friedens willen, sondern um des ewigen Lebens willen gegeben.” 644) Schade, daß die amerikanisch-lutherische Kirche „streng konfessioneller Richtung” und die Kirche in Deutschland auseinandergekommen sind! Um an die ursprüngliche Einigkeit des Geistes zwischen Walther und Franz Delitzsch zu erinnern: durch Walther ist die christliche und theologische Art zur vollen Entfaltung gekommen, die einst die Jugendfreunde in Leipzig verband und der Delitzsch — wir können uns des Eindrucks nicht erwehren — bis an sein Lebensende in einem gewissen Sinne nachgetrauert hat.645)
-------------------------
644) St. L. IX, 831; XVIII, 1985; IX, 831.
645) Dies scheint uns auch hervorzugehen aus dem Beileidschreiben, das Delitzsch anläßlich des Todes Walthers an die hinterlassene Familie richtete. Es ist datiert „Leipzig, Pfingstmontag 1887” [Ed. –note from English edition – reprinted in Lehre und Wehre, 1887, 289 f.] und enthält u. a. die folgenden Worte über Walther: „Es gibt kaum einen Lebenden, der so wie ich mit ihm die Jahre erster Liebe zu dem gefundenen Heiland und dann auch die Wehen, unter denen die Auswanderung sich bewerkstelligte, durchlebt hat — Gott hat ihn in diesem Feuer der Anfechtung gestählt, so daß er für unsere lutherische Kirche eine eiserne Säule und eherne Mauer (Jer. 1, 18) geworden ist —, ein Wunder in meinen Augen, an welchem oft mein schwacher Glaube sich gestärkt hat. In manchen Dingen konnten wir, die beiden alten Freunde, uns in letzter Zeit nicht verstän-
218 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. ~ 179]
Es wurde und wird nach dem Einfluß gefragt, den „die streng konfessionelle Richtung” der amerikanisch-lutherischen Kirche nach außen hin ausgeübt habe, erstlich auf die ältere amerikanisch-lutherische Kirche, die vom Luthertum fast nur noch den Namen hatte, sodann auf Deutschland und andere Länder. Damit ist auch die Frage verbunden worden, ob eine „Repristinationstheologie”, die an der Schrift als Gottes unfehlbarem Wort (Verbalinspiration) und infolgedessen auch am Bekenntnis der lutherischen Kirche in allen Stücken festhält, sich hierzulande und anderswo werde behaupten können. Achten wir zunächst auf den Einfluß nach außen, so ist derselbe weder zu niedrig noch zu hoch einzuschätzen. Es ist freilich ein bedeutender Einfluß auf die ältere amerikanisch-lutherische Kirche ausgeübt worden, obwohl die Väter der Missourisynode fast nur durch das Medium der deutschen Sprache tätig waren. Der bedeutendste Theologe der englisch-lutherischen Kirche Amerikas, Charles Porterfield Krauth († 1883), hat wiederholt und in verschiedenen Wendungen sich dahin geäußert, daß die „Missourier” als Wohltäter der amerikanisch-lutherischen Kirche anzusehen seien. Krauth selbst hat unter diesem Einfluß nach längeren inneren Kämpfen und nach schweren Kämpfen gegen seine kirchliche Umgebung eine solche Stellung zur lutherischen Kirche und ihrem Bekenntnis gewonnen, daß er sich in seinem Gewissen gedrungen fühlte, seine frühere laxe, unionistische Stellung ausdrücklich zu widerrufen. Er schrieb im Jahre 1865 u.a.: 646) „Unsere Kirche kann nie eine echte innerliche
----------------------------
digen, aber meine Liebe und Verehrung erlitt dadurch keinen Abbruch, und im Fundament blieben wir doch eins, denn in das blutige Verdienst des HErrn JEsu berge auch ich mich lebend und sterbend. … Um ein kleines, so hoffe ich den teuren Freund wiederzusehen, dort, wo es kein Meer gibt, welches trennt. . . . Die ganze lutherische Kirche hat [anläßlich des Todes Walthers] Ursache mitzutrauern.” (Dies Schreiben ist in extenso abgedruckt in „L. u. W.” 1887, S. 289 f.) Im gleichen Sinne schrieb Delitzsch 1887 auch an den Verfasser dieser Dogmatik. Daß die beiden alten Freunde in letzter Zeit „in manchen Dingen” sich nicht verständigen konnten, kam daher, daß Delitzsch unter dem Druck der „Wissenschaft” seinen früheren Standpunkt änderte. Er schob als „wissenschaftlicher Theologe” zwischen sich und die Heilige Schrift die „Wissenschaft” als bestimmendes Prinzip. Er gab die Inspiration der Schrift preis. Daß Delitzsch als Christ die satisfactio vicaria festhielt, wie auch wir der Liebe nach annehmen, ist eine “glückliche Inkonsequenz”. Daß die Leugnung der Inspiration konsequenterweise auch zur Leugnung der satisfactio vicaria führt, sah Delitzsch schon zu seiner Zeit verwirklicht (Hofmann, Frank) und liegt seitdem als fast allgemeine Tatsache vor Augen.
646) Zitiert in „L. u. W.” 11, 27 [sic - pg 278] aus dem Lutheran and Missionary, vom 13. Juli 1865.
219 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. ~ 179-180]
Harmonie haben außer in dem Bekenntnis dieser Artikel (der Lehrartikel der Augsburgischen Konfession), und zwar aller insgesamt, ohne Vorbehalt und Zweideutigkeit. Dies ist unsere tiefe Überzeugung, und wir retraktieren hiermit vor Gott und seiner Kirche feierlich, wie wir bereits ernstlich und wiederholt in indirekter Weise getan haben, alles, was wir im Widerstreit mit dieser unserer gegenwärtigen Überzeugung geschrieben oder gesagt haben. Dies zu tun, schämen wir uns nicht. Wir danken Gott, der uns geleitet hat, die Wahrheit einzusehen.” Wir haben von Krauth ein sehr bedeutendes und in mancher Hinsicht klassisches dogmatisches Werk unter dem Titel Conservative Reformation and Its Theology (1871). Auch hier wiederholt Krauth in der Vorrede (S. XIII): "The positions taken in this book are largely counter, in some respects, to the prevailing theology of our time and our land. No man can be more fixed in his prejudice against the views here defended than the author himself once was; no man can be more decided in his opinion that these views are false than the author is now decided in his faith that they are the truth. They have been formed in the face of all the influences of education and of bitter hatred or of contemptuous disregard on the part of nearly all who were most intimately associated with him in the period of struggle.” In meisterhafter Weise hat Krauth z.B. auch die lutherische Lehre von Christi Person und vom heiligen Abendmahl gegen Shedds Angriffe verteidigt und als schriftgemäß dargetan.647) Aber Krauths theologische Stellung hat sich bei dem zähen Widerstand, den sie in den eigenen Kreisen fand, nicht weiter entwickeln und durchsetzen können. Der bedeutendste englisch-lutherische Dogmatiker nach Krauth ist Henry E. Jacobs. Von ihm besitzen wir A Summary of Christian Faith (1905). Dies dogmatische Werk ist in sehr geschickter katechetischer Form verabfaßt. Auch tritt in reichlichen Zitaten aus Luther, den Bekenntnisschriften und den Dogmatikern deutlich das Bestreben hervor, auf den schriftgemäßen lutherischen Standpunkt zu kommen. Aber durch Einfügung des „verschiedenen menschlichen Verhaltens” in die Heilsordnung zur Beantwortung der Frage: Cur non omnes? biegt Jacobs entschieden in das synergistische Fahrwasser ein. Er schreibt: 648) "The differences in results in the call do not depend upon differences in God’s will or upon the call
--------------------------------
647) Vgl. die Zitate aus Krauth, die wir bei der Lehre von Christi Person und vom Abendmahl mitgeteilt haben, II, 306; III, 364. 376. 401 s.
648) A Summary of Christian Faith, S. 216 f.
220 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. ~ 180-181]
having an irresistible efficacy attached to it in one case and having no efficacy attached to it in the other. The efficacy of the Word and call is constant; [so weit richtig, nun folgt aber] the difference in results is determined by a difference in man’s attitude towards the call.” Damit ist die Lehre des späteren Melanchthon adoptiert, die, wie wir sahen, von Luther, von Chemnitz und von der Konkordienformel so entschieden verworfen wird, weil sie die gleiche Schuld und das gleich üble Verhalten der Seligwerdenden bei einer Vergleichung mit den Verlorengehenden leugnet, die sola gratia aufhebt und die Seligkeit des Menschen anstatt in die sola gratia in des Menschen Hand, nämlich in des Menschen Verhalten oder Selbstentscheidung, stellt. Auch als D. Schmauk, der Präsident des General Council, diesen Synergismus ausschalten wollte, z. B. durch Worte wie diese: "Man’s will is able to decide for salvation through new powers bestowed by God. This is the subtle synergism which has infected nearly the whole of Evangelical Protestantism, and which is or has been taught in institutions bearing the name of our Church”,649) wurde er aus der eigenen kirchlichen Gemeinschaft heraus getadelt und zurechtgewiesen.650) Wo aber die Bekehrung und Seligkeit des Menschen anstatt allein auf Gottes Gnade ausschlaggebend auf des Menschen Verhalten, Selbstentscheidung, Selbstsetzung usw. gestellt wird, da ist prinzipiell das Wesen der christlichen Religion im Unterschied von den von Menschen ersonnenen Religionen aufgegeben, und wo sich diese Lehre wirklich durchsetzt, da hat der Kampf gegen Rom, gegen die Werklehre der Sekten, auch gegen die Logen die innere Berechtigung und Kraft verloren. Luther wußte wohl, was er sagte, wenn er Erasmus zurief: Iugulum meum petisti! Auch die Inspiration der Schrift (im Sinne der Schrift) hat Jacobs aufgegeben. Einerseits nennt er die Schrift einen “inerrant record” der göttlichen Offenbarung, andererseits redet er aber auch von “discrepancies” der heiligen Schreiber. Er sagt z. B.:651) "But there is a true sense in which we may say not only that ‘the Bible is,’ but ‘that the Bible contains, the Word of God.’ This occurs when each part, even the most insignificant and seemingly trifling, even the discrepancies between various human inspired writers, and all that pertains to the limitations of their nature and environment and ------------------------
649) The Confessional Principle, 1911, p. 752.
650) Die Zitate bei F. Bente, American Lutheranism, II, 217 f.
651) A Summary of the Christian Faith, p. 284.
221 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. ~ 181]
age and language, are regarded as bearing on the one great end and one great theme of revelation and its clear and inerrant record.” Fragen, die nichts mit der Inspiration der Schrift zu tun haben, wie die historische Frage, ob die hebräischen Vokalpunkte ursprünglich geschrieben (Gerhard) oder nicht geschrieben waren (Luther), werden in die Lehre von der Inspiration gemischt.652) Jacobs schreibt: "But are not some of the most conservative defenders of traditional theories of inspiration also open to criticism ? Yes, when they ignore or endeavor to conceal the human element in Scripture (see above, 8 a) or, what is the same, raise the human factor to an equality with the divine, as when it is claimed that the Hebrew vowel points are inspired.” Besonders scharf bringt Jacobs seine Ablehnung der Inspiration der Schrift in seiner Einleitung zu D. J. A. W. Haas' Biblical Criticism (1903) zum Ausdruck. Während Christus von der ganzen Schrift und jedem einzelnen Wort der Schrift sagt: „Die Schrift kann nicht gebrochen werden” und der Apostel Paulus unterschiedslos von der ganzen Schrift sagt: „Alle Schrift von Gott eingegeben”, auch Petrus uns versichert, daß die Worte der Propheten des Alten Testaments und der Apostel des Neuen Testaments gleicherweise des Heiligen Geistes Worte seien, so unterscheidet Jacobs Grade der Inspiration zwischen den einzelnen Teilen des Alten Testaments, zwischen dem Alten und Neuen Testament und zwischen den einzelnen Teilen des Neuen Testaments. "A text from Genesis and one from John, one from the Psalms and one from Romans, cannot stand upon the same footing.” [see original here] “There are few theorists [!] who would assign the same degree of inspiration to the statistics and rolls in Ezra or Chronicles as to those parts of the New Testament for whose reading the dying ask when all other earthly words have lost their interest. Even the distinction between the Petrine and the Pauline theology, which the Tuebingen school so greatly exaggerated, contains within it an element of truth, when the difference is found to be one of degree, but not one of kind.” 653) Jacobs hat sich so ziemlich die ganze Weise angeeignet, in der die moderne Theologie die Inspiration der Schrift bekämpft. Er beruft sich z.B. darauf, daß die Augsburgische Konfession keine Darstellung der Inspirationslehre enthält. Auch die Konkordienformel formuliere keine Defi-
-----------------------------
652) A. a. O., S. 281
653) Zitat bei F. Bente, American Lutheranism, II, 220 f. [see original here]
222 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. ~ 181-182]
nition, weder von der Offenbarung noch von der Inspiration. Um die Verbalinspiration zu diskreditieren, wird den Vertretern derselben wider die historische Wahrheit eine mechanische Auffassung der Inspiration zugeschrieben: "If the verbal theory of inspiration mean that every word and letter are inspired, so that the writer was purely passive and performed a merely mechanical office, as ‘the pen of the Holy Ghost,’ this, we hold, is an assumption for which we have no warrant.” [see original quote here]
Auch tritt ein großer Unterschied hervor, wenn wir D. Krauths Gesinnung und Stellung zu der „streng konfessionellen Richtung” der amerikanisch-lutherischen Kirche mit der Gesinnung und Stellung vergleichen, welche die jetzt lebenden Führer gegen diese „Richtung” kundgeben. Krauth sagte u. a.: "I have been saddened beyond expression by the bitterness displayed toward the Missourians. So far as they have helped us to see the great principles involved in this disputation [über die vier Punkte: Altar- und Kanzelgemeinschaft mit Nichtlutheranern, Chiliasmus und Logen], they have been our benefactors, and although I know they have misunderstood some of us, that was perhaps inevitable. They are men of God, and their work has been of inestimable value.” 654) Ferner erklärte Krauth in seiner Rede vor der Pittsburghsynode im Jahre 1866, daß jede äußere kirchliche Vereinigung ohne Einigkeit in der Lehre Gott mißfällig und der Kirche schädlich sei. "There can he, there is, no true unity hut in the faith. . . . The one token of this unity, that by which this internal thing is made visible, is the one expression of faith, one ‘form of sound words.’ used in simple earnestness, and meaning the same to all who employ it. . . . You may agree to differ; but when men become earnest, difference in faith will lead first to fervent pleadings for the truth, and, if these he hopelessly unheeded, will lead to separation. All kinds of beliefs and unbeliefs may exist under the plea of toleration.” 655a) Widerspruch mit dieser Warnung seines früheren Präsidenten hat das General Council sich mit der Generalsynode und der Vereinigten Synode des Südens zur „Vereinigten Lutherischen Kirche Amerikas” (United Lutheran Church of America, „Mergersynoden”) verbunden, ohne auch nur einen Versuch zu machen, die vorhandenen Lehrdifferenzen zu beseitigen. Das General Council
----------------------------
654) Zitiert bei F. Bente, a. a. O., II, 185, aus Späths Biographie von Krauth II, 236.
655 a) F. Bente, a. a. O. II, 184.
223 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. ~ 182]
ist damit zu dem unionistischen Standpunkt der Generalsynode zurückgekehrt, um dessentwillen es sich einst von der Generalsynode trennte. Auch aus der Ohiosynode heraus wurde erklärt, daß mit der Bildung der United Lutheran Church of America D. Krauths Stellung, der sich so ernstlich um eine in der Lehre einige lutherische Kirche innerhalb der älteren lutherischen Kirche Amerikas bemühte, aufgegeben fei. Wir können uns der Wahrnehmung nicht entziehen, daß in einem großen Teil der amerikanisch-lutherischen Kirche weder Walthers noch Krauths Einfluß sich hat durchsetzen können.655b)
--------------------------
655 b) [249] Wir haben außer Jacobs' A Summary of the Christian Faith noch mehrere größere und kleinere dogmatische Werke in englischer Sprache. Wir nennen: Milton Valentine, Christian Theology, 1905—1907, 2 Bände; Revere F. Weidner, Introduction to Dogmatic Theology 2, 1895; Andrew Voigt, 1916. Alle sind mehr oder weniger von der modernen „wissenschaftlichen” Theologie beeinflußt, aber so, daß Weidner und Voigt bei den gröbsten Auswüchsen Widerspruch erheben. Falsches Zeugnis, das gegen die alten Dogmatiker geredet wird, ist Wohl von modernen Theologen, die einen Namen haben, bona fide herübergenommen. Voigt sagt z. B. in der Einleitung, XVIII: "Confessionalism does not mean that it is the office of dogmatics simply to reproduce and defend the accepted doctrines of the Church. This was the conception in the seventeenth century.” Wer die Theologen des siebzehnten Jahrhunderts kennt, weiß, daß sie die christliche Lehre direkt aus der Schrift nehmen und begründen, was ihnen ja auch von modernen Theologen als Fehler („Intellektualismus” usw.) angerechnet wird. Milton Valentines Dogmatik kann als ein Beweis dienen, wie erfolgreich man sich in der Generalsynode nicht nur gegen den Einfluß der Missourisynode, sondern auch gegen die Bemühungen D. Krauths gewehrt hat. Valentine vertritt so ziemlich alle Verirrungen der modernen Theologie in Verbindung mit dem arminianisch-reformierten Schwärmertum. Er verwirft die Inspiration der Schrift und das stellvertretende Strafleiden Christi. Er schwächt die Lehre von der Erbsünde ab, verwirft das mere passive und adoptiert den menschlichen Willen als dritte Ursache der Bekehrung (freie Selbstentscheidung). Kinder können nicht glauben und werden ohne eigenen Glauben selig. Heiden werden selig, "if they lived according to the light afforded them” (II, 405 ff.). — Ein in englischer Sprache geschriebenes Kompendium der Dogmatik durchweg korrekt-biblischen Inhalts haben wir in D. A. L. Gräbners († 1904) Outlines of Doctrinal Theology (1898). Diese Outlines sind, wie der Verfasser in der Vorrede sagt, "a brief thetical compend of the outlines of Christian doctrine, consisting of concise definitions and an array of texts from which the various points of doctrine are derived as from their theological source, the written Word of God”. Daß Zitate aus den symbolischen Büchern nicht beigefügt sind, "must not be construed into a disparagement of the Lutheran standards or of any point of doctrine therein contained. With an emphatic refusal to apologize for having nowhere, from the first point in Bibliology to the last in Eschatology, progressed beyond the theology of our orthodox fathers, and with the fervent prayer that God would gra-
224 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. ~ 183]
Was den Einfluß der „streng konfessionellen Richtung” der amerikanisch-lutherischen Kirche auf die lutherische Kirche in andern Ländern betrifft, so schrieb Generalsuperintendent [Hans Heinrich Philipp Justus] Ruperti anläßlich des Todes Walthers: 656) „Mit Walther ist einer der Großen in der Kirche Christi heimgegangen, ein Mann, der nicht nur in der kirchlichen Geschichte Amerikas eine epochemachende Persönlichkeit und dort der hervorragende Führer und Sammler der Lutheraner war, sondern dessen Wirksamkeit in der lutherischen Kirche aller Weltteile als eine mächtig anregende empfunden wurde. Der Erfolg seiner Wirksamkeit ist in der neueren Geschichte unserer Kirche fast beispiellos.” Auch hier ist, was den Einfluß auf die deutschländische Kirche betrifft, eine einschränkende Bemerkung am Platze. Die Väter der Missourisynode haben sich wahrlich nicht beeilt, den Verkehr mit der Kirche Deutschlands abzubrechen. Wie sie unaufhörlich bemüht waren, sich mit den verschiedenen lutherischen Synoden hierzulande durch Anbietung von Vorbesprechungen zu verständigen,657) so haben sie auch wiederholt Verständigung mit den kirchlichen Kreisen Deutschlands und anderer Länder gesucht.658) Freilich trat nach und nach sonderlich mit der Kirche Deutschlands die Entfremdung ein, worauf Delitzsch in dem obenerwähnten Schreiben hinweist. Wir, unsererseits, haben insofern die Verbindung aufrechterhalten, als wir von den kirchlichen Ereignissen in Deutschland, namentlich auch von den literarischen Erscheinungen, sorgfältig Notiz genommen haben. Vielleicht bieten die 68 Jahrgänge von „Lehre und Wehre” und die 78 Jahrgänge vom „Lutheraner” die reiche haltigste, die ganze Welt deckende kirchliche Zeitgeschichte, die gegenwärtig existiert. Dagegen hat die deutschländische Theologenwelt einerseits unsere — immerhin nicht unbedeutende — kirchliche Literatur
-------------------------
ciously keep him and his brethren in the faith from any such progress, this humble contribution toward the theological literature of our Church in America is dedicated to the service of our Lord and Savior Jesus Christ and commended to His divine blessing”.
656) [250] “Allgem. Ev.-Luth. Kirchenzeitung” vom 22. Juli 1887 [vol. 20; see Christian Cyclopedia entry].
657) Gegenwärtig werden wieder Lehrbesprechungen zwischen Vertretern der Synodalkonferenz und Vertretern der Synoden von Iowa und Ohio gepflogen. Die Verhandlungen sind nicht aussichtslos, wenn auch noch nicht eine völlige Einigkeit in der Lehre erreicht ist.
658) Auch ist darauf hinzuweisen, daß lutherische Kirchengemeinschaften, die mit der Synodalkonferenz in Lehre und Praxis einig sind, in andern Ländern bestehen: in Deutschland die Ev.-Lutherische Freikirche von Sachsen u. a. St. (mit Gemeinden in Dänemark), in Australien und Neuseeland die Ev.-Luth. Synode in Australien, im Elsaß die Ev.-Luth. Freikirche im Elsaß.
225 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. ~ 183-184]
fast vollständig ignoriert, andererseits ziemlich sorgfältig die bösen Dinge beachtet und weiter verbreitet, welche aus gegnerischem Lager über unsere „streng konfessionelle Richtung” der Welt mitgeteilt werden, z. B. über unsern angeblichen Calvinismus, über unsere Vergötterung der Dogmatiker und unsere Schändung der Dogmatiker, über unsere Einigkeit und über unsere gegenseitige Befehdung, über demokratische Knechtung der Pastoren seitens der Gemeinden usw.659) Es ist uns seitens der Theologen Deutschlands leider dieselbe Bitterkeit entgegengetreten, die uns hierzulande — zum großen Bedauern von D. Krauth — seitens der Vertreter des liberalen „amerikanischen Luthertums” entgegengebracht wurde. Und wir können das verstehen. Uns trennt theologisch ein Graben so breit und tief, daß er nicht überbrückt werden kann. Wir halten die Heilige Schrift für Gottes unfehlbares Wort und deshalb auch für die einzige Quelle und Norm der Theologie, so daß wir jeden Gedanken verwerfen, der — mit Luther zu reden — seine „Ankunft” nicht aus der Schrift hat, mag der Gedanke sich auf den Inhalt oder den Zusammenhang der christlichen Lehre beziehen. Die modernen Theologen hingegen sehen die „Identifizierung” von Schrift und „Gottes Wort” als einen abgetanen Standpunkt an, der nur noch in „Laienkreisen” und unter theologischen „Nachzüglern” seine Vertreter habe. Sie sehen daher ihren Beruf darin, Kirche und Welt das Produkt ihres „frommen Selbstbewußtseins” darzubieten und danach die fehlbare Schrift zu korrigieren. Mit „Laienkreisen” und theologischen Nachzüglern könnten wir uns verständigen. Mit den theologischen Übermenschen, die ihren Standpunkt über der Schrift eingenommen haben, ist eine Verständigung unmöglich, weil die gemeinschaftliche christliche Basis fehlt. Doch Gottes Gnade kann unter den gewaltigen Erschütterungen, die gegenwärtig durch die ganze Welt gehen, auch in bezug auf diesen Punkt Wandel schaffen.
Wird sich die „streng konfessionelle Richtung” der lutherischen Kirche, wie sie hier in den Vereinigten Staaten durch die Synodalkonferenz vertreten wird, hier und in andern Ländern behaupten können? Die Frage nach der Lebensfähigkeit der Kirche der Reformation in ihrer unveränderten und unveränderlichen Lehrgestalt ist neuerdings auch in Deutschland und andern Ländern vielfach erwogen worden. Was hier zu sagen ist, läßt sich etwa in die folgenden
-----------------------------
659) [252] Kurtz, Kirchengeschichte für Studierende, 1890, II, 2, S. 262. RE.2 IX, 85 f. Teilweise Korrektur RE.2 XVIII, 687 ff.
226 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. ~ 184]
Punkte zusammenfassen: 1. Es steht nicht in unserm Belieben, ob wir bei der Lehre der lutherischen Kirche, wie sie in ihrem Bekenntnis bezeugt ist, bleiben wollen oder nicht. Diese Lehre deckt sich in allen Stücken mit der Lehre Christi, die wir im Wort seiner Apostel und Propheten haben,660) und keine andere Lehre ist bis an den Jüngsten Tag in der christlichen Kirche erlaubt. Insofern jemand nicht bei den gesunden Worten Christi bleibt, ist er verdüstert und unwissend, weil kein Mensch über Gottes Wort hinaus etwas von Gott und göttlichen Dingen weiß.661) Orthodoxie gehört zu der gottgewollten Gestalt der christlichen Kirche auf Erden. Freilich, wer die lutherische Lehre, wie sie im Bekenntnis der Kirche bezeugt vorliegt, nicht als schriftgemäß erkannt hat, kann nicht für diese Lehre eintreten. Aber dieser Mangel an Erkenntnis ändert nichts an der Tatsache, daß die lutherische Kirche der Reformation die Kirche der reinen, das ist, schriftgemäßen Lehre ist, wie aus dem im Bekenntnis selbst geführten Schriftbeweis reichlich hervorgeht. Die lutherische Kirche in ihrer ursprünglichen, unveränderlichen Lehrgestalt soll daher nicht zaghaft in der Welt auftreten, als ob sie um Entschuldigung bitten müßte, daß sie noch existiert, sondern durch Gottes Gnade mit der Zuversicht vor Kirche und Welt hintreten, die aus der Erkenntnis der göttlichen Wahrheit auf Grund des Bleibens am Wort der Apostel und Propheten erwächst. 2. Die Geschichte der Kirche zeigt, daß durch Gottes Gnade und Kraft eine Kirche, die an dem unveränderlichen Wort der Propheten und Apostel bleibt, lebensfähig ist. Die Kirche zu Jerusalem blieb beständig in der Apostel Lehre, und der HErr tat hinzu täglich, die da selig wurden, zu der Gemeinde.662) Auch die Kirche der Reformation hat sich durch die Stellung, die durch das Axiom „Das Wort sie sollen lassen stahn” gekennzeichnet ist, gegen die ganze Welt behauptet. Und was die amerikanisch-lutherische Kirche betrifft, so hat man der „streng konfessionellen Richtung” sowohl seitens der reformierten Sekten als auch seitens des liberalen „amerikanischen Luthertums” einen baldigen Untergang vorhergesagt. Den Vätern der Missourisynode wurde allseitig der Rat gegeben, die „Symboltheologie” fahren zu lassen und statt dessen die landesübliche „Revivalmethode” zu adoptieren, falls ihnen das Leben ihrer kirchlichen Gemeinschaft lieb sei. Unsere Väter ließen sich dadurch nicht irremachen. Sie bekämpften das menschliche Treiben des Revivalwesens in jeder Form und beharrten dabei, in ruhiger
-----------------------------
660) Joh. 8, 31; 17, 20; Eph. 2, 20; 1 Kor. 14, 37; 2 Kor. 13, 3.
661) 1 Tim. 6, 3 ff. 662) Apost. 2, 42. 47; 4, 4; 5, 14; 11, 21; 14, 1.
227 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. ~ 185]
und klarer Weise öffentlich und sonderlich, im Hause, in der Schule, in der Kirche und in ihren höheren Lehranstalten die lautere göttliche Wahrheit zu lehren, wie sie in Gottes unfehlbarem Wort geoffenbart ist und in den Symbolen der lutherischen Kirche als Bekenntnis vorliegt. Und Gott hat die „Repristinationstheologie” unserer Väter auch hierzulande trotz des heftigen Widerstandes Raum gewinnen lassen. Aber ob Erfolg oder nicht — Gott hat seiner Kirche den Befehl gegeben, sein Wort ohne Abzug und Zusatz in der Welt zu verkündigen. Weiter geht die Verantwortlichkeit der Kirche nicht. Der Erfolg steht in Gottes Hand. In dieser Gesinnung ist hierzulande durch Gottes Gnade die ganze Synodalkonferenz kirchlich einig und tätig. Dazu muß Gott freilich Lehrer geben und erhalten, die nicht bloß die nötige Schulung besitzen, sondern auch in der Schule des Heiligen Geistes gebildet sind, so daß sie aus eigener Erfahrung wissen, wie unumgänglich nötig es für die Kirche sei, unverrückt an der sola gratia und der sola Scriptura festzuhalten. Die moderne Theologie hat leider beide Wahrheiten aufgegeben. 3. Endlich gehört zu einer zusammenfassenden Charakteristik der modernen Theologie noch der Hinweis auf ihren reformierten Charakter im Gegensatz zur lutherischen Kirche. Die moderne Theologie wandelt nicht in lutherischen, sondern in reformierten Bahnen. Die Schleiermachersche Methode, die die christliche Lehre nicht aus der Heiligen Schrift, sondern aus dem frommen Selbstbewußtsein oder dem christlichen „Erlebnis” schöpfen will, ist die Methode Zwinglis und Calvins, insofern beide eine unmittelbare, nicht an das äußere Schriftwort gebundene Wirksamkeit des Heiligen Geistes lehrten. Daß Zwingli und Calvin ihr schriftwidriges theologisches Prinzip nicht konsequent durchführten, erklärt sich teils aus dem gewaltigen Einfluß Luthers, teils aus der Tatsache, daß sie durch die Praxis auf die lutherische Lehre von den Gnadenmitteln zurückgeworfen wurden, im Widerspruch mit ihrem eigentlichen theologischen Prinzip von der unmittelbaren Wirksamkeit des Heiligen Geistes. Wir haben mit der reformierten Theologie keinen Streit in bezug auf die äußere Anordnung der christlichen Lehren innerhalb des corpus doctrinae. Tatsächlich befolgen die reformierten Theologen sowohl die synthetische als auch die analytische Methode.663)
------------------------------
663) Calvin hat in seinen Institutiones (Endredaktion 1559) die durchsichtige äußere Anordnung: I. De cognitione Dei Creatoris. II. De cognitione Dei Redemptoris. III. De modo percipiendae Christi gratiae. IV. De externis mediis vel adminiculis.
228 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. ~ 186]
Auch nach der Föderalmethode ließe sich die christliche Lehre völlig schriftgemäß darstellen. Was wir gegen die reformierte Theologie haben, ist dies, daß sie in allen Lehren, durch welche sie sich von der lutherischen Kirche unterscheidet und woraufhin die reformierte Kirche sich neben der lutherischen Kirche konstituiert hat, das Schriftprinzip verleugnet und rationalistische Axiome zur Geltung kommen läßt. Dies wurde bereits unter dem Abschnitt „Die Ursache der Parteien innerhalb der äußeren Christenheit” dargelegt.664)
21. Die Erlangung der theologischen Tüchtigkeit. ^
Luther schreibt in der Vorrede über den ersten Teil seiner deutschen Bücher im Jahre 1539:665) „Ich will dir anzeigen einerechte Weise, in der Theologia zu studieren, der ich mich geübt habe; wo du dieselbige hältst, sollst du also gelehrt werden, daß du selbst könnest (wo es not wäre) ja so gute Bücher machen als die Väter und Concilia. Wie ich mich (in Gott) auch vermessen und ohne Hochmut und Lügen rühmen darf, daß ich etlichen der Väter wollte nicht viel zuvorgeben, wenn es sollt' Büchermachens gelten; des Lebens kann ich mich weit nicht gleich rühmen.666) Und ist das die Weise, die der heilige König David (ohne Zweifel auch alle Patriarchen und Propheten gehalten) lehrt im 119. Psalm; da wirst du drei Regeln innen finden, durch den ganzen Psalm reichlich vorgestellt, und heißen also: Oratio, meditatio, tentatio.” Matthias Hafenreffer, Professor der Theologie und Kanzler der Universität Tübingen († 1619), stellt dies Axiom Luthers an den Anfang seiner Dogmatik,667) indem er es zugleich auf Grund der Schrift weiter darlegt und auf die Zeitumstände anwendet. Unter den Theo-
---------------------------
664) S. 25 ff. Shedd, weil er an derselben Krankheit leidet wie Calvin, leugnet die Beiseitesetzung des Schriftprinzips bei Calvin: "The systematic theology of Calvin’s Institutes is exclusively Biblical in its constituent elements and substance. Calvin borrows hardly anything from human philosophy, science, or literature. His appeal is made continually to the Scriptures alone. No theologian was ever less influenced by a school of philosophy or by human science and literature than the Genevan reformer. Dogmatic theology, as he constructed it, is as Scriptural a theology as can be found in the ancient or modern Church.” (Dogmatic Theology, I, 12.) Wir haben a. a. O. das Gegenteil dokumentarisch nachgewiesen.
665) St. L. XIV, 434 ff.
666) Walther pflegte zu diesen Worten hinzuzusetzen: „O du demütiger Luther!"
667) Loci Theologici. Tubingae 1601, 1603, 1606 und öfter.
229 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. ~ 186-187]
logen des vorigen Jahrhunderts hat Rudelbach († 1862) über Luthers Anweisung zum Studium der Theologie in einer Rede sich so geäußert: „Es ist Ihnen das große Wort Luthers bekannt: Oratio, meditatio, tentatio faciunt theologum. In diesem Wort ist unsere ganze theologische Methodologie enthalten. Es ist hier nichts hinzuzufügen und nichts hinwegzunehmen, wie bei einem jeden vom Geiste Gottes versiegelten Gedanken.” 668) Ohne Zweifel würde die Not der Kirche, sofern es ihr an rechten Lehrern fehlt, bald ein Ende haben, wenn Luthers Methodologie allenthalben befolgt würde.
Luther selbst erklärt sich über die Notwendigkeit der oratio weiter also: „Erstlich sollst du wissen, daß die Heilige Schrift ein solch Buch ist, das aller andern Bücher Weisheit zur Narrheit macht, weil keines vom ewigen Leben lehrt ohne dies allein. Darum sollst du an deinem Sinn und Verstand stracks verzagen — denn damit wirst du es nicht erlangen, sondern mit solcher Vermessenheit dich selbst und andere mit dir stürzen vom Himmel (wie Luzifer geschah) in Abgrund der Hölle —, sondern knie nieder in deinem Kämmerlein und bitte mit rechter Demut und Ernst zu Gott, daß er dir durch seinen lieben Sohn wolle seinen Heiligen Geist geben, der dich erleuchte, leite und Verstand gebe. Wie du siehest, daß David in obgenanntem Psalm immer bittet: Lehre mich, HErr, unterweise mich, führe mich, zeige mir! und der Worte viel mehr, so er doch den Text Mosis und andere mehr Bücher Wohl konnte, auch täglich hörte und las; noch will er den rechten Meister der Schrift selbst dazu haben, auf daß er ja nicht mit der Vernunft dreinfalle und sein selbst Meister werde. Denn da werden Rottengeister aus, die sich lassen dünken, die Schrift sei ihnen unterworfen und leichtlich mit ihrer Vernunft zu erlangen, als wäre es Marcolfus oder Äsopi Fabeln, da sie keines Heiligen Geistes noch Betens zu dürfen.” Was Luther hier über die Notwendigkeit der oratio sagt, beruht auf der vom Heiligen Geist gewirkten Überzeugung, daß die Heilige Schrift ein Buch ist, wie es sonst kein anderes in der Welt gibt. Sie ist Gottes eigenes majestätisches Wort. Darum ist sie auch das einzige Buch, das vom ewigen Leben lehrt, weil alle Welt in der opinio legis gefangen ist. Wenn andere Bücher auch vom ewigen Leben lehren, nämlich lehren, daß die Seligkeit ohne des Gesetzes Werke, durch den Glauben an Christi satisfactio vicaria, erlangt wird, so stammt das aus der Schrift. Und weil die Schrift Gottes eigenes Wort ist,
------------------
668) Zitiert bei Walther, Pastoraltheologie, S. 9.
230 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. ~ 187-188]
so geziemt es sich für den Theologen, daß er, sooft er die Heilige Schrift aufschlägt, an seinem Sinn und Verstand völlig verzage und sich von Gott den Heiligen Geist erbitte, der allein Gottes Wort verstehen lehrt und den Sinn wirkt, der sich dem Schriftwort unterwirft. Ohne diese Wirkung des Heiligen Geistes ist die Vermessenheit da, nach welcher der Mensch sich über die Schrift stellt, sie nicht Glaubensobjekt sein läßt, sondern zum Objekt seiner Kritik macht, eine Vermessenheit, die sich selbst und andere in das ewige Verderben führt und vorher noch hier auf Erden Parteiung und Trennung in der Kirche anrichtet. Weil der modernen Theologie die Schrift nicht Gottes Wort ist, so stellt sie sich naturgemäß nicht unter, sondern über die Schrift. Das Ich des Theologen wird der dominierende Faktor, und weil das Ich der vielen Individuen vorhanden ist, so ist das Resultat nicht Einigkeit in der christlichen Lehre, sondern hoffnungslose Uneinigkeit und Parteiung.
Über die meditatio sagt Luther: „Zum andern sollst du meditieren, das ist, nicht allein im Herzen, sondern auch äußerlich die mündliche Rede und buchstabische Worte im Buch immer treiben und treiben, lesen und wiederlesen, mit fleißigem Aufmerken und Nachdenken, was der Heilige Geist damit meint. Und hüte dich, daß du nicht überdrüssig werdest oder denkest, du habest es einmal oder zwei genug gelesen, gehört, gesagt und verstehest es alles zu Grund; denn da wird kein sonderlicher Theologus nimmermehr aus, und sind wie das unzeitige Obst, das abfällt, ehe es halb reif wird. Darum siehst du in demselbigen Psalm, wie David immerdar rühmt, er wolle reden, dichten, sagen, singen, hören, lesen, Tag und Nacht und immerdar, doch nichts denn allein von Gottes Wort und Geboten. Denn Gott will dir seinen Geist nicht geben ohne das äußerliche Wort, da richte dich nach; denn er hat's nicht vergeblich befohlen, äußerlich zu schreiben, Predigen, lesen, hören, singen, sagen usw.” In dieser näheren Darlegung über die meditatio sagt Luther, worin das Studium der Theologie bestehe, nämlich nicht im Nachdenken darüber, was das theologisierende Ich von Gott und göttlichen Dingen meint, sondern im Nachdenken darüber, was der Heilige Geist in dem „buchstabischen” Schriftwort, das nicht Menschenwort, sondern des Heiligen Geistes Wort ist, meint und lehrt. Was moderne Theologen für der Theologie unwürdig („gesetzliche Autorität der Schrift”) und der Frömmigkeit schädlich („Intellektualismus”) erklären, das erklärt Luther für die einzig rechte Weise des Studiums der Theologie. Und dieser Weise, die „buchstabischen Worte im Buch” zu
231 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. ~ 188-189]
treiben, muß man nicht überdrüssig werden — „denn da wird kein sonderlicher Theologus nimmermehr aus” —, sondern mit der Weise gilt es anzuhalten. Luther will keine „Verbauerung des Pastors”, wie Walther zu bemerken Pflegte, sondern dessen fleißiges Fortstudium.
Luthers nähere Erklärung über die tentatio lautet so: „Zum dritten ist da Anfechtung. Die ist der Prüfestein; die lehrt dich nicht allein wissen und verstehen, sondern auch erfahren, wie recht, wie wahrhaftig, wie süße, wie lieblich, wie mächtig, wie tröstlich Gottes Wort sei, Weisheit über alle Weisheit. Darum siehst du, wie David in dem genannten Psalm so klagt über allerlei Feinde, frevele Fürsten oder Tyrannen, über falsche Geister und Rotten, die er leiden muß, darum daß er meditiert, das ist, mit Gottes Wort umgeht (wie gesagt) allerlei Weise. Denn sobald Gottes Wort aufgeht durch dich, so wird dich der Teufel heimsuchen, dich zum rechten Doktor machen und durch seine Anfechtung lehren, Gottes Wort zu suchen und zu lieben. Denn ich selber (daß ich Mäusedreck auch mich mit unter den Pfeffer menge) habe sehr viel meinen Papisten zu danken, daß sie mich durch des Teufels Toben so zerschlagen, zerdränget und zerängstet, das ist, einen ziemlich guten Theologen gemacht haben, dahin ich sonst nicht kommen wäre. Und was sie dagegen an mir gewonnen haben, da gann ich ihnen die Ehren, Sieg und Triumph herzlich wohl, denn so wollten sie es haben.” Was die tentatio betrifft, so ist darauf hinzuweisen, daß Luthers ganze Theologie aus der tentatio erwachsen ist, aus der tentatio von innen und außen. Erst kam die tentatio von innen. Nach jahrelanger Ungewißheit und Gewissensangst unter der römischen Werklehre führte ihn Gott zur Erkenntnis des Evangeliums von der freien Gnade Gottes in Christo. So erfuhr er an seinem eigenen Herzen und Gewissen, „wie recht, wie wahrhaftig, wie süße, wie lieblich, wie mächtig, wie tröstlich Gottes Wort sei, Weisheit über alle Weisheit”. Darauf kam die tentatio von außen. Als Luther Gottes Wort lehrte, kam ihm das Papsttum, ja schier die ganze Welt in den Weg und erklärte ihn sowohl des ewigen als des zeitlichen Lebens für verlustig. In dieser Anfechtung lernte er wiederum, „Gottes Wort zu suchen und zu lieben”, und zwar mit solchem Erfolg, daß er sprechen konnte: „Hier stehe ich, ich kann nicht anders!” So ist Luther auf dem Wege der Anfechtung „ein ziemlich guter Theologus” geworden. Und täuschen wir uns nicht! Auch zu unserer Zeit wird die theologische Tüchtigkeit nur auf dem Wege erlangt, daß wir in der Anfechtung, die von innen
232 > Wesen und Begriff der Theologie. [English ed. ~ 189-190]
und außen kommt, zum Schriftwort getrieben werden und daran festhalten als der einzigen unverrücklichen göttlichen Größe in der Welt. Die ganze neuere wissenschaftliche Theologie ist gegenteilig angelegt. Ihre Art geht nicht dahin, vom Gesetz Gottes getroffene Gewissen mit Gottes Wort zur Ruhe zu bringen und Gottes Wort, die „Weisheit über alle Weisheit”, der Weisheit der Welt entgegenzusetzen, sondern sie ist darauf angelegt, „intellektuelle Bedürfnisse” zu befriedigen und die christliche Lehre mit dem. „modernen Weltbild” in Einklang zu bringen.
Schließlich schildert Luther, wie das Bleiben am Schriftwort im Theologen die Dinge wirkt, die ihm so nötig sind, nämlich dankbare Freude am Schriftwort, fröhliche Zuversicht, daß er jung und alt und allerlei Leute lehren könne, anhaltende und wachsende Demut, wodurch dem verderblichen, stets drohenden Hochmut gewehrt wird, der so viel Zerstörung im eigenen Innern und nach außen hin anrichtet. Luther schließt also: „Siehe, da hast du Davids Regel. Studierst du nun wohl diesem Exempel nach, so wirst du mit ihm auch singen und rühmen in demselben Psalm! V. 72: ,Das Gesetz deines Mundes ist mir lieber denn viele tausend Stück Goldes und Silbers'; item, V. 98—400: ,Du machst mich mit deinem Gebot Weiser, denn meine Feinde sind; denn es ist ewiglich mein Schatz. Ich bin gelehrter denn alle meine Lehrer, denn deine Zeugnis sind meine Rede. Ich bin klüger denn die Alten, denn ich halte deine Befehle usw. Und wirst erfahren, wie schal und faul dir der Väter Bücher schmecken werden, wirst auch nicht allein der Widersacher Bücher verachten, sondern dir selbst beide im Schreiben und Lehren je länger, je weniger gefallen. Wenn du hieher kommen bist, so hoffe getrost, daß du habest angefangen, ein rechter Theologus zu werden, der nicht allein die jungen, unvollkommenen Christen, sondern auch die zunehmenden und vollkommenen mögest lehren; denn Christi Kirche hat allerlei Christen in sich, jung, alt, schwach, krank, gesund, stark, frische, faule, alberne, weise usw. Fühlest du dich aber und lässest dich dünken, du habest es gewiß, und kitzelst dich mit deinen eigenen Büchlein, Lehren oder Schreiben, als habest du es sehr köstlich gemacht und trefflich gepredigt, gefällt dir auch sehr, daß man dich vor andern lobe, willst auch vielleicht gelobt sein, sonst würdest du trauern oder Massen: bist du der Haar,669) Lieber, so greif dir selber an deine Ohren, und greifst du
-----------------------
669) Hafenreffer, Loci 1606, p. 18, übersetzt: Huius farinae es? Bist du so geartet?
233 > Die Heilige Schrift. [English ed. ~ 193]
recht, so Wirst du finden ein schön Paar großer, langer, rauher Eselsohren; so wage vollend die Kost daran und schmücke dich mit güldenen Schellen, auf daß, wo du gehst, man dich hören könne, mit Fingern auf dich weisen und sagen: Sehet, sehet, da geht das feine Tier, das so köstliche Bücher schreiben und trefflich wohl predigen kann! Alsdann bist du selig und überselig im Himmelreich; ja, da dem Teufel samt seinen Engeln das höllische Feuer bereitet ist! Summa, laß uns Ehre suchen und hochmütig sein, wo wir mögen. In diesem Buch ist Gottes die Ehre allein, und [es] heißt: Deus superbis resistit, humilibus autem dat gratiam. Cui est gloria in secula seculorum. Amen.” [Ed. – “God resisteth the proud, but giveth grace to the humble. To whom is glory for ever and ever”] Wir möchten allen Theologen, und die es werden wollen, den Rat geben, Luthers theologische Methodologie wiederholt zu lesen, um sie durch Gottes Gnade allewege zu befolgen.
Die Heilige Schrift.
(De Scriptura Sacra.)
1. Die Heilige Schrift ist für die Kirche unserer Zeit die einzige Quelle und Norm der christlichen Lehre. ^
Die christliche Kirche ist allerdings älter als die Heilige Schrift, das ist, älter als das geschriebene Wort Gottes. Bis auf Moses hat Gott die Kirche durch sein mündlich (viva voce) gelehrtes Wort ins Dasein gerufen und erhalten. Die christliche Kirche trat unmittelbar nach dem Sündenfall ins Dasein, als Gott nach mündlicher Bestrafung der Sünde 670) dem Menschengeschlecht mündlich die Verheißung von dem Weibessamen gab, der das Werk des Teufels zerstören, das ist, die Sündenschuld der Menschen und alle Folge derselben aufheben sollte,671) und Adam und Eva das „erste Evangelium” glaubten. Durch das mündlich, auf mancherlei Weise verkündigte Wort Gottes ist die Kirche der Folgezeit bis auf Moses erhalten und ausgebreitet worden.672) Nachdem Gott aber
-------------------------------
670) 1 Mos. 3, 8—14. 671) 1 Mos. 3, 15.
672) 1 Mos. 4, 26 ist wohl zu beachten. In den Worten: „Zu derselben Zeit fing man an zu predigen von des HErrn Namen” ist offenbar auf Versammlungen zur Verkündigung und zum Anhören des Wortes Gottes hingewiesen. Vgl. Luther z. St., I, 398 ff. Ebenso J. P. Lange z. St. Auch Calov, Bibi. Illust., 3. St.: De initio praeconii publici plerique accipiunt. Lukas
234 > Die Heilige Schrift. [English ed. ~ 193-194]
die schriftliche Mitteilung seines Wortes erwählt hatte, war die jeweilige Kirche an das schriftlich verzeichnete Wort Gottes streng gebunden.673) Keinem Menschen war es gestattet, zu dem schriftlich gegebenen Wort Gottes hinzuzutun oder davon abzutun.674) Für die Kirche des Alten Testaments war also das geschriebene Wort Gottes ein vollständiger Kanon, zu dem nur Gott von Zeit zu Zeit hinzutat.675) Der Kirche des Neuen Testaments hat Gott
---------------------------
Osiander z. St.: Cultus ante natum Enos minus sollenniter et quasi privatim exercebantur. Weiter wird berichtet, daß Gott mit Noah (Kap. 6 ff.), mit Abraham (Kap. 12 ff.) usw. redete. Und diese behalten das ihnen mitgeteilte Wort Gottes nicht für sich. Abraham heißt (20, 4) ein „Prophet”, und auch von ihm wird (13, 4) ausdrücklich berichtet, daß er von des HErrn Namen gepredigt habe. Der „Name des HErrn” ist an erster Stelle der Name des HErrn κατ’ εξοχήν nämlich das, wodurch sich Gott unter dem schuldigen Menschengeschlecht einen Namen gemacht hat: die Erlösung des Menschengeschlechts von der Sündenschuld und den Folgen derselben durch den Weibessamen, Christum. Das Zeugnis, das Petrus, Apost. 10, 43, allen Propheten des Alten Testaments ausstellt, deckt auch die Stellen 1 Mos. 4, 26; 13, 4 usw.
673) Auf die Frage, was wohl Gott bewogen habe, an die Stelle der mündlichen Verkündigung seines Wortes die schriftliche Fixierung desselben treten zu lassen, antwortet Baier (1,106): 1.multiplicato genere humano; 2. vitaevero humanae spatio abbreviato, non aeque ut olim a patriarchis immediata revelatione Dei instructis viva voce coram instrui poterant omnes homines,, sed et 3. invectis variis doctrinae corruptelis, accedente 4. hominum informandorum infirmitate et memoriae imbecillitate, ut tamen praesto esset revelatio, ad quam in omni necessitatis casu secure confugi posset, litera scripta non abs re desiderabatur. Wenn dagegen eingewendet worden ist, daß der allmächtige und allweise Gott auch wohl ohne schriftliche Mitteilung seines Wortes seine Kirche noch weiterhin habe lehren und erhalten können, so sagen wir mit Baier: Divinae providentiae consultissimum visum est, capita divinarum revelationum scripto comprehendi — Gott hat es so gewollt. Zudem wissen wir, daß Gott dem gefallenen Menschengeschlecht gegenüber der Gott der Liebe ist, und daß daher, wie die Gabe seines menschgewordenen Sohnes (Joh. 3, 16), so auch die Gabe seines geschriebenen Wortes in den Dienst der rettenden Sünderliebe tritt (2 Tim. 3, 15—17). Die Kinder Gottes erkennen dies dankbar an (Ps. 119) und hüten sich vor der Sünde, das geschriebene Wort beiseitezusetzen, oder gar direkt zu leugnen, daß es die unverbrüchliche göttliche Wahrheit sei. Nach der Kausalmethode ausgedrückt: Causa impulsiva consignatae ex voluntate divina Scripturae Sacrae interna est bonitas Dei, externa (προκαταρκτική) hominum salvandorum indigentia. (Baier I, 105.) Daß der Schrift aber keine necessitas absoluta zukomme, sagen auch die alten lutherischen Theologen und ist bei dem Gebrauch der Schrift näher darzulegen.
674) Jos. 23,6; 5 Mos. 4, 2.
675) Quenstedt I, 51: Distinguendum inter tempora ante et post Mosen, sive inter revelationem, quae divinitus facta est patriarchis et sine
235 > Die Heilige Schrift. [English ed. ~ 194]
dann zu dem Wort der Propheten noch das Wort der Apostel zum Glaubensgrund gegeben. Von der Kirche des Neuen Testaments heißt es: „erbauet auf den Grund der Apostel und Propheten”.676) Diese Koordination von Apostelwort und Prophetenwort ist darin begründet, daß ein und derselbe Geist Christi, wie durch die Propheten des Alten Testaments, so auch durch die Apostel des Neuen Testaments geredet hat. „Sie” — die Propheten, in denen „der Geist Christi” war — „haben's nicht ihnen selbst, sondern uns dargetan, welches euch nun” — zur Zeit des Neuen Testaments — „verkündigt ist durch die, so euch das Evangelium verkündigt haben durch den Heiligen Geist, vom Himmel gesandt.” 677) Mit dem Wort der Apostel des Neuen Testaments ist aber die Lehroffenbarung Gottes an seine Kirche völlig abgeschlossen. Wenn Christus im hohepriesterlichen Gebet sagt: „Ich bitte nicht allein für sie” — die Apostel —, „sondern auch für die, so durch ihr Wort” — der Apostel Wort — „an mich glauben werden”, so erklärt er damit seiner Apostel Wort für den Glaubensgrund der ganzen christlichen Kirche bis an den Jüngsten Tag. Daß durch den Dienst von Hunderttausenden, die nicht Apostel sind, Menschen an Christum gläubig werden, kommt daher, daß die Hunderttausende, ja Millionen nicht ihr eigenes, sondern der Apostel und Propheten Wort verkündigen. Wir setzen nochmals Luthers Bemerkung zu Davids Worten:
----------------------
scripturarum adminiculo per annos 2454, iuxta calculum Calvisianum, ab initio videlicet mundi usque ad Mosen viva voce fuit propagata; et revelationem, quae a Mose et prophetis literis est consignata. Illa theologiae principium fuit usque ad Mosen, haec post Mosen. Statim enim post primum canonem constitutum, qui ex Pentateucho, libro lobi et cantico Mosis constabat, non amplius revelatio viva voce tradita, sed sola illa, quae literis erat consignata, religionis norma fuit ac principium. Auf die Schrift Alten Testaments als vollständigen Kanon für die Kirche des Alten Testaments weist auch Christus Luk. 16, 29 mit den Worten hin: „Sie haben Mosen und die Propheten; laß sie dieselbigen hören.”
676) Eph. 2, 20. Stöckhardt z. St. [Kommentar über den Brief Pauli an die Epheser, p. xxx; English ed. - p. 153]: „Die Apostel kommen hier nicht nach ihrer persönlichen Art und Beschaffenheit, sondern nach ihrer amtlichen Tätigkeit, eben als Apostel, in Betracht, und zwar in ihrer Beziehung zu der Kirche aller Zeiten. . . . Die Apostel find (zu unserer Zeit) längst gestorben, aber leben noch fort und reden zu uns in ihren Schriften. . . . Und da kann denn auch der zweite Genitiv, προφητών, nur auf die alttestamentlichen Propheten hindeuten wollen und die Schriften der Propheten, die mit den apostolischen Schriften auf gleicher Stufe stehen und mit denselben ein genus bilden, daher denn auch αποστόλων und προφητών unter einen Artikel befaßt sind.”
677) 1 Petr. 1,10—12.
236 > Die Heilige Schrift. [English ed. ~ 195]
„Der Geist des HErrn hat durch mich geredet” (2 Sam. 23,2) hierher: „Solchen Ruhm dürfen wir noch niemand führen, der nicht ein Prophet ist. Das mögen wir tun, soferne wir auch heilig [sind] und den Heiligen Geist haben, daß wir Katechumenen und Schüler der Propheten uns rühmen, als die wir nachsagen und predigen, was wir von den Propheten und Aposteln gehört und gelernt, und auch gewiß sind, daß es die Propheten gelehrt haben. Das heißen in dem Alten Testament der ,Propheten Kinder', die nichts Eigenes noch Neues setzen, wie die Propheten tun, sondern lehren, das sie von den Propheten haben, und sind ,Israel', wie David sagt, dem er die Psalmen macht.” 678)
Es kann nur noch gefragt werden, wo die neutestamentliche Kirche der Apostel Wort sicher findet. Die Apostel selbst verweisen uns bei dieser Frage auf ihre Schriften. Sie erklären erstlich ihr schriftliches Wort für inhaltlich identisch mit ihrem mündlich verkündigten Wort. Der Apostel Johannes sagt: „Was wir gesehen und gehört haben, das verkündigen wir euch (άπαγγέλλομεν νμϊν) . . ., und solches schreiben wir euch (γράφομεν υμϊν).” 679) So koordiniert auch dem Inhalt nach Paulus sein mündliches und sein geschriebenes Wort: „Haltet an den Satzungen, die ihr gelehret seid, es sei durch unser Wort oder Epistel”, εϊτε διά λόγου, είτε δί επιστολής ήμών.680) Obwohl nicht alles geschrieben ist, was Christus und die Apostel mündlich gelehrt haben.681) so ist doch die Belehrung in den Schriften der Apostel nicht bloß reichlich, sondern überreichlich, weil darin ein und dasselbe nicht bloß einmal, sondern vielmal gesagt ist. „Daß ich euch immer einerlei (τά αυτά, dasselbe) schreibe, verdrießt mich nicht und macht euch desto gewisser. "682) Zum andern sehen wir, daß die Apostel bereits sehr entschieden auf das sola Scriptura dringen. In der apostolischen Kirche machte sich gegen die göttliche Autorität des Apostelworts dieselbe Reihe von Pseudoerkenntnisquellen und Pseudonormen geltend, die später und bis auf unsere Zeit die Christenheit geplagt haben, nämlich angebliches Prophetentum oder „Geist”, angebliches Apostelwort oder „Tradition” und angebliche Apostelbriefe. Demgegenüber verweist Paulus auf sein geschriebenes Wort als sichere Quelle und Norm der wirklichen apostolischen Lehre. In bezug auf „Prophetie” und „Geist”, die zur Zeit der Apostel in der Kirche vorhanden
----------------------------
678) St. L. III, 1890. 679) 1 Joh. 1, 3. 4. 680) 2 Thess. 2, 15.
681) Joh. 21, 25. 682) Phil. 3,1.
237 > Die Heilige Schrift. [English ed. ~ 196]
waren, schreibt der Apostel den christlichen Gemeinden das folgende Verhalten vor: Sie sollen sich gegen Geist und Prophetie nicht schlechthin ablehnend, sondern prüfend verhalten, aber diese Prüfung in der Abwesenheit des Apostels nach des Apostels Wort vollziehen. Als in der korinthischen Gemeinde Prophetie und Geist sich neben und über seine apostolische Autorität stellten, schreibt er der Gemeinde: „So sich jemand läßt dünken, er sei ein Prophet oder geistlich (προφήτης είναι ή πνευματικός), der erkenne” (έπιγινωσκέτω, anerkenne, agnoscat, nämlich als Norm), „was ich euch schreibe (γράφω); denn es sind des HErrn Gebote.” Daran schließt der Apostel die Worte: „Ist aber jemand unwissend, der sei unwissend”, εί δε τις άγνοεΐ, αγνοείτω.683) Damit gibt Paulus die Weisung: Sollte jemand, der sich als Prophet vorkommt oder den Geist zu haben meint, das, was der Apostel schreibt, nicht als Christi Gebot, also nicht als göttliche Norm, anerkennen, der soll an diesem Verhalten als Pseudoprophet erkannt und als Ignorant sich selbst überlassen werden. Wichtig ist 2 Thess. 2, 2, wo der Apostel seine schriftliche Belehrung über die Zeit der Wiederkunft Christi, wie dem „Geist”, so auch dem angeblichen Apostelwort (Tradition) und der angeblichen Apostelschrift entgegensetzt. Die Christen sollen sich nicht wankend machen oder gar erschrecken lassen μήτε διά πνεύματος μήτε διά λόγον μήτε δί επιστολής ώς δί ημών.684) Damit die Gemeinden echte Apostelschrift von der angeblichen, untergeschobenen unterscheiden können, schreibt Paulus in seinen Briefen den Gruß mit eigener Hand.685)
Das Schriftprinzip wird abgelehnt und statt dessen das menschliche Ich in der christlichen Kirche auf den Lehrstuhl erhoben:
--------------------------
683) 1 Kor. 14, 37. 38.
684) Lünemann: Ως δί ημών ist ebensowohl mit διά λόγον als mit δί επιστολής zu verbinden, und das erstere von mündlichen Äußerungen, die man dem Apostel andichtete, das letztere von schriftlichen Äußerungen, die man vermöge eines erdichteten Briefes ihm unterschob, zu verstehen. Dagegen auch auf διά πνεύματος mit Erasmus ώς δί ημών zu beziehen, ist unmöglich, da man wohl λόγοι und έπιστολαί als von einem Abwesenden herrührend in Umlauf setzen konnte, nicht aber begeisterte prophetische Vorträge, da bei solchen die persönliche Anwesenheit des Redenden erforderlich war.” Auch V. 15 sind Pauli λόγος und επιστολή miteinander verbunden, είτε διά λόγον, είτε δί επιστολής ημών.
685) 2 Thess. 3, 17: „Der Gruß mit meiner Hand Pauli; das ist das Zeichen (σημεΐον) in allen Briefen; also (οντω) schreibe ich.”
238 > Die Heilige Schrift. [English ed. ~ 196-197]
1. durch die Berufung auf die natürliche Vernunft. Unter dem Ausdruck „natürliche Vernunft” befassen wir hier alles das, was der Mensch unter Absehung von der Offenbarung der Heiligen Schrift von Gott und göttlichen Dingen weiß und wissen kann. Es wurde bereits unter verschiedenen Beziehungen dargelegt, daß dies natürliche Wissen um Gott und göttliche Dinge auf ein Wissen um Gottes Existenz und das göttliche Gesetz beschränkt ist, und daß dieses Wissen die Menschen unter Gottes Zorn und Fluch beläßt, weil sie Gottes Gesetz nicht halten können. Vom Evangelium von Christo, das den Menschen die Vergebung der Sünden um Christi satisfactio vicaria willen zusagt und den wesentlichen Inhalt der christlichen Religion bildet, ist nie ein Gedanke in des Menschen Herz gekommen.686) Es wurde auch bereits dargelegt, daß dieses Nichtwissen nicht nur von der ungebildeten Menschheit, sondern auch von der Elite derselben gilt, insonderheit auch von der geschulten Vernunft der Philosophen.687) Wer daher in Sachen der christlichen Religion sich auf die natürliche Vernunft beruft und aus ihr ganz oder teilweise die christliche Lehre schöpfen und normieren will, begeht eine μετάβασις εις αλλο γένος und macht den Versuch, menschliche Unvernunft an Stelle des Wortes Gottes in der christlichen Kirche auf den Lehrstuhl zu setzen. Dies geschieht von den Unitariern aller Zeiten, die offen bekennen, daß sie aus „Vernunftgründen” die Lehre von der heiligen Dreieinigkeit, von der metaphysischen Gottheit Christi und der satisfactio vicaria ablehnen, wie näher bei der Darlegung dieser Lehren nachgewiesen wird. Die Unitarier stehen extra ecclesiam. Dies geschieht ferner von allen denen, die innerhalb der christlichen Kirche einzelne Teile der christlichen Lehre aus Gründen der natürlichen Vernunft verwerfen. Es wurde bereits dargetan, daß die reformierte Kirche in den Lehren, durch welche sie sich von der lutherischen Kirche unterscheidet und die protestantische Christenheit zertrennt hat, an die Stelle des Schriftprinzips rationalistische Axiome setzt.688) Auch wurde bereits darauf hingewiesen, daß nichts anderes als der Rationalismus die Mutter sowohl des Synergismus (Leugnung der sola gratia) als auch des Calvinismus (Leugnung der universalis gratia) ist.689) Sowohl in der Schrift als auch im profanen Sprachgebrauch hat das Wort „Vernunft” noch eine andere
--------------------
686) 1 Kor. 2, 6ff.
687) Vgl. über den philosophischen Religionsbegriff S. 16 ff.
688) S. 25 ff. 689) S. 34.
239 > Die Heilige Schrift. [English ed. ~ 197-198]
Bedeutung. Es bezeichnet auch das Vernünftigsein, das ist, die menschliche Fähigkeit, etwas Gegebenes in den Geist aufzunehmen und im Geist zu erwägen. Dies ist der sogenannte usus rationis ministerialis (organicus) im Unterschiede von dem usus rationis magisterialis. Der Vernunftgebrauch im Sinne des usus ministerialis hat natürlich auch in der Theologie statt, weil der Heilige Geist nur durch das in den menschlichen Geist aufgenommene Wort Gottes den Glauben wirkt und erhält. Dieser Vernunftgebrauch wird daher auch in der Schrift sehr nachdrücklich eingeschärft. Röm. 10, 14: Πώς πιστενσονσιν ον ονκ ήκονσαν;. Röm. 10, 17: 27 Π πίστις έξ ακοής. Joh. 5, 39: Ερευνάτε τάς γραφάς. Matth. 24,15: Ό αναγινώσκων [was bei dem Propheten Daniel vom Greuel der Verwüstung gesagt ist] νοείτω. Das Beispiel der Maria, Luk. 2,19: „Maria behielt (σννετήρει) alle diese Worte und bewegte sie (σνμβάλλουσα) in ihrem Herzen.” Zu diesem usus instrumentalis der Vernunft, das ist, zum Vernehmen, Hinnehmen und Erwägen der Schriftworte, gehört auch, daß wir uns an die in der Schrift vorliegenden Sprachgesetze (Grammatik) und menschlichen Denkgesetze (Logik) halten, weil Gott in der Heiligen Schrift in die menschliche Sprache und in die menschliche Weise zu denken eingegangen ist. Gott ist, wie Luther immer wieder erinnert, in der Heiligen Schrift „Mensch geworden” (Scriptura Sacra est Deus incarnatus). In diesem Sinne gilt das Axiom: Theologia debet esse grammatica, das heißt, der Theologe, welcher die in der Schrift geoffenbarte Lehre erkennen und lehren will, muß sich ganz genau an den in der Schrift selbst vorliegenden Sprachgebrauch halten. Bei Luther kehrt sonderlich in den polemischen Partien seiner Schriften die Bemerkung wieder, daß jeder, der in der Grammatik fehle, auch notwendig in der Theologie fehlen müsse. Dasselbe ist von den orthodoxen lutherischen Dogmatikern zu sagen. So entschieden sie einerseits die Vernunft als Prinzip der Theologie verwerfen, so entschieden dringen sie andererseits auf den usus rirskrumeirMls der Vernunft. Dazu rechnen sie auch den ganzen philologischen und logischen Apparat, solange er lediglich der Auffassung des Inhaltes der Schrift dient und keinen eigenen Inhalt setzt. Quenstedt sagt: 690) Distinguendum inter rationem passive sumptam pro subiecto informationis et acceptam normaliter pro principio probationis. . . . Illa in quavis
--------------------
690) Systema I, 55 ff.
240 > Die Heilige Schrift. [English ed. ~ 198]
rerum et sic quoque divinarum cognitione necessaria est ut principium quo, non enim nisi intellectu seu ratione homo intelligit; haec vero in rerum divinarum cognitione ut principium quod non admittitur. . . . Sine usu rationis seu intellectus nemo in theologia versari potest; neque enim brutis aut animalibus rationis expertibus proponenda est theologia. Uti itaque homo sine oculis non potest videre, sine auribus non potest audire, sine lingua non potest gustare, ita sine ratione, sine qua ne quidem homo est, non potest percipere, quae fides (quam „animam animae” appellat Augustinus, sermo 250. de tempore) περιφερεία sua complectitur. . . . Distinguendum inter principia organica, qualia sunt grammatica, logica, rhetorica, studium linguarum etc., et principia philosophica stricte dicta. Illa in theologia adhibenda sunt (utpote adminicula theologiae acquirendae), cum sine illis nec sensus aut significatio vocum erui (quod grammaticae), nec figurae modique loquendi expendi (quod rhetoricae), nec connexiones et consequentiae percipi, nec discursus institui (quod logicae est) possint. Bene D. Balth. Meisnerus Disput, de Calvinismo fugiendo, th. 83.: „Ratione suo modo utendum esse in rebus theologicis, quis nostrum umquam negavit? Annon utimur ipsi, quoties vel proprietatem linguae vel structuram totius contextus attendimus? Ex auditu est fides, Rom. 10,18, Ad auditum vero usus rationis requiritur, ut vox a voce discernatur et aliquis sensus percipiatur. Sic in confirmando, in destruendo, in exponendo rationis usum necessarium esse, non imus inficias, quia in omnibus τρόπος παιδείας et modus in logicis praescriptus observari debet.” Distinguendum inter rationis ministerium, cum instar ancillae cedit herae seu dominae (ex antiqua comparatione Ambrosii, 2. de Abrahamo, c. 10.), et rationis magisterium, cum sibi iudicium arrogat de rebus ignotis et supra captum positis. . . . Distinguendum inter rationem sibi relictam sive iuxta principia sua naturalia iudican-tem, et rationem intra Verbi divini orbem conclusam et castigatam sive e Sacra Scriptura illustratam. Hanc de rebus fidei iudicare posse, non negamus; illi autem iudicium de rebus fidei competere, inficiamur. (L. c., f. 55 sqq.) Durch die Unterscheidung zwischen dem usus rationis ministerialis und magisterialis entscheiden die alten Theologen auch die Frage, ob zwischen Theologie und Vernunft oder menschlicher Wissenschaft (Philosophie) ein wirklicher Widerspruch stattfinde. Sie antworten: Die Wahrheit ist nur eine. Ein Widerspruch kommt nur heraus, wenn die toll gewordene Ver-
241 > Die Heilige Schrift. [English ed. ~ 199-200]
nunft sich herausnimmt, über die Dinge, die über ihr Gebiet hinausliegen, ein Urteil zu fällen. Quenstedt schreibt: 691) Obiiciunt adversarii: religionem multa habere supra, nihil vero contra rationem. Resp. 1.: Articuli fidei in se non sunt contra rationem, sed solum supra rationem; per accidens vero iit, ut sint etiam contra rationem, quando ratio iudicium sibi de illis sumit ex suis principiis, nec sequitur lucem Verbi, sed eosdem negat et impugnat. 2. Articuli fidei non sunt solum supra, sed et contra rationem corruptam et depravatam, quae illos stultitiam esse iudicat. Instat Smalzius, Disp. IV. contra Franz., p. 137: „Doceat quis unam sententiam sacrarum literarum pugnare cum ratione, et tunc ratio taceat in ecclesia.” Eesp.: Cum ratione in terminis suis sese cöntinente nulla sacrarum literarum sententia pugnat, sed cum ratione terminos suos egrediente omnia fidei mysteria pugnant, ut trinitatis, incarnationis etc. Wir dürfen uns freilich nicht verhehlen, daß der Kampf, den die Menschen unter Berufung auf ihre Vernunft (Wissenschaft) gegen die Schrift und die christliche Religion führen, nie aufhören wird, weil der natürliche Mensch (ψυχικός άνθρωπος, 1 Kor. 2,14) Gottes Feind (εχϑρα είς ϑεόν, Röm. 8,7) ist und insonderheit das Wesen des Christentums, das Evangelium, nur für eine Torheit hält und halten kann (μωρία αντώ εστιν καί ον δνναται γνώναι, 1 Kor. 2,14). Bei dieser Situation wird es nicht ausbleiben, daß der Mensch, solange er nicht durch contritio und fides ein Christ geworden ist, sowohl sein gänzliches Nichtwissen als auch sein beschränktes Wissen auf natürlichem Gebiet gegen die Heilige Schrift und die christliche Lehre geltend machen wird. Quenstedt sagt in bezug auf diesen Punkt: 692) Distinguendum inter philosophiam abstracte et ratione suae essentiae consideratam et philosophiam concrete et ratione existentiae in subiecto per peccatum corrupto spectatam. Priori modo veritati divinae nequaquam opponitur, non enim nisi unica ... et ratione obiectorum sibi invicem subordinatorum harmonica datur veritas; posteriori vero modo ob intellectus ignorantiam et voluntatis perversionem non raro ad depravationem et inanem deceptionem a philosopho praepostere adhibetur, Col. 2, 8.
2. Durch die Berufung auf die wiedergeborne Vernunft oder deren zahlreiche Synonyma wie: frommes Selbstbewußtsein, christliches Erlebnis, christliches Ich, Glaubensbewußtsein, Glaube,
------------------------
691) 8ystema I, 62. 692) Systema I, 63.
242 > Die Heilige Schrift. [English ed. ~ 200-201]
Geist usw. Es wurde bereits ausführlich nachgewiesen, daß alle diese Quellen und Normen — neben dem Schriftwort und losgelöst von dem Schriftwort — auf Selbsttäuschung beruhen.693) Wir mußten es als eine Beleidigung des neuen oder wiedergebornen Menschen bezeichnen, ihm die Torheit zuzuschreiben, daß er unter Absehung von dem Schriftwort aus dem eigenen Innern lehre. Wo dies geschieht, da treibt nicht der neue, sondern der alte Mensch Theologie. Der neue Mensch erkennt die Schrift als Gottes unfehlbares Wort 694) und hält sich an die in der christlichen Kirche geltende Generalregel: „So jemand redet, daß er's rede als Gottes Wort.” 695) Sobald der neue Mensch sich wirklich auf sich selbst besinnt, erkennt er die Anwandlung, aus dem eigenen Ich anstatt aus der Schrift zu lehren, als ein irrendes, ja, gottloses Selbstbewußtsein, wofür er Gott um Vergebung bittet. Das hat nach dem Vorgang Luthers und der alten lutherischen Theologen auch Walther unaufhörlich eingeschärft. Er schrieb z.B.: „Auch die erleuchtete und wiedergeborne Vernunft kann nicht neben der Schrift, derselben koordiniert, Erkenntnisprinzip sein, indem eben das zum Wesen einer erleuchteten oder wiedergebornen Vernunft gehört, daß sie nicht sich selbst, sondern die Schrift zu ihrem Erkenntnisprinzip in Sachen des Glaubens macht, 2 Kor. 10, 5, abgesehen davon, daß sich hienieden in keinem. Menschen eine vollkommen erneuerte und erleuchtete Vernunft vorfindet, 1 Mos. 18, 10—15.” 696) Kurz, das Bestreben seitens der modernen Theologie, das „wiedergeborne Ich” zum Erkenntnisprinzip der christlichen Lehre zu erheben, unter gleichzeitiger Ablehnung der Schrift als des Wortes Gottes und als einziger Quelle und Norm der Theologie, kommt tatsächlich auf das Bestreben hinaus, das natürliche menschliche Ich, das Fleisch, in der Kirche auf den Herrscherthron zu setzen. Es ist unter christlichem Schein der Platte Rationalis-
--------------------------
693) S. 73 ff. 694) Joh. 8, 47. 695) 1 Petr. 4,11.
696) L. u. W. 13, 99. Hieraus weist auch Quenstedt den Calvinisten gegenüber hin, die sich gleichfalls auf die wiedergeborne Vernunft als Quelle und Norm der christlichen Lehre beriefen: Urgent Calviniani, se intelligere rationem regenitam seu rationem humanam post regenerationem spiritualem factam, ,ut Calvinus, Inst. IV, 17, 26. . . . Respondet b. Dannhauerus: Obtineret aliquid haec regestio, si ratio in homine reperiretur pura, sine fontis peccaminosi adhuc residui affluxu; at turbata est aqua, similis aquae dulci, saltem suspecta veneni, cum omne figmentum cordis humani malum sit omni tempore. Et annon Sarah regenita? Et tamen promissum Domini ridet, irridet, ut paradoxum
.
243 > Die Heilige Schrift. [English ed. ~ 201]
mus. Sehr richtig urteilte D. Stöckhardt in einer Besprechung der Frankschen Theologie: 697) „Die Franksche Theologie, welche den Rationalismus Ritschls bekämpft, ist selbst nur eine neue Art und Auflage von Rationalismus, Rationalismus im kirchlichen Gewände. Es ist die natürliche Vernunft, welche in Franks Systemen die christlichen Realitäten auf ihre Weise zerpflückt, zergliedert und wiederum verbindet, zusammenreimt. . . . Ein Wunder ist es, daß die Franksche Verstandesmühle nicht alle christlichen Dogmen gar kurz und klein gemahlen hat, daß Frank doch gewisse Elemente der christlichen Wahrheit stehen läßt. Das liegt nicht im System, das ist Inkonsequenz. . . . Dieses Ich, welches in eigener Autorität in Sachen des Glaubens und der Wahrheit entscheidet, welches Lehrsätze macht und setzt, Gott, Himmel und Erde und alles eigenmächtig aus sich selbst heraus konstruiert, ist im Grunde das Ich, der Geist, das innere Licht der Schwärmgeister.” Was ohne Schriftwort „vom Geist gerühmt wird”, das ist nie der Heilige Geist. Luther: „Der Heilige Geist wirkt nicht ohne Wort und vor dem Wort, sondern er kommt mit und durch das Wort und geht nicht weiter, denn
das Wort geht.” 698)
3. Durch die Forderung, daß die christlichen Lehren nicht aus den Schriftstellen, die von den einzelnen Lehren handeln (sedes doctrinae), sondern „aus dem Ganzen der Schrift” zu nehmen seien. Dieser Phrase, der sich wahrhaftig kein vernünftiger Sinn abgewinnen läßt, hat gerade auch „der Reformator der Kirche des neunzehnten Jahrhunderts”, Schleiermacher, von neuem Kurs gegeben. Er sagt: 699) „Das Anführen einzelner Schriftstellen in der Dogmatik ist etwas höchst Mißliches, ja, an und für sich Unzureichendes.” Aber diese sinnlose Phrase ist so ziemlich von allen Hauptvertretern der modernen Theologie, von der äußersten Linken bis zur äußersten Rechten, adoptiert worden. Wir finden sie auch bei Ihmels 700) und vorher schon bei Hofmann. 701) Mit Recht hat Kliefoth in seiner Kritik des Hofmannschen Schriftbeweises diesen Gegensatz zwischen dem Ganzen der Schrift und den einzelnen Schriftaussagen eine „unvollziehbare Phrase” genannt. 702) Tatsächlich steht es doch so, daß wir zu dem Ganzen der christlichen Lehre nur so kommen können, daß wir die einzelnen Lehren den Schrift-
-----------------------------
697) L. u. W. 42, 74 f. 698) St. L. XI, 1073.
699) Glaubenslehre I, § 30. 700) Zentralfragen 2, S.
701) Schriftbeweis 2 I, 671 ff.
702) Der Schriftbeweis des D. I. Chr. K. von Hofmann, S. 32.
244 > Die Heilige Schrift. [English ed. ~ 202]
stellen — natürlich stets in ihrem Zusammenhang angesehen — entnehmen, die von den betreffenden Lehren handeln. Was unter Absehung von den einzelnen Schriftaussagen für das Ganze der Schrift oder für das Ganze der christlichen Lehre ausgegeben wird, ist lediglich menschliches Produkt. Die sonderbare Rede vom Ganzen der Schrift im Gegensatz zu den einzelnen Schriftaussagen ist ersonnen worden, um unter dem Schein großer Schriftmäßigkeit die Schrift vollkommen matt zu setzen und der Theologie des „frommen Selbstbewußtseins” des theologisierenden Subjekts in der Kirche Raum zu schaffen. Kliefoth hat warnend daran erinnert, daß die „unvollziehbare Phrase” vom Ganzen der Schrift keine „unschädliche” Phrase sei, „wenn sie in die bornierten Köpfe fällt, wie Beispiele beweisen”. Kliefoths Ausdruck ist stark und ungalant, aber nicht stärker und ungalanter als die Ausdrücke, die wir z. B. 1 Tim. 6,4 finden: τετύφωτ αι, μηδέν επιoταμένος. Zur Sache wäre noch hinzuzufügen, daß nicht nur die Köpfe, in die jene „unvollziehbare Phrase” gefallen ist, sondern schon die Köpfe, in denen sie entstand, in die Kategorie der von Kliefoth beschriebenen Köpfe gehören. Ihre Entstehung verdankt jene Phrase doch lediglich der Blindheit, die man die Blindheit κατ εξοχήν nennen kann, nämlich der Bljndheit, in welcher jemand, der die Stellung eines Lehrers in der christlichen Kirche beansprucht, noch nicht oder doch nicht mehr Gottes Wort als Gottes Wort erkennt, es als Quelle und Norm der christlichen Lehre verwirft und daher bestrebt ist, in der christlichen Kirche an die Stelle des εϊς διδάσκαλος, welcher Christus in seinem Wort ist, 703) das Selbstbewußtsein des theologisierenden menschlichen Subjekts zu setzen. Dieses Nichtwissen ist so groß, daß sich Christus selbst darüber wundert: Διά τί την λαλιάν την εμήν ον γινώσκετε;704)
4. Durch die Berufung auf die Kirche, die Lehrentscheidungen der Kirche (Konzilien, Synoden), den Papst usw. Nach der Schrift steht es so, daß die christliche Kirche gar keine eigene Lehre hat, nämlich keine Lehre außer und neben Christi Wort. Christus ist ihr εις διδάσκαλος, εις καθηγητής.705) Ihr ist befohlen, Christi Wort zu lehren.706) Sie hat Christi Wort im Wort seiner Apostel und Propheten,707) und an diesem Wort bleibt sie auf
-----------------
703) Matth. 23, 8; Joh. 8, 31. 32. 704) Joh. 8, 43.
705) Matth. 23, 8.10.
706) Matth. 28, 20: πάντα δσα ενετειλάμην υμΐν'.
707) Joh. 17, 20; Eph. 2, 20; 1 Petr. 1, 10—12.
245 > Die Heilige Schrift. [English ed. ~ 203]
Christi ausdrückliche Weisung.708) Insofern die Kirche nicht bei Christi Wort bleibt, sondern Menschenwort lehrt, fällt sie aus ihrem Beruf und „plaudert”, wie Luther es derb ausdrückt.709) Die Lehrer, welche nicht Christi Lehre oder, was dasselbe ist, der Apostel Lehre bringen, sind nicht als Glaubensgenossen zu behandeln, sondern als Sektenstifter sorgsam und entschieden zu meiden.710) Daß die Stimme der Kirche und die Stimme der Heiligen Schrift nicht zwei verschiedene Stimmen sind, sondern ein und dieselbe Stimme, legte Luther gewaltig gegen Erasmus dar, als dieser sich erboten hatte, seinen Sinn der Kirche zu unterwerfen, wenn er auch den Sinn der Schrift nicht erreiche. Luther hält ihm vor: „Was sagst du da, Erasmus? Ist's nicht genug, den Sinn der Schrift zu unterwerfen? Unterwirfst du ihn auch den Beschlüssen der Kirche? Was kann die Kirche beschließen, das nicht zuvor in der Schrift beschlossen ist?"711) Die Apologie nennt das, was die Apostel und Propheten in ihren Schriften lehren, den consensus ecclesiae, die übereinstimmende Lehre der ganzen christlichen Kirche.712) Wir wissen daher, was wir von allen denen zu halten haben, die neben die Schrift als Quelle und Norm der christlichen Lehre den Konsens der Kirche stellen wollen, sei es den Konsens der Kirche überhaupt, sei es den Konsens einiger Jahrhunderte.713) Alle sagen sich eo ipso vom Schriftprinzip los. Dies ist auch dann der Fall, wenn sie den Konsens der Kirche nur das „sekundäre Prinzip” nennen wollen. In der Praxis wird das sekundäre Prinzip zum primären.
--------------------------
708) Joh. 8, 31. 32; 15,7: εάν μείνητε εν εμοι και τά ρήματά μον εν νμϊν με ivy.
709) Die ausführliche Darlegung S. 60 ff.
710) 2 Joh. 9—11; Rom. 16, 17.
711) Opp. v. a.VII, 122: Quid ais, Erasme? Non satis est submisisse sensum Scripturis? Etiam ecclesiae decretis submittis? Quid illa potest decernere, non decretum in Scripturis? St. Louis XVIII, 1678.
712) M. 102, 8; 178, 66; 179, 73: Allegat [Petrus, Apost.. 10, 43] consensum omnium prophetarum. Hoc vere est allegare ecclesiae auctoritatem. — Profecto consensus prophetarum iudicandus est universalis ecclesiae consensus esse. — Petrus clare allegat consensum prophetarum, et apostolorum scripta testantur eos idem sentire.
713) William Laud, Erzbischof von Canterbury, 1645. RE.2 VIII, 485 ff. Über Calixts Consensus quinquesaecularis Quenstedt I, 65 sq. Kahnis, Innerer Gang 3 I, 105: „Wenn Calixtus von zwei Prinzipien in der Kirche sprach, der Schrift und der Tradition, so geschah dies offenbar auf Kosten des protestantischen Schriftprinzips und war abermals eine Annäherung an die römische Kirche. (Baier-Walther I, 87.)
246 > Die Heilige Schrift. [English ed. ~ 203-204]
Das sekundäre Prinzip ist ja zu dem Zweck erfunden, um danach das primäre Prinzip, die Heilige Schrift, auszulegen oder zu beschränken. Das, wonach die Schrift ausgelegt wird, wird über die Schrift gestellt und wird zur Einschränkung der Autorität der Schrift verwendet. Die Schrift sinkt zur norma normata herab. So war es auch, trotz der Versicherungen des Gegenteils, sowohl von Vincentius von Lerinum († 450) als auch von Georg Calixt († 1656) und andern Helmstedtern gemeint.714)
Was die Stellung der Christen und der christlichen Theologen zum Zeugnis der Kirche betrifft, so sind zwei Extreme zu meiden. Erstens: Sie verachten das Zeugnis der Kirche nicht, sondern nehmen Notiz davon, freuen sich desselben und werden im Glauben gestärkt, wenn sie erkennen, daß Gott auch in früheren Zeiten Zeugen der in der Schrift geoffenbarten Wahrheit erweckt hat.715) Zum ändern: Sie überschätzen das Zeugnis der Kirche nicht, als ob es außer und neben der Schrift Fundament des christlichen Glaubens sein könne. Vielmehr halten sie fest, daß weder die Aussprüche einzelner Personen noch die Aussprüche einer ganzen Anzahl von Personen (ecclesia repraesentativa) Glaubenslehren machen oder begründen können.716) Die alten lutherischen
------------------------
714) Quenstedt I, 65 Sy. Kahnis' Urteil in der vorhergehenden Note lautet sehr milde.
715) So beruft sich auch die Augustana wiederholt darauf, daß sie keine Neuigkeiten lehre, sondern nur solche Lehren bekenne, die auch in der alten Kirche Zeugen habe. M., S. 43. 47. 48. 69. Ebenso die Konkordienformel, S. 688, 64. Vgl. S. 733 ff. den Catalogus Testimoniorum. — Chemnitz sagt in seinem Examen Concilii Tridentini, Genevae 1667, p. 71, unter dem Abschnitt De Traditionibus: Iniuriam nobis facit Andradius, quod clamitat, nos in universum antiquitatis testimonio nihil tribuere, patrum autorita-tem nihili pendere, ecclesiae approbationem, fidem maiestatemque labefactare. Bona enim conscientia affirmare possumus, nos post Sacrae Scripturae lectionem aliquid, quantum quidem Domini gratia concedit, in inquirendo et investigando verae et purioris antiquitatis consensu posuisse et quotidie adhuc ponere. Patrum enim scriptis suum et quidem honorificum, qui illis debetur, tribuimus locum, ut qui multos Scripturae locos praeclare explicaverunt, antiqua ecclesiae dogmata contra novas haereticorum corruptelas defenderunt idque ex Scriptura, multos locos doctrinae recte explicarunt. Dies legt Chemnitz weiter im einzelnen dar.
716) Hierher gehören die bekannten Worte der Schmalkaldischen Artikel: Pontificii allegant Augustinum et quosdam patres, qui de purgatorio scripserint, et non putant nos intelligere, ad quid et quare sic illi locuti sint. Augustinus non scribit esse purgatorium, nec etiam habet testimonium Scripturae, quo nitatur, sed in dubio relinquit, num sit, et inquit matrem
247 > Die Heilige Schrift. [English ed. 204-205]
Lehrer weisen nebenbei auch auf die Tatsache hin, daß ein Konsens der Kirche außer und neben der Schrift gar nicht existiert, und zwar gerade auch dann nicht, wenn man sich zur Feststellung des consensus auf die ersten fünf Jahrhunderte beschränkt. Quenstedt begründet dies so: „Viele Schriften der alten Lehrer der Kirche sind gar nicht herausgegeben worden, wenige von denen, die herausgegeben sind, sind auf uns gekommen, die meisten sind verlorengegangen; auch haben viele Väter, besonders aus der ältesten Zeit, wenig oder nichts geschrieben, und was davon noch übrig ist, das ist verstümmelt, verfälscht und verderbt.” Und zuletzt und als Hauptgrund führt Quenstedt an: „Der Konsens weniger Väter ist nicht alsbald der Konsens der ganzen Kirche.” 717) Mit dem Satz
------------------------
suam petiisse, ut sui commemoratio fieret ad altare sive sacramentum. Ad hoc in universum nihil nisi hominum et quidem unius atque alterius devotio fuit, non constituens articulum fidei, id quod solius Dei est. Nostri autem pontificii sententias istas hominum citant, ut fides habeatur tetris, blasphemis et maledictis nundinationibus de missis pro animabus in purgatorio seu de inferiis et oblationibus etc. . . . Ex patrum enim verbis et factis non sunt exstruendi articuli fidei, alioquin etiam articulus fidei fieret victus ipsorum, vestimentorum ratio, domus etc., quemadmodum cum reliquiis sanctorum luserunt. Regulam autem aliam habemus, ut videlicet Verbum Dei condat articulos fidei, et praeterea nemo, ne angelus quidem. (M., S. 303.) Hierher gehören die klaren und bündigen Erklärungen der Konkordienformel sowohl in der Epitome als auch in der Solida Declaratio über den spezifischen Unterschied zwischen der Heiligen Schrift und allen andern Schriften, inklusive der Symbole. M., S. 517,1. 2. 7. 8; 568, 3.
717) Der ganze Abschnitt bei Quenstedt (1,66) ist instruktiv und interessant: Probatur πόρισμα: Ex consensus illius nullitate seu non-existentia. Multa antiquorum ecclesiae doctorum scripta sunt ανέκδοτα; pauca eorum, quae edita sunt, ad nos pervenerunt; plurima interciderunt; multi etiam patres, praesertim ex antiquissima antiquitate, parum vel nihil scripserunt, et quae adhuc supersunt patrum scripta, illa mutilata, interpolata et corrupta sunt. Consensus autem paucorum patrum non statim est consensus totius ecclesiae. — Regerunt adversarii: optima tamen scripta patrum a coelesti pronoea esse servata, viliora tamen periisse. Ast quis huius rei fidem faciet? Quis leges praescribet providentiae divinae, aut quis persuadebit, in busto bibliothecae seu Alexandrino, de quo Gellius lib. VI. Noct. Att. c. ult., seu Diocletianeo, de quo Dr. Dannhauerus in Christeid., p. 231, viliora tantum periisse monumenta, fati dentibus erepta esse cedro digna ? Imo b. Lutherus divinae providentiae potius adscribit in der Vorrede ueber den 1. Wittenb. Teii, „quod haud exigua scriptorum ecclesiasticorum pars pessum iverit, ne homines impendendum Sacrae Scripturae lectioni ac scrutinio tempus patrum et conciliorum volutationi impendere necesse haberent”. — Instant: ex εκδότοις satis aestimari posse ecclesiae antiquae consensum. Resp., posse
248 > Die Heilige Schrift. [English ed. ~ 205-206]
des Vincentius von Lerinum, daß festzuhalten sei, quod ubique, quod semper, quod ab omnibus creditum est,718) läßt sich praktisch nichts anfangen. Die Römischen zerhauen den Knoten dadurch, daß sie sich auf den Papst als den maßgebenden Interpreten auch der Lehrtradition zurückziehen. Protestantische Vertreter des Traditionsprinzips, wie Calixt, sind gezwungen, sich auf die Dogmengeschichtler zu verlassen, und landen damit neben der Schrift auf dem Gebiet menschlicher Autorität.
Was das spezifisch römische Prinzip der Theologie betrifft, so nennen die römischen Theologen als theologische Prinzipien die Heilige Schrift, die Tradition, die Konzilien, den Papst.719) Weil aber dem Papst die schließliche Auslegung der Schrift, der Tradition, der Konzilienbeschlüsse usw. zugestanden wird, so ist er auch schließlich das einzige Prinzip der papistischen Theologie.720) Die
------------------------
particulariter et probabiliter aestimari, concedo, nego de fide divina; posse in iis, in quibus συμψηφισμός apparet, non in aliis, ubi ipsimet in partes eunt; posse aestimari, si in aliquam fidei traditionem uno eodemque consensu aperte, universaliter et perseveranter conspirarint. Sic v. g. de canone Scripturae pulcherrimum habemus concentum doctorum veterum, si colligas omnia testimonia per quinque et plura saecula; ast ille consensus non perinde apparet in dogmatibus. Quanta saepe in patrum scriptis etiam de sensu Scripturae discrepantia? quantus saepe hiatus temporum? quanta locorum vacuna, ubi nihil literis proditum? Respiceret ille quinquesaecularis consensus solum controversias coaetaneas, non ortas post quinque saecula haereses.
718) R. Seeberg, Dogmengesch. 1895, I, 328 f.
719) So nennt Bellarmin, De Coneilüs II, 12, 1, vier Prinzipien: Verbum Dei scriptum, traditiones άγραφους, auctoritatem conciliorum et Romanum pontificem. (Bei Quenstedt I, 53.) IOmnis doctrinae ratio, quae fidelibus tradenda sit, Verbo Dei continetur, quod in Scripturam traditionesque distributum est. Im Tridentinum lautet es sessio IV (Smets, p. 14) so: Tridentina synodus . . . perspiciens, hanc veritatem et disciplinam contineri in libris scriptis et sine scripto traditionibus, quae, ab ipsius Christi ore ab apostolis acceptae aut ab ipsis apostolis, Spiritu Sancto dictante, quasi per manus traditae, ad nos usque pervenerunt, orthodoxorum patrum exempla secuta, omnes libros tam Veteris quam Novi Testamenti, cum utriusque unus Deus sit auctor, necnon traditiones ipsas, tum ad fidem tum ad mores pertinentes, tamquam vel ore-tenus a Christo vel a Spiritu Sancto dictatas et continua successione in ecclesia catholica conservatas, pari pietatis affectu et reverentia suscipit et veneratur.
720) Hülsemann: Etsi fingant, se resolvere fidem suam in Sacram Scripturam et primam veritatem iuxta sensum universalis ecclesiae intel-
249 > Die Heilige Schrift. [English ed. ~ 206-207]
Unfehlbarkeit des Papstes ist schon früher in der römischen Kirche von einzelnen und von ganzen Parteien gelehrt worden. Doch waren innerhalb der Kirche verschiedene Meinungen darüber, ob der Papst im Verein mit der Kirche (mit den Konzilien und Lehrern der Kirche) oder allein, für seine Person, unfehlbar sei. Die letztere Ansicht, schon früher von den Jesuiten vertreten, ist durch das Vatikanische Konzil vom Jahre 1870 zum Glaubenssatz für die ganze Kirche erhoben worden.721) Die römische Theologie, insofern sie durch die „Infallibilität” des Papstes bestimmt ist, hat zum Prinzip die satanische Überhebung dessen, der sich in den Tempel Gottes setzt als ein Gott und sich aufführt, als ob er Gott wäre. 722) Anstatt der göttlichen Ordnung gemäß bei Christi Wort zu bleiben, setzt die römische Theologie über Christi Wort die große päpstische Unfehlbarkeitslüge, die durch Wirkung des Satans in die Welt gesetzt ist und durch Wirkung des Satans in der Welt Glauben findet.723)
Um die Berufung auf das Zeugnis der Kirche als theologisches Prinzip neben dem Wort der Schrift als berechtigt zu erweisen, haben namentlich römische Theologen sich auf Schriftstellen wie Matth. 28,20 berufen. Hier, so verläuft das Argument, verheiße Christus der Kirche seine Gnadengegenwart bis an den Jüngsten Tag. Daher sei es nicht mehr als billig, anzunehmen, daß die Kirche in der ihr aufgetragenen Bezeugung der Wahrheit nicht irren werde. Dies Argument hat manche verwirrt. - Was darauf zu erwidern ist, ergibt sich aus der angeführten Stelle selbst. Christus verheißt Matth.
--------------------------
lectam, interpretationem tamen universalis ecclesiae resolvunt in interpretationem unius hominis, qui appellatur ab iis Romanus pontifex. (Anti-Bellarminus, cap. I, thes. 20. Zitiert bei Quenstedt I, 53.)
721) Pius IX: Docemus et divinitus revelatum dogma esse definimus: Romanum pontificem, cum ex cathedra loquitur, id est, cum omnium Christianorum pastoris et doctoris munere fungens pro suprema sua apostolica auctoritate doctrinam de fide vel moribus ab universa ecclesia tenendam definit, per assistentiam divinam, ipsi in beato Petro promissam, ea infallibilitate pollere, qua divinus Redemtor ecclesiam suam in definienda doctrina de fide vel moribus instructam esse voluit; ideoque eiusmodi Romani pontificis definitiones ex sese, non autem ex consensu ecclesiae, irreformabiles esse. (Constitutio dogmatica prima de ecclesia Christi, edita in sess. 4. Concilii Vaticani: „Pastor aeternus.” A. 1870. d. 18. Iulii. Vid. Die Kanones und Beschluesse des Vatikanischen Konzils. Deutsch-lateinische Ausg. von G. Schneemann 1871, p. 45 sq.) (Bei Baier-Walther I, 81.)
722) 2 Thess. 2, 4.
723) 2 Thess. 2, 9—12. Die nähere Darlegung unter dem Abschnitt „Der Antichrist”, III, 527—534.
250 > Die Heilige Schrift. [English ed. ~ 207-208]
28,20 der Kirche seine Gnadengegenwart, nachdem er ihr den Auftrag gegeben hat, nur sein Wort zu lehren: „Lehret sie halten alles, was ich euch befohlen habe.” Christus ist bei seiner Kirche mit seiner Gnadenoffenbarung und seiner Gnadenwirkung in seinem der Kirche befohlenen Wort. Sofern daher die Kirche Christi Wort lehrt und bekennt, kann sie allerdings nicht irren; insofern sie aber etwas außer und neben Christi Wort lehrt, ist sie nicht nur nicht unfehlbar, sondern irrt sie auch sicherlich.
5. Durch die Berufung auf Privatoffenbarungen, auch „unmittelbare” oder „neue Offenbarungen” (revelationes immediatae, revelationes novae) genannt. Unter Privatoffenbarungen verstehen wir solche Offenbarungen über die christliche Lehre, die einzelnen Personen durch Gesichte, Erscheinungen, innere Einsprache, innere Stimme, inneres Licht usw. angeblich zuteil geworden sind. Nach diesen Privat- oder unmittelbaren Offenbarungen soll dann die in der Heiligen Schrift vorliegende Lehroffenbarung ausgelegt, berichtigt und ergänzt werden. Die christliche Kirche ist zu allen Zeiten von Leuten beunruhigt worden, die sich Privatoffenbarungen neben dem Wort der Propheten und Apostel rühmten. Dies geschah schon in der apostolischen Kirche. Wir sehen aus Stellen wie 1 Kor. 14, 37 und 2 Thess. 2, 2, daß in den apostolischen Gemeinden „Propheten” oder „geistliche Leute” auftraten, die ihr Wort dem Apostelwort koordinieren wollten und deshalb von Paulus an der erstgenannten Stelle sehr scharf zurechtgewiesen werden. Aus der späteren Kirche gehören hierher die Montanisten, Donatisten, Messalianer u.a.; aus der Zeit der Reformation die Wiedertäufer, Schwenkfeldianer u.a., die Luthers Dringen auf die ausschließliche Geltung der Heiligen Schrift als „Buchstabendienst” verwarfen und dem „äußeren” Wort der Schrift das sogenannte „innere” Wort als höhere Offenbarung gegenüberstellen wollten.724) Aus der folgenden
------------------------------
724) Luther beschreibt in der Schrift „Wider die himmlischen Propheten”, St. L. XX, 202 ff., die Art Carlstadts und seiner Genoffen: „Was Gott äußerlich ordnet zum Geist innerlich, wie gesagt ist, ach, wie höhnisch und spöttisch schlägt er das in Wind und will zuvor hinein in den Geist! . . . Wenn man sie fragt: Wie kommt man denn zu demselbigen hohen Geist hinein? so weisen sie dich nicht aufs äußerliche Evangelium, sondern ins Schlaraffenland und sagen: Steh in der Langweile, wie ich gestanden bin, so wirst du es auch erfahren; da wird die himmlische Stimme kommen und Gott selbst mit dir reden. . . . Siehst du da den Teufel, den Feind göttlicher Ordnung? Wie er dir mit den Worten Geist, Geist, Geist! das Maul aufsperret, und doch dieweil beide Brücken, Steg und Weg, Leiter und alles umreißt, dadurch der Geist zu dir kommen soll, nämlich die äußerlichen Ord-
251 > Die Heilige Schrift. [English ed. ~ 208-209]
Zeit bis auf unsere Zeit gehören hierher die Quäker, Labadisten, Swedenborgianer, Irrvingianer, Inspirierte, Mormonen usw. 725) Überhaupt ist zu sagen: Alle, welche die Wirksamkeit des Heiligen Geistes von dem Wort der Schrift trennen, machen Privat- oder unmittelbare Offenbarungen zum Prinzip in der Theologie. Sie werden sämtlich sachlich korrekt unter dem Gesamtnamen „Schwärmer” oder „Enthusiasten” (fanatici, enthusiastae) zusammengefaßt. Hier finden sich prinzipiell zusammen: a. die Papisten, insofern sie dem Papst ein unfehlbares Lehramt außer und neben dem geschriebenen Wort Gottes zuschreiben. Luther hat in den Schmalkaldischen Artikeln die Sachlage grundsätzlich völlig klar erfaßt, wenn er sagt: „Denn auch das Papsttum ein eitel Enthusiasmus ist, darin der Papst rühmet, alle Rechte sind im Schrein seines Herzens (in scrinio sui pectoris), und was er mit seiner Kirche urteilt und heißt, das soll Geist und Recht sein, wenn's gleich über und Wider die Schrift oder mündliche Wort ist.” Und weiterhin: „Der Enthusiasmus ... ist auch des Papsttums Ursprung.” 726) b. Alle Reformierten, insofern sie mit Zwingli und Calvin und mit neueren reformierten Theologen wie Shedd, Hodge und Böhl die seligmachende Wirkung des Heiligen Geistes sich unmittelbar, außer und neben dem Wort, vollziehen lassen. Efficacious grace acts immediately..727) c. Alle modernen Theologen, sofern sie leugnen, daß die Schrift Gottes unfehlbares Wort ist und daher grundsätzlich die christliche Lehre aus dem „frommen Selbstbewußtsein”, dem „religiösen Erlebnis” usw. schöpfen und normieren wollen. Diese theologische Prinzipienlehre deckt sich der Art nach mit dem in ssrinio psetoris papas und mit Zwinglis: Dux vel vehiculum Spiritui non est necessarium; ipse enim est virtus et latio, qua cuncta feruntur, non qui ferri opus habeat. Wir sahen daher auch, daß die Scheltnamen, mit denen die neueren Theologen das Schriftprinzip verdächtig machen und verwerfen (papierner Papst, Buchstabentheologie, Intellektualismus usw.), sich so ziemlich mit dem Scheltvokabular deckt, das die römischen Theologen und die reformierten Schwärmer gegen Luther und die lutherische Kirche ver-
---------------------------
nungen Gottes in der leiblichen Taufe, Zeichen und mündlichem Wort Gottes, und will dich lehren, nicht wie der Geist zu dir, sondern wie du zum Geist kommen sollst, daß du sollst lernen auf den Wolken fahren und auf dem Winde reiten, und sagen doch nicht, wie oder wann, wo oder was, sondern sollst's erfahren selbst wie sie.””
725) Die ausführlichen Belege bei Günther, Symbolik 2, S. 90 ff. [sic: 4th edition 90 ff.] [Engelder, Popular Symbolics, p. 378 ff.; 388 ff.; 323 ff.; 423 f.; 440 ff.]
726) M. 321, 4. 9. 727) Der nähere Nachweis S. 26 ff., Note 92.
252 > Die Heilige Schrift. [English ed. ~ 209-210]
wendeten. 728) Auch das Resultat der modernen Theologie, sofern sie an die Stelle der Schrift das Erlebnisprinzip setzt, ist dasselbe wie bei der papistischen und reformierten Schwärmerei. Luther: „Sie reden solch Ding nur darum, daß sie uns aus der Schrift führen und sich selbst zu Meistern über uns erheben, daß wir ihre Traumpredigten glauben sollen.” 729)
-----------------------------
728) S. 68 ff.
729) St. L. V, 334 f. Bei Quenstedt (I, 70 sq.) findet sich ein Verzeichnis der Enthusiasten bis auf seine Zeit. Dieses Verzeichnis ist wegen der eingefügten Bemerkungen interessant und lehrreich. Quenstedt schreibt: Antithesis: 1. Fanaticorum variorum, statuentium: „Dei et omnium credendorum dogmatum cognitionem non ex Verbo Dei scripto, sed ex propria unicuique peculiariter facta revelatione et congenita luce, ex raptibus, somniis, angelorum colloquiis, ex verbo interno, ex inspiratione (Einsprechen) Patris coelestis, informatione interna Christi essentialiter cum ipsis uniti, ex magisterio Spiritus Sancti intus loquentis et docentis, sapientiam altiorem, quam quae Scripturis sacris continetur, petendam esse.” Tali ενϑονοιαομφ correptos fuisse constat permultos fanaticos, antiquos et recentiores; antiquis annumerari possunt Montanistae, Donatistae, Adelphius. . . . Verba Hist. Tripart, haec sunt: „Ea tempestate Messalianorum, quos ενχήτας, h. e., orantes, appellant, haeresis est exorta. Vocantur autem et alia appellatione ενϑονοιασταί, i. e., afflati et divini. Hi enim cuiusdam daemonis operationem expectant et hanc Sancti Spiritus praesentiam arbitrantur. Qui vero integro huius rei languore participantur, aversantur operationem manuum velut malam, somnoque semetipsos tradunt et somniorum phantasias prophetias appellant. Huius haereseos fuerunt principes Dadoes et Sabbas et Adelphius, Hermas et Symeones et alii.” Recentiores enthusiastae sunt, qui . . . ex orco prodierunt . . . sub ductu et auspiciis Thomae Munzeri, seditiosi illius Anabaptistarum antesignani in Thuringia, Casparis a Schwenkfeld in Silesia, Theophrasti Paracelsi in Helvetia, Coppini et Quintini in Piccardia, Valentini Weigelii in Misnia. Hi omnes non tantum scriptum Dei Verbum, sed et revelationes, enthusiasmos, somnia et immediatam Dei vocem audienda et secundum illa regimen ecclesiae instituendum esse contenderunt. . . . His adde fratres roseae crucis, novellos prophetas, Joh. Warnerum, Georg. Richardum, Quackeros seu Tremulantes in Anglia, qui etiam raptus divinos et revelationes immediatas somniant. Sic quoque Jean de Labadie publice gloriatus est de revelationibus coelestibus, colloquiis cum beatis sanctis atque beatae virginis Mariae apparitionibus inter orandum sibi factis, ipsiusque asseclae; Deum immediate saepe sine Verbo cum fidelibus agere, asserunt ac proinde, „ad internas Spiritus revelationes confugiendum, seduloque attendendum”, monent. Ita et Schurmannia, ενκληρ., p. 80, probare conatur, „praeter Scripturam dari hodieque prophetiam dogmaticam et internas revelationes”. 2. Papistarum, quos revelationes privatis, v. g., Brigittae, Catharinae Senensi, . . . factas inter principia fidei admittere, ostendit Dr. Dannhauerus, Hodom. Spiritus Pap. phantasm. I, p. 61 sq. . . . 3. Socinianorum. Sic Faustus Socinus contra Erasmum Ioh.,
253 > Die Heilige Schrift. [English ed. ~ 210]
Die Frage, was von Lehroffenbarungen außer und neben der Schrift zu halten sei, ist in der Schrift endgültig entschieden. Gott hat solche Offenbarungen nicht verheißen, sondern im Gegenteil alle Christen bis an den Jüngsten Tag an das Wort der Apostel und Propheten gewiesen und gebunden. Mit dem Apostel- und Prophetenwort ist die göttliche Lehroffenbarung geschlossen. Alle Christen bis an das Ende der Zeit glauben durch der Apostel Wort.730) Die christliche Kirche wird beschrieben als erbaut auf den Grund der Apostel und Propheten.731) Mit Recht erinnern die alten lutherischen Theologen immer wieder an das Axiom, das von allen Erkenntnisquellen außer und neben der Schrift gilt: „Neue Offenbarungen in bezug auf die christliche Lehre decken sich entweder mit der in der Schrift vorliegenden Lehre, und dann sind sie überflüssig; oder sie enthalten etwas anderes, als im Wort der Apostel und Propheten geschrieben steht, und dann sind sie zu verwerfen. 732)
Es wurde und wird die Frage aufgeworfen, ob nicht auch zu unserer Zeit einzelnen Personen göttliche Offenbarungen zuteil werden, die sich auf äußere Ereignisse in Kirche und Welt beziehen. Es widerspricht nicht der Schrift, die Möglichkeit und Wirklichkeit solcher Offenbarung zuzugeben.733) Der Schrift wider-
---------------------------
p. 166, censet, Laelium Socinum . . . interpretationem eorum verborum Christi, loh. 8, 52: „Antequam Abraham pater multarum gentium fiat, ego sum lux mundi”, precibus multis ab ipso Christo impetrasse, eamque a Deo ipso patefactam esse. Ostorodus, Instit. Germ., c. 1, requirit immediatas revelationes sive internam specialem illuminationem ad intelligendas Scripturas propheticas et maximam partem Apocalypseos Iohannis. Vide Dn. D. Calovium, 11. cc. 4. Quorundam Calvinianorum. Sic Andreas Carolstadius revelationes et visiones privatas magnifecit, quem libro „contra coelestes prophetas” b. Lutherus refutavit Tom, III, Ienens.; cf. Sleidanum, 1. III, p. 61; 1.V, p. 117, ubi inquit: „Is, de quo supra dictum est, Carolstadius, a Luthero dissentiens, Witteberga relicta, clandestinis illis doctoribus, qui visiones et colloquia cum Deo simulabant, ut ante diximus, multo erat familiaris.” Et Huld. Zwinglius, qui ex peculiari revelatione sibi innotuisse vult per Spiritum, voculam „est” in verbis coenae positam esse pro „significat”. Hinc D. Dannhauerus, Hodom. Spirit. Calv. Phantas. I, § 9, p. 59: „Si primordia spectes, enthusiasmo fanatico Carolstadiano et Zwingliano non parum debet Calvinismus, quamvis postea videatur defecisse.”
730) Joh. 17, 20. 731) Eph. 2, 20.
732) Röm. 16, 17; 1 Tim. 6, 3 ff.; Luk. 16, 29—31.
733) Vgl. Apost. 11, 27. 28; 21, 10. 11. Ein Beispiel dieser Art ist in der Apologie (M., 270 f.) angeführt (Johannes Hilten von Eisenach). Hinzugesetzt wird: „Was aber von dieses Mannes Rede zu halten sei, lassen wir einem jeden sein Urteil.”
254 > Die Heilige Schrift. [English ed. ~ 211]
spricht aber die Annahme von neuen Lehroffenbarungen, weil die Lehroffenbarungen mit dem Wort der Apostel und Propheten abgeschlossen sind.734)
6. Durch die Forderung, daß die christliche Religion geschichtlich aufgefaßt werde. Dieser Punkt mußte bereits unter dem Abschnitt „Das Christentum als absolute Religion” berührt werden.735) Ausführlicher wurde er dann unter dem Abschnitt „Die nähere Beschreibung der Theologie als Lehre gefaßt” behandelt. Es wurde dargelegt, in welchem Sinne das Christentum sehr wohl eine geschichtliche Erscheinung genannt werden könne und in welchem Sinne die „geschichtliche Auffassung” entschieden abzulehnen sei. Letzteres muß geschehen, wenn die sogenannte geschichtliche Auffassung dazu verwendet wird, an der in der Schrift vorliegenden christlichen Lehre Kritik zu üben. Dies geschieht seitens neuerer Theologen, wenn sie die Heilige Schrift als Quelle und Norm der christlichen Lehre beiseitesetzen und nach ihrer „geschichtlichen Auffassung” bestimmen wollen, was in der Kirche als christliche Lehre unzuerkennen sei. Wir wiesen schon auf Richard Grützmachers richtige Bemerkung hin, „daß uns die geschichtliche Heilsoffenbarung nur in der sie wiedergebenden Heiligen Schrift enthalten ist”. Wir wissen von Christo und seiner Lehre nur aus Christi Wort, das wir in dem geschriebenen Wort seiner Apostel und Propheten besitzen und auf das uns Christus als das einzige Medium der Wahrheitserkenntnis so nachdrücklich verweist (Joh. 8). Wer diese einzige Quelle und Norm der christlichen Lehre preisgibt und uns statt dessen auf die geschichtliche Auffassung des Geschichte treibenden Individuums verweist, mutet uns zu, menschliche Autorität an die Stelle der göttlichen Autorität der Heiligen Schrift zu setzen. Die modernen Theologen, die den terminus „Geschichte” mißbrauchen, indem sie den „geschichtlichen Christus” gegen den Christus in seinem Wort urgieren, sollten sich der Erkenntnis nicht verschließen, daß sie damit der Kirche ein Produkt des menschlichen
---------------------------
734) Quenstedt sagt I, 75 über diesen Punkt: Distinguendum inter revelationes, quae articulum fidei spectant vel impugnant, et quae concernunt statum ecclesiae aut politiae, communem vitam et futuros eventus; illas repudiamus, has vero non quidem ulli cum necessitate credendi obtrudendas, nec tamen temere reiiciendas esse nonnulli statuunt. B. Balduinus in Comm, in 1 Tim. 4, P. I, q. 1, inquit: „Non dubitamus, Deum adhuc nonnullis interdum revelare futura, quae ad statum ecclesiae et reipublicae pertinent, in usum hominum annuncianda.”
735) S. 40 ff.
255 > Die Heilige Schrift. [English ed. ~ 211-212]
Ich darbieten. Der wirklich „geschichtliche Christus” ist der Christus in seinem Wort. Luther sagt in seiner „Warnungsschrift an die zu Frankfurt am Main”:736) „Außer seinem Wort und ohne sein Wort wissen wir von keinem Christo, viel weniger von Christi Meinung. Denn der Christus, der uns ohne sein Wort seine Meinung vorgibt, das ist der leidige Teufel aus der Hölle, der Christi heiligen Namen führet und darunter seine höllische Gift verkauft.” Das ist eine harte Rede, die unsere modernen Ohren kaum vertragen können. Aber sie sagt die volle Wahrheit gerade auch in bezug auf die neueren Theologen, die den „geschichtlichen Christus” von dem Christus in seinem Wort trennen. Auch mag hier nochmals an ein Zugeständnis seitens der Theologen, die konsequent die geschichtliche Auffassung des Christentums vertreten, erinnert werden. Es ist dies das Zugeständnis, daß ihre geschichtliche Auffassung nie zur Gewißheit führen könne, sondern den Inhalt der christlichen Lehre notwendig in Zweifel lasse.737) Mit diesem Zugeständnis erklärt diese Art Theologie selbst, daß sie in der christlichen Kirche nicht existenzberechtigt sei. Die christliche Kirche lehrt nicht Zweifel, sondern die gewisse göttliche Wahrhei. 738)
Aus der vorstehenden Darlegung geht hervor, daß sich die Zahl der wesentlich verschiedenen religiösen Erkenntnisquellen und Normen auf zwei reduziert. Alles, was nicht lediglich der Schrift entnommen ist, entstammt im Gegensatz zur Schrift dem menschlichen Ich und wird adäquat mit dem Gesamtnamen Rationalismus bezeichnet, einerlei ob es geradezu so genannt oder euphemistisch umschrieben wird. Wer sich auf die natürliche Vernunft als Quelle und Norm der Theologie beruft, beruft sich auf sein natürliches menschliches Ich, weil die natürliche Vernunft nichts vom Evangelium weiß und, wenn sie sich in die Theologie verirrt (μετάβαοις εις αλλο γένος), die christliche Religion notwendig auf Morallehre („Sittlichkeit”, „opinio legis”) reduziert, weil sie nur noch etwas vom göttlichen Gesetz weiß. Wer sich auf die erleuchtete Vernunft, das wiedergeborne Ich usw. beruft, beruft sich ebenfalls auf die natürliche Vernunft, weil die erleuchtete Vernunft — oder der neue Mensch — die Art an sich hat, daß sie die christliche Lehre lediglich aus der Schrift schöpft und nach der Schrift normiert. Wer die christliche Lehre aus dem sogenannten
-----------------------------
736) St. L. XVII, 2015. 737) S. 39 f.
738) Joh. 18, 37; 17, 17; Joh. 8, 32. — 2 Tim. 3, 7.
256 > Die Heilige Schrift. [English ed. ~ 212-213]
Ganzen der Schrift und nicht aus den Schriftstellen, in denen die einzelnen Lehren geoffenbart vorliegen, entnehmen will, erklärt damit tatsächlich, daß er lediglich ein Produkt seiner eigenen menschlichen Gedanken der Kirche und der Welt darbietet. Wer sich auf die Kirche, Tradition, Papst usw. als Quelle und Norm der Theologie außer und neben der Schrift beruft, beruft sich ebenfalls auf menschliche Autoritäten, weil die christliche Kirche gar keine Lehre außer und neben der Schrift hat. Wer sich in Sachen der christlichen Lehre auf Privatoffenbarungen außer und neben der Schrift beruft, macht ebenfalls sein menschliches Ich zur Quelle und Norm der christlichen Lehre, weil die christliche Lehre in dem Wort der Apostel und Propheten als eine völlig abgeschlossene Größe vorliegt, zu der hinzuzutun oder von der abzutun jedem Menschen verboten ist. Ebenso haben wir uns vergegenwärtigt, daß auch durch die sogenannte geschichtliche Auffassung des Christentums an Stelle des gewissen, unfehlbaren Wortes Christi die ungewisse, fehlbare menschliche Meinung im Hause Gottes auf den Lehrstuhl erhoben wird.
Zum Schluß dieses Abschnittes sollten wir auf die Schmalkaldischen Artikel verweisen, in denen Luther sagt: „Summa, der Enthusiasmus steckt in Adam und seinen Kindern von Anfang bis zum Ende der Welt, von dem alten Drachen in sie gestiftet und gegiftet, und ist aller Ketzerei. . . Ursprung, Kraft und Macht.” 739) Wer von diesem Enthusiasmus herrschenderweise frei ist, der schreibe das in keiner Weise sich selbst, sondern allein der göttlichen Gnadenwirkung zu. Wie Luther von sich bekennt, Gott habe ihm die Gnade gegeben, sich alle Gedanken, die ihm ohne Gottes Wort eingefallen seien, wieder ausfallen zu lassen.740)
2. Die Heilige Schrift ist im Unterschied von allen andern Schriften Gottes Wort. ^
Der Hauptfehler, den die moderne Theologie an der ersten Kirche, an Luther und den lutherischen Dogmatikern findet, ist der, daß sie die Schrift und Gottes Wort „identifizierten”. Wir hörten bereits: „Der Fehler [der alten Dogmatiker] . . . steckt in der mangelhaften oder mangelnden Unterscheidung zwischen Bibel und Wort Gottes.” 741) Diesem Urteil schließt sich Ihmels an, indem er den Tadel zugleich aus die erste Kirche und die Kirche der Refor-
------------------------------
739) M. 322, 9. 740) S. 62. 741) Nitzsch-Stephan, S. 245.
257 > Die Heilige Schrift. [English ed. ~ 213-214]
mation ausdehnt. Er sagt: 742) „Die alte Dogmatik hat die Einzigartigkeit des Christentums dadurch sicherzustellen versucht, daß sie das Christentum auf einer ganz einzigartigen übernatürlichen Offenbarung ruhen läßt. . . . Dabei wird die Offenbarung von ihr in wesentlich intellektualistischem Sinne verstanden und sachlich mit der Schrift identifiziert. ... In dem allem wirkt sich ein Erbe aus, das aus der ersten Zeit der Kirche stammt. . . . Lag dem informatorischen Christentum an der reinen Lehre, dann konnte dies Interesse am sichersten dadurch gewährleistet scheinen, daß diese Lehre ganz direkt mit der Autorität göttlicher Offenbarung gedeckt werde. Dazu kam ein zweites Moment, das erst recht der unmittelbaren Praxis des reformatorischen Bedürfnisses zu entspringen schien. Die Kirche der Reformation lehnte die Autorität Roms unbedingt ab, sie hatte aber ihr nur die Autorität der Schrift gegenüberzustellen. Wieder schien diese in dem Maße am meisten sichergestellt, als Schrift und Offenbarung sich identifizieren ließen. Indes, so verständlich das alles auch, geschichtlich angesehen, sein mag, so bleibt es doch bei dem Urteil, daß, grundsätzlich angesehen, zwischen dem reformatorischen Verständnis der Schrift [wonach Schrift und Gottes Wort identifiziert werden] und der Offenbarung eine Inkongruenz besteht.” Aber was so einstimmig sowohl von der liberalen als auch von der „positiven” modernen Theologie an der ersten Kirche, an Luther und an den alten Dogmatikern als „Fehler” getadelt wird, das ist das einzig Richtige. Es ist die Lehre der Schrift über sich selbst. Die Schrift lehrt die Identifizierung von Schrift und Gottes Wort auf mehrfache Weise.
a. Die Worte der Schrift Alten Testaments werden im Neuen Testament schlechthin als Gottes Worte zitiert. Beispiele: Matth. 1,23 werden aus Ies. 7,14 die Worte zitiert: „Siehe, eine Jungfrau wird schwanger sein und einen Sohn gebären.” Von diesen Worten aber heißt es im vorhergehenden Verse (V. 22), daß der HErr sie durch den Propheten gesagt habe, ρηϑεν υπό κυρίου διά τον προφήτου Matth. 2,15 sind aus Hos. 11,1 die Worte angeführt: „Aus Ägypten habe ich meinen Sohn gerufen.” In bezug auf diese Worte wird sogleich bezeugt, daß der HErr sie durch den Propheten gesagt habe, το ρηθεν υπό κυρίου διά τον προφήτου Apost. 4, 25 ist aus dem 2. Psalm zitiert: „Warum empören sich die Heiden, und die Völker nehmen vor, das umsonst ist?” Von
----------------------
742) Zentralfragen 2, S. 56 ff.
258 > Die Heilige Schrift. [English ed. ~ 214]
diesen Worten aber heißt es zugleich, daß Gott sie durch den Mund seines Knechtes David geredet habe, δ διά στόματος Δαυίδ παιδός σου είπών. Apost, 28, 25 werden den Juden in Rom die Worte Ies. 6, 9. 10 vorgehalten: „Gehe hin zu diesem Volk und sprich: Mit den Ohren werdet ihr's hören und nicht verstehen, und mit den Augen werdet ihr's sehen und nicht erkennen” usw. Auch zu diesen Worten wird das Urteil hinzugefügt, daß der Heilige Geist sie wohl (das ist, zutreffend, καλώς) durch den Propheten Iesaias zu den Vätern Israels geredet habe, το πνεύμα το άγιον έλάλησεν διά Ήσαΐον τον προφήτου προς τους πατέρας ημών, Hebr. 3, 7 heißt es von einem Zitat aus dem 95. Psalm: „Wie der Heilige Geist, τό πνεύμα το άγιον, spricht: Heute, so ihr hören werdet seine Stimme, so verstocket eure Herzen nicht!” Röm. 3,2 heißt die ganze Schrift Alten Testaments, die der jüdischen Kirche anvertraut war, τα λόγια τον θεον, Gottes Aussprüche, Gottes Worte. Und weil die ganze Schrift Alten Testaments Gottes Wort ist, sagt Christus Joh. 10, 35 von ihr, daß sie auch nicht in einem einzigen Wort gebrochen werden kann. Es handelt sich um das Ps. 82, 6 von obrigkeitlichen Personen gebrauchte Wort אֱלֹהִ֣ים [HEBREW] θεοί. — Dazu kommt eine ganze Reihe von Schriftstellen, die nicht außer acht zu lassen sind, wenn es sich um die Frage handelt, ob Schrift und Gottes Wort zu identifizieren seien oder nicht. Es sind dies die Schriftstellen, in denen gesagt ist, daß alle Ereignisse in der Welt sich nach dem Wort der Schrift richten oder geschehen müssen. Alles, was geschehen ist und geschehen wird, vom Anfang bis zum Ende der Welt, das muß und wird geschehen, wie es geschrieben steht. So heißt es Matth. 1,22, wie wir bereits hörten, von der Geburt Christi aus der Jungfrau Maria, daß sie geschehen sei, „damit (ινα) die Schrift erfüllt werde”. Joh. 17, 12 redet der Heiland von Judas' Abfall und Ende und setzt hinzu: „daß, ινα, die Schrift erfüllt würde”. Als Petrus im Garten Christum vor der Gefangennahme mit dem Schwert bewahren will, wehrt ihm Christus, Matth. 26, 54, mit den Worten: „Wie würde [sonst] die Schrift erfüllt? Es muß also geschehen”, οντω δει γενέσϑαι. Und von allem, was mit Christo geschehen ist, insonderheit von seinem Leiden und der darauffolgenden Herrlichkeit, sagt Christus selbst Luk. 24, 44ff.:. „Es muß (δει) alles erfüllt werden, was von mir geschrieben ist im Gesetz Mosis, in den Propheten und in Psalmen” usw. Muß alles geschehen, was in der
259 > Die Heilige Schrift. [English ed. ~ 215]
Schrift geschrieben steht, so muß die Schrift nicht Menschenwort, sondern das Wort dessen sein, der alles im Himmel und auf Erden in feiner Hand hat, der alle Ereignisse lenkt, ohne den nichts, im Himmel und auf Erden geschehen kann, der allmächtig und allwissend, kurz, der große, majestätische Gott selbst ist. Olshausen bemerkt über die Zitate aus dem Alten Testament im Neuen: „Die Zitate aus dem Alten Testament im Neuen werden nicht als bloße Belege aus menschlich wichtigen Schriften angezogen, sondern als unumstößliche Beweise aus göttlichen Büchern. Diese Beweiskraft konnte ihnen nur insofern zukommen, als sie nicht von menschlichen Weisen herrühren, sondern von Männern, die getrieben wurden vom Heiligen Geist.” 743)
b. Das bisher Gesagte gilt zunächst von der Schrift des Alten Testaments. Daß aber die Schriften der Apostel des Neuen Testaments von derselben Beschaffenheit sind, nämlich auch Gottes eigenes Wort, ist 1 Petr. 1,10—12 gelehrt, wo es zunächst von den Propheten des Alten Testaments heißt, daß sie durch den Geist Christi, der in ihnen war, von der zukünftigen Gnade des Neuen Testaments geweissagt haben, dann aber in bezug auf die Apostel des Neuen Testaments hinzugefügt wird: „Welches euch nun (zur Zeit des Neuen Testaments) verkündiget ist durch die, so euch das Evangelium verkündiget haben durch den Heiligen Geist, Vom Himmel gesandt”, έν πνενματι άγίω άποοταλέντι άπ ούρανοϋ. Hier ist klar gelehrt, daß, wie das Wort der Propheten des Alten Testaments, so auch das Wort der Apostel des Neuen Testaments des Heiligen Geistes Wort ist. Der Einwand, daß hier nur von dem mündlichen Wort, nicht von den Schriften der Apostel die Rede sei, gilt nicht, weil die Apostel ausdrücklich sagen, daß sie dasselbe geschrieben haben, was sie mündlich verkündigten. So der Apostel Johannes: 744) „Was wir gesehen und gehört haben, das verkündigen wir euch, . . . und solches schreiben wir euch (καί ταντα γράφομεν νμϊν), auf daß eure Freude völlig sei.” Ebenso ermahnt der Apostel Paulus die Thessalonicher, zwischen dem, was der Apostel ihnen mündlich verkündigte, und dem, was er ihnen geschrieben hat, keinen Unterschied zu machen. Er sagt: 745) „So stehet nun, liebe Brüder, und haltet an den
---------------------------
743) Nachweis der Echtheit sämtlicher Schriften des Neuen Testaments, 1832, S. 168.
744) 1 Joh. 1, 3. 4. 745) 2 Thess. 2,15.
260 > Die Heilige Schrift. [English ed. 215-216]
Satzungen, die ihr gelehret seid, es sei durch unser Wort oder Epistel”, είτε διά λόγου, είτε δι επιστολής ημών. Die Apostel waren sich auch klar bewußt, daß sie nicht ihr eigenes, sondern Christi Wort redeten und schrieben. Wir sahen schon, daß Paulus von den „Propheten” und „geistlichen Leuten” in Korinth Unterwerfung unter fein, des Apostels, Wort fordert mit der Begründung: „Was ich euch schreibe, sind des HErrn Gebote”, τον κυρίου είσίν εντoAat.746) In seinem zweiten Briefe an die Korinther erinnert er die ganze Gemeinde daran, daß Christus durch ihn rede, δοκιμήν ζητείτε του εν εμοι λαλονντος Χρίστου.747) Und wenn Paulus über alle Lehrer den Fluch ausspricht, die ein anderes Evangelium lehren, als er selbst gelehrt hat, so haben wir, wie mit Recht bemerkt worden ist, nur die Wahl zwischen zweierlei: Entweder müssen wir annehmen, daß Paulus' Wort wirklich Christi Wort ist, wie er selbst in den angeführten Korintherstellen sagt, oder wir müßten annehmen, daß er im Wahn rede, wenn er jede Abweichung von dem von ihm verkündigten Wort mit dem Fluch belegt. Ein Drittes oder eine Mittelstellung gibt es nicht. So reichlich ist in der Schrift selbst bezeugt, daß, wie die Schrift Alten Testaments, so auch die Schrift Neuen Testaments Gottes Wort ist. Schrift und Gottes Wort sind also wirklich zu „identifizieren”.
Die Heilige Schrift ist ein Buch von ganz einzigartiger Beschaffenheit. Sie ist im Unterschied von den Millionen Büchern, die es sonst noch in der Welt gibt, Gottes Wort. Sie bildet eine Klasse für sich. Wenn wir in einer Bibliothek die Würde und das Ansehen der Bücher durch die äußere Ordnung zum Ausdruck bringen wollten, müßten wir etwa die Heilige Schrift auf eine Seite und alle andern Bücher auf die andere Seite stellen. Freilich gibt es viele andere Bücher, die auch Gottes Wort enthalten, so z.B. die Schriften Luthers. Aber was in andern Büchern von Gottes Wort enthalten ist, das ist aus der Heiligen Schrift genommen. Es ist völlig wahr, was Luther in seiner Anweisung zum Studium der Theologie sagt, daß kein Buch vom ewigen Leben lehrt (nämlich recht lehrt), ohne die Schrift allein.748) Die Schrift ist weder ein menschlicher noch ein „gottmenschlicher” Bericht über Gottes Wort und die „Offenbarungstatsachen”, sondern Gottes Wort selbst. Das ist Luthers Stellung zur Schrift. Um hier zunächst
-----------------------
746) 1 Kor. 14, 37. 747) 2 Kor. 13, 3. 748) St. L. XIV, 434.
261 > Die Heilige Schrift. [English ed. 216-217]
nur zwei kurze Worte Luthers anzuführen: Luther sagt: „Du sollst also mit der Schrift handeln, daß du denkest, wie es Gott selbst rede.” 749) Ferner: „Die Heilige Schrift ist nicht auf Erden gewachsen.”750) Als Repräsentant der alten lutherischen Dogmatiker kann Gerhard gelten, wenn er schreibt: „Zwischen Gottes Wort und der Heiligen Schrift ist kein sachlicher Unterschied, non est reale aliquod discrimen.” 751) Es ist nur ein Unterschied im Ausdruck, nicht der Sache nach, ob wir sagen: „Die Schrift sagt” oder: „Gott sagt.” "Holy Scripture and the Word of God are interchangeable terms.”
Diese Wahrheit tritt uns wohl bisweilen in den Hintergrund, weil die Heilige Schrift in so schlichten menschlichen Worten zu uns redet und auch — namentlich im Alten Testament — auf die Dinge des irdischen Lebens, auf Haushalt, Ackerbau, Viehzucht, Kleidung und Speise usw., eingeht. Es geht daher der Heiligen Schrift, wie es Christo zu der Zeit, da er auf Erden wandelte, erging. Weil Christus an Gebärden wie ein Mensch erfunden wurde, so hielt ihn das jüdische Publikum für einen bloßen Menschen wie Johannes den Täufer, Elias, Jeremias oder der Propheten einen.752) Dasselbe geschieht in bezug auf die Heilige Schrift. Weil sie in menschlicher Sprache geschrieben ist, so wird sie nicht für Gottes Wort gehalten, sondern in eine Klasse mit menschlichen Büchern gestellt und sogar von Menschen kritisiert. Deshalb warnt Luther in seiner Vorrede auf das Alte Testament: 753) „Ich bitte und warne treulich einen jeglichen frommen Christen, daß er sich nicht stoße an der einfältigen Rede und Geschichte, so ihm oft begegnen wird, sondern zweifele nicht daran, wie schlecht [gering] es sich immer ansehen läßt, es seien eitel Worte, Werke, Gerichte und Geschichte der hohen göttlichen Majestät, Macht und Weisheit. Denn dies ist die Schrift, die alle Weisen und Klugen zu Narren macht und allein den Kleinen und Albernen offen steht, wie Christus sagt Matth. 11,25. Darum laß deinen Dünkel und Fühlen fahren und halte von dieser Schrift als dem allerhöchsten, edelsten Heiligtum, als von der allerreichsten Fundgrube, die nimmer genug ausgegründet werden mag, auf daß du die göttliche Weisheit finden mögest, welche Gott hier so albern und schlecht vorlegt, daß er allen Hochmut dämpfe.”
----------------------------
749) St. L. III, 21. 750) St. L. VII, 2095.
751) L. de Scriptura Sacra, § 7. 752) Matth. 16, 14.
753) St. L. XIV, 3 f.
262 Die Heilige Schrift. [English ed. 217-218]
3. Die Heilige Schrift ist Gottes Wort, weil sie von Gott eingegeben oder inspiriert ist. ^
Die Schrift berichtet uns nicht nur die Tatsache, daß sie Gottes Wort ist, sondern lehrt auch sehr klar und deutlich, woher dies komme, nämlich daher, daß sie den Männern, durch welche sie geschrieben ist, von Gott eingehaucht oder eingegeben wurde: 2 Tim. 3, 16: πάσα γραφή θεόπνευστος. 2 Petr. 1, 21: υπό πνεύματος άγιον φερόμενοι έλάλησαν οι άγιοι θεού άνθρωποι. In dieser göttlichen Handlung der Inspiration ist es begründet, daß die Heilige Schrift, obwohl durch Menschen geschrieben, Gottes Wort ist. In den Schriftaussagen über die Inspiration ist folgendes enthalten:
1. Die Inspiration ist nicht sogenannte „Realinspiration”, Inspiration der Sachen, auch nicht bloß sogenannte „Personalinspiration”, Inspiration der Personen, sondern Verbalinspiration, Eingebung der Worte, weil die Schrift, von der das Inspiriertsein ausgesagt wird, nicht aus Sachen oder Personen, sondern aus geschriebenen Worten besteht. So gewiß 2 Tim. 3,16 das Prädikat θεόπνευστος von γραφή als Subjekt ausgesagt wird, so gewiß ist die Verbalinspiration nicht eine „künstliche Theorie” der alten Dogmatiker, sondern die einfache Aussage der Heiligen Schrift selbst. Dasselbe geht aus 2 Petr. 1,21 hervor. Nach dieser Stelle haben die heiligen Menschen Gottes unter dem Getriebensein vom Heiligen Geist (φερόμενοι υπό πνεύματος άγιον) nicht bloß gedacht oder Betrachtungen angestellt, sondern geredet (ελάλησαν), das ist, Worte hervorgebracht. Daß hier von den geschriebenen Worten der Heiligen Schrift die Rede ist, wird im vorhergehenden Verse (V. 20) ausdrücklich gesagt, wo die von den heiligen Menschen Gottes hervorgebrachten Worte als προφητεία γραφής, als Weissagung der Schrift, näher bestimmt werden. Und der Apostel Paulus hat nach 1 Kor. 14 des HErrn Gebote nicht bloß gedacht oder Betrachtungen in seinem Herzen darüber angestellt, sondern den Korinthern geschrieben, ά γράφω νμϊν, scil. sind τον κυρίου έντολαί. Wenn es bei Hastings heißt: 754) "Inspiration applies to men, not to written words”, so ist damit genau das Gegenteil von dem behauptet, was die Schrift von der Inspiration lehrt. Richtig dagegen Hiley nach Gaußen: 755) "This miraculous
--------------------------
754) Encyclopedia of Religion and Ethics, by James Hastings, II, 589.
755) Richard W. Hiley, The Inspiration of Scripture, 1885, p. 50.
263 > Die Heilige Schrift. [English ed. 218-219]
operation of the Holy Ghost” (nämlich die göttliche Handlung der Inspiration) "had not the writers themselves for its object, — these were only His instruments, and were soon to pass away; — its objects were the holy books themselves.” Wer die Verbalinspiration abweist und nur eine Sach- oder Personen inspiration annehmen will, leugnet damit — aus dogmatischer Voreingenommenheit — die Schriftlehre von der Inspiration. Um es zu wiederholen: Die Schrift sagt von der Schrift, die zugestandenermaßen aus Worten (verba) besteht, aus, daß sie inspiriert sei. Quenstedt: 756) Neque enim dicit apostolus, πάντα εν γραφβ sunt θεόπνευστα, sed πάσα γραφή θεόπνευστος, ut ostendat, non modo res scriptas, sed etiam ipsam scriptionem esse θεόπνευστον. Et quidquid de tota Scriptura dicitur, idem etiam de verbis ceu parte Scripturae non postrema necessario intelligendum est. Si enim vel verbulum in Scripturis occurreret non suggestum vel inspiratum divinitus, πάσα γραφή θεόπνευστος dici non posset.757) Wir können nicht zugestehen, daß dem Gegensatz zwischen Verbalinspiration und Sach- oder Gedankeninspiration geordnetes Denken zugrunde liegt. An die Gedanken, welche in einer Schrift enthalten find, kommen wir doch nur vermittels der in der Schrift gebrauchten Worte. Wir haben bei einer Schrift dieselbe Sachlage wie bei einer mündlichen Rede. Bei einer mündlichen Rede erkennen wir die Gedanken des Redners aus den von ihm gebrauchten Worten, soweit der Redner fähig und willens ist, seine Gedanken in Worte zu kleiden. Ebenso erkennen wir die Gedanken des Autors einer Schrift aus den in seiner Schrift gebrauchten Worten, soweit der Autor fähig und willens ist, seinen Gedanken in geschriebenen Worten Ausdruck zu geben. So verhält es sich auch in bezug auf Gottes Rede und Gottes Schrift. Unter der Voraussetzung, daß Gott in mündlicher Rede mit den Menschen verkehren wollte, mußten die Menschen auf Gottes Worte achten. Unter der Vor-
-----------------------------
756) I,107.
757) Ganz richtig heißt es bei Meusel sub „Inspiration der Heiligen Schrift”: „Mehr oder minder kommen alle buntscheckigen neueren Theorien darauf hinaus, die Inspiration der Schrift in eine Erleuchtung der Schriftsteller, die nur graduell von der eines jeden gläubigen Christen verschieden ist, umzusetzen.” Es war eine Zeitlang Mode geworden, θεόπνευστος, 2 Tim. 3, 16, nicht passivisch, „von Gott gehaucht”, sondern aktivisch, „Gott hauchend”, zu fassen. Diese Mode ist wieder abgekommen. Nitzsch-Stephan, S. 263, Note 1: "Heute ist die Auffassung von θεόπνευστος als inspiriert allgemein anerkannt: vgl. etwa Winer-Schmiedel, Grammatik des neutestamentlichen Sprachidioms 1894, S. 135. 21.”
264 > Die Heilige Schrift. [English ed. 219]
aussetzung, daß Gott in geschriebenem Worte mit den Menschen in Verkehr treten wollte, müssen wir Menschen auf die geschriebenen Worte achten. Bei Gottes Schrift haben wir den großen Vorteil, daß Gott durchaus fähig und willens ist, seinen Gedanken in völlig adäquaten Worten Ausdruck zu geben. Deshalb dringt Luther so beständig darauf, daß jeder Christ und jeder Theologe sich an die Worte der Schrift halte. Ihm ist also, daß ihm jeder Spruch der Schrift die Welt zu enge macht.758) Deshalb erteilt er, wie wir bereits hörten, den Rat, daß wir uns so an die Worte Per Schrift anklammern, wie wir uns mit der Hand an einer Mauer oder an einem Baum festhalten. Doch was sagen wir von Luther! So hat Christus selbst uns an die Worte der Schrift gewiesen. Die Worte der Schrift setzt er in der Versuchung dreimal dem Teufel entgegen und gewinnt den Sieg. Ferner, in bezug auf ein einziges Wort der Schrift (אֱלֹהִ֣ים , [HEBREW] θεοί, Götter) sagt er Joh. 10, daß die Schrift nicht gebrochen werden könne. So bindet uns Christus auch an seine eigenen Worte, wenn er Joh. 8 sagt: „So ihr bleiben werdet έν τώ λόγφ τφ έμω, so . . . werdet ihr die Wahrheit erkennen.” Christi Worte aber — wir müssen immer wieder daran erinnern — haben wir in dem Wort seiner Apostel, wie er ausdrücklich im hohepriesterlichen Gebet, Joh. 17, sagt, daß alle Christen bis an den Jüngsten Tag durch ihr, das ist, der Apostel, Wort an ihn glauben werden. Und der Apostel Paulus sagt 1 Tim. 6, 3 von allen Lehrern, die nicht an den heilsamen Worten unsers HErrn JEsu Christi bleiben, daß sie verdüstert sind und nichts wissen, sondern nur schädlichen Zank und Streit in der Kirche anrichten. So schriftwidrig, töricht und schädlich ist es, die Verbalinspiration zu leugnen.
2. Die Inspiration besteht nicht in einer bloßen göttlichen Leitung und Bewahrung vor Irrtum (assistentia, directio oder gubernatio divina), sondern in der göttlichen Darreichung oder dem göttlichen Geben der Worte, aus denen die Schrift besteht. Das Prädikat θεόπνευστος, von der Schrift ausgesagt, belehrt uns ganz unmißverständlich dahin, daß die Schrift von Gott nicht bloß dirigiert, sondern inspiriert ist. Innerhalb der lutherischen Kirche wollte der Helmstedter Theologe Georg Calixt († 1656) in bezug auf die Dinge, welche den heiligen Schreibern schon vorher bekannt waren und überhaupt minder wichtig seien, eine bloße gött-
-----------------------------
758) St. L. XX, 788.
265 > Die Heilige Schrift. [English ed. 219-220]
liche Leitung und Bewahrung vor Irrtum annehmen. Mit Recht wurde Calixts Lehre von seinen lutherischen Zeitgenossen als schriftwidrig verworfen, weil „von Gott geleitet oder dirigiert” und „von Gott eingegeben” (θεόπνευστος) ganz verschiedene Begriffe seien. Und es ist praktisch sehr wichtig, daß wir uns für das θεόπνευστος nicht eine bloße Leitung und Bewahrung vor Irrtum substituieren lassen. Bei diesem Substitut wäre die Schrift allenfalls fehlerloses Menschenwort, aber nicht das lebendige, von Gottes Kraft durchglühte, majestätische Gotteswort. Gottes eigenes Wort ist die Schrift nur durch die Inspiration, durch das „von Gott eingegeben”. Quenstedt schreibt gegen Calixt und einige Römische (Bellarmin): 759) Distinguendum inter assistentiam et directionem divinam nudam, qua tantum cavetur, ne scriptores sacri in loquendo et scribendo a vero aberrent, et inter assistentiam et directionem divinam, quae includit Spiritus Sancti inspirationem et dictamen. Non illa, sed haec Scripturam efficit θεόπνευστον.
3. Die Inspiration erstreckt sich nicht bloß auf einen Teil der Schrift, etwa nur auf die Hauptsachen, die Glaubenslehren, und auf das vorher den Schreibern Unbekannte usw., sondern auf die ganze Schrift. Was ein Teil der Schrift ist, ist auch von Gott eingegeben. Das und nichts anderes kommt in den Worten πάσα γραφή θεόπνευστος zur Aussage. Wir würden diesen Schriftworten Gewalt antun, wenn wir Teile der Schrift, etwa die Teile, welche eingeflochtene historische, geographische, physikalische usw. Angaben darbieten, oder auch solche Teile, die den Schreibern schon vorher bekannte Dinge berichten, von der Inspiration ausnehmen wollten. Es ist keineswegs ein sinnreicher Einwand gegen die Inspiration der Schrift, wenn neuere Theologen bemerken, die Schrift sei kein Lehrbuch der Geschichte oder der Geographie oder der Naturwissenschaften, und deshalb sei es selbstverständlich, daß sich die Inspiration nicht auf geschichtliche, geographische und naturwissenschaftliche Angaben beziehe.760) Gewiß ist es nicht der eigentliche Skopus der Schrift, diese Dinge zu lehren. Der eigentliche Skopus der Schrift ist in Stellen wie Joh. 5, 39; 2 Tim. 3, 15 ff.; 1 Joh. 1,4 usw. angegeben. Wir Menschen sollen durch die Schrift zur Erkenntnis Christi und so zur Seligkeit geführt werden. Aber wenn nebenbei, weil Gott mit seinem Wort in die Geschichte der Menschheit eingegangen ist, in diesem seinem Wort auch geschicht-
----------------------------
759) I, 98 sq. 760) So auch Ihmels, Zentralfragen, S. 72.
266 > Die Heilige Schrift. [English ed. 220-221]
liche usw. Bemerkungen Vorkommen, so sind auch diese inspiriert und infallibel, weil sie Teile der Schrift sind. Darüber später mehr. Quenstedt geht nicht über 2 Tim. 3, 16 hinaus, wenn er sagt:761) Eatione ϑεοπνοής nullum discrimen agnoscimus [inter res Scripturae Sacrae] et divinitatem Scripturae toti uniformiter inesse asserimus. . . . Ees Scripturae sunt in triplici differentia: 1. Quaedam fuerunt sacris scriptoribus naturaliter prorsus incognitae vel propter suam excellentiam, ut fidei mysteria, vel propter nonexistentiam, ut futura contingentia, vel propter absentiam a sensibus, ut cordis secreta. 2. Quaedam naturaliter quidem cognoscibiles fuerunt, sed scriptoribus sacris actu incognitae ob vetustatem et remotionem temporum aut locorum, nisi aliunde forte illis innotuerint sive per famam, sive per traditionem, sive per scripturam aliquam humanam, ut historia diluvii.... 3. Quaedam non tantum cognoscibiles, sed et naturaliter actu ipso cognitae fuerunt publicis Dei notariis per propriam experientiam (historische Forschung des Lukas, Kap. 1,1 ff.] et sensuum ministerio, ut exitus Israelitarum ex Aegypto et iter in deserto Mosi, historia iudicum Samueli, vita et facta Christi evangelistis et apostolis. Verum non tantum res primi, sed etiam secundi et tertii ordinis in ipso actu scribendi a Spiritu Sancto immediate sunt dictatae et inspiratae sacris amanuensibus, ut his et non aliis circumstantiis, hoc et non alio modo ac ordine, quo scriptae sunt, consignarentur.
4. Weil nach der Aussage der Schrift über sich selbst die Inspiration sich nicht bloß auf einen Teil der Schrift, sondern auf die ganze Schrift erstreckt und die Schrift nicht aus Personen oder Sachen, sondern aus Worten besteht, so ist damit zugleich ausgesagt, daß die Schrift in allen ihren Worten und in jedem ihrer Worte völlig irrtumslos ist. Dahin lautet ja auch das Zeugnis, das Christus der Schrift Joh. 10, 35 ausstellt, wenn er in bezug auf den Gebrauch eines einzelnen Wortes (Ps. 82,6: אֱלֹהִ֣ים , [HEBREW] ϑεοί) bemerkt: ου δνναται λνϑήναι ή γραφή. Stöckhardt sagt sehr richtig:762) „Wo Christus und die Apostel sich auf die Schrift berufen, führen sie nicht nur allgemeine Schriftgedanken ein, auch nicht nur einzelne Sprüche, sondern legen oft auf ein einzelnes Wort der Schrift den Finger und ziehen daraus den Beweis für ihre Sache. Gal. 3,16 schreibt St. Paulus:
------------------------------
761) 1,98.
762) L. u. W. 32, 255 f., in dem ausführlichen Artikel: „Was sagt die Schrift von sich selbst?"
267 > Die Heilige Schrift. [English ed. 221-222]
,Nun ist je die Verheißung Abraham und seinem Samen zugesagt. Er spricht nicht: „durch die Samen”, als durch viele, sondern als durch einen: „durch deinen Samen”, welcher ist Christus.' Auf das eine Wort: ,durch deinen Samen', בְזַרְעֲךָ֔, [HEBREW] 1 Mos. 22,18, auf den Singular dieses Nomens, legt er alles Gewicht und beweist daraus, daß Christus schon dem Abraham verheißen war, und bemerkt, daß Er, daß Gott also gesprochen, daß Gott mit Absicht diesen Ausdruck gewählt habe. Matth. 22,43.44 bezeugt und beweist Christus den Pharisäern seine Gottheit aus dem 110. Psalm, und zwar aus dem einen Wort Meinem HErrn'. Joh. 10,35 liegt aller Nachdruck auf dem Ausdruck θεοί, אֱלֹהִ֣ים, [HEBREW], Götter', jenem Titel, welchen der 82. Psalm der Obrigkeit beilegt. Kommt dieser Name schon den Obrigkeitspersonen zu, wieviel mehr dem, den der Vater geheiligt und in die Welt gesandt hat! Christo und den Aposteln galt jeder Satz, jedes Wort, das sie in der Schrift fanden und lasen, als Gottes Wort im eigentlichsten Sinne des Worts. . . . Die jetzt so übel beleumdete Verbalinspiration, dieses ,Fündlein der Dogmatiker'763) hat in der Schrift festen Grund und Boden. . . . Jedes Wort der Schrift ist ein unverletzliches Heiligtum, ist untrügliches, unveränderliches Gotteswort. Das bestätigt die Schrift ausdrücklich. ... In der Schrift begegnet uns die ernste Warnung, von dem, was Gott geboten und geredet hat, etwas davonzutun oder etwas dazuzutun, 5 Mos. 4, 2; 12, 32; Spr. 30, 5. 6; Offenb. 22, 18. 19. Auch jede Zutat ist Frevel, weil dann Gottes Wort mit Menschenwort versetzt wird. Jener Warnung ist die Drohung beigefügt: ,Tue nichts zu seinen Worten, daß er dich nicht strafe!' . . . Christus erhebt seine Stimme und spricht: ,Ich bin nicht kommen aufzulösen, sondern zu erfüllen. Denn ich sage euch: Wahrlich, bis daß Himmel und Erde vergehe, wird nicht vergehen der kleinste Buchstabe noch ein Tüttel vom Gesetz, bis daß es alles geschehe. Wer nun eins von diesen kleinsten Geboten auflöset und lehret die Leute also, der wird der Kleinste heißen im Himmelreich; wer es aber tut und lehret, der wird groß heißen im Himmelreich.' Matth. 5, 17—19; Luk. 16, 17. Wir lassen uns warnen und bekennen mit Paulus: ,Ich glaube allem, was geschrieben stehet im Gesetz und
--------------------------
763) Auch Luthardt ist es (Komp.10, S. 332) möglich, zu sagen, die Verbalinspiration sei nicht der Schrift entnommen, sondern „rein begrifflich konstruiert”. Theodor Kaftan redet (Moderne Theol. d. alten Glaubens 2, S. 109) von einem „Theologumenon” der Verbalinspiration.
268 > Die Heilige Schrift. [English ed. 222-223]
in den Propheten', Apost. 24,14.” So bekennt auch Luther: 764) „Die Schrift hat noch nie geirret”, und urteilt: „Unus apex doctrinae pins valet quam coelum et terra. Ideo in minimo non patimur eam laedi.765) Daß Luther hier an jedes Tüttelchen der Lehre denkt, insofern die Lehre in den bestimmten unverletzlichen Worten der Schrift zum Ausdruck kommt, geht aus dem Zusammenhang hervor. Es handelt sich um die Abendmahlsworte den Sakramentierern gegenüber, und Luther setzt hinzu: „Wenn sie glaubten, daß das Wort Gottes wäre, würden sie nicht so mit demselben spielen, sondern es in höchsten Ehren halten und ihm ohne alle Disputation und Zweifel Glauben beimessen und wüßten, daß e in Wort Gottes alle und alle Worte Gottes eins wären.” Quenstedt hat in bezug auf die Infallibilität der Schrift Worte gebraucht, die im modern-theologischen Lager nur mit Entsetzen vernommen werden. Und doch geht Quenstedt nicht über das hinaus, was die Schrift von sich selbst sagt. Er schreibt: 766) Sacra Scriptura canonica originalis est infallibilis veritatis omnisque erroris expers, sive, quod idem est, in Sacra Scriptura canonica nullum est mendacium, nulla falsitas, nullus vel minimus error, sive in rebus, sive in verbis, sed omnia et singula sunt verissima, quaecunque in illa traduntur, sive dogmatica illa sunt, sive moralia, sive historica, chronologica, topographica, onomastica; nullaque ignorantia, incogitantia aut oblivio, nullus memoriae lapsus Spiritus Sancti amanuensibus in consignandis sacris literis tribui potest aut debet. Ebenso sagt Calov:767) Nullus error, vel in leviculis, nullus memoriae lapsus, nedum mendacium ullum locum habere potest in universa Scriptura Sacra. Diese Worte Quenstedts und Calovs, die doch, wie gesagt, über das Selbstzeugnis der Schrift, resp. über das Zeugnis Christi und der Apostel nicht hinausgehen, haben selbst einem Manne wie Philippi so befremdlich geklungen, daß er seinen Dissensus äußern zu müssen meinte. Philippi schreibt in der ersten Auflage seiner Dogmatik,768) obwohl er für die „Wortinspiration” eintreten will: „Dabei hat man sich nicht von Vorneherein gegen die Anerkennung der Möglichkeit zu sträuben, daß manche untergeordnete Differenzen wirklich vorhanden seien und darum ungelöst Zurückbleiben. Denn es gibt ja hier allerdings ein Gebiet der unbedeutenden Zufälligkeit, wie die Ähnlichkeit eines Porträts
-----------------------------
764) St. L. XV, 1481. 765) Ad Gal. Erl. II, 341; St. L. IX, 650.
766) Systema I, 112. 767) Systema I, 561.
768) Kirchl. Glaubenslehre 1 I, 208 f.
269 > Die Heilige Schrift. [English ed. ~ 223]
nicht von der genau entsprechenden Länge der Nägel und Haare bedingt ist. Wie weit die Inspiration auch hier die menschliche Schwachheit völlig überwunden habe, scheint uns nur auf geschichtlichem Wege, nicht dogmatisch, bestimmt werden zu können [gemeint ist: nicht a priori, auf Grund dessen, was die Schrift über sich selbst sagt, sondern a posteriori, auf Grund menschlicher Untersuchung]. Wir möchten deshalb wenigstens nicht a priori mit Calov sagen: Nullus error, vel in leviculis, nullus memoriae lapsus, . . . ullum locum habere potest in universa Scriptura Sacra. Ähnlich äußerte schon Julius Africanus in Beziehung auf historisch-chronologische Schwierigkeiten im Neuen Testament: τὸ μέντοι εὐαγγέλιον πάντως άληϑευει.” Daß Philippi sich bei dieser Stellung zur Infallibilität der Schrift nicht wohl fühlte, geht aus mehreren Äußerungen hervor. Nachdem er seinen Dissensus mit Calov erklärt hat, fügt er hinzu: „Doch hat die Erfahrung andererseits gezeigt, wie oft es sich als voreilig erwiesen hat, wenn im konkreten Falle gesagt wird, diese oder jene Differenz ist als schlechterdings unlösbar zu betrachten.” Ferner stimmt er 769) eine Klage darüber an, „daß das korrosive Gift des christlichen [Philippi meint: des unchristlichen] Subjektivismus so sehr das geistliche Mark und Bein des Glaubens angefressen hat, daß es uns [Philippi schließt sich selbst ein] als ein Geringes erscheint, das objektive, untrügliche und unvergängliche Wort des HErrn bald in diesem, bald in jenem Punkte zu brechen.” Insonderheit spricht Philippi auch den sehr richtigen Kanon aus: „Die Wahrheit und Gewißheit der Offenbarung [der Schrift] ist in keiner Weise von dem Gelingen solcher Versuche [nämlich: „Bibel und Naturwissenschaft in Einklang zu bringen"] abhängig. Denn das Gras verdorret, und die Blume auf dem Felde verwelket und damit auch die Wissenschaft des Grases und der Blumen; aber das Wort unsers Gottes bleibet ewiglich. Die offenbarungsgläubige Theologie sollte sich über die Zustimmung naturwissenschaftlicher Hypothesen viel weniger freuen, über ihren Widerspruch viel weniger betrüben, als es so häufig geschieht. Die wirklich sicheren Resultate widersprechen nicht, und die Hypothesen sind eben Hypothesen.” Nicht am wenigsten geht Philippis innere Verlegenheit auch daraus hervor, daß er sich zu einer sinnlosen Unterscheidung veranlaßt sah, die weidlichen Spott selbst bei modernen Theologen hervorgerufen hat. Philippi wollte nämlich zwischen „Wortinspiration” und „Wörter-
--------------------
769) A. a. O., S. 197.
270 > Die Heilige Schrift. [English ed. ~ 224]
inspiration” unterscheiden und erstere annehmen und letztere verwerfen.770) Aber es hat ja kein vernünftiger Mensch je eine „Wörterinspiration” der Schrift gelehrt, am allerwenigsten die lutherischen Dogmatiker. Sehr richtig bemerkt v. Ebeling: „Die Bibel enthält nicht Wörter wie ein Wörterbuch, sondern Worte in einem bestimmten Zusammenhänge und Sinne.” 771) Philippi hat denn auch in einem Zusatz zur dritten Auflage seiner Dogmatik seine frühere Annahme, daß in Nebendingen ein Irrtum in der Schrift möglich sei, ausdrücklich widerrufen, und zwar mit den folgenden Worten: “Ich gestehe jetzt selber zu, daß nach meiner eigenen Inspirations-theorie auch die Möglichkeit von Irrrtümern der Schrift in Nebendingen und unbedeutenden Zufälligkeiten a priori zu negieren ist.” 772) Ini modern-theologischen Lager ist mit Freuden von Philippis früherer Stellung Notiz genommen worden. So schrieb Grimm: 773) Philippius, si recte eum intelligimus, genus et formam dictionis, non autem singula vocabula Spiritui Sancto deberi docet [Wortinspiration, nicht Wörterinspiration] nec nisi levissimi momenti diversitates in rerum narrationibus concedit. Wir finden nicht, daß man ebenso beflissen gewesen ist, von Philippis Widerruf, auch nachdem er bekannt geworden war, Meldung zu tun. Bei Nitzsch-Stephan wird noch 1912 von Philippi so geredet, als ob bei diesem in bezug auf seine ursprüngliche Stellung gar keine Änderung eingetreten sei.774)
5. Die Inspiration der Schrift schließt selbstverständlich auch den Antrieb und Befehl zum Schreiben in sich (impulsum et mandatum scribendi). Wenn römische Theologen einerseits zugeben wollen, daß die Evangelisten und Apostel nach Gottes Willen und aus Gottes Eingebung geschrieben hätten (Deo volente et inspirante), andererseits aber behaupten, daß sich ein Auftrag (mandatum) zum Schreiben nicht Nachweisen lasse, so ist das ein Widerspruch in sich selbst.775) Quenstedt sagt mit Recht: „Sie
--------------------------------
770) Glaubenslehre, S. 184.191.
771) Die Bibel Gottes Wort und des Glaubens einzige Quelle 2, S. 18.
772) Glaubenslehre 3 I, 279.
773) Institutio Theologiae Dogmaticae Evangelicae Historico-critica 2, p. 122.
774) Ev. Dogmatik 3 1912, S. 253.
775) So sagt Bellarmin: Falsum est, Deum mandasse apostolis, ut scriberent. Legimus enim Matth. ult. mandatum, ut praedicarent evangelium; ut autem scriberent, nusquam legimus. Itaque Deus nec mandavit
271 > Die Heilige Schrift. [English ed. 225]
[die römischen Theologen] treiben Possen” (nugantur). Wenn Gott wollte, daß die Evangelisten und Apostel schrieben, und ihnen zugleich eingab (inspiravit), was sie schrieben, so hatten sie in dem Akt der Inspiration auch den Antrieb und Befehl zum Schreiben. Die lutherischen Theologen sagen daher: Ipsa inspiratio, qna suggeruntur, quae in literas referri debeant, importat influxum ad exercitium actus scriptionis.776) Quenstedt: Inspiratio scribendorum et impulsus internus ad scribendum aequipollent. Implicatur contradictio in adiecto, apostolos scripsisse Deo volente et inspirante et suggerente et tamen non praecipiente.777) — Fragen wir, weshalb die römischen Theologen sich mit diesem Selbstwiderspruch belasten, so liegt der Grund auf der Hand. Sie bringen das sacrificium intellectus im Interesse der ausschlaggebenden Autorität des Papstes, ad summam papae potestatem stabiliendam. Durch die Behauptung, daß die Evangelien und die apostolischen Briefe zwar inspiriert, also Gottes Wort, aber doch nicht auf ausdrücklichen göttlichen Befehl geschrieben seien, soll der Wert und die Notwendigkeit der Heiligen Schrift herabgedrückt und dagegen der Wert und die Notwendigkeit des „ungeschriebenen Wortes Gottes”, das unter dem Namen „Tradition” vom Papst verwaltet, kontrolliert und gemacht wird (Luther: der „Gauckelsack” des Papstes), erhöht werden. Nach römischer Lehre ist das geschriebene Wort, die Heilige Schrift, keine vollständige Regel des Glaubens und des Lebens, sondern bedarf der Ergänzung durch die Tradition, die pari pietatis affectu et reverentia anzunehmen und zu verehren ist.778) Das pari pietatis affectu et reverentia schlägt aber naturgemäß in dispari pietatis affectu et reverentia um, und die Tradition ist über die Schrift zu stellen, wenn die Evangelisten und Apostel ohne göttlichen Befehl geschrieben haben. Dann kommt die Sache so zu stehen: Die Heilige Schrift ist eigentlich keine göttliche Einrichtung, weil für sie das mandatum scribendi fehlt. Hingegen ist der heilige Vater Papst als das von Christo eingesetzte sichtbare Haupt der Kirche eine eminent göttliche Einrichtung, und so gebührt dem Papst, resp. der von ihm kontrollierten Tradition, die oberste Gewalt in der Kirche. Aus dieser Anschauung
---------------------------
expresse, ut scriberent, nec ut non scriberent. Nec tamen negamus, quin Deo volente et inspirante apostoli scripserint, quae scripserunt. (Zitiert bei Quenstedt I, 94 aus Bellarmin, De V. D., l. 4, e. 3.)
776) Baier-Walther I, 99. 777) Systema I, 96.
778) Trident. Sess. IV, deer, de canon. Script. Cat. Rom., praef. 12.
272 > Die Heilige Schrift. [English ed. 225-226]
fließen solche dicta römischer Theologen, in denen sie behaupten, die christliche Lehre werde reiner durch die Tradition als durch die Heilige Schrift bewahrt; die Kirche könne sehr wohl ohne die Heilige Schrift, aber nicht ohne Tradition existieren; Christus habe seine Kirche nicht von der papierenen Schrift und von totem Pergament abhängig machen wollen, mit der Steigerung: die Schrift sei wegen der ihr anhängenden menschlichen Schwachheiten überhaupt kein zuverlässiger Führer, und der Kirche wäre besser gedient gewesen, wenn es überhaupt keine Heilige Schrift gäbe.779) Von hier aus wird das Interesse klar, weshalb römische Theologen das mandatum scribendi leugnen und davon reden, daß die Evangelisten nur „zufällig”, „aus zufälliger Veranlassung” usw. geschrieben hätten. Es ist ihnen darum zu tun, daß das Ich des Papstes als die ausschlaggebende Autorität in der Kirche anerkannt werde. — Von hier aus wird auch klar eine Analogie zwischen der modernen Theologie und dem theologischen Prinzip Roms erkannt. Obwohl die modernen Theologen die Inspiration der Schrift leugnen, so wollen sie doch zugeben, Gottes Wort finde sich noch in der Schrift. Selbst ganz links stehende Theologen reden noch davon, daß die Apostel in ihren Schriften der göttlichen Offenbarung „näher stehen” als die späteren Generationen. Wogegen sie aber, gerade wie Rom, energisch protestieren, ist dies, daß die göttliche Offenbarung auf die „Buchoffenbarung” in der Heiligen Schrift, auf einen „papierenen Papst”, auf einen „vom Himmel gefallenen Lehr-kodex” zu beschränken sei. Die moderne Theologie hat auch dasselbe Interesse wie Rom. Sie will ausgesprochenermaßen von
--------------------------
779) Der dokumentarische Nachweis bei Quenstedt I, 90: 1. Antithesis: 1. Μιαογράφων pontificiorum asserentium, Scripturam Sacram non esse necessariam et posse ecclesiam Scriptura illa carere; ita Gregorius de Valentia in Anal. Fid., p. 388, ubi ait, „doctrinam coelestem purius conservari posse per traditionem quam per Scripturam”. Bellarminus, 1. IV, De V. Dei, c. 4, contendit, „ecclesiam sine Scriptura consistere posse, sine traditione non posse”. Costerus asserit, „Christum nec ecclesiam suam a chartaceis Scripturis pendere nec membranis mysteria sua committere voluisse”. Petrus a Soto: „Illud statuatur ut certissimum, quod hoc scribendi verba divina atque revelationes consilium ob imperfectionem et infirmitatem humanam est excogitatum a Deo, atque infirmioribus et imperfectioribus magis expediens; sanctioribus vero et purioribus aut minus aut nullo modo necessarium.” Huc spectat vox impia illa cardinalis cuiusdam, relata Tileno, P. 1, disp. 2, th. 35: „Melius consultum fuisse ecclesiae, si nulla unquam ex-titisset Scriptura.” (L. c., q. 1, f. 90.)
273 > Die Heilige Schrift. [English ed. 226-227]
der Schrift als der einzigen Quelle und Norm der Theologie loskommen und an Stelle der Schrift zwar nicht das Ich des Papstes, wohl aber das „Erlebnis” oder — was dasselbe ist — „das fromme Selbstbewußtsein”, das Ich des theologisierenden Subjekts, zum ausschlaggebenden Faktor in der christlichen Kirche machen. Wenn Theodor Kaftan sagt:780) „Die moderne Theologie, die ich vertrete, beugt sich unter keine nur äußere Autorität”, so versteht er unter der äußeren Autorität, unter die er sich nicht beugen will, die Heilige Schrift, das geschriebene Wort der Apostel und Propheten. Und wenn er hinzusetzt, er beuge sich unter „Gottes Wort” „als unter eine Autorität, die sich selbst durchgesetzt hat und die sich selbst hält, in eigener Kraft”, so geht die Meinung dahin, daß er aus der Schrift nur so viel gelten lassen will, als sich vor dem Richterstuhl seines „Erlebnisses” oder seines „frommen Selbstbewußtseins” als Wahrheit ausgewiesen hat. Dasselbe meint auch Ihmels,781) wenn er es als einen „verhängnisvollen Fehler” bezeichnet, daß die erste Kirche, die Kirche der Reformation und die alten Dogmatiker sich lediglich auf die Schrift als Quelle und Norm der christlichen Lehre zurückgezogen hätten, und wenn er dagegen in Schleiermachers Theologie und sonderlich in der Erlanger Theologie einen „ungeheuren Fortschritt” in der rechten Richtung sieht, weil durch diese Theologie das Erlebnis oder das christliche Ich in den Vordergrund gerückt sei. Resultat: Rom ist es um das Ich des Papstes, der modernen Theologie ist es um das Ich des theologisierenden Individuums zu tun.
Die ganze Debatte ist dadurch geschlossen, daß nach dem Zeugnis der Schrift die christliche Kirche auch nicht zum geringsten Teil auf dem frommen Ich, sei es des Papstes, sei es anderer theologisierender Individuen, sondern bis an den Jüngsten Tag lediglich auf dem Grund der Apostel und Propheten, also auf dem Wort der Schrift, erbaut ist. Wir sahen bereits reichlich, daß Christus seine Kirche und alle Welt auf das Wort seiner Apostel verweist, daß die Apostel allen Pseudoerkenntnisquellen und Pseudonormen gegenüber gerade auf ihr geschriebenes Wort verweisen, daß die Apostel sich bewußt waren, Christi Wort vollständig zu lehren, und daher die Christen auffordern, allen denen die kirchliche Gemeinschaft zu ver-
-----------------------------
780) Moderne Theologie des alten Glaubens 2, S. 112 f.
781) Zentralfragen 2, S. 56 ff.
274 > Die Heilige Schrift. [English ed. 227-228]
sagen, die von ihrer, der Apostel, Lehre abweichen. Wir sahen auch bereits, daß die Apostel für das, was sie schrieben, wenn es auch aus „zufälliger Veranlassung” geschah (1 Kor. 1, 11), nicht bloß temporäre und lokale, sondern bleibende Geltung in Anspruch nehmen.782) Auf diesen Punkt kommt auch Luther seinem römischen Gegner gegenüber, der für das Abendmahl sub utraque specie nur temporäre und lokale Geltung zugestehen wollte. Er bringt bei dieser Gelegenheit auf das entschiedenste zum Ausdruck, daß Paulus' Briefe alle Christen zu allen Zeiten und an allen Orten verbinden. Er schreibt:783) Quid magis ridiculum et fraterno isto capite 784) dignius dici potuit, quam apostolum particulari ecclesiae, scii. Corinthiorum, ista scripsisse et permisisse (nämlich das Abendmahl unter beiderlei Gestalt), non autem universali? Unde haec probat? Ex solito penu, nempe proprio et impio capite. . . . Si demus unam epistolam aliquam Pauli aut unum alicuius locum non ad universalem ecclesiam pertinere, iam evacuata est tota Pauli auctoritas. Corinthii enim dicent, ea, quae de fide ad Romanos docet, non ad se pertinere. Quid blasphemius et insanius hac insania fingi possit? Absit, absit, ut ullus apex in toto Paulo sit, quem non debeat imitari et servare tota universalis ecclesia. Non sic senserunt Patres usque in haec tempora periculosa, in quibus praedixit Paulus futuros esse blasphemos et caecos et insensatos, quorum unus hic frater vel primus est.785)
-----------------------------
782) S. 148.
783) De Captivitate Babylonica. Opp. v. a. V, 26 sq.; St. L. XIX, 19 f.
784) Der dem Namen nach unbekannte italienische Mönch von Cremona ist gemeint, der eine Schrift geschrieben hatte, in welcher er Luther zur römischen Kirche zurückführen wollte. Vgl. Luthers Beschreibung dieses Mönchs a. a. O., p. 21.
785) Luther tritt mit dem Absit, absit! usw. nicht in Widerspruch mit 1 Kor. 7, 26, wo Paulus überhaupt kein Gebot gibt (V. 25), sondern nur den Rat erteilt, daß die Jungfrauen unverheiratet bleiben „um der gegenwärtigen Not willen”. Gegen die Sophisterei Papistischer Theologen, die Apostel hätten aus „zufälliger Veranlassung” (ex occasione accidentaria, fortuito), also nicht in göttlichem Aufträge und darum auch nicht für alle Christen verbindlich, geschrieben, sagt Quenstedt: Scripserunt quandoque apostoli ex occasione, sed non fortuita, sed a Deo subministrata. Deus omnia ita direxit, ut completum perfectumque canonem fidei et vitae haberemus, Scripturas scil, propheticas et apostolicas. Quenstedt zitiert aus Tertullian Contra Marcionem, 1.5: Ad omnes apostoli scripserunt, dum ad quosdam, und aus (Cyrill, Proleg. in Ioh.: Hac re commotus Iohannes par esse putavit, tam praesentibus quam futuris huius evangelii conscriptione consulere.
275 > Die Heilige Schrift. [English ed. 228-229]
4. Das Verhältnis des Heiligen Geistes zu den Schreibern der Heiligen Schrift. ^
Die neueren Theologen wollen dies Verhältnis unbestimmt lassen. Sie reden an diesem Punkte von einem „schwierigen Problem”, für dessen Lösung die zutreffende Formel noch nicht gefunden sei. Luthardt z. B. bemerkt: „Im ganzen sucht die gläubige Theologie . . . noch eine Formel zu finden, in welcher sie den ,gottmenschlichen' Charakter der Schrift auszusprechen vermöge. Auch Philipps spricht von organischer Einigung des Gottes- und Menschengeistes’ in der Inspiration, behauptet zwar ,Wort’-, aber nicht ,Wörterinspiration’ und gesteht ,die Möglichkeit untergeordneter Differenzen’ zu.” 786) Ferner: Wenn Grau sagt: 787) „Die Grenzen des Göttlichen und Menschlichen in der Schrift können überhaupt nicht mechanisch und quantitativ bestimmt werden”, so meint er, es lasse sich nicht bestimmen, was in der Schrift dem Heiligen Geist und was darin dem menschlichen Geist ihrer menschlichen Schreiber zuzueignen sei. Wenn die Sache wirklich so stände, so hätte Horst Stephan recht, wenn er der Theologenwelt abermal den Rat erteilt: 788) „Wir tun besser, trotz allen modernen Versuchen einer guten evangelischen Deutung den Inspirationsbegriff völlig aufzugeben.” Eine Bibel, in der die Grenzen zwischen göttlicher Wahrheit und menschlichem Irrtum ungewiß bleiben, wäre zwar ein passendes Streitobjekt für Theologen Lesstngscher Geistesrichtung, aber nicht das Buch, von dem David sagt: „Das Zeugnis des HErrn ist gewiß und macht die Albernen weise” und: „Dein Wort ist meines Fußes Leuchte und ein Licht aus meinem Wege.” 789) Aber alle Reden, die dahin lauten, als ob das Verhältnis zwischen Gottes Wort und Menschenwort in der Schrift unbestimmbar wäre,
---------------------------
786) Kompendium 10, 1900, S. 338. Nebenbei bemerkt: Auch Luthardt nimmt im Jahre 1900 noch keine Notiz davon, daß Philippi “die Möglichkeit untergeordneter Differenzen” widerrufen hat, welcher Widerruf in der bereits 1883 erschienenen dritten Auflage der „Glaubenslehre” Philippis, 1,279, publiziert ist.
787) Das ausführliche Zitat bei Baier-Walther 1,102, aus Graus Entwicklungsgeschichte des neutestamentlichen Schrifttums 1,11.12. 18.
788) Glaubenslehre 1921, S. 52. Der Rat ist keineswegs neu. Schon Bretschneider schrieb in seiner Dogmatik 4 I, 394: „überhaupt erscheint alle Inspiration des Neuen Testaments, und besonders der Worte, deswegen als etwas Nutzloses, weil sie einen Mechanismus des Unterrichts voraussetzen würde, der auf menschliche Seelen ganz unanwendbar ist.”
789) Ps. 19, 8; 119,105.
276 > Die Heilige Schrift. [English ed. 229]
entbehren völlig der sachlichen Berechtigung. Sie sind als ein Versuch zu bezeichnen, klares Wasser trübe zu machen. Die Schrift bezeichnet das Verhältnis zwischen dem Heiligen Geist und den menschlichen Schreibern der Schrift sehr genau, wenn sie z.B. sagt, daß „der HErr” oder „der Heilige Geist” „durch den Propheten”, διά τον προφήτου „durch den Mund Davids”, διά στόματος Δαυίδ, „durch den Mund seiner heiligen Propheten”, διά στόματος των αγίων . . . προφητών,790) geredet Haffe, und zwar mit dem Resultat, daß dies durch Menschen geredete Wort nicht ihr, der Menschen, sondern ganz Gottes oder des Heiligen Geistes Wort ist, λόγια τον θεον, Röm. 3,2. Wie Paulus ausdrücklich das von ihm geschriebene Wort als Gottes Wort bezeichnet im Unterschiede von Menschenwort: „Was ich euch schreibe, sind τον κυρίου εντολαί”, gerade wie Paulus auch von seinem mündlich verkündigten Wort sagt: έδέξασϑε ου λόγον άνϑρώπων, αλλά, καϑώς έστιν άληϑώς, λόγον ϑεοΰ.791)
Wir müssen also in bezug auf das Verhältnis des Heiligen Geistes zu den Schreibern der Schrift sagen: Gott hat die heiligen Schreiber als seine Organe oder Werkzeuge gebraucht, um sein Wort den Menschen schriftlich fixiert mitzuteilen. Um dies Verhältnis zwischen dem Heiligen Geist und den menschlichen Schreibern auszudrücken, nennen sowohl die Kirchenväter als auch die alten lutherischen Theologen die heiligen Schreiber amanuenses, notarii, manus, calami, Schreiber, Notare, Hände, Federn des Heiligen Geistes. Bekanntlich werden diese Ausdrücke von neueren Theologen ganz allgemein verspottet. Aber mit Recht nennt Philippi diesen Spott ein „unverständiges Gespötte”,792) Die Ausdrücke sind vollkommen schriftgemäß, solange wir den Vergleichungspunkt (tertium comparationis), die bloße Instrumentalität, festhalten. Die Ausdrücke besagen nicht mehr und nicht weniger als die Tatsache, daß die heiligen Schreiber nicht ihr eigenes, sondern Gottes Wort, λόγια τον ϑεον, geschrieben haben, und das ist, wie wir sahen, das maßgebliche Urteil Christi und seiner Apostel. Diese Ausdrücke sollten daher nicht verspottet, sondern als schriftgemäß anerkannt werden.
Daß bei diesem bloßen Instrumentalitätsverhältnis die Schreiber nicht tote Maschinen, sondern lebendige, mit Verstand und Willen
-----------------------------
790) Matth. 1, 22; 2,15; Apost. 1,16; 4, 25; Luk. 1, 70.
791) 1 Thess. 2, 13. 792) Glaubenslehre 1,177.
277 > Die Heilige Schrift. [English ed. 229-230]
begabte und mit einem bestimmten Stil (modus dicendi) ausgerüstete persönliche Werkzeuge waren und blieben, liegt erstlich in der Natur der Sache. Denn Gott hat Iesaias, David und die heiligen Propheten alle, um durch sie (διά) sein Wort entweder zu reden oder zu schreiben, nicht erst getötet oder „entmenscht”, sondern sorgfältig sowohl am Leben als auch bei ihrer echt menschlichen Ausdrucksweise erhalten, damit sie reden und schreiben konnten und so von Menschen verstanden würden. Und gerade dies und nur dies ist auch sowohl von den Kirchenvätern als auch von den alten Dogmatikern sehr nachdrücklich gelehrt und dargelegt worden, wenn sie von amanuenses, calami usw. redeten. Wir finden bei den Kirchenvätern und den alten Dogmatikern ein Doppeltes.
Erstlich: Weil Gott den Menschen sein Wort durch die Apostel und Propheten gegeben hat, oder — was dasselbe ist — weil die Apostel und Propheten nicht ihr eigenes, sondern Gottes Wort geschrieben haben, so nennen Kirchenväter und Dogmatiker die Apostel und Propheten Gottes Hände, Schreiber, Notare usw. Augustinus, De Consensu Evangelistarum I, 35: Cum illi (die Apostel) scripserint, quae ille [Christus] ostendit et dixit, nequaquam dicendum est, quod ipse [Christus] non scripserit, quandoquidem membra eius id operata sunt, quod dictante capite cognoverunt. Quidquid enim ille de suis factis et dictis nos legere voluit, hoc scribendum illis tanquam suis manibus imperavit. Cyprian, Serm. de Eleem.: Spiritus Sanctus erat scriba, prophetae erant eius calami, quibus Spiritus Sanctus scribenda dictabat.793) Ebenso die alten Dogmatiker. Gerhard: 794) Merito (prophetas in Vetere et evangelistas et apostolos in Novo Testamento) amanuenses, Christi manus et Spiritus Sancti tabelliones sive notarios vocamus, cum nec locuti fuerint nec scripserint humana sive propria voluntate, sed φερόμενοι ύπό του πνεύματος αγίου, acti, ducti, impulsi, inspirati et gubernati a Spiritu Sancto. Scripserunt non ut homines, sed ut Dei homines, hoc est, ut Dei servi et peculiaria Spiritus Sancti organa. Quando igitur liber aliquis canonicus vocatur liber Moysis, psalterium Davidis, epistola Pauli etc., illud fit dumtaxat ratione ministerii (wegen des Instrumentalitätsverhältnisses), non ratione causae principalis. Quenstedt sagt von den Propheten des Alten Testaments und den Evangelisten und Aposteln des Neuen Testaments: 795) Uti os
---------------------------------
793) Bei Quenstedt I, 80. 794) Loci, L. de Script. S., § 18.
795) Systema I, 80.
278 > Die Heilige Schrift. [English ed. ~ 231]
Dei fuerunt in loquendo seu praedicando prophetae et apostoli, ita quoque manus fuerunt et calami Spiritus Sancti in scribendo. Spiritus Sanctus enim per eos, ut dixit, ita scripsit. Neque enim alius vocis ore prolatae, alius scriptae fons est. Unde etiam amanuenses, Christi manus, et Spiritus Sancti tabelliones sive notarii et actuarii dicuntur.
Andererseits weisen beide, Kirchenväter und Dogmatiker, jede mechanische oder äußerliche Auffassung des ckrä oder des Schreiberverhältnisses entschieden zurück. Was die Kirchenväter betrifft, so lehnen sie — in scharfem Gegensatz zum Montanismus — die Ekstase als Form der Inspiration ausdrücklich ab. Dies gesteht auch Cremer zu, wenn er schreibt: 796) „Miltiades, auch ein Apologet, schrieb nach Eusebius' Hist. Eccl. 5, 17 gegen die Montanisten περι τον μη δεΐν προφήτην έν έκστάσει λαλεΐν, Clemens Alexandrinus bezeichnet die Ekstase als ein Merkmal der falschen Propheten und des bösen Geistes (Strom. 1, 311), und seit Origenes kennzeichnet die Verwerfung der aus dem Heidentum stammenden Vorstellungen die Auffassung der Kirchenlehrer. Im vollkommensten Gegensatz gegen den Montanismus wollte man in den Propheten nichts Unbewußtes anerkennen.” Hierfür verweist Cremer weiterhin auf Chrysostomus, Epiphanius, Athanasius usw. Und was die alten Dogmatiker betrifft, so sind sie sorgfältig bemüht, die falsche Vorstellung abzuweisen, als ob die Propheten und Apostel beim Schreiben der Heiligen Schrift nur mechanische Arbeit verrichtet hätten. Vielmehr legen sie dar, daß die amanuenses willig und mit dem vollen Bewußtsein und Verständnis, daß sie Gottes Wort schrieben, ihren Schreiberdienst verrichtet haben. Quenstedt spricht sich 797) in seiner Erklärung des φερόμενοι (2 Petr. 1, 21) sehr klar darüber aus, in welcher Weise der Wille und das Verständnis der heiligen Schreiber bei dem Schreiben der Schrift beteiligt waren. Die amanuenses waren dabei beteiligt nicht etwa bloß nach ihrem natürlichen Willen (naturali sua voluntate), nach welchem der Mensch auf dem Gebiet des natürlichen Lebens von Gott bewegt wird, auch nicht bloß nach ihrem wiedergebornen Willen, nach welchem alle Christen zu frommen Werken von Gott angetrieben werden, sondern nach der außerordentlichen Bewegung, wodurch sie in ihrem besondern Beruf und Amt, nämlich als Propheten und Apostel, vom
----------------------------
796) RE.2 VI, 752. 797) Systema I, 82 sq.
279 > Die Heilige Schrift. [English ed. ~ 231-232]
Heiligen Geist getrieben wurden, Gottes eigenes Wort schriftlich zu fixieren (in literas redigere). Aber in demselben Zusammenhang legt Quenstedt auch dar, in welcher Beziehung der menschliche Wille der Schreiber bei dem Schreiben der Heiligen Schrift keineswegs ausgeschlossen war, nämlich non materialiter et subiective sumta, das ist, „als ob die göttlichen Schreiber ohne und Wider ihren Willen, ohne Bewußtsein und unwillig geschrieben hätten; denn sie schrieben freiwillig, mit Willen und Wissen” (ac si citra et contra voluntatem suam inscii ac inviti scripserint divini amanuenses, sponte enim, volentes scientesque scripserunt). Und wie die Kirchenväter, so weist auch Quenstedt in der Darlegung des Ausdrucks φερόμενοι ausdrücklich die Ekstase ab. Er schreibt: „Die heiligen Schreiber werden vom Heiligen Geist φερόμενοι genannt, getrieben, bewegt, angetrieben, durchaus nicht in dem Sinne, als ob sie geistesabwesend gewesen wären, wie die Enthusiasten von sich behaupten und die Heiden in ihren Propheten einen solchen Enthusiasmus erdichten. Auch durchaus nicht in dem Sinne, als ob auch die Propheten selbst ihre Prophetien oder das, was sie schreiben sollten, nicht verstanden hätten, was einst der Irrtum der Montanisten, Phrygier oder Kataphrygier und Priscillianisten war” (Dicuntur autem φερόμενοι, acti, moti, agitati a Spiritu Sancto nequaquam, ac si mente fuerint alienati, uti prae se ferunt Enthusiastae et qualem εν&ουοιαομόν in suis prophetis fingunt gentiles. Nequaquam etiam, ac si ipsi quoque prophetae suas prophetias, antea quae scriberent, non intellexerint, qui Montanistarum, Phrygastarum aut Cataphrygarum et Priscillianistarum olim error fuit.
Es ist also eine geschichtlich unwahre Behauptung, wenn es z. B. bei Luthardt in bezug auf die orthodoxe Inspirationslehre heißt: 798) „Das Verhältnis des Heiligen Geistes zur Schrift ist nicht durch die eigene geistige Aktivität der biblischen Schriftsteller [!], sondern nur äußerlich durch die Hand der Schreibenden vermittelt gedacht.” Noch weiter entfernt sich Cremer vom Pfade der geschichtlichen Wahrheit, wenn er von der Inspirationslehre der Dogmatiker sagt: „Diese Inspirationslehre war ein schlechthinniges Novum. Zwar fehlte bloß der Begriff der Ekstase zur Erneurung der von der Kirche im Gegensatz gegen den Montanismus einmütig aufgegebenen mantischen Inspirationslehre Philos und der alten Apologeten. Aber das Fehlen dieses Begriffs verschlechterte die
--------------------------
798) Kompendium 10, S. 332.
280 > Die Heilige Schrift. [English ed. ~ 232-233]
Sachlage nur, indem es die mantische Inspiration zu einer mechanischen herabdrückte.” Man sieht, daß Cremer völlig die Kontrolle sowohl über die geschichtlichen Tatsachen als auch über sich selbst verloren hatte, als er die vorstehenden Worte schrieb. Der Spott der neueren Theologen über die Ausdrücke amanuenses, calami usw. macht weder ihrem Verstände noch ihrem Wahrheitssinn Ehre. Es ist eine milde Bezeichnung, wenn Philippi ihn „unverständig” nennt.
5. Die Einwände gegen die Inspiration der Heiligen Schrift. ^
Die Einwände gegen die Inspiration der Heiligen Schrift bilden ein überaus trauriges Kapitel. Sie treten in dieser Beziehung neben die Einwände, die gegen die satisfactio vicaria Christi erhoben werden.799) Wer die stellvertretende Genugtuung Christi leugnet, leugnet damit das Wesen des christlichen Glaubens, weil nur das christlicher Glaube ist, der Christum in seiner stellvertretenden Genugtuung zum Objekt hat.800) Wer die Inspiration der Schrift leugnet, das ist, leugnet, daß das Wort der Apostel und Propheten Gottes eigenes, unfehlbares Wort ist, zerstört, soviel an ihm ist, das Fundament der christlichen Kirche, weil die christliche Kirche nach Eph. 2, 20 auf dem Grund der Apostel und Propheten erbaut ist. Auch ist nicht zu vergessen, daß jeder, der die Inspiration der Schrift leugnet, eo ipso zu einem Kritiker der Schrift wird und als Kritiker der Schrift, die ja als Gottes Wort nicht kritisiert, sondern geglaubt werden will, in das Matth. 11,25 beschriebene göttliche Strafgericht fällt. Keiner von uns, und wenn er Doktor in allen vier Fakultäten wäre, kann die Inspiration der Schrift leugnen, ohne eine Schädigung seiner natürlichen Geisteskräfte zu erleiden. Diese Tatsache tritt auch an der Beschaffenheit der Argumente zutage, die gegen die Inspiration der Schrift ins Feld geführt werden. Diese Argumente liegen klar erkennbar unter dem Niveau der natürlichen Gotteskräfte, die uns Menschen auch nach dem Sündenfall noch geblieben sind. Gegen die Inspiration der Heiligen Schrift wurde und wird eingewendet:
1. Der verschiedene Stil in den einzelnen Büchern der Schrift.801) Der verschiedene Stil ist allerdings Tatsache. Iesaias
----------------------------------
799) Die Einwände gegen die satisfactio vicaria werden bei der Lehre vom Werk Christi, II, 416, widerlegt.
800) 1 Kor. 2, 2; 15, 1—3; Joh. 1, 29.
801) Nitzsch-Stephan, S. 251. Statt vom verschiedenen Stil redet man auch von den „schriftstellerischen Verschiedenheiten” der einzelnen Schreiber. So Grau nach Hofmann bei Baier-Walther 1,101 f.
281 > Die Heilige Schrift. [English ed. 233-234]
schreibt anders als Amos, Johannes anders als Paulus usw. Auch die alten Dogmatiker weisen sehr bestimmt darauf hin. Quenstedt z.B. schreibt:802) Magna est inter sacros scriptores quoad stylum et genus dicendi diversitas. Um das zu erkennen, braucht man nicht den hebräischen und griechischen Grundtext zu verstehen. Auch Übersetzungen bringen diesen Unterschied im Stil zum Ausdruck. Dieser Unterschied im Stil nun soll der Inspiration der Schrift widersprechen. Das Argument verläuft so: Wäre Gott der eigentliche Autor der Schrift, oder, was dasselbe ist, wäre die Schrift wirklich des einen Gottes Wort, so müßte in allen Büchern der Schrift auch ein und derselbe Stil sich finden. Die Verschiedenheit des Stils, so ist emphatisch gesagt worden, versetze der Lehre von der göttlichen Inspiration der Schrift den „Todesstoß”. Bei Nitzsch-Stephan findet sich (S. 251) die spöttisch gemeinte Bemerkung, daß die alte lutherische Theologie sich durch die Verschiedenheit des Stils nicht im geringsten habe irremachen lassen, sondern ohne Wanken bei der Verbalinspiration geblieben sei. Wir sagen: Das war sehr vernünftig von der alten lutherischen Theologie. Denn die Sache steht doch so: Der verschiedene Stil widerspricht nicht der Inspiration, sondern ist von ihr gefordert, weil Gott nicht bloß durch einen Menschen, sondern durch mehrere Menschen geredet hat, von, denen jeder seinen eigenen bestimmten Stil hatte und den Gott zur Mitteilung seines Wortes gebrauchte, wie er ihn bei den einzelnen Schreibern vorfand. Etwas gelehrter ausgedrückt: Es gibt keinen menschlichen Stil in abstracto, sondern immer nur in concreto, das heißt, in den individuellen menschlichen Personen. Kein Mensch hat jemals einen Stil gesehen oder wahrgenommen, der von den Personen, die ihn schrieben, losgelöst gewesen wäre. Aber warum hat Gott nicht seinen eigenen göttlichen Stil geschrieben, um so das πασα γραφή θεόπνευστος auch äußerlich unwiderleglich ins Licht zu stellen? Die Schrift antwortet hierauf, daß Gott seinen eigenen göttlichen oder himmlischen Stil nicht gebrauchen konnte, weil der himmlische Stil für uns Menschen hier auf Erden nicht paßt. Dies bezeugt die Schrift ausdrücklich. Paulus war nach 2 Kor. 12,4 in das himmlische Paradies entrückt und hörte daselbst Worte. Es waren aber Worte, die sich für das Reden auf Erden nicht schicken (άρρητα ρήματα α οὐκ εξόν άνθρώπω λαλήσαι; Luther: „welche kein Mensch sagen kann”).
--------------------------
802) Systema I, 111.
282 > Die Heilige Schrift. [English ed. ~ 234]
Den himmlischen Stil, der hier auf Erdern nicht anwendbar ist, werden wir einst im Himmel verstehen. Es steht daher so, daß der von der Verschiedenheit des Stils gegen die Inspiration hergenommene Einwand nicht Verstand, sondern das Gegenteil davon offenbart. Sehr verständig aber reden hierüber unsere alten Dogmatiker. So sagt Quenstedt: „Wie die heiligen Schreiber gebildet oder gewohnt waren, erhabener oder einfältiger zu reden und zu schreiben, so hat der Heilige Geist sie gebraucht und sich der Beschaffenheit der Menschen anpassen und zu derselben herablassen wollen.” 803) Wir haben für diese „Herablassung” ein Analogon in der Person Christi im Stande der Erniedrigung. Unter der Voraussetzung, daß Christus an Stelle der Menschen das Gesetz erfüllen und leiden und sterben mußte, war es notwendig, daß er nicht in seiner göttlichen Herrlichkeit im jüdischen Lande umherzog (es wäre sonst jedermann von Dan bis gen Bersaba vor ihm geflohen), sondern sich erniedrigte und an Gebärden als ein Mensch erfunden wurde (σχήματι ενρεϑείς ώς ανϑρωπος, Phil. 2,7). So mußte Gott auch unter der Voraussetzung, daß er zu den Menschen reden wollte, auf seinen göttlichen oder himmlischen Stil verzichten und sich zu dem menschlichen Stil herablassen (condescendere, attemperare), um von den Menschen ertragen und verstanden zu werden. Wie das möglich war, entzieht sich freilich unserer „erkenntnismäßigeu Erfassung”, gerade wie die uuio psrsoualis von Gott und Mensch und insonderheit die Tatsache ein unbegreifliches Geheimnis für uns bleibt, wie der Sohn Gottes sich zum Tode am Kreuz herablassen konnte ohne Ablegung oder Minderung seiner Gottheit. Aber wie die letztere Tatsache unverrücklich feststeht — denn der HErr der Herrlichkeit, Gottes Sohn, ist gekreuzigt worden —,804) so steht auch die Tatsache fest, daß Gottes Rede in der Schrift durch Herablassung zu der menschlichen Rede und zu dem menschlichen Stil der Schreiber nicht aufhört, voll und ganz Gottes Wort zu sein. Dies geht hervor aus allen Schriftstellen, in denen Schriftwort und Gottes
----------------------------
803) Systema I, 109: Prout informati aut assuefacti erant ad sublimius humiliusve loquendi scribendique genus, sic eodem usus Spiritus Sanctus sese indoli hominum attemperare et condescendere voluit. Quenstedt setzt noch hinzu: Res easdem per alios magnificentius, per alios tenuius exprimere; quod vero has et non alias phrases, has et non alias voces vel aequipollentes adhibuerunt scriptores sacri, hoc unice ab instinctu et inspiratione divina est.
804) 1 Kor. 2, 8; Röm. 8, 32.
283 > Die Heilige Schrift. [English ed. 235]
Wort identifiziert werden. Es steht also fest: Gott hat durch Menschen (διά τον προφήτου κτλ.) uns Menschen ein Wort gegeben, das nicht, wie die moderne Theologie behauptet, teils Gottes Wort und teils Menschenwort, sondern so voll und ganz Gottes Wort ist, daß es auch nicht in einem Wort gebrochen werden kann (Joh. 10,36), auf dem, als einem unumstößlichen Felsengrunde, die ganze Kirche bis an den Jüngsten Tag mit ihrem Glauben steht (Eph. 2,20), nach dem das Geschehen in der Welt sich richtet, oder wie Rudelbach diesen letzteren Gedanken trefflich ausdrückt: „Die Schrift ist gleichsam der geistliche Stundenzeiger im Reiche Gottes; die Schläge der Weltenuhr korrespondieren mit derselben oder werden vielmehr dadurch normiert.”805)
Bekanntlich wird von den modernen Theologen mit großer Übereinstimmung behauptet, die alten Dogmatiker hätten die „göttliche Seite” der Schrift so stark betont, daß darüber die „menschliche Seite” zu kürz gekommen sei. Selbst Philippi hat sich verleiten lassen, wenigstens teilweise in diese Anklage einzustimmen.806) Die starke Betonung der göttlichen Seite der Schrift seitens der Dogmatiker ist allerdings eine Tatsache. Aber die Dogmatiker folgen darin nur den Evangelisten und Aposteln Christi und Christo selbst. In den ersten vier Kapiteln des Evangeliums Matthäi z.B. wird die Schrift neunmal zitiert, aber jedesmal nach ihrer „göttlichen Seite”. Denn nach der göttlichen Seite ist die Schrift betrachtet, wenn wir lesen, daß das, was in jenen Kapiteln aus dem Leben Christi berichtet wird, geschah, damit die Schrift erfüllt würde. Nach Menschenwort richten sich keine Ereignisse, wohl aber nach Gottes Wort. Und wenn Christus die im vierten Kapitel berichteten Versuchungen des Teufels mit dem „Es steht geschrieben” überwindet, so ist damit die Schrift ebenfalls sehr entschieden nach ihrer göttlichen Seite bettachtet. Mit Menschenwort wird der Teufel nicht überwunden. Wohl aber ist Gottes Wort das Schwert des Geistes, womit die listigen Anläufe des Teufels siegreich abgeschlagen werden.807) Fragen wir, weshalb in der Schrift selbst die göttliche Seite der Schrift so stark betont wird, so liegt die Antwort auf der Hand. Die „menschliche Seite”, im rechten Sinne verstanden, steht nicht in Gefahr, übersehen zu werden. Jedermann sieht sie, weil die Schrift in menschlicher Sprache geschrieben ist. Wohl aber stand
--------------------------
805) Zeitschr. f. luth. Th. u. Kirche 1841, Heft 4, S. 34.
806) Glaubenslehre I, 179 f. 807) Eph. 6,17.
284 > Die Heilige Schrift. [English ed. 236]
und steht die „göttliche Seite” in Gefahr, übersehen zu werden. Weil unser menschlicher Verstand nach dem Sündenfall in geistlichen Dingen verfinstert ist (έσκοτισμένοι τη dιavoia) und wir entfremdet sind von dem Leben, das aus Gott ist, durch die Unwissenheit, so in uns ist, durch die Blindheit (πώρωσή) unsers Herzens,808) so will uns die Tatsache in den Hintergrund treten, ja ganz entschwinden, daß das durch Menschen und ganz in menschlicher Sprache geschriebene Wort nicht Menschenwort, sondern voll und ganz Gottes Wort ist, τα λόγια τοϋ ϑεοΰ. Wie die Juden Christi Wort nicht als Gottes Wort erkannten, und wie die modernen Theologen die Heilige Schrift nicht als Gottes Wort erkennen und deshalb auch die Schrift ihres Amtes, Quelle und Norm der Theologie zu sein, entsetzt haben, übrigens meinen die modernen Theologen überhaupt nicht die „menschliche Seite” der Schrift, wenn sie sagen, daß die menschliche Seite von den alten Dogmatikern übersehen worden sei. Unter der menschlichen Seite, die ihnen am Herzen liegt, verstehen sie die angeblichen Irrrtümer in der Schrift. Die Schrift soll gebrochen werden können, damit die Schrift nicht als „Lehrbuch” der christlichen Religion angesehen werde, sondern „das fromme Selbstbewußtsein des theologisierenden Subjekts” Raum zu freier Betätigung gewinne.
Gegen die Inspiration wurde und wird ferner eingewendet 2. die Berufung der heiligen Schreiber auf historische Forschung. Dies ist freilich auch eine Tatsache. Der Evangelist Lukas beruft sich (1,3) darauf, daß er alles von Anbeginn erkundet habe. Ebenso beruft sich Paulus auf die Mitteilung geschichtlicher Tatsachen durch andere Personen, wenn er z.B. 1 Kor. 1,11 schreibt: „Mir ist Vorkommen [έδηλώϑη, angezeigt, berichtet worden] von euch durch die aus Chloes Gesinde, daß Zank unter euch sei.” Das hieraus gegen die Inspiration gerichtete Argument verläuft so: „Wenn den heiligen Schreibern von Gott gegeben wurde, was sie schreiben sollten, warum berufen sie sich denn auf eigene Forschung und auf Mitteilungen und Nachrichten von andern Personen? „Auf diesen Einwand ist zu erwidern, daß er auf gleicher Linie mit dem liegt, was über den verschiedenen Stil gesagt wurde. Wie der Heilige Geist den Stil benutzte, den er bei den einzelnen Schreibern vorfand, so gebrauchte er auch die historischen Kenntnisse, die die Schreiber durch eigene Erfahrung oder durch eigene
-----------------------------
808) Eph. 4, 18.
285 > Die Heilige Schrift. [English ed. ~ 236-237]
Forschung oder durch Mitteilung anderer Personen bereits besaßen. Das Beispiel des ersten Pfingsttages stellt, dies klar ins Licht. Von der Auferstehung Christi wußten die Apostel durch eigene Erfahrung vor Pfingsten. Am ersten Pfingsttage aber redeten sie, wie von den andern großen Taten Gottes, so auch von der Auferstehung Christi, „wie ihnen der Geist gab auszusprechen”,χαϑώς το πνεύμα εδίόον αντοϊς άποφϑέγγεοϑαι,809) Insonderheit ist gegen die Inspiration der Psalmen geltend gemacht worden, es sei absurd, anzunehmen, daß der Heilige Geist das durch David geredet haben sollte, was er (David) im Herzen empfand. So Kahnis: „Soll man annehmen, daß, was David in seinem Herzen empfand, der Heilige Geist in Gestalt eines Psalms diktiert habe?"810) Aber daß die Erfahrung im eigenen Herzen und die Inspiration sich nicht gegenseitig aufheben, bezeugt David selbst, wenn es 2 Sam. 23, 1. 2 heißt: „Es sprach David, der Sohn Isais; es sprach der Mann, der versichert ist von dem Messias des Gottes Jakobs, lieblich mit Psalmen Israels. Der Geist des HErrn hat durch mich geredet, und seine Rede ist durch meine Zunge geschehen.” Daher hat denn auch Luther zwischen der „Empfindung im Herzen” und der „Inspiration” keinen Widerspruch angenommen, sondern vielmehr diese Kombination als eine Lehrweise des Heiligen Geistes hoch gelobt und zugleich uns alle davor gewarnt, Davids so tief im Herzen empfundene Psalmen, als nur menschliche Belehrung enthaltend, beiseitezusetzen. Luther schreibt bekanntlich zu den Worten 2 Sam. 23, 1. 2: „Es sprach David, der Sohn Isais, . . . lieblich mit Psalmen Israels. Der Geist des HErrn hat durch mich geredet, und seine Rede ist durch meine Zunge geschehen” u. a. folgendes:811) „Welch ein herrlicher, hochmütiger Ruhm ist das! Wer sich rühmen darf, daß der Geist des HErrn durch ihn redet und seine Zunge des Heiligen Geistes Wort rede, der muß freilich seiner Sachen sehr gewiß sein. Das wird nicht sein David, Isais Sohn, in Sünden geboren, sondern der zum Propheten durch Gottes Verheißung erweckt ist. Sollte der nicht liebliche Psalmen machen, der solchen Meister hat, der ihn lehret und durch ihn redet? Höre nun, wer Ohren hat zu hören! Meine Rede
---------------------------
809) Apost. 2, 4.
810) Das ausführliche Zitat bei Baier-Walther 1,102. Über den Mißbrauch und die Verspottung des Wortes „diktiert” seitens der modernen Theologie ist später noch das Nötige zu sagen.
811) St. L. III, 1890.
286 > Die Heilige Schrift. [English ed. 237-238]
[notabene in den Psalmen] sind nicht meine Rede, sondern wer mich höret, der höret Gott; wer mich verachtet, der verachtet Gott. Denn ich sehe, daß meiner Nachkommen viel werden meine Worte nicht hören, zu ihrem großen Schaden. Solchen Ruhm dürfen weder wir noch niemand führen, der nicht ein Prophet ist. Das mögen wir tun, sofern wir auch heilig (sind) und den Heiligen Geist haben, daß wir Katechumenen und Schüler der Propheten uns rühmen, als die wir nachsagen und predigen, was wir von den Propheten und Aposteln gehört und gelernt haben, und auch gewiß sind, daß es die Propheten gelehrt haben. Das heißen in dem Alten Testament,der Propheten Kinder’, die nichts Eigenes noch Neues setzen, wie die Propheten tun, sondern lehren, das sie von den Propheten haben, und sind ,Israel', wie David sagt, dem er die Psalmen macht.” — Besonders in neuerer Zeit werden gegen die Inspiration eingewendet
3. die verschiedenen Lesarten (variae lectiones), die sich in den uns erhaltenen Abschriften (άπόγραφα) der Originale (αντόγραφα) finden. Verschiedene Lesarten in den uns erhaltenen Abschriften sind allerdings eine Tatsache. Aber wir sagen zunächst: Es ist ungehörig, hieraus gegen die Inspiration der Originalschriften zu argumentieren. Wir behaupten ja nicht, daß die Abschreiber der heiligen Schriften inspiriert waren. Schreibfehler oder Versehen oder auch vermeintliche Verbesserungen in den Abschriften haben nichts mit der Inspiration des Originals zu tun. Ein Beispiel aus dem bürgerlichen Leben: Wenn es sich herausstellt, daß beim Abschreiben oder Drucken eines Beschlusses einer Legislatur, z. B. des Staates Missouri, Fehler vorgekommen sind, so ziehen wir daraus vernünftigerweise nicht den Schluß, daß das Gesetz überhaupt nicht in einem bestimmten Wortlaut angenommen worden sei. Das wird allgemein zugestanden. Daher sollte auch nicht aus Fehlern, die sich in den Abschriften der Bibel finden, gegen die Inspiration des Originals argumentiert werden. — Aber hier setzt nun mit Macht der Einwand gegen die Inspiration in anderer Form ein, nämlich in der Form, daß eine inspirierte Schrift uns nichts nütze und daher auch nicht zu urgieren sei, weil bei dem Vorhandensein verschiedener Lesarten doch ungewiß bleiben müsse, welches das ursprüngliche Gotteswort sei. Theodor Kaftan behauptet:812) „Daß es keinen feststehenden Text gibt, ist keinem Theologen verborgen";
----------------------------
812) Moderne Theologie des alten Glaubens 2, S. 96 f.
287 > Die Heilige Schrift. [English ed. 238]
„daß die Zahl der verschiedenen Lesarten Legion ist”, und daß es auf einen „Anhänger der Verbalinspiration” „einen erschütternden Eindruck” machen müßte, „daß niemand, auch er nicht, zu sagen weiß, welcher Text denn nun der wörtlich inspirierte ist”. Genau das Gegenteil ist wahr! Wir haben trotz der Varianten in den Abschriften der Bibel einen feststehenden Bibeltext. Luther konnte mit Recht sagen: „Das Wort sie sollen lassen stahn”, womit er bekanntlich den Bibeltext meinte. Um zunächst beim Text des Neuen Testaments stehenzubleiben (dem ja sonderlich „die Legion verschiedener Lesarten” nachgesagt wird), so wissen wir auf doppelte Weise, daß uns in den vorhandenen Abschriften wirklich der Apostel Wort oder, was dasselbe ist, Christi Wort erhalten ist. Wir wissen dies 1. a priori, das ist, vor aller menschlichen Untersuchung, aus der göttlichen Verheißung. Wenn unser Heiland im hohepriesterlichen Gebet, Joh. 17, 20, sagt, daß alle, die bis an den Jüngsten Tag zum Glauben kommen, durch der Apostel Wort an ihn glauben werden, so sagt er damit zugleich, daß der Apostel Wort in der Kirche bis an den Jüngsten Tag vorhanden ist. Ferner: Christus ermahnt Joh. 8,31.32 alle Gläubigen, an seinem Wort zu bleiben: „So ihr bleiben werdet an meiner Rede (εν τφ λόγω τφ έμφ), so seid ihr meine rechten Jünger und werdet die Wahrheit erkennen.” Mit dieser Ermahnung, an seinem Wort zu bleiben, sagt Christus zugleich, daß sein Wort vorhanden sein wird. Wenn es Menschen gibt, die das vorhandene Wort Christi nicht erkennen, so kommt das sicherlich auf das Konto ihrer Blindheit, daß sie mit sehenden Augen nicht sehen und mit hörenden Ohren nicht hören, denn sie verstehen es nicht.813) Ferner: Wenn Christus nicht nur den Aposteln, sondern seiner Kirche bis an das Ende der Tage den Auftrag erteilt, die Völker alles (πάντα) zu lehren, was er zu lehren befohlen hat,814) so ist damit zugleich ausgesagt, daß der Kirche die Lehre Christi bis zum Jüngsten Tage in allen Teilen und klar und sicher erkennbar zur Verfügung stehen werde. Christus hat sich auch des Textes des Alten Testaments angenommen. Wenn er speziell in bezug auf die ganze Schrift Alten Testaments sagt, daß sie nicht gebrochen werden könne (λνϑnνai, Joh. 10, 35), so tritt er damit sicherlich für einen feststehenden Text des Alten Testaments ein. Dasselbe tut er, wenn er Luk. 16,29 sagt: „Sie haben (εχονσιν) Mosen und die
-----------------------------
813) Matth. 13, 13 ff. 814) Matth. 28, 20.
288 > Die Heilige Schrift. [English ed. 239]
Propheten; laß sie dieselbigen hören.” Ebenso gebraucht Christus in der Versuchung mit dem γεγραπτει den Text des Alten Testaments als einen unverrücklich feststehenden Text, Matth. 4. Wir lesen nicht, daß der Teufel dagegen „verschiedene Lesarten” eingewendet habe. Wir wissen also a priori, vor aller Untersuchung, aus der göttlichen Verheißung und aus Christi Zeugnis, daß wir in der Schrift, die der Kirche zu Gebote steht, einen feststehenden Text oder, was dasselbe ist, der Apostel und Propheten, resp. Gottes, Lehre haben trotz der variae lectiones in den Abschriften. Zu demselben Resultat kommen wir aber auch 2. a posteriori, durch wissenschaftliche Untersuchung. Wir können durch menschlichwissenschaftliche Untersuchung die Tatsache feststellen, daß bei der „Legion” Varianten an keiner christlichen Lehre auch nur das Geringste geändert wird. Auch moderne Theologen haben sich dahin geäußert. Luthardt:815) „Wir dürfen gewiß sein, und die Forschung bestätigt es, daß uns der biblische Text in allem Wesentlichen erhalten ist.” Das gestehen auch die eigentlichen Textkritiker zu, die ernst zu nehmen sind. Luthardts Ausdruck, daß uns der biblische Text „in allem Wesentlichen” erhalten sei, bedarf noch einer näheren Bestimmung, weil er mißverständlich ist. Er könnte so verstanden werden und ist so verstanden worden, als ob wir auf Grund des uns vorliegenden biblischen Textes die christliche Lehre Wohl annähernd, aber doch nicht in allen Teilen und mit völliger Sicherheit erkennen könnten. Das ist aber ein Irrtum. Genau das Gegenteil ist wahr. Davon kann sich jedermann überzeugen, der den Text des griechischen Neuen Testaments in einer neueren textkritischen Bearbeitung, z. B. von Tischendorf oder von Westcott und Hort oder von Nestle, mit dem sogenannten textus receptus vergleicht, der festgestellt war, ehe die eigentliche textkritische Forschung in Aufnahme kam, oder wie A. B. Bruce- Glasgow es ausdrückt, "when the science of textual criticism was unborn”.816) Wer sich der Mühe dieser Textvergleichung unterzieht, wird radikal von der Furcht kuriert, als ob durch die Sammlung von den vielen Tausenden von Varianten,817) die wir der neueren Textkritik verdanken, irgendeine christliche Lehre eine Änderung erfahre. Wir haben an dem fünfbändigen The Expositors Greek Testament viel auszusetzen. Es ist vom modern-theologischen Standpunkt aus bearbeitet. Aber wir
--------------------------------
815) Komp.10, S. 334. 816) The Expositor's Greek Testament I, 52.
817) Bruce nennt sie a. a. O., p. 55, "a formidable affair” und verweist auf Tischendorfs "eighth edition in two large octavos”.
289 > Die Heilige Schrift. [English ed. ~ 239-240]
wissen es nicht zu tadeln, daß der Herausgeber und die Mitarbeiter übereingekommen sind, den textus receptus, “representing the Greek text as known to Erasmus in the sixteenth century', wieder ab-drucken zu lassen. Abweichungen vom textus receptus sind in Noten hinzugefügt. Ein doppelter Grund wird für die Beibehaltung des alten Textes angegeben: 1. die Tatsache, daß dieser Text der englischen Bibelübersetzung (Authorized Version) zugrunde liegt; 2. die Tatsache, daß die neueren Textkritiker, „obwohl sie viel zur Herstellung eines reineren Textes getan hätten”, in ihrem Urteil in vielen Fällen nicht übereinstimmten und ihre Resultate nicht als abschließend angesehen werden könnten.818) Bruce ist durchweg moderner Theologe. Auch er gibt die “inerrancy” der Schrift Preis. Aber er weist doch sehr nachdrücklich darauf hin, daß eine große Anzahl der verschiedenen Lesarten von so geringer Bedeutung sind, daß sie als "not affecting the sense” gänzlich außer Betracht gelassen werden könnten.819) Kurz, es steht, wie bereits bemerkt wurde, so:
----------------------------
818) A. a. O., P. 62.
819) Auch wohlmeinende und in anderer Beziehung theologisch geschulte Leute haben von der „Legion” verschiedener Lesarten inadäquate Vorstellungen. Die Legion schrumpft sehr beträchtlich zusammen, wenn wir uns die verschiedenen Lesarten in bezug auf ihre Beschaffenheit näher ansehen. Wir können uns dies vor Augen führen, wenn wir z. B. zwei deutsche Bibeln in alter und neuer Orthographie nebeneinander legen und auch nur den Text des Neuen Testaments miteinander vergleichen. Da haben wir sofort nach der verschiedenen Orthographie Tausende von variae lectiones. Ähnlich steht es mit Tausenden von verschiedenen Lesarten in den uns vorliegenden Abschriften des griechischen Neuen Testaments. Die Varianten betreffen lediglich die Orthographie. Hierauf weist auch Bruce hin, wenn er von Varianten redet "not affecting the sense, but merely the spelling or grammatical form of words”. Er weist zunächst auf die große Klasse von Eigennamen hin, die uns in verschiedener Orthographie vorliegen, wie — Ναζαρέτ — Ναζαρέϑ, Δαβίδ — Δανείδ, Ήλίας — ’Ηλείας, Μωσής — Μωνσής, ‘Ιωάννης — Ίωάνης — usw. Unter andern unbedeutenden Verschiedenheiten (insignificant variations) erwähnt Bruce die Anwesenheit oder das Fehlen des finalen ν in Verben (έλεγε, έλεγεν); die Auslastung oder die Einfügung von μ (λήψομαι, λήμψομαι); die Assimilation oder Nichtassimilation von έν und συν in zusammengesetzten Verben (σνζητεΐν, αννζητεΐν; έκκακεΐν, ενκακεϊν); die Verdopplung von μ, ν, § oder das Gegenteil (μαμμωνάς, μαμωνάς; γέννημα, γένη μα; έπιρράπτει, έπιράπτει); die Verbindung oder Trennung von Silben (ονκ έτι, ουκέτι); όντως für οντω, die Aoristformen εϊπον, ήλ&ον usw. für die Aoristformen in α (είπαν, ήλϑαν); das einfache und das doppelte Augment in gewissen Verben (εδννάμην, ήδννάμην; εμελλον, ημελλον). Wer über die Verschiedenheiten dieser Art mehr Nachlesen will, findet viel Material bei Winer zusammengestellt. (Grammatik d. neutest. Sprachidioms 6, S. 39 ff.)
290 > Die Heilige Schrift. [English ed. ~ 240-241]
Eine Vergleichung neuerer textkritischer Bearbeitung des Neuen Testaments mit dem textus receptus, der ja auch der Bibelübersetzung Luthers im wesentlichen zugrunde liegt, überzeugt uns von der Tatsache, daß die Feststellung der christlichen Lehre von der neueren Textkritik völlig unabhängig ist. Damit ist nicht gesagt, daß die Textkritik von dem theologischen Studienprogramm unserer Zeit vollständig zu streichen sei. Auch wir führen in unserer theologischen Anstalt in St. Louis unsere Studenten in die neuere Textkritik ein. Das gehört zur vollständigen äußeren Ausrüstung eines Theologen unserer Zeit. Aber dabei weisen wir unsere Studenten auf ein Doppeltes hin: 1. Wir wissen a priori aus der göttlichen Verheißung, daß wir in der Bibel, die in unsern Händen ist, Christi Wort haben, das bis an den Jüngsten Tag in der Kirche und von der Kirche zu lehren ist. 2. Wir erkennen auch a posteriori die wunderbare göttliche Providenz, die ihre Hand so über dem Bibeltext gehalten hat, daß trotz der variae lectiones keine einzige christliche Lehre in Frage gestellt ist.
Zur näheren Beschreibung der Sachlage möge noch folgendes dienen: Die Heilige Schrift ist so eingerichtet, daß ein und dieselbe Lehre an mehreren, meistens an vielen Stellen zum Ausdruck kommt. Dies kommt auch durch die Worte des Apostels Phil. 3,1 zum Ausdruck: „Daß ich euch immer einerlei (τα αυτά, ein und dasselbe) schreibe, verdrießt mich nicht und macht euch desto gewisser.” Wenn nun der Fall eintritt, daß wir infolge einer vorliegenden Variante auf eine Beweisstelle für eine bestimmte Lehre verzichten müssen — Nebenbei bemerkt: ein seltener Fall —, so haben wir für diese Lehre hinreichend Beweisstellen, die kritisch unangefochten sind. Hier sollte auf eine Klugheitsmaßregel aufmerksam gemacht werden, die für Disputationen wichtig ist. Disputandi causa verzichte man auf die Feststellung einer kritisch angefochtenen Lesart. Z. B. bei einem Disput mit Unitariern über die Lehre von der heiligen Dreieinigkeit verzichte man auf 1 Joh. 5, 7. 8 als Beweisstelle. Die Worte von den drei Zeugen im Himmel: „der Vater, das Wort und der Heilige Geist”, fehlen in den alten griechischen Abschriften. Nun kann zwar jemand auf Grund menschlich-wissenschaftlicher Forschung überzeugt sein, daß die in Rede stehenden Worte doch echt sind, das heißt, im Original standen. Auch wir, für unsere Person, sind dieser Überzeugung auf Grund des patristischen Zitats aus Cyprian. 820) Aber
------------------------
820) Wir halten dafür, daß J. E. F. Sander z. St. noch nicht widerlegt ist. Auch was Strobel (Zeitschr. f. luth. Theol. 1854, S. 135 f.) gegen Sander sagt,
291 > Die Heilige Schrift. [English ed. ~ 241-241]
in einem Disput mit einem Unitarier, der die Echtheit von 1 Joh. 5, 7 anficht, verzichten wir sofort auf diese Stelle als Beweisstelle. Die Lehre von der heiligen Dreieinigkeit wird dadurch nicht im geringsten in Frage gestellt, weil diese Lehre klar — auch mit Koordination der drei Personen in Gott — in solchen Schriftworten bezeugt ist, die kritisch nicht angefochten sind, z.B. Matth. 28, 19: „Taufet sie im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes” und 2 Kor. 13,13: „Die Gnade unsers HErrn JEsu Christi und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen.”
Ganz besonders wurden und werden gegen die Inspiration ins Feld geführt
4. die angeblichen Widersprüche in der Schrift und irrige Angaben überhaupt. Philippi 821) tadelt schon zu der Zeit, als er selbst noch nicht die richtige Stellung zur Schrift gefunden hatte, nämlich noch die Möglichkeit von Irrrtümern in der Schrift zugab, die „moderne Differenzjagd”, die vornehmlich ihren Grund habe „in dem sich selbst rühmenden Frevel der Voraussetzungslosigkeit, deren Vertreter meinten, von der Voraussetzung, daß die Heilige Schrift Gottes Wort sei, sich entbinden zu dürfen, dafür aber sich selber in den Tempel Gottes setzten und voraussetzten, sie seien selbst Gott”. In bezug auf die angeblichen Widersprüche in der Schrift liegt die Sache, kurz zusammengefaßt, so: Bei nur einigem guten Willen läßt sich die Möglichkeit des Ausgleichs in den allermeisten Fällen leicht Nachweisen, und der Nachweis der Möglichkeit des Ausgleichs muß jedem billig denkenden Menschen genügen. Ebrard 822) hätte an Chemnitz nicht tadeln
-----------------------------
daß „bodenlose kritische Willkür” einreiße, wenn man nicht die alten Abschriften in der Kritik entscheiden lasse, trifft nicht zu. Darin hat die neuere Kritik recht, wenn sie darauf besteht, daß den patristischen Zitaten nicht selten die entscheidende Wichtigkeit auch den ältesten Abschriften gegenüber zukomme. Wenn Schömann in seiner Ausgabe von Ciceros De Natura Deorum 3 (Berlin 1865, p. 99) recht gesehen hat, so haben wir für 1 Joh. 5, 7. 8 ein Analogon auf dem Gebiet der profanen Literatur. Schömann fügt in seiner Ausgabe von De Natura Deorum I, 41 die Worte ne intereat ein und bemerkt dazu in einer Note: „Diese Worte fehlen zwar in den Handschriften, sind aber erhalten in der Anführung dieser Stelle bei Augustin, Epist. 56, tom. II, p. 267, ed. Basil.. 1569.” Wir müssen bei der Integrität des Textes nochmals auf diesen Gegenstand zurückkommen.
821) Glaubenslehre 1 I, 199.
822) Wissenschaftliche Kritik der evangelischen Geschichte 2, S. 59.
292 > Die Heilige Schrift. [English ed. ~ 242]
sollen, daß dieser in der Evangelienharmonie zufrieden ist, „Wahrscheinliches zu geben, wo er nichts Gewisses zu geben imstande war”. Chemnitz' Grundsatz ist der einzig vernünftige. Treffend hat dies in neuerer Zeit auch A. T. Robertson ausgesprochen, wenn er sagt:"823) „Bei der Erklärung einer Schwierigkeit ist stets zu bedenken, daß auch eine nur mögliche Erklärung (possible explanation) hinreichend ist, dem zu begegnen, der den Einwand erhebt. Wenn mehrere mögliche Erklärungen sich darbieten, so wird die Behauptung, daß die Differenz unausgleichbar sei, um so unvernünftiger. Es ist ein überflüssiges gutes Werk (a work of supererogation), weiter zu gehen und zu zeigen, daß diese oder jene Erklärung die wirkliche Lösung des Problems sei. Bisweilen, weil uns neues Licht zu Gebote steht, kann dies möglich sein; aber es ist nie notwendig. Weil wir über manche Punkte in den Evangelien nur spärlichen Bericht haben, so mag es in mehrfachen Fällen unmöglich sein, eine in jedem Punkte befriedigende Lösung darzubieten. Der Harmonist hat seine Schuldigkeit getan, wenn er eine annehmbare (reasonable) Erklärung des ihm vorliegenden Problems gegeben hat. . . . Auch ist daran zu erinnern, daß ebensoviel Vorurteil gegen das übernatürliche Element in den Evangelien als günstiges Urteil für die Richtigkeit der Erzählungen vorhanden ist.” Wir werden Robertson zustimmen müssen. Hinzuzufügen wäre noch: Sollte uns ein Fall Vorkommen, wo wir die Möglichkeit eines Ausgleichs nicht erkennen können, so lassen wir als Christen die Sache auf sich beruhen, weil wir die Unfehlbarkeit der Schrift auf die Autorität des Sohnes Gottes hin glauben, Joh. 10, 35: Ου δνναται λνϑήναι ή γραφή. Alle Einwände gegen die Irrrtumslosigkeit der Schrift sind eines Christen unwürdig, weil sie menschliches Urteil gegen Christi Urteil setzen. Luther kennt und treibt auch Apologetik, wenn es gilt. Ungläubigen und auch den Christen ihrem Fleische nach zu Hilfe zu kommen. Aber wenn er die Stellung zur Schrift beschreibt, die dem Christen als Christen schicklicherweise zukommt, gebraucht er entschiedene, ja harte Worte. Er sagt z.B.:824) „Sie [die Sophisten] sagen, die Schrift wäre viel zu schwach, daß sie sollte Ketzer umstoßen; es müsse mit der Vernunft zugehen und aus dem Gehirn kommen; daraus müsse man's beweisen, daß der Glaube recht sei, so doch unser Glaube
-----------------------------
823) Bei Broadus, A Harmony of the Gospels 8, p. 232.
824) Zu 1 Petr. 3, 15. St. L. IX. 1238 f.
293 > Die Heilige Schrift. [English ed. ~ 243]
über alle Vernunft und allein Gottes Kraft ist. Darum, wenn die Leute nicht glauben wollen, so sollst du stillschweigen; denn du bist nicht schuldig, daß du sie dazu zwingest, daß sie die Schrift für Gottes Buch oder Wort halten; es ist genug, daß du deinen Grund darauf gibst. Als wenn sie es so vornehmen und sagen: Du predigst, man solle nicht Menschenlehre halten, so doch St. Peter und Paulus, ja Christus selbst Menschen sind gewest; wenn du solche Leute hörst, die so gar verblendet und verstockt find, daß sie leugnen, daß dies Gottes Wort sei, was Christus und die Apostel geredet und geschrieben haben, oder daran zweifeln, so schweige nur stille, rede kein Wort mit ihnen und laß sie fahren. Sprich nur also: Ich will dir Grund genug aus der Schrift geben; willst du es glauben, gut; wo nicht, so fahr immer hin. So sagst du: Ei, so muß denn Gottes Wort mit Schanden bestehen. Das befiehl du Gott.” Für so eines Christen durchaus unwürdig erachtet Luther den Standpunkt, wonach wir das, was Christus und die Apostel geredet und geschrieben haben, nicht für Gottes Wort und irrtumslos halten. Dies wendet Luther auch auf die historische Zuverlässigkeit der Schrift in allen Fällen an, in denen zwischen Profanskribenten und den Angaben der Schrift eine Differenz vorliegt. Er sagt:825) „Ich gebrauche derselben [der Profanskribenten] so, daß ich nicht gezwungen werde, der Schrift zu widersprechen. Denn ich glaube, daß in der Schrift der wahrhaftige Gott rede, aber in den Historien gute Leute nach ihrem Vermögen ihren Fleiß und ihre Treue (aber als Menschen) erweisen, oder wenigstens, daß die Abschreiber haben irren können.” Ebenso hält Luther die Irrrtumslosigkeit der Schrift fest, wenn es sich um eine Differenz mit Naturwissenschaftlern handelt. Er sagt in bezug auf die Lehre von der Schöpfung der Welt:826) „Wenn Moses schreibt, daß Gott in sechs Tagen Himmel und Erde und was darinnen ist, geschaffen habe, so laß es bleiben, daß es sechs Tage gewesen sind, und darfst keine Glosse finden, wie sechs Tage ein Tag sind gewesen. Kannst du es aber nicht vernehmen, wie es sechs Tage find gewesen, so tue dem Heiligen Geist die Ehre, daß er gelehrter sei denn du.” Was die Harmonisierung der evangelischen Berichte betrifft, die einander zu widersprechen scheinen, so begnügt sich Luther (gerade wie Chemnitz in der „Evangelienharmonie”) mit dem Hinweis auf mehrere Möglichkeiten des Ausgleichs.827) Er bezweifelt die Richtigkeit der Berichte so wenig,
-----------------------------
825) St. L. XIV. 491. 826) St. L. III. 21.
827) St. L. VII, 1780 f.
294 > Die Heilige Schrift. [English ed. ~ 243 bottom-244]
daß er auch scheinbare Unordnungen in denselben für des Heiligen Geistes Werk und Weisheit erklärt.828) Die rechte Stellung zur Schrift, wenn es sich um „Widersprüche” in derselben handelt, brachte vor etwa dreißig Jahren ein Referent auf der Augustkonferenz zum Ausdruck.829) Er sagte u. a.: „Wie die geschichtliche Erscheinung JEsu Christi, so können auch einzelne geschichtliche Ereignisse unter verschiedenen Gesichtspunkten betrachtet werden. Daraus Widersprüche zu konstruieren, ist kleinlich. Anderes lassen wir auf sich beruhen, erwarten die Zeit, wo es sich aufklären wird, und sterben getrost, auch wenn es nicht geschieht, mit dem Zeugnis von der Wahrheit der Bibel auf unsern Lippen und in unserm Herzen. . . . So finden wir denn keinen Anlaß, die Stellung zur Schrift aufzugeben, welche die Kirche von Anbeginn zu ihr eingenommen hat, und bleiben dabei, das als ihre Herrlichkeit zu preisen, daß durch sie Gott mit den Menschen redet, und daß sie sein unfehlbares Wort ist. Und das ist auch die Stellung Christi und seiner Apostel.” Philippi zitiert 830) aus Philipp Schaff (Geschichte der apostolischen Kirche, 1854, S. 101): „Die volle und unbedingte Ehrfurcht vor dem heiligen Worte Gottes, welche wir bei der ganzen Schleiermacherschen Schule mehr oder weniger vermissen, verlangt in solchen Fällen, wo die Wissenschaft das Dunkel noch nicht aufzuklären vermag, ein demütiges Gefangennehmen der Vernunft unter den Gehorsam des Glaubens oder eine einstweilige Suspension des entscheidenden Urteils in der Hoffnung, daß es einer weiteren und tieferen Forschung gelingen werde, zu genügenderen Resultaten zu kommen.” Ganz kürzlich lasen wir in der „Deutschen Lehrerzeitung"831) u.a. die folgenden Worte über „Widersprüche” in der Schrift: „Sie weisen auf Widersprüche hin, die Sie mit Ihrem Verstände nicht lösen können, unterstreichen aber auch, daß Sie von der Bedingtheit Ihrer Erkenntnis überzeugt sind. Von mir gilt genau dasselbe. Solche und ähnliche ‘Tatsachen’, deren Zahl ich leicht noch vermehren könnte, sind mir nicht — und wohl keinem aufmerksamen Bibelleser — unbekannt. Aber können und dürfen wir mit Bestimmtheit behaupten, daß alles das, was Ihrem und meinem
-------------------------------
828) St. L. VII, 1297.
829) P. Schulze-Walsleben. L. u. W. 1891. S. 379. [sic - should be p. 353 ff. Quote is from page 357]
830) Glaubenslehre 1 I. 200.
831) Jahrg. 36. Nr. 17. datiert Berlin, den 28. April 1923. Die Worte sind einem Brief entnommen, der von Rettor a. D. August Grünweller in Rheydt unterzeichnet und an einen Lehrer in Sachsen gerichtet ist.
295 > Die Heilige Schrift. [English ed. ~ 244-245]
Verstände als Widerspruch erscheint, sich unter keinen Umständen jemals in Übereinstimmung wird bringen lassen, daß alles das, was uns gegenwärtig wohl als ungereimt erscheint, sich im Lichte einer besseren oder unbedingten Erkenntnis nicht doch noch in Harmonie auflösen wird? ‘Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunkeln Wort, dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich's stückweise; dann aber werde ich erkennen, gleichwie ich erkannt bin.' Sollte dieses Apostelwort sich nicht auch auf unsern Fall und Ihre ‘Tatsachen' anwenden lassen? Wir erkennen beide an, daß die Heilige Schrift für unsern Verstand ‘Widersprüche' enthält, aber die Schlußfolgerungen, die wir daraus ziehen, stehen in einem diametralen Gegensatz. Sie schließen auf Grund des -primitiven' Gebrauchs Ihres Verstandes: In der Schrift zeigen sich Widersprüche, mithin kann sie nicht irrtumslos sein. Ich schließe so: Die Schrift ist nach der klaren Aussage dessen, von dem sie Zeugnis ablegt, unantastbare Wahrheit; darum müssen sich die ‘Widersprüche' im Lichte einer höheren oder vollkommeneren Erkenntnis auflösen lassen. Sie vertreten, obschon Sie von der Unzulänglichkeit und Bedingtheit Ihrer Erkenntnis überzeugt sind, einen rationalistischen Standpunkt; ich stelle mich, weil ich meiner beschränkten Vernunft kein sicheres Urteil in göttlichen Dingen zutraue, auf den Standpunkt unsers HErrn und Meisters JEsus Christus. Für Sie handelt es sich um eine Verstandes-, für mich um eine Glaubensfrage.”
Daß Philippi mit Recht von einer „Differenzjagd” bei modernen Theologen redet, geht daraus hervor, daß Männer wie Volck-Dorpat zwischen den Zahleneingaben 1 Kor. 10,8 (23,000) und 4 Mos. 25,9 (24,000) einen offenbaren Widerspruch finden, während doch in den genannten Stellen selbst die Lösung des scheinbaren Widerspruchs sehr klar angedeutet ist.832) „Lehre und Wehre” sagt darüber: „Wenn man die zwei zitierten Stellen nacheinander liest und weiteres Nachdenken sich erspart, so setzt sich wohl der Gedanke fest, daß die in der Wüste umgekommenen Israeliten hier verschieden gezählt werden, und daß nur die eine der angegebenen Summen richtig sein könne. Bei näherer Prüfung der Erzählung 4 Mos. 25 gewahrt man aber unter den von dem Zorn Gottes Niedergeschlagenen einen Unterschied. Die Obersten des Volks, die eigentlichen Rädelsführer, welche Israel zu Hurerei und Götzendienst verführt hatten, sollten gehängt, andere von den Richtern mit dem Schwert erwürgt
------------------------------
832) L. u. W. 1886. S. 319 f. [G. Stöckhardt]
296 > Die Heilige Schrift. [English ed. ~ 245-246]
werden, 4 Mos.24,4.6. Die meisten wurden von der Plage, wohl einer Pest, hingerafft. Wie, wenn nun Paulus 1 Kor. 10, 8 bei den 23,000 die von Gott direkt Niedergeschlagenen im Sinn hat im Unterschied von den durch menschliche Hand Hingerichteten, deren etwa 1000 gewesen sein können, während 4 Mos. 25,9 summarisch sämtliche Getötete zusammengenommen werden? Oder wenn sämtliche 24,000, die Moses erwähnt, an der Pest starben, so ist doch nicht gesagt, daß die 24,000 an einem Tage starben, während nach Paulus jene 23,000 auf einen Tag sielen. Paulus beschreibt die Plagen jenes einen Tages, während Mose überhaupt von dem durch die Hurerei Israels provozierten Strafgericht redet. Es ist offenbar, auch nach natürlich vernünftiger Rechnung, voreilig geurteilt, wenn man hier die eine Zahl mit der andern in Widerspruch setzt. Und so verhält es sich in andern Fällen.” „Lehre und Wehre” erinnert dann noch an vorhin bereits Gesagtes, nämlich daran, daß wir uns vernünftigerweise mit der Möglichkeit des Ausgleichs scheinbarer Widersprüche zufrieden geben müssen: „Wenn an zwei verschiedenen Stellen der Bibel ein und dasselbe Ereignis verschieden beschrieben wird, so liegt auf der Hand, daß verschiedene Züge, verschiedene Seiten derselben Sache hier und dort hervorgekehrt werden. Wir müßten sämtliche Nebenumstände und Einzelheiten des betreffenden Hauptfaktums genau kennen, um zu erkennen, wie diese verschiedenen Züge Zusammenhängen. Da aber in der Regel nur etliche Data uns mitgeteilt sind, da mancherlei Umstände uns unbekannt sind, da allerlei Zwischenglieder fehlen, so ist es uns oft unmöglich, mit Bestimmtheit zu sagen, wie die verschiedenen Züge in Wirklichkeit zusammenstimmten und in einem Rahmen gar wohl Platz hatten. Es lassen sich da verschiedene Möglichkeiten denken. Und es ist subjektive Willkür, ja schreiendes Unrecht, das man der Schrift zufügt, wenn man verschiedene Berichterstattung auf Widerstreit und Widerspruch der Berichterstatter reduziert. Solange in den verschiedenen Aussagen kein kontradiktorischer Gegensatz nachgewiesen wird, ist die von der heutigen Schriftwissenschaft geforderte Anerkennung von Widersprüchen nichts anderes als wissenschaftlicher Schwindel. ... Es ist wahr, die Harmonistik muß sich in bescheidenen Grenzen bewegen. In zahlreichen Fällen ist es unmöglich, aus den verschiedenen Angaben der Evangelisten etwa über ein und dasselbe Wunderwerk JEsu ein vollständiges, genaues Gesamtbild zu konstruieren und jedem der verschiedenen von den einzelnen Evangelisten erwähnten
297 > Die Heilige Schrift. [English ed. ~ 246-247]
Nebenzüge seinen Platz im Ganzen anzuweisen. Es ist viel besser, auf die Frage, wie die verschiedenen einzelnen Nebenumstände Zusammenhängen, welches die Zeitfolge der einzelnen Begebenheiten gewesen sei, mit Non liquet zu antworten, als eine selbsterdichtete Kombination für evangelische Wahrheit auszugeben. Aber solange die verschiedenen Charakterzüge sich nicht gegenseitig aufheben und ausschließen — und das wird man nimmer zur Evidenz bringen können —, ist es, auch rein menschlich geurteilt, Torheit und Tollkühnheit, die Verschiedenheiten zu Widersprüchen umzustempeln.” Dies wird dann an der Ostergeschichte exemplifiziert und schließlich hinzugefügt: „Im übrigen ersehen wir aus dieser Verschiedenartigkeit der evangelischen Berichte, daß die heiligen Evangelisten bei Verabfassung ihrer Schriften wahrlich sich nicht durch klugen Kalkül und Berechnung auf den Eindruck, den die Leser aus ihren Evangelien empfangen würden, haben leiten lassen. Sonst hätten sie mehr harmonisiert. Der Folgende hätte sich dann genauer und ängstlicher an die Schrift des Vorgängers angeschlossen. Nein, eine höhere Hand hat hier alles geordnet und gestaltet. Der Geist Gottes hat hier nach seinem Belieben geschaltet und gewaltet, gleichsam ganz sorglos und unbefangen, ohne zu fürchten, daß die künftige Kritik seines heiligen Werkes seiner Autorität etwas schaden könne.”833)
5. Weiterhin ist noch eine ganze Reihe wirklicher oder auch bloß angenommener Tatsachen gegen die Inspiration eingewendet worden, z. B. „ungenaue Zitate” der neutestamentlichen Schreiber aus dem Alten Testament, geringfügige, dem Heiligen Geist nicht anständige Dinge, Solözismen und Barbarismen usw., auch einzelne Bibelstellen wie 1 Kor. 7, 12 und Bibelabschnitte.
Was zunächst die ungenauen Zitate der neutestamentlichen Schreiber aus dem Alten Testament betrifft, so fragt Kahnis, ob man wirklich würdige Gedanken von dem Heiligen Geist habe, wenn man ihm „alle ungenauen Zitate” aus dem Alten Testament, die sich im Neuen Testament fänden, zuschreibe.834) Der Engländer Row sagt:835) „Die Art und Weise, in welcher das Alte Testament
----------------------------------
833) Eine sehr ausführliche Besprechung der „angeblichen Widersprüche in der Bibel” bietet im Anschluß an den Streit in den Ostseeprovinzen „L. u. W.” 1893, S. 33—273 [G. Stöckhardt]. Vgl. ferner Verhandlungen der Ev.-Luth. Synodalkonferenz 1902, S. 5—56.[Ed. – by E.A.W. Krauss] In diesen beiden Schriften sind wohl alle Hauptstellen besprochen, in denen man Widersprüche gefunden hat.
834) Das längere Zitat aus Kahnis bei Baier-Walther 1,102 f.
835) Zitiert bei Dr. R. Watts, The Rule of Faith, London 1885, S. 233.
298 > Die Heilige Schrift. [English ed. ~ 247-248]
im Neuen zitiert wird, gibt allen Theorien von einer mechanischen [!] und wörtlichen Inspiration den Todesstoß.” Wir setzen etwas verkürzt und mit einigen Zusätzen hierher, was wir in bezug auf die „ungenauen Zitate” zur Zeit des Bibelstreits in den Ostseeprovinzen in „Lehre und Wehre” unter der Überschrift „Die Form der alt-testamentlichen Zitate im Neuen Testament” 836) geschrieben haben. Es heißt dort: Wenn die Evangelisten und Apostel „die Geschichten”, so unter ihnen „ergangen sind” (Luk. 1,1), erzählen, oder wenn sie die seligmachende Lehre darlegen, so fügen sie mit einem „wie geschrieben steht”, „wie die Schrift sagt” usw. Aussprüche des Alten Testaments in ihre Rede ein, indem sie damit die Erfüllung der im Alten Testament geweissagten Ereignisse im Neuen Testament Nachweisen oder für ihre Lehre das Zeugnis des Alten Testaments beibringen. Hierbei begegnen wir aber der auf den ersten Blick auffälligen Erscheinung, daß die Worte, welche mit dem „wie geschrieben steht”, „wie die Schrift sagt” ausdrücklich als Worte des Alten Testaments angeführt werden, doch der Form nach nicht selten bedeutend von dem alttestamentlichen Schriftwort abweichen. Luther schreibt: „Also siehet man oft, wie die Evangelisten die Propheten einführen etwas verändert.” 837) Im Römerbrief finden sich nach unserer Zählung 47 Zitate aus dem Alten Testament, von denen aber nur 24 als wörtliche Zitate gelten können. Die formellen Abweichungen vom Wortlaut des alttestamentlichen Textes sind verschiedener Art. In einzelnen Fällen ist der alttestamentliche Text erweitert (z.B. Ies. 61, 1; Luk. 4, 18), in sehr vielen Fällen zusammengezogen (Ies. 8, 22; 9,1; Matth. 4, 16), in mehreren Fällen sind die Sätze umgestellt (Hos. 2,23; Röm. 9, 26), sehr oft auch sind mehrere Stellen in eine verschmolzen (Jer. 32, 6ff.; Sach. 11,12.13; Matth. 27,9). Daß bei dieser Weise des Zitierens immer der eigentliche Sinn der alttestamentlichen Schriftworte gewahrt bleibe, steht allen denen a priori fest, welche glauben, daß die Evangelisten und Apostel durch den Heiligen Geist geredet und geschrieben haben. Auch läßt sich a posteriori im Lichte des Neuen Testaments beweisen, daß der intendierte Sinn der alttestamentlichen Schriftstelle kein anderer sei als der, welchen das Zitat im Neuen Testament ausdrückt. Luther schreibt an der angeführten Stelle: „[Es] ist zu wissen, daß den Evangelisten nichts ist daran gelegen, daß sie nicht eben alle Worte
-------------------------
836) L. u. W. 32, 77—82. 837) Erl. Ausg. 10, 16.
299 > Die Heilige Schrift. [English ed. ~ 248]
der Propheten anziehen; ihnen ist genug gewesen, daß sie gleiche Meinung führen und die Erfüllung anzeigen.” Und nach den oben angeführten Worten: „Also siehet man oft, wie die Evangelisten die Propheten einführen etwas verändert” fährt Luther fort: „Doch geschieht's alles ohne Abbruch des Verstandes und Meinung.”838) Jedoch bleibt hierbei noch immer die Frage nach dem eigentlichen Grund der oft so auffälligen und durchgreifenden formellen Abweichung von dem Wortlaut des Alten Testaments stehen. Wenn jetzt z. B. ein Prediger Schriftstellen mit einem ausdrücklichen „So schreibt St. Paulus”, „So schreibt St. Johannes” usw. einführt, so erwarten wir von ihm, daß er sich an den Wortlaut der anzuführenden Schriftstelle halte. Wir würden es mit Recht ungehörig finden, wenn er in bezug auf die Form des Zitats so von dem Wortlaut absehen wollte, wie dies offenbar von den Evangelisten und Aposteln in bezug auf das alttestamentliche Schriftwort geschieht. Man hat dies auf verschiedene Weise zu erklären versucht. Man hat z.B. die Ansicht aufgestellt, daß die im Neuen Testament sich findende Form der alttestamentlichen Stellen die ursprüngliche war. Wenn uns jetzt in den betreffenden Stellen des Alten Testaments ein anderer Wortlaut vorliege, so komme das daher, daß wir nicht mehr den ursprünglichen, sondern nur noch — wenigstens an den betreffenden Stellen — einen sehr korrumpierten Text des Alten Testaments hätten.839) Da wäre allerdings die Differenz hinsichtlich des Wortlauts erklärt. .Aber diese Erklärung ist unstatthaft. Abgesehen von anderm, so weiß die Geschichte des Textes des Alten
-------------------------
838) Vgl. die Artikelreihe von D. Stöckhardt in „Lehre und Wehre”, Jahrg. 30. 31, [Ed.: sic – not 31, 32] unter der Überschrift „Weissagung und Erfüllung”. In diesen Artikeln sind alle Hauptstellen behandelt, in denen man im Matthäusevangelium ungenaue oder irrige Zitate aus dem Alten Testament gefunden zu haben meint: Ies. 7,14 — Matth. 1, 18—23. Micha 5, 1 — Matth. 2, 5. 6. Hos. 11, 1 — Matth. 2. 15. Jer. 31, 15 — Matth. 2, 17. 18. Ies. 11, 1; Sach. 6, 12 - Matth. 2, 23. Ies. 40, 3 — Matth. 3, 1-3. Ies. 8, 23; 9, 1 — Matth. 4, 12-16. Ies. 53, 4 — Matth. 8, 17. Ies. 42, 1 ff. — Matth. 12, 15—21. Ies. 6, 9. 10 — Matth. 13, 13—15. Ps. 78, 2 - Matth. 13, 34. 35. Sach. 9, 9 — Matth. 21, 1-5. Ps. 118, 26 — Matth. 21, 9. Ps. 118, 22. 23 - Matth. 21, 42-44. Ps. 8, 3 -Matth. 21, 16. Ps. 110, 1 — Matth. 22, 43—46. 2 Mos. 3, 6 — Matth. 22, .31. 32. Dan. 9, 23 ff. — Matth. 24, 15. Sach. 13, 7 — Matth. 26, 31 ff. Sach. 11, 12. 13; Jer. 32, 6 ff. — Matth. 27, 3 ff. (Hier ist nachgewiesen, daß bei Matthäus auch Jeremias zitiert ist.) Ps. 22, 19 — Matth. 27, 35. Ps. 22, 2 — Matth. 27, 46.
839) So Ludovicus Capellus II. Vgl. Pfeiffer, Critica Sacra, Leipzig 1712, S.105 ff.
300 > Die Heilige Schrift. [English ed. ~ 248-249]
Testaments nichts von einer solchen Korrumpierung desselben. Andere haben die Ursache der Abweichung in einem Gedächtnisirrtum seitens der heiligen Schreiber finden wollen. Die letzteren hätten das Alte Testament genau zitieren wollen und zu zitieren gemeint, hätten sich dabei aber — geirrt. Gerade auch in der neuesten Zeit hat man die „ungenauen Zitate” der Evangelisten und Apostel als einen Beweis gegen die Inspiration der Heiligen Schrift angeführt (Kahnis, Row). Doch abgesehen davon, daß die Annahme von „Versehen” auf seiten der Apostel den eigenen Aussagen der letzteren, daß der Heilige Geist durch sie rede (1 Kor. 2,13; 14,37; 2 Kor. 13,13; 1 Petr. 1,12), widerspricht, so muß auch schon der rein menschlichen Betrachtung die Theorie, welche die Abweichungen von dem alttestamentlichen Text auf „Versehen” oder „Gedächtnisfehler” beim Zitieren zurückführt, als unhaltbar erscheinen, wie unten noch weiter auszuführen ist.
Es gibt nur eine Erklärung für dieses oft so freie Schalten mit dem Wortlaut der alttestamentlichen Schriftstellen im Neuen Testament. Die Erklärung ist in Schriftstellen wie 1 Petr. 1,10—12 gegeben, wo ausdrücklich gesagt wird, daß derselbe Heilige Geist, welcher in den Propheten des Alten Testaments war und durch dieselben redete, nun auch im Neuen Testament durch die Evangelisten und Apostel zeugte. Zu diesem Zeugnis gehörte natürlich auch die Einführung und Auslegung der alttestamentlichen Schriftstellen. So zitiert in den Zitaten aus dem Alten Testament der Heilige Geist gleichsam sich selbst. Und der hat Gewalt und die freie Verfügung über seine Worte; der macht beim Zitieren aus dem alttestamentlichen Schriftwort gleichsam einen „neuen Text”, wie Luther sich ausdrückt, dadurch den alttestamentlichen Text zugleich auslegend. Die vom Heiligen Geist getriebenen Evangelisten und Apostel zitieren daher nicht sowohl, als daß sie einen „Griff” in die Schrift tun. Hierher gehört, was Luther von der Pfingstpredigt der Apostel sagt: „Wie gewaltig greifen sie in die Schrift, als hätten sie hunderttausend Jahr darinnen studiert und dieselbe aufs beste gelernet! Ich könnte nicht so einen gewissen Griff in die Schrift tun, ob ich Wohl ein Doktor der Heiligen Schrift bin. ... Also beweiset Gott durch die größte Narrheit und Torheit der elenden, schwachen Bettler die größte Weisheit, die auf Erden kommen ist, daß ihnen solches niemand nachtun kann, weder Hannas noch Kaiphas noch kein Mensch auf Erden.”840) Flacius
----------------------
840) Erl. Ausg. 5,183.
301 > Die Heilige Schrift. [English ed. ~ 249-250]
schreibt: „Es ist festzuhalten, daß das Alte Testament von den heiligen Schreibern des Neuen Testaments meistens so zitiert werde, daß sie auf den Sinn gesehen und mehr die Erfüllung der Weissagung als die Worte der Weissagung selbst beigebracht haben. Dies wird aber niemand verwunderlich oder verwegen erscheinen, der davon überzeugt ist, was die Sache selbst erzwingt, daß nämlich derselbe Geist durch den Mund der Evangelisten geredet habe, welcher den Mund der Propheten öffnete; sodann, daß der Propheten Amt war, das Zukünftige, vorauszusagen, der Evangelisten Amt aber, das Geschehene zu erzählen. Weil daher der Geist Gottes die Weissagungen jener im Neuen Testament nicht ausschreibt, sondern auslegt, so darf man nicht die Forderung stellen, daß er die einzelnen Worte aufzähle.” 841) A. Pfeifer [ed. or Pfeiffer] bemerkt: „Daß die Stellen des Alten Testaments im Neuen Testament nicht immer dem Wortlaut nach (αυτολεξεί) angeführt worden, kommt nicht von einer Korruption des uns jetzt vorliegenden Textes her, sondern daher, daß durch Eingebung des Heiligen Geistes eine Erklärung des eigentlichen Sinnes der Stelle gegeben wird.” 842) Derselbe (Critica Sacra, S. 109 f.): „Im Neuen Testament werden die Aussprüche des Alten Testaments nicht immer den Worten nach, sondern oft dem Sinne nach zitiert, und zwar frei, bald aus dem hebräischen Text, bald aus der Septuaginta, bald aus beiden. Was bedarf es vieler Worte, wenn sich hier kein Widerspruch findet? Der Heilige Geist hat das Alte Testament offenbart und sich das Recht reserviert, jenes im Neuen Testament zu erklären. Wo dies von den Septuaginta geschehen ist, wurde ihre Übersetzung beibehalten; wo dies nicht geschehen ist, wird nach dem Grundtext zitiert. Wiederholt hat sich der Heilige Geist weder an jene Übersetzung noch an die Worte des Grundtextes gebunden, sondern den Sinn mit neuen Worten ausgedrückt. Was auch immer der Fall sei: derselbe Heilige Geist, der beste Ausleger seiner eigenen Worte, hat an beiden Stellen geredet.” Sehr gut schreibt auch Dr. Watts in dem obengenannten Werk, S. 236 ff.: „Die neutestamentlichen Schreiber verändern oft den Wortlaut der Stellen, welche sie aus dem Alten Testament zitieren, um eine authentische Auslegung derselben zu geben. . . . Diese Abweichung vom Wortlaut erwartet man gerade unter den Umständen, in welchen sich die
---------------------------
841) Clavis Scripturae Sacrae, D. II, P. 103. (Ausg. Franks, und Leipzig 1729.)
842) Thesaurus Hermeneuticus, 1704, S. 59.
302 > Die Heilige Schrift. [English ed. ~ 250-251]
neutestamentlichen Schreiber befanden. Sie waren die erwählten und inspirierten Ausleger der Offenbarung des Alten Testaments, bestallt (commissioned) von dem, dessen Geist die Propheten des Alten Bundes zum Reden und Schreiben trieb. Standen sie nun in einem solchen Verhältnis zu dem alttestamentlichen Zeugnis von dem Geheimnis der Erlösung, dann müßte es sonderbar zugegangen sein, wenn sie bei der Berufung auf dasselbe es so klar gefunden hätten, daß es keiner Auslegung bedurfte und sie deshalb den alten Text in jedem Falle wörtlich wiedergegeben hätten. Es ist wahr, sie hätten den heiligen Text, wie er dastand, wiedergeben und dann ihre eigenen erklärenden Bemerkungen hinzufügen können. Aber hierin ist, wie sonst auch, für diejenigen, welche den Männern, die unter der besonderen Leitung des Heiligen Geistes handelten. Regeln vorschreiben möchten, die apostolische Ermahnung am Platze: Mer hat des HErrn Sinn erkannt, oder wer ist sein Ratgeber gewesen?' Röm. 11,34. . . . Inspiriert von dem freien Geiste . . ., offenbaren sie die Freiheit, womit sie der Heilige Geist, der in ihnen war, befreite, und sie zitieren aus der Septuaginta, wo sie vom Hebräischen abweicht, und aus dem Hebräischen, wo es von der Septuaginta abweicht, und oft zitieren sie eine Stelle in einer Form, in welcher sie weder im hebräischen Grundtext noch in der griechischen Übersetzung gefunden wird. Indem der Heilige Geist die neutestamentlichen Schreiber trieb, in dieser Weise mit dem Alten Testament umzugehen, machte er, der der eigentliche Urheber sowohl der alttestamentlichen als der neutestamentlichen Offenbarung ist, nur sein eigenes Hoheitsrecht geltend. Er handelte dabei nach dem Gesetz des Autorenrechts, welches niemand bei nicht-inspirierten Schreibern in Frage stellt. Niemand hält einen Autor gebunden, bei Wiederholung einer früheren Angabe bei dem genauen Wortlaut der ersten Aussprache zu bleiben. Gesteht man solche Freiheit einem Menschen zu und sieht man dies beinahe als das natürliche Recht (Geburtsrecht) menschlicher Autorschaft an, dann ist es ebenso unehrerbietig als unvernünftig, die Freiheit des Geistes Gottes verkürzen zu wollen.”
Die Form der alttestamentlichen Zitate im Neuen Testament gibt daher bei rechter Betrachtung der Theorie von „der wörtlichen Inspiration” nicht „den Todesstoß”, sondern ist im Gegenteil ein gewaltiger Beweis für dieselbe. Man setze einmal den Fall, daß die Evangelisten und Apostel nicht inspiriert, sondern wie andere Schreiber bloß ihrer menschlichen Erwägung überlassen ge-
303 > Die Heilige Schrift. [English ed. ~ 251]
wesen wären. Würden da ihre Zitate nicht ganz anders ausgefallen sein? Würden sie nicht sorgfältig alle Anstöße, die die menschliche Betrachtung in ihrer Weise des Zitierens findet, sorgfältig vermieden und wörtlicher zitiert haben? Sagt man: Den Aposteln war eben der richtige Zusammenhang und der rechte Wortlaut der zitierten Stellen gerade nicht gegenwärtig, so ist der Einwand durchaus hinfällig. Angenommen, daß ihnen sowohl Zusammenhang als auch Wortlaut entschwunden war, so gab es ein sehr einfaches Mittel, dem Mangel abzuhelfen. Wenn uns in bezug auf eine zu zitierende Stelle Zusammenhang und Wortlaut nicht gegenwärtig sind, so schlagen wir nach. Dasselbe würden auch die Evangelisten und Apostel getan haben; das Alte Testament war ihnen ja zur Hand. Sie würden die zu zitierenden Stellen nachgeschlagen, den Zusammenhang nachgesehen und die Stellen genau dem Wortlaut nach ausgeschrieben haben. Oder könnte jemand vernünftigerweise annehmen, die Apostel hätten sich die Mühe, ihrem mangelhaften Gedächtnis durch Nachschlagen nachzuhelfen, gar nicht gegeben, in der Voraussetzung, ihre Leser würden die Ungenauigkeit im Zitieren, wenn solche mit unterliefe, gar nicht Merken? St.Paulus z.B. sah seine Leser als solche an, „die das Gesetz wissen”, Röm. 7,1. Wir meinen, daß auch die menschliche Vernunft, wenn sie vernünftig sein will, darauf verzichten müsse, die Abweichungen der neutestamentlichen Zitate vom Wortlaut des Alten Testaments aus einem „Versehen” oder „Gedächtnisirrtum” seitens der heiligen Schreiber zu erklären. Es gibt nur die eine Erklärung: der Heilige Geist redet durch die Apostel und schaltet in denselbenfrei mit seinem eigenen Wort. Und wie die scheinbaren Widersprüche, welche sich in der Schrift finden, ein Beweis dafür sind, daß die Schrift nicht ein Machwerk berechnender Menschen ist, so ist speziell die Art und Weise, wie die Evangelisten und Apostel das Alte Testament zitieren, ein gewaltiger Beweis, daß sie nicht aus sich selbst, aus ihrer rein menschlichen Erwägung, sondern aus Eingebung des Heiligen Geistes geredet und geschrieben haben.
Gegen die Inspiration der Schrift ist eingewendet worden, daß in ihr so mancherlei „geringe menschliche Dinge” oder „Kleinigkeiten” (levicula) erwähnt werden, deren Erwähnung doch der göttlichen Würde des Heiligen Geistes offenbar nicht angemessen sei. Als solche Kleinigkeiten sind besonders bezeichnet worden Pauli Mantel und das Pergament, die Paulus in Troas zurück-
304 > Die Heilige Schrift. [Engish ed. ~ 251-252]
gelassen hatte (2 Tim. 4,13), sonderlich auch die diätetische Vorschrift, Timotheus möge seines Magens wegen das bloße Wafsertrinken (υδροποτεϊν) aufgeben und ein wenig Wein genießen (I Tim. 5,23). In diesem Einwand offenbart sich ganz entschieden ein Irrtum in bezug auf die „ethischen Grundsätze” des Heiligen Geistes. Der Heilige Geist ist der Ansicht, daß die Treue im Kleinen durchaus anständig und nötig sei. Wir lesen Luk. 16, 10: „Wer im Geringsten (εν ελαχίοτω) treu ist, der ist auch im Großen (εν πολλφ) treu, und wer im Geringsten unrecht ist, der ist auch im Großen unrecht.” Dafür hat selbst die Welt, sofern sie ihre Vernunft gebraucht, noch ein Verständnis, wenn sie in der Treue im Kleinen den großen Mann sieht. Sonderlich sollte aber jeder Christ Luther zustimmen, wenn dieser z.B. sagt:843) „Du darfst nicht denken oder dich dessen verwundern, warum der Heilige Geist Lust habe, solche schlechte und verächtliche Werke (im Leben der Patriarchen) zu beschreiben, sondern höre, was der heilige Paulus sagt Röm. 15, 4: Mas aber zuvor geschrieben ist, das ist uns zur Lehre geschrieben, auf daß wir durch Geduld und Trost der Schrift Hoffnung haben.' Wenn wir fest glaubeten wie ich, wiewohl ich schwächlich glaube, daß der Heilige Geist selbst und Gott, der Schöpfer aller Dinge, der rechte Meister (auctor) dieses Buches [der Bibel] sei und solcher schlechten und verächtlichen Dinge, wie sie dem Fleische schlecht und gering zu sein dünken, alsdann würden wir den größten Trost davon haben, wie St. Paulus sagt. . . . Das meinet der Heilige Geist, wenn er so gar niedrig einhergeht, wo er seine Heiligen beschreibt, daß auch die allergeringsten Werke der Heiligen Gott Wohlgefallen. Es ist ein köstlich Ding um einen Christenmenschen; es ist nichts so gering an ihm, es gefällt Gott wohl. Blut vergießen, sterben, schwitzen, streiten und kämpfen wider den Teufel ist in Wahrheit ein groß Ding und gefällt Gott sehr wohl. Du mußt aber also schließen: Wenn du nun gläubig bist, alsdann gefallen Gott auch die natürlichen, fleischlichen und leiblichen Werke wohl, du essest oder trinkest, du wachest oder schlafest, welches ja lauter leibliche und natürliche Werke sind. Ein so groß Ding und Sache ist der Glaube. Derhalben siehe zuerst darauf, daß du ein Christ werdest, und daß die Person durch das Wort, durch die Taufe und Sakrament, Gott angenehm und gefällig werde. Wenn die Person gläubig ist und dem Worte anhängt, dasselbe nicht verfolgt, sondern Gott dafür
---------------------
843) St. L. II, 469 ff.
305 > Die Heilige Schrift. [Engish ed. ~ 252-253]
dankt, alsdann sollst du anderes nichts tun, denn das Salomo sagt in seinem Prediger am 9. Kapitel: ,So gehe hin mit Freuden, trink deinen Wein mit gutem Mut; denn dein Werk gefällt Gott. Laß deine Kleider immer weiß sein und laß deinem Haupte Salbe nicht mangeln.’” So weisen denn auch die alten Lehrer samt den alten Dogmatikern darauf hin, welche wichtigen Lehren in den Kleinigkeiten enthalten sind, die der Apostel Paulus 2 Tim. 4, 13 und 1 Tim. 5, 23 erwähnt. Wir sehen aus diesen und andern Stellen, daß der Apostel Paulus kein Schwärmer war. Er hätte ja Gott bitten können, daß Engel ihm den in Troas zurückgelassenen Mantel samt dem Pergament zutragen möchten. Aber weil der Apostel weiß, daß Gott uns Menschen an die von ihm dargebotenen natürlichen Mittel weist, solange uns solche zu Gebote stehen, so gibt er Timotheus den Auftrag, ihm Mantel und Pergament zu überbringen. Dasselbe ist von der diätetischen Vorschrift zu sagen. Paulus verweist Timotheus in dessen Krankheit und leiblicher Schwachheit nicht bloß auf das Gebet: „Betet stets in allem Anliegen”,844) sondern auch auf natürliche Mittel: Timotheus soll das bloße Wassertrinken einstellen und ein wenig Wein gebrauchen.”845) In Pauli Sorge um seinen Mantel finden alte Lehrer auch einen Hinweis auf des Apostels Armut, in welcher Armut er jedoch nicht müde und verdrossen geworden sei, sein Apostelamt auszurichten. Auch Pauli Verlangen nach dem Pergament offenbare des Apostels Eifer in der Ausrichtung seines Amtes.846) In dem Apostelwort 1 Tim. 5,23 haben wir ferner eine Erinnerung, daß wir die Kirche Gottes ja nicht mit dem Menschengebot der Prohibition beschweren. Der Staat oder, wie Luther es gewöhnlich ausdrückt, der „Kaiser” mag Speise- und Trankgebote erlassen, und die Christen sind solchen Geboten untertan. Aber wenn die „Kirche” sich herausnimmt, solche Gebote zu erlassen, so fällt sie unter das scharfe Urteil des Apostels 1 Tim.
-------------------------------
844) Eph. 6,18; Ps. 55, 23.
845) Huther z. St.: „Es versteht sich von selbst, daß der Apostel dem Timotheus nicht das Wassertrinken überhaupt untersagen will, sondern nur die gänzliche Vermeidung des Weintrinkens; νδροποτεΐv, heißt, genau genommen, auch nicht ‘Wasser trinken', sondern,ein Wassertrinker sein' und wird daher nur von demjenigen gebraucht, der das Wasser zu seinem . . . ausschließlichen Getränk macht.” Ebenso Winer, Gr.6, S. 442. Das Verbum νδροποτεΐν kommt im Neuen Testament nur an dieser einen Stelle vor, ist aber vom Apostel nicht gebildet, sondern echt griechisch. Nachweis bei Ebeling sub verbo.
846) L. u. W. 32, 297 [sic – should be p. 287].
306 > Die Heilige Schrift. [English ed. 253]
4, 1—5- προοέχοντες πνενμασι πλάνοις και διδαοκαλίαις δαιμόνιων, weil in diesem Falle geboten wird, „zu meiden die Speise, die Gott geschaffen hat, zu nehmen mit Danksagung den Gläubigen und denen, die die Wahrheit erkennen. Denn alle Kreatur Gottes ist gut und nichts verwerflich, das mit Danksagung empfangen wird, denn es wird geheiliget durch das Wort Gottes und Gebet”. Und das Resultat solcher Menschengebote seitens der Kirche gibt Christus Matth. 15 an: Gottes Lehre und Gebote werden durch Menschengebote verdrängt, wie wir das hierzulande in Sektengemeinschaften reichlich vor Augen haben. Kurz, in den „Kleinigkeiten”, die die Schrift erwähnt, sind wichtige Lehren für einigermaßen sehende Augen enthalten. Wer von diesen levicula urteilt, daß sie des Heiligen Geistes nicht würdig seien, versteht sich nicht auf den Heiligen Geist und auf ein christliches Leben und Wesen.847)
----------------------------------
847) Hönecke, Dogmatik I, 351: „Es lassen sich aus diesen Stellen (1 Tim. 5, 23 und 2 Tim. 4, 13) ungezwungen zwei recht wichtige Grundsätze für das christliche Leben ableiten: aus der ersten Stelle der, daß eine überspannte Askese gänzlich nicht nach dem Geiste des Evangeliums sei; aus der andern Stelle der, daß nur eine falsche Geistlichkeit die geringfügigen Dinge dieses Lebens verachtet und sich darüber erhaben dünkt. Schriftäussprüche aber, die so lehrhaftig sind, sind wahrlich nicht unbedeutend und unwürdig der Eingebung des Heiligen Geistes.” Quenstedt I, 103: Aliud est, rem aliquam esse leviculam, si in se spectetur et iuxta aestimationem hominum, et aliud, eandem esse leviculam, si finem attendas et sapientissimum Dei consilium. Multa in Scripturis levia videntur (quale est etiam illud de penula, quam Paulus in Troade apud Carpum reliquerat, 2 Tim. 4, 13), ad quae existimant indignum esse, ut deducamus Spiritus Sancti maiestatem, quae tamen magni momenti sunt, si finem spectemus, Rom. 15, 4, et sapientissimum Dei consilium, quo etiam talia divinis literis inserta sunt. Philippi, Glaubenslehre 3 I, 261: „Aber der von der Kritik so hart mitgenommene Mantel zu Troas, in den schon die Anomöer ihren Unglauben zu hüllen liebten, und die Bücher, sonderlich aber das Pergament 2 Tim. 4, 13? Und nun gar die diätetische Vorschrift des Apostels: ,Trinke nicht mehr Wasser, sondern brauche ein wenig Wein um deines Magens willen, und daß du oft krank bist', 1 Tim. 5, 23. Wir wollen uns nicht wundern, wenn unsere modernen Naturalisten, denen in Essen und Trinken, in Kleidung und, wenn es hoch kommt, in Büchern, namentlich in selbstverfaßten, und Pergament das ganze Heil der Menschheit besteht, mit nächstem die Sache umkehren und nur noch diese Stellen in der Schrift für inspiriert ausgeben. Was aber die Sache selbst betrifft, so ist doch die höhere, sittliche Beziehung in beiden Aussprüchen leicht erkennbar. Der letztere beugt ebenso einer falschen, überspannten Askese als einem unmäßigen Gebrauche der irdischen Gottesgaben vor, lehrt ebensowohl im konkreten Falle, daß alle Kreatur Gottes gut und nichts verwerflich, das mit Danksagung empfangen wird, 1 Tim. 4,4, als auch des Leibes zu warten, doch also, daß er nicht geil werde, Röm. 13, 14. Der erste Ausspruch aber zeigt uns, wie mit der eifrigsten Verwaltung selbst des
307 > Die Heilige Schrift. [English ed. ~ 254-255]
Überhaupt: Wer davon redet, daß es des Heiligen Geistes nicht würdig sei, so kleiner menschlicher Dinge, als da sind Essen, Trinken, Kleidung usw., in der Schrift Erwähnung zu tun, der muß zuvor, vergessen haben, daß der ewige Sohn Gottes es nicht unter seiner Würde erachtet hat, aus der Jungfrau Maria eine menschliche Natur in fein göttliches Ich aufzunehmen, in Windeln gewickelt und in eine Krippe gelegt zu werden. Wer anbetend vor dem Wunder in der Krippe zu Bethlehem steht, der findet es nicht mehr befremdlich, sondern ganz in der Ordnung, daß in der Schrift, die Gottes Wort ist, so viel „menschliche Kleinigkeiten” erwähnt werden. Gott liebt ja die Menschen samt ihren Kleinigkeiten. Luther:848) „Mose spricht zu Pharao 2 Mos. 10: ‘Unser Vieh soll mit uns ziehen und nicht eine Klaue dahinten bleiben.' Es sollen nicht allein die Männer, Weiber, Kinder und das Vieh aus Ägypten ziehen, sondern alles, was wir haben, auch die allergeringsten Klauen, wollen wir nicht dahinten bleiben lassen. . . . Ja, höre Christum, der macht es noch besser, Matth. 10: ‘Nun aber sind auch eure Haare auf dem Haupte alle gezählet.' Lieber, was ist doch geringer und verächtlicher am ganzen Leibe des Menschen denn ein Haar oder ein Nagel? Und dieselbigen sind doch auch gezählet, und der Vater im Himmel sorgt dafür. Auf solche Weise soll man handeln von den Exempeln der geringen und schlechten Werke der Heiligen, auf daß wir daraus gelehrt und getröstet werden mögen.” Sofern wir uns an den menschlichen Kleinigkeiten in der Schrift stoßen und ärgern, ist dies ein sicherer Beweis, entweder daß wir die Menschwerdung des Sohnes Gottes gar nicht glauben, oder daß uns doch diese zentrale Wahrheit bis zum Vergessen in den Hintergrund getreten ist. Darauf gehen ja die bekannten ermahnenden und warnenden Worte Luthers:849) „Ich bitte und warne treulich einen jeden frommen Christen, daß er sich nicht stoße an der einfältigen Rede und Geschichte, so ihm oft begegnen wird, sondern zweifle nicht daran, wie schlecht es sich immer ansehen läßt, es seien eitel Worte, Werke, Gerichte und Geschichte der hohen göttlichen Majestät und Weisheit. Denn dies ist die Schrift, die alle Weisen und Klugen zu Narren macht und allein den Kleinen und Albernen offen steht, wie Christus sagt Matth.
-----------------------------
höchsten Berufes im Reiche Gottes auch die treue Sorgfalt für das anscheinend Geringfügigste Wohl vereinbar ist, ja, wie das eine das andere nicht aus-, sondern einschließt.”
848) St. L. II, 470. 849) St. L. XIV, 3. 4.
308 > Die Heilige Schrift. [English ed. ~ 255-256]
11, 25. Darum laß deinen Dünkel und Fühlen fahren und halte von dieser Schrift als von dem allerhöchsten, edelsten Heiligtum, als von der allerreichsten Fundgrube, die nimmer ganz ausgegründet werden mag, auf daß du die göttliche Weisheit finden mögest, welche Gott hier so albern und schlecht vorleget, daß er allen Hochmut dämpfe. Hier wirst du die Windeln und die Krippen finden, da Christus inne liegt, dahin auch der Engel die Hirten weifet, Luk. 2, 11. Schlechte und geringe Windeln sind es, aber teuer ist der Schatz, Christus, der drinnen liegt.”
Besonders sollen aber in der Schrift sich findende Solözismen, Barbarismen, verfehlte Satzkonstruktionen und ähnliche Dinge die Annahme der Inspiration der Schrift unmöglich machen. Am ausführlichsten hat vielleicht Kahnis in seinem Kampf wider die Inspiration der Schrift alles das zusammengestellt, was nach seiner Meinung Wider die Würde des Heiligen Geistes ist. Er schreibt: 850) „Denkt eine Inspirationslehre, welche alle Solözismen und Barbarismen der apostolischen Schriften, alle verfehlten Konstruktionen des Paulus. . . dem Heiligen Geiste zuschreibt, wirklich würdig vom Heiligen Geiste?” Den Dogmatikern wird es als eine Beschränktheit angerechnet, daß sie zwar Hebraismen, aber keine Solözismen und Barbarismen in der Schrift zugeben wollen.
Was zunächst die Solözismen betrifft, so ist, wie auch Quenstedt erinnert und nachweist, das Wort „Solözismus” nicht immer in demselben Sinne gebraucht worden.851) Versteht man darunter einen „fehlerhaften Volksdialekt” oder eine Abweichung vom sogenannten klassischen Griechisch, so wird darüber bei den „Barbarismen” sogleich das Nötige gesagt werden. Versteht man aber unter „Solözismus” einen Verstoß gegen die grammatischen Regeln einer Sprache, so sagt in bezug auf diesen Punkt Winer vom Neuen Testament: 852) „Das Neue Testament ist grammatisch, was die einzelnen Sprachregeln betrifft, ganz griechisch geschrieben.” Wer das Neue Testament in bezug auf diesen Punkt prüft, wird Winer zustimmen. Aber auch den wilden Reden von „Barbarismen” muß jeder vernünftige Sinn abgesprochen werden.
----------------------------------
850) So in der ersten Auflage seiner Dogmatik, zitiert bei Baier-Walther 1,102 f. In der zweiten Auflage in etwas gemilderter Form I,281. 284 ff. 293 ff.
851) Systema I, 119. Interessante Angaben über den Gebrauch des Wortes Solözismus finden sich auch in The Century Dictionary and Cyclopedia, VII, 5755.
852) Grammatik des neutestamentl. Sprachidioms 6, S. 36.
309 > Die Heilige Schrift. [English ed. ~ 256]
Das Neue Testament ist bekanntlich im sogenannten κοινή διάλεκτος geschrieben, das heißt, in dem Griechisch, das seit Alexander dem Großen nach und nach allgemeine Welt- und Verkehrssprache geworden war. Ebeling sagt von den neutestamentlichen Schreibern:853) „Sie schrieben das zu ihrer Zeit im ganzen römischen Reiche als allgemeine Umgangssprache verbreitete hellenistische Griechisch.” Und kurz vorher bemerkt Ebeling, „daß Wortschatz und Sprachgebrauch des Neuen Testaments in keiner Weise allein steht, sondern der angehört und sich vor allem auch in Briefen, Berichten, Gesuchen, Rechnungen, Kontrakten, Testamenten und dergleichen findet, also in der Sprache des alltäglichen Verkehrs und des Volkes”. Robertson: "It is not speculation to speak of the κοινή as a world-speech, for the inscriptions in the κοινή testify to its spread over Asia, Egypt, Greece, Italy, Sicily, and the isles of the sea. . . . The κοινή was in such general use that the Roman Senate and imperial governors had the decrees translated into the world-language and scattered over the empire. It is significant that the Greek speech becomes one instead of many dialects at the very time that the Roman rule sweeps over the world.” 854) So liegt der Grund auf der Hand, weshalb die heiligen Schreiber im κοινή διάλεκτος das ist, in der Weltsprache oder der allgemeinen Umgangssprache, schrieben und nach der Intention des Heiligen Geistes, der in ihnen war,855) schreiben sollten. Sie hatten ja einen Beruf an die Welt 856) Daher wollten und sollten sie, wie in ihrer mündlichen Verkündigung, so auch in ihren Schriften, nicht etwa bloß von einem Teil des Volkes, etwa dem klassisch gebildeten Teil, sondern vom ganzen Volke verstanden werden. Handelte es sich doch um die Seligkeit des ganzen Volkes und der ganzen Menschenwelt.857) Wie trefflich die heiligen Apostel
------------------------------
853) Wörterbuch zum Neuen Testament 1913, Vorrede III.
854) p. 54. über den Ausdruck „hellenistisches” Griechisch Winer, S. 26 f.; Blaß-Debrumer, Neutest. Gr.5, S. 1.
855) 1 Petr. 1, 12; 1 Kor. 2, 15; 2 Kor. 13, 3.
856) Matth. 28, 18—20; Mark. 16, 15. 16; Luk. 24, 46. 47.
857) D. A. L. Gräbner nennt (Theol. Quarterly, 1897, p. 146) das neutestamentliche Griechisch “a type of Greek” “which rendered the New Testament highly adapted to its intended use for doctrine, reproof, correction, and instruction in righteousness, not to men of polite education only, but to the people at large, to entire congregations of hearers to whom these books were to be read and interpreted, and who should themselves be readers searching the Scriptures of the New Testament as well as of the Old.”
310 > Die Heilige Schrift. [English ed. ~ 256-257]
beim Gebrauch der allgemeinen Volks- und Verkehrssprache ihren Zweck, allgemein verstanden zu werden, erreichten, geht daraus hervor, daß sie es nicht für nötig hielten, mit ihren Briefen auch zugleich einen Kommentar zu übersenden. Wir erkennen klar, daß die apostolischen Briefe nicht nur von den Lehrern der Gemeinden, sondern von den Gemeinden selbst, also vom „Volke”, verstanden wurden, und zwar beim bloßen Vorlesen der Briefe. Paulus schreibt an die Christen zu Kolossä (4, 16): „Wenn die Epistel bei euch gelesen ist, so schaffet, daß sie auch in der Gemeinde zu Laodicea gelesen werde, und daß ihr die von Laodicea leset”, und an die Thessalonicher (1 Thess. 5,27): „Ich beschwöre euch bei dem HErrn, daß ihr diese Epistel lesen lasset allen heiligen Brüdern.” Aber selbst abgesehen von dem Zweck, daß die Apostel gerade auch in ihren Briefen von jedermann verstanden werden wollten und sollten, so offenbart es einen großen Unverstand, Abweichungen vom „klassischen Griechisch” als Barbarismen zu bezeichnen. Der Unverstand ist so groß, daß man fast mit Unwillen darangeht, ihn auch nur zu berücksichtigen. Der Anklage auf Barbarismen wegen Abweichungen vom klassischen Griechisch liegt der unsinnige, auch aller natürlichen Vernunft widersprechende Gedanke zugrunde, als ob es für den Heiligen Geist anständiger gewesen wäre, wie Demosthenes oder Plato zu reden, anstatt sich der Sprache des Volkes zu bedienen. Mit Recht gilt doch auch in bezug auf die Sprache: „Vor Gott ist nichts klein, weil vor ihm nichts groß ist.” Und daher haben die Dogmatiker recht, wenn sie als Grundsatz festhalten, daß alle Urteile über das Griechische des Neuen Testaments, die einen Tadel ausdrücken, ungehörig seien und unter Christen nicht gefunden werden sollten.858) Die griechische Sprache, wie sie uns im Neuen Testament vorliegt, und natürlich auch die hebräische Sprache des Alten Testaments sind heilige Sprachen, vor allen Sprachen, die es sonst noch in der Welt gibt. Selbst Cremer sagt 859) von dem Griechischen des Neuen Testaments, daß es zum „Organ des Geistes Christi wurde”, wiewohl das nicht ganz zu der Stellung paßt, die Cremer sonst zur Inspiration der Schrift einnimmt. Sogar Rothe sagt: 860) „Man kann in der Tat mit gutem Fug von einer Sprache des Heiligen Geistes reden.” Wir sollten nie vergessen:
-------------------------------
858) Quenstedt 1,118 sq. unter status controversiae.
859) Wörterbuch der neutest. Gräzität 3 Vorrede V.
860) Zitiert von Cremer a. a. O., Vorrede VI, aus Rothes Schrift „Zur Dogmatik”, Gotha 1863, S. 238.
311 > Die Heilige Schrift. [English ed. ~ 257-258]
Die griechische Sprache des Neuen Testaments ist gerade das Griechisch, in dem Gott bis an den Jüngsten Tag zur Welt redet und an das Gott alle Welt bis an den Jüngsten Tag bindet, weil es Gottes Originaltext ist, nach dem auch alle Übersetzungen sich richten müssen. So ist allerdings jeder Tadel des neutestamentlichen Griechisch anstößig und ärgerlich, weil jeder Tadel einen Tadel Gottes in sich schließt. Deshalb sind, wie bereits bemerkt wurde, die Dogmatiker mit Recht so empfindlich, wenn von Solözismen und Barbarismen im Neuen Testament geredet wird, weil diese Ausdrücke zu ihrer Zeit, wie dies auch zu unserer Zeit geschieht, in einem Übeln Sinne gebraucht wurden.861) So anstößig und ärgerlich es wäre, den Sohn Gottes einen „Barbaren” zu nennen, weil er, als die Zeit erfüllt war, aus der Jungfrau Maria eine menschliche Natur an sich nahm, so anstößig und ärgerlich ist es, in bezug auf das Wort des Sohnes Gottes, das ist, in bezug auf die Heilige Schrift, von „Barbarismen” zu reden, weil dies Wort in der Gestalt der griechischen Sprache erschienen ist, die in der Fülle der Zeit die allgemeine Volks- und Verkehrssprache war.862)
----------------------------
861) Quenstedt 1,119 unter ϑέοις: Stylus Novi Testamenti ab omni barbarismorum et soloecismorum labe immunis est. Robertson berichtet 3, p. 50: "Deissmann strongly disapproves the term 'vulgar Greek,’ ‘bad Greek,’ ‘Graecitas fatiscens’ in contrast with ‘classic Greek.’” Die gerügten Ausdrücke sind nicht bloß sprachgeschichtlich ungehörig, sondern vor allen Dingen vom christlichen Standpunkt aus ärgerlich, weil die Christen wissen, daß das neutestamentliche Griechisch „Christi Organ” ist. Doch ist zu bemerken, daß der Ausdruck "vulgar Greek”, „Vulgärsprache”, in der Gegenwart nicht immer im tadelnden Sinne, sondern auch als Synonymum von „Volkssprache” gebraucht wird.
862) Wir möchten in diesem Zusammenhänge noch an eine Vorsicht erinnern, die bei der Vergleichung des neutestamentlichen mit dem sogenannten klassischen Griechisch am Platze ist. Wer das Griechische des Neuen Testaments nach Wortschatz und Diktion kennt, wird jede Übereinstimmung des neutestamentlichen mit dem klassischen Griechisch interessant finden. Es ist aber zu weit gegangen, wenn wir von dieser Übereinstimmung so reden, als ob wir dadurch der Sprache des Neuen Testaments mehr Ansehen und Würde zuwenden wollten oder könnten. Damit ist im Grunde der rechte Beurteilungsmaßstab preisgegeben. Das einzigartige Ansehen und die einzigartige Würde des neutestamentlichen Griechisch besteht darin, daß es das „griechische Organ des Geistes Christi” ist, wie Cremer es ausdrückt. Zudem ist nicht zu vergessen, daß wir bei solchen Worten wie άλήϑεια, ευαγγέλιον, χάρις, πίατις, usw. nur einen Gleichklang in Worten haben, da die eigentümlich christliche Bedeutung dieser Worte allen Schriftstellern klassischer Gräzität völlig unbekannt war (1 Kor. 2, 9). Dasselbe gilt natürlich auch von Ausdrücken wie ., auf das Leben bezogen, weil alles, was Nichtchristen darunter verstehen, außerhalb des Christentums gelegen ist.
312 > Die Heilige Schrift. [English ed. ~ 258-259]
Was die sogenannten „Hebraismen” („das jüdische Kolorit” des neutestamentlichen Griechisch) betrifft, so gehören sie, soweit sie wirklich vorhanden sind,863) mit Fug und Recht in das neutestamentliche Griechisch hinein, weil das Neue Testament keine neue Religion bringt, sondern nur die Erfüllung des Alten Testaments ist. D. A. L. Gräbner schreibt:864) "The Greek of the New Testament was to bear the stamp and imprint of the country where Jesus lived and died, and of that Church and people of which New Testament Christianity is, not in form, but as to its spiritual nature, the true continuation, its adherents living by the same faith in the same Savior as Abraham, their father according to the faith.” Darauf weisen auch die Dogmatiker hin, indem sie darlegen, daß Hebraismen im Neuen Testament wegen des Zusammenhangs mit dem Alten selbstverständlich und ganz in Ordnung sind, während sie Solözismen und Barbarismen, als einen Tadel Gottes einschließend, abweisen.865)
Bei den „verfehlten Konstruktionen des Apostels Paulus”, die nach Kahnis' Ansicht der Würde des Heiligen Geistes widersprechen, ist wohl vornehmlich an sogenannte Anakolutha gedacht. Unter Anakolutha verstehen wir gewöhnlich solche unregelmäßige Satzbildungen, in denen die angefangene Konstruktion nicht durchgeführt ist, weil der Redner oder Schreiber durch zuströmende Gedanken von der begonnenen Konstruktion abgelenkt wird. Winer sagt in bezug auf die Genesis der abgebrochenen Satzbildung: 866) „Bei lebhaften, mit dem Gedanken mehr als mit dem sprachlichen Ausdruck beschäftigten Geistern sind Anakoluthien auch am häufigsten zu erwarten.” In populärer Redeweise nennen wir das „aus der Konstruktion fallen”. Der verständige Redner oder Schreiber fällt unwillkürlich oder absichtlich aus der Konstruktion, wenn er fühlt oder merkt, daß dies der Deutlichkeit der Darstellung oder der Hervorhebung einzelner Begriffe dient. Wir finden daher Anakoluthien
------------------------
863) Ihre Zahl ist übertrieben worden. Vgl. Winer, Gr.6, S. 26 ff., § 3: „Hebräisch-aramäisches Kolorit der alttestamentlichen Diktion.”
864) Theological Quarterly, p. 22.
865) Quenstedt I, 119: Aliud est εβραίζειν, aliud βαρβαρίζειν. Illud de Novo Testamento affirmamus, hoc negamus. . . . Placuit namque Deo con-nectere utrumque foedus atque in Vetere et Novo Testamento vere admirandam minimeque fortuitam, tam in rebus quam in verbis et phrasibus, servare conformitatem. . . . Barbarum Scripturae Sacrae contemtorem esse oportet, qui ipsam barbarismorum accusare audet.
866) Gr.6, S. 500.
313 > Die Heilige Schrift. [English ed. ~ 259-260]
gerade auch bei den griechischen und lateinischen Schriftstellern aus der klassischen Periode, und alte und neue Grammatiker haben ziemlich viel Artiges und Lobenswertes über Anakoluthien zu sagen. Sie streichen sie nicht als Fehler an, sondern weisen auf ihre Psychologische Entstehung und sodann auch auf ihren Nutzen hin, weil sie in den Dienst der deutlichen Darstellung und der Betonung wichtiger Gedanken treten. Weil nun der Heilige Geist auch ein Geist der Deutlichkeit der Darstellung und der Betonung besonders wichtiger Gedanken ist, so hat er es nicht für einen Abbruch an seiner Würde erachtet, sich, wie der menschlichen Sprache überhaupt, so auch insonderheit der Anakolutha zu bedienen.867) Was die Grammatiker zur Erklärung und zum Lobe unterbrochener Satzkonstruktion zu sagen haben, kann man in den größeren Grammatiken älterer und neuer Zeit Nachlesen. Wir möchten hierhersetzen, was der alte Matthiä über „Abweichungen von der regelmäßigen Konstruktion” in seiner „Ausführlichen Griechischen Grammatik”, S. 1296, sagt. Es heißt dort: „Die besten griechischen Schriftsteller verlassen sehr oft die logisch-richtige oder auch die sonst durch den Sprachgebrauch
-------------------------
867) Beispiele bei Winer, S. 500 ff. Gal. 2, 6 haben wir, wie auch in Luthers Übersetzung hervortritt, eine anakoluthische Struktur. Aus den Anfang des Satzes από δε των δοκονντων εϊναί τι sollte in regelmäßiger Struktur ein Abschluß in passivischer Wendung folgen, etwa: ονδεν έδιδάχ&ην. (Winer.) Aber durch den Zwischensatz φηήΐφεηΐαβ όποΐοί ποτε ήοαν usw. veranlaßt, folgt ein Abschluß in aktivischer (medialer) Wendung. Robertson, p. 438: "One of the most striking anacolutha in Paul’s epistles is found at the end of Rom. 5, 12, where the apodosis to the ώσπερ clause is wanting. The next sentence (αχρι γάρ) takes up the subordinate clause εψ ω πάντες ήμαρτον, and the comparison is never completed. In verse 18 a new comparison is drawn in complete form.” Die neueren neutestamentlichen Sprachforscher, wie Winer, Robertson, Blaß (Blaß-Debrunner, Gr.5, 1921, S. 269 ff.), gehen in der Erklärung der Anakolutha, wo sie im Neuen Testament Vorkommen, nicht selten weit auseinander. Es schadet das nichts, weil der aufmerksame Bibelleser die betreffenden Stellen sehr Wohl versteht, ohne daß ihm die Anakolutha erklärt werden. Gal. 2, 6 z. B. wird von jedem Bibelleser ohne Sezierung der Struktur verstanden. ' Während Winer, Robertson, Buttmann u. a. über unregelmäßige Konstruktionen sachlich reden, ist es bei Blaß-Debrunner leider anders. Vgl. z. B. S. 271: „In ein reines Wirrsal verläuft die Konstruktion von 1 Tim. 1, 3 ff. infolge der unaufhörlichen Einschiebsel und Anhängsel.” Das „Wirrsal” hat seinen Sitz anderswo als in den Worten Pauli. Trotz des Anakoluths reiht sich in dem ganzen gewaltigen Abschnitt jeder Gedanke klar an den ändern, bis der Apostel V. 17 mit schließt. Mit Recht rechnet Buttmann (Gr., S. 331) die Stelle 1 Tim. 1, 3 ff. zu den Stellen, in welchen „infolge des Gedankenreichtums und Fülle des Herzens” die angefangene Struktur verlassen wird.
314 > Die Heilige Schrift. [English ed. ~ 260]
eingeführte Ordnung oder Beziehung der Wörter eines Satzes, um dadurch entweder den Nachdruck, der auf einem oder mehreren Wörtern liegt, oder die Deutlichkeit zu befördern oder auch der Rede dadurch die ungezwungene Leichtigkeit des Gesprächstones und dadurch Anmut zu geben. Die klassischen attischen Schriftsteller tun dies nie ohne eine dieser Rücksichten; die späteren Redekünstler suchen darin eine Eleganz, die aber eben dadurch verloren geht, daß sie gesucht ist. Solche Abweichungen von der regelmäßigen Konstruktion heißen Anakolutha, das heißt, Konstruktionen, in denen ein Satz anders schließt, als der Anfang desselben erwarten ließ oder erforderte, oder wenn das nicht folgt (άκολονΰέω mit dem ά priv.), was nach der angefangenen Konstruktion folgen sollte. Solche Abweichungen von der grammatisch- oder logisch-richtigen Konstruktion gründen sich nicht auf ein Versehen, sondern auf die Absicht des Schriftstellers und haben immer eine Veranlassung.”868)
Auf einzelne Schrift stellen, als angeblich der Inspiration widersprechend, ist hingewiesen worden. So auf 1 Kor. 7,10.12.25, wo Paulus ausdrücklich sage, daß nicht alles, was er schreibe, des HErrn Gebot sei. Während es V. 10 heiße: „Den Ehelichen gebiete nicht ich, sondern der HErr”, füge er V. 12 hinzu: „Den andern aber sage ich, nicht der HErr”, und V. 26: „Von den Jungfrauen habe ich kein Gebot des HErrn.” Zur Widerlegung dieses Einwands genügt, was Luther zur Stelle bemerkt:869) „Weil hier St. Paulus bezeugte, dies Stück rede nicht der HErr, sondern er, gibt er zu verstehen, daß es nicht von Gott geboten, sondern frei sei, sonst oder so zu tun. Denn er unterscheidet seine Worte von dem Worte des HErrn, daß des HErrn Wort soll Gebot, sein Wort aber soll Rat sein.” Noch anders ausgedrückt: Wir haben es hier mit einem inspirierten Rat des Apostels zu tun. Der Apostel unterscheidet hier nicht zwischen inspirierten und nicht-inspirierten Teilen seines Schreibens, sondern er gibt an, was in dem von ihm aus Inspiration Geschriebenen die Gewissen verbin-
-----------------------------
868) Ausführl. griech. Gr.2, Leipzig 1825. Auch Alex. Buttmann handelt in seiner neutest. Gr., die sich an Ph. Buttmanns Griech. Gr. anschließt, ausführlicher über das Anakoluth, S. 324 ff. Sehr ausführlich behandelt diesen Gegenstand, zum Teil im Anschluß an Winer, Robertson, Grammars 3, p. 435 ff. N. T., p. 435 ff.: “The very jolt that is given by the anacoluthon is often successful in making more emphasis. The attention is drawn anew to the sentence to see what is the matter.
869) St. L. VIII, 1058; Walch VIII, 1109.
315 > Die Heilige Schrift. [English ed. ~ 261-262]
dendes Gebot Gottes und was nur sein, des Apostels, die Gewissen freilassender christlicher Rat sei. Luthers. Unterscheidung zwischen Gebot und Rat an dieser Stelle ist streng festzuhalten. Sonst liegt ein Mißverstand der Stelle vor, der Unachtsame in Verlegenheit bringen kann. Philippi sagt zunächst ganz richtig, der Apostel unterscheide zwischen einem „unbedingten Gebote des HErrn hinsichtlich eines sittlichen necessarium und freiem Ratschlage von seiner Seite hinsichtlich eines sittlichen άδιάφορον”. Wenn Philippi aber hinzufügt, das δοκώ δε κάγώ usw. (V. 40: „Ich halte aber, ich habe auch den Geist Gottes”) „im Munde eines Apostels läßt sachlich keinen Widerspruch aufkommen”, so ist das ein Mißverstand, der den Apostel in Widerspruch mit sich selbst setzen würde. Paulus läßt nicht nur Widerspruch gegen seinen „freien Ratschlag” aufkommen, sondern sagt wiederholt und ausdrücklich, daß jeder, dem sein Ratschlag nicht passend erscheine, frei sei, ihn zu befolgen oder nicht. — Auch der aus 1 Kor. 1,16 gegen die Inspiration erhobene Einwurf beruht auf einer Verwechslung von zwei Dingen, die nichts miteinander zu tun haben. Es ist nämlich gesagt worden, weil der Apostel an dieser Stelle die Möglichkeit eines Gedächtnisirrtums in bezug auf die Zahl der von ihm persönlich Getauften zugestehe, so könnten seine Briefe unmöglich aus Inspiration des Heiligen Geistes geschrieben sein, weil beim Heiligen Geist Gedächtnisirrtümer unmöglich seien. Auf diesen Einwand ist kurz und treffend geantwortet worden: Wie die Inspiration die heiligen Schreiber nicht persönlich sündlos in ihrem Leben machte, so auch nicht unfehlbar oder allwissend in bezug auf die Ereignisse ihres Lebens. — Gegen die Inspiration ist auch der kurze Privatbrief an Philemon ins Feld geführt worden, weil dieser Brief in einem so zarten und höflichen Ton gehalten sei. „Soll man sich denken”, meinte Kahnis, „daß der Apostel Paulus, als er jenen zarten, urbanen, von einem leisen Humor [!] berührten Brief an Philemon schrieb, nur aufzeichnete, was der Heilige Geist ihm diktierte?"870) Allerdings kann man sich das denken, wenn man bedenkt, daß es des Heiligen Geistes Weise ist, die Christen zarte, liebliche, höfliche, wohllautende Rede zu lehren. Kol. 4,6: „Eure Rede sei allezeit lieblich” (εν χάριτι). Phil. 4,8: „Was lieblich, was wohl lautet (προσφιλή — εύφημα), — ist etwa eine Tugend, ist etwa ein Lob, dem denket nach.” Den leisen, dem Heiligen Geist angeblich unanständigen „Humor” findet Kahnis wohl
----------------------------
870) Zitat bei Baier-Walther 1,102.
316 > Die Heilige Schrift. [English ed. ~ 262-263]
Vornehmlich in den Worten V. 18—20, wo Paulus Philemon auffordert, er möge doch die Schuld, die der entlaufene, dann aber durch Paulus zu Christo bekehrte Sklave bei seinem Herrn habe, auf sein, Paulus', Konto übertragen. Der Apostel bedient sich hier allerdings einer Redeweise, die an eine Transaktion im Geschäftsleben erinnert: „Ich, Paulus, habe es geschrieben mit meiner Hand, ich will's bezahlen” (εγώ άποτίσω). Das klingt geschäftsmäßig, wie unser: I promise to pay. Aber Christen sollte dies „Geschäft” nicht ganz unbekannt sein, und sie sollten sich nicht daran stoßen. Das εγώ άποτίσω, ist doch nur das ins Konkrete übersetzte allgemein-christliche Gebot der Liebe: „Einer trage des andern Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen.”871) Und dies Gebot der Liebe, mit der die Christen einander lieben, fließt aus der Liebe, die Christus uns erzeigt hat, als er die Schuld der ganzen Sünderwelt auf sein Konto übertragen ließ, wie Paulus beiderlei Liebe, die für den andern eintritt, miteinander verbindet in den Worten: „Wandelt in der Liebe, gleichwie Christus uns hat geliebet und sich selbst dargegeben für uns zur Gabe und Opfer, Gott zu einem süßen Geruch.” 872) Wenn wir das, was Paulus im Briefe an Philemon von der Schuldübertragung sagt, als einen dem Heiligen Geist nicht anständigen „Humor” bezeichnen wollten, so würden wir damit offenbaren, daß unser Urteil nicht der Erkenntnis entstammt, die aus Gott ist. Die alte Kirche hat daher auch ohne Bedenken und Widerspruch dem Brief an Philemon einen Platz im Kanon eingeräumt.873) Luther urteilt 874) in seiner Vorrede zum Briefe an Philemon: „Diese Epistel zeiget ein meisterlich, lieblich Exempel christlicher Liebe. Denn da sehen wir, wie St. Paulus sich des armen Onesimi annimmt und ihn gegen seinen Herrn vertritt mit allem, das er vermag, und stellt sich nicht anders, denn als sei er selbst Onesimus, der sich versündigt habe. Doch tut er das nicht mit Gewalt oder Zwang, als er wohl Recht hätte, sondern äußert sich seines Rechten, damit er zwingt, daß Philemon sich seines Rechten auch verzeihen muß. Eben wie uns Christus getan hat gegen Gott dem Vater, also tut auch St. Paulus für Onesimus gegen Philemon. Denn Christus hat sich auch seines Rechten geäußert und mit Liebe und Demut den Vater überwunden, daß er seinen Zorn und Recht hat müssen legen und
-----------------------------
871) Gal. 6, 2. 872) Eph. 5, 2.
873) Vgl. Fürbringer, Einleitung in das N. T., S. 71.
874) St. L. XIV, 122.
317 > Die Heilige Schrift. [English ed. ~ 263]
uns zu Gnaden nehmen um Christi willen, der also ernstlich uns vertritt und sich unser so herzlich annimmt.”
Zu den Einwänden gegen die Inspiration gehört endlich auch der Hinweis auf böse Folgen, die angeblich mit der „alten Inspirationslehre” unzertrennlich verbunden sind. Die moderne Theologie, auch die „positive”, sieht, worauf wir wiederholt Hinweisen mußten, in der Identifizierung von Schrift und Gottes Wort ein „böses Erbe”, das uns die erste Kirche, die Kirche der Reformation, und sonderlich die Dogmatiker hinterlassen haben. „Intellektualismus”, ein bloßes Verstandeschristentum, sei die natürliche Konsequenz der Verbalinspiration oder der Gleichsetzung von Schrift und Gottes Wort.876) Diese angeblich böse Folge wurde schon behandelt. Wir weisen hier noch auf zwei angeblich böse Konsequenzen hin, die Prof. Zöckler - Greifswald anläßlich des Kierschen Handels besonders betonte und gegen „eine Rückkehr zur Schriftbeurteilung und behandlung des 17. Jahrhunderts” einwendete. Diese bösen Konsequenzen seien der Untergang der „theologischen Wissenschaft” und die Verwandlung der Staatskirchen in Freikirchen. P. Schulze-Walsleben hatte in einem Vortrag auf der „Augustkonferenz” (1891) u.a. erklärt: „Wir finden keinen Anlaß, die Stellung zur Schrift aufzugeben, welche die Kirche von Anbeginn zu ihr eingenommen hat, und bleiben dabei, das als ihre Herrlichkeit zu preisen, daß durch sie Gott zu den Menschen redet, und daß sie sein unfehlbares Wort ist.” Dagegen schrieb Prof. Zöckler in der „Evangelischen Kirchenzeitung”, deren Redakteur er damals war, ziemlich ausführlich und schloß seine Ausführung mit den Worten: „Man wähne nicht, theologische Träger, geschickt zur Ausführung eines etwaigen Repristinationsplanes jener Art, aus den Lehranstalten unserer Staatskirchen beziehen oder überhaupt
---------------------------
875) Allenfalls kann man hier, Philemon V. 18—20, mit mehreren Auslegern von einem „Scherz” auf seiten des Apostels reden. Es ist aber ein „feiner, geistlicher” Scherz. So schreibt z. B. Vilmar in seiner Erklärung des Neuen Testaments II, 427: „Zuletzt scherzt der Apostel in feiner Weise, indem er gerne den dem Philemon durch die Entlausung des Onesimus zugefügten Schaden auf seine Rechnung will gesetzt haben; er will selbst, wie er eigenhändig an ihn geschrieben, auch in eigener Person mit ihm darüber abrechnen, wobei er denn gar nicht mit in Anschlag bringen will, daß Philemon sich selbst ihm [dem Apostel, durch den er bekehrt worden war] schuldig ist.” Vgl. bei Calov, Biblia Illustrata z. St., die Zeugnisse aus den Kirchenvätern über den feinen geistlichen Ton des Briefes an Philemon.
876) Vgl. S. 70—73.
318 > Die Heilige Schrift. [English ed. ~ 263-264]
mit staatskirchlicher theologischer Wissenschaft noch lung behalten zu können, falls man den zur lutherischen Scholastik und ihrem absoluten Theopneustiebegriff zurückführenden Weg ernstlich beschritte. Die volle Konsequenz des absoluten Verbalinspirationsglaubens ist das Freikirchentum. Man gehe über zu jener im amerikanischen Westen 877) dermalen eifrig kultivierten Position — und das Ausscheiden aus unsern Landes- und Volkskirchen würde bald genug nicht mehr zu vermeiden sein.” Was hier über die Gefahr für die „theologische Wissenschaft” gesagt ist, ist nicht so des Sinnes bar, wie es zunächst klingt. Wir müssen uns nur vergegenwärtigen, was Zöckler mit der gesamten modernen Theologie unter theologischer Wissenschaft versteht. Er versteht darunter die theologische Wissenschaft, die nicht mehr weiß, daß das Wort der Propheten und Apostel Christi Wort ist, und die daher einen Basiswechsel vorgenommen hat. Sie will die christliche Lehre nicht aus Christi Wort, der Heiligen Schrift, sondern aus dem Innern des theologisierenden Subjekts beziehen und normieren.878) Diese theologische Wissenschaft verträgt sich allerdings nicht mit einer γραφή, der das Prädikat θεόπνευστος zukommt. Die Heilige Schrift, welche durch Inspiration Gottes unfehlbares Wort ist, verurteilt hart jede theologische Wissenschaft, die sich auf die Los-Von-der-Schrift-Bewegung eingelassen hat. Sie sagt: „So jemand nicht bleibt bei den heilsamen Worten unsers HErrn JEsu Christi . . ., der ist verdüstert und weiß nichts.”879) Es geht der theologischen Wissenschaft, die ihre Basis aus der Heiligen Schrift in die „sturmfreie Burg” des theologisierenden Subjekts verlegt hat, wie dem Götzen Dagon, als man die Bundeslade Israels neben ihn gestellt hatte: 880) „Da die von Asdod des andern Morgens frühe aufstanden, fanden sie Dagon auf seinem Antlitz liegen auf der Erde vor der Lade des HErrn. Aber sie nahmen den Dagon und setzten ihn wieder an seinen Ort. Da sie aber des andern Morgens frühe aufstanden, fanden sie Dagon abermal auf seinem Antlitz liegen auf der Erde vor der Lade des HErrn, aber sein Haupt und seine
-------------------------------
877) Die „Missourier” sind gemeint.
878) Wie nachdrücklich Zöckler die Inspiration der Schrift leugnet und daher auch die „richterliche Autorität”, die „Perspikuität” und die „Suffizienz” der Schrift in Frage stellt, geht hervor aus seinen Darlegungen in seinem „Handbuch der theol. Wissenschaften” 2 III, 148—151.
879) 1 Tim. 6, 3. 4. 880) 1 Sam. 5, 2 ff.
319 > Die Heilige Schrift. [English ed. ~ 264-265]
beiden Hände abgehauen auf der Schwelle, daß der Stumpf allein drauf lag.” Es ist leicht verständlich, daß die Leute zu Asdod im Selbsterhaltungstrieb sprachen: „Laßt die Lade des Gottes Israels nicht bei uns bleiben; denn seine Hand ist zu hart über uns und unsern Gott Dagon.” So ist es auch leicht verständlich, daß die modernen Theologen aus Selbsterhaltungstrieb bestrebt sind, die Schrift als Gottes unfehlbares Wort in der Kirche nicht bleiben zu lassen, weil eine so beschaffene Schrift zu hart ist über sie und ihre „theologische Wissenschaft”. Für die Kirche ist es aber doch besser, daß sie das Wort der Apostel und Propheten bei sich bleiben läßt, weil es her Grund (θεμέλιος) ist, auf dem sie steht, und hingegen der modernen Theologie mit ihrer „theologischen Wissenschaft” den Abschied gibt, weil diese „Wissenschaft” wegen ihrer Loslösung von den gesunden Worten unsers HErrn JEsu Christi auf Einbildung und Nichtwissen beruht (τετύφωται, μηδέν επιστάμενος). — Auch die Furcht, es möchte „die volle Konsequenz des absoluten Theopneustiebegriffs” zum Freikirchentum führen, ist nicht unbegründet. Die inspirierte Schrift lehrt nämlich ein Doppeltes, das hier in Betracht kommt: 1. daß die „Freikirche”, das ist, die vom Staat unabhängige Kirche, göttliche Ordnung ist;881) 2. daß den Christen von Gott geboten ist, von allen Lehrern zu weichen, die Zertrennung und Ärgernis anrichten neben der Lehre, die die Christen von den Aposteln oder — was dasselbe ist — von Christo gelernt haben.882) Daß aber die Staatskirchen solcher έτεροδιδασκαλοϋντες 883) voll waren und noch sind, ist allgemein zugestanden. Dasselbe gilt freilich gegenwärtig noch in demselben Mäße von den „Landes-Volkskirchen”, die man dort zu bewahren trachtet, wo bereits offiziell die Trennung von Kirche und Staat ausgesprochen worden ist. „Die volle Konsequenz des absoluten Verbalinspirationsglaubens” und das ist der rechte Glaube — treibt die Christen an allen Orten und zu allen Zeiten dazu, auch bei freikirchlicher Verfassung an der ungefälschten Lehre Christi, wie sie in der inspirierten Heiligen Schrift klar und irrtumslos ausgesprochen vorliegt, festzuhalten und dem Irrtum die kirchliche Gemeinschaft zu versagen.
------------------------------------
881) Luk. 22, 25. 26: „Die weltlichen Könige herrschen. . . . Ihr aber nicht also.” Matth. 23, 8: „Einer ist euer Meister, Christus.” Joh. 18, 36: „Mein Reich ist nicht von dieser Welt.”
882) Röm. 16, 17; 2 Joh. 9—11. 883) 1 Tim. 1, 3; 6, 3.
320 > Die Heilige Schrift. [English ed. ~ 265]
6. Geschichtliches zur Lehre von der Inspiration. ^
Daß Christus und die Apostel die Verbalinspiration sowohl der alttestamentlichen als der neutestamentlichen Schrift gelehrt haben, mußte vielfach bei der Bestimmung des Begriffs der christlichen Theologie dargelegt und dann ausführlicher unter den Abschnitten „Die Heilige Schrift ist im Unterschied von allen andern Schriften Gottes Wort” und „Die Heilige Schrift ist Gottes Wort, weil sie von Gott eingegeben oder inspiriert, ist” 884) nachgewiesen werden. Auch Rothe, der vielfach als ein Führer auf dem Gebiet der rechten modernen Schriftanschauung gilt,885) gibt zu, daß die Apostel Schrift und Gottes Wort identifiziert haben, wenn er auch hinreichend links steht, um offen zu bekennen, daß der Apostel Urteil für ihn nicht maßgebend sei.”886) Wenn Hofmann — nach dem Vorgänge Schleiermachers — behauptet,,887) daß Christus und die Apostel nicht auf „einzelne Aussprüche” und „Einzelworte”, sondern immer nur auf „das Schriftganze” oder das „einheitliche Schriftganze” sich berufen, also auch nicht die Verbalinspiration lehren, so hat Kliefoth das mit Recht, wie bereits erinnert wurde, eine „unvollziehbare Phrase” genannt.888) Hofmanns Behauptung gehört in die Klasse der Machtsprüche, die durch ihre Keckheit verblüffen, weil jeder Leser der Evangelien und der Briefe der Apostel weiß, daß das Gegenteil der Fall ist 889) — Daß die Kirchenväter die Verbalinspiration gelehrt haben, ist so evident, daß Cremer sie
--------------------------
884) S. 256 ff. 262 ff. 885) Nitzsche-Stephan, S. 255 ff.
886) Vgl. Philippi, Glaubenslehre 3, S. 299: „Das Faktum, daß die Apostel die ganze alttestamentliche Schrift als vom Heiligen Geiste inspiriertes Gotteswort, Gott selber also als auctor primarius Scripturae Sacrae betrachten, ist in der Tat so unwidersprechlich, daß selbst Rothe, S. 180 ff. (in seiner Schrift „Zur Dogmatik”, 1863), es nicht in Abrede nimmt, ja sogar zugesteht, daß unsere kirchlich-dogmatische Inspirationslehre sich auf die Autorität der Apostel berufen könne. Dennoch will er ebensowenig wie an die Lehre der Apostel überhaupt an die Lehre von dem Entstehungsgrunde und der Beschaffenheit des Alten Testaments gebunden sein.” Auch bei Meusel ist III, 459 auf das Zugeständnis Rothes hingewiesen: „Rothe erkennt an, daß die ganze Exegese und Hermeneutik des Neuen Testaments gegenüber dem Alten auf einer solchen Anschauung von der Inspiration beruhe. Ebendeshalb verwehrt ihm sein exegetisches Gewissen, sich in diesem Punkte an die Lehre der Apostel zu binden, und er stellt der ihrigen eine andere Inspirationstheorie gegenüber. Uns gilt das eigene Zeugnis der Schrift mehr.”
887) Schriftbeweis 2 I, 671 ff.
888) Vgl. hierüber die nähere Darlegung S. 243 f.
889) Matth. 4, 4. 7. 10; Joh. 10, 35 usw. — Röm. 4, 3. 6. 7; Gal. 3, 16 usw.
321 > Die Heilige Schrift. [English ed. ~ 266]
anklagt, bei ihnen finde sich „die Inspirationslehre der älteren Protestantischen Dogmatik”.890) Von neueren Theologen führt denselben Nachweis in bezug auf die Kirchenväter, freilich nicht tadelnd, sondern billigend und lobend, Rudelbach.891) — Was Luther und die Dogmatiker betrifft, so wird von der modernen Theologie allgemein zugestanden und bedauert, daß sie Schrift und Gottes Wort „identifiziert”, damit ein böses Erbe aus der ersten Kirche herübergenommen und leider auch zum Schaden der Kirche weitergegeben haben.892) Um im Reformator der Kirche wenigstens einen particeps criminis in nuce zu gewinnen, wird von den meisten neueren Theologen behauptet, daß bei Luther hie und da ein Ansatz zu einer „liberaleren Schriftauffassung” sich finde.893) Diese Behauptung widerspricht der geschichtlichen Wahrheit, wie unter dem folgenden Abschnitt zu zeigen ist. — Daß in den Symbolen der lutherischen Kirche die Verbalinspiration als unzweifelhaft feststehende Lehre vorausgesetzt ist, weil darin Schriftwort und Wort des Heiligen Geistes als synonyme Ausdrücke gebraucht werden,894)
-------------------------
890) RE.2 VI. 751.
891) Zeitschrift für d. luth. Theol. u. Kirche, 1840, 1. Heft, S. 18 f. Auch in Baiers Compendium Theologiae Historicae (nach seinem Tode herausgegeben von seinem Sohn, 1690) ist durch genügend Zitate der Nachweis geführt, daß die Kirchenväter die Verbalinspiration lehren. Quenstedt über Augustins Lehre von der Schrift, Systema I, 116. Vgl. in Chemnitz' Examen den langen Abschnitt: Testimonia veteris ecclesiae de Scriptura, Genfer Ausg. 1667, p. 39 sqq. Vorher legt Chemnitz dar, was die Schrift über sich selbst lehre. Aus dieser Darlegung wird klar Chemnitz' Stellung zur Schrift erkannt. Chemnitz sagt über den Beweis aus der Schrift für die Schrift a. a. O.: Quae hactenus ex ipsis Scripturae verbis adduximus, firmissima sunt testimonia, quibus pia mens tuto niti potest. Proponunt enim nobis ipsius Spiritus Sancti iudicium de Scriptura. Sicut enim veteres dicunt, de Deo nihil credendum esse, nisi ipso Deo revelante et testificante, ita etiam de Scriptura id credamus, quod ipsa Scriptura de se, imo quod ipse Spiritus Sanctus de opere suo iudicat et pronunciat. Chemnitz spricht sich also nicht „zurückhaltend” über die Inspiration der Schrift aus, wie hie und da von neueren Theologen behauptet worden ist.
892) Ihmels, Zentralfragen 2, S. 56 ff.
893) So auch R. Seeberg, Dogmengesch. II, 285 ff.
894) Augsb. Konfession, M. 66, 49: Cur toties prohibet Scriptura condere et audire traditiones? Cur vocat eas doctrinas daemoniorum (1 Tim. 4,1)? Num frustra haec praemonuit Spiritus Sanctus? Apologie, 107, 108: Num frustra existimant toties idem repeti? Num arbitrantur, excidisse Spiritui Sancto non animadvertenti has voces? Dieselbe, 74, 9: Habes igitur, lector,
322 > Die Heilige Schrift. [English ed. ~ 267]
wird auch in der Gegenwart allgemein zugestanden. Wenn die lutherisch sich nennenden Leugner der Inspiration einen Trost in der Tatsache finden, daß in den lutherischen Symbolen die Verbalinspiration zwar als feststehende Wahrheit vorausgesetzt, aber nicht in einem besondern Artikel gelehrt werde, so ist weder logisch noch psychologisch erkennbar, wie darin ein Trost für sie liegen könne. Daß unter den lutherischen Theologen des 17. Jahrhunderts Georg Calixt († 1656) die schriftgemäße Inspirationslehre aufgegeben hat, läßt sich nicht leugnen, weil er die Inspiration auf die Hauptsachen und das den heiligen Schreibern vorher Unbekannte beschränkte, in Nebensachen aber und in den Dingen, die den Schreibern vorher bekannt waren, nur eine Bewahrung vor Irrtum annahm.895) Auch muß zugegeben werden, daß Johann Musäus († 1681) gelegentlich geäußert hat, die Verbalinspiration sei eine noch nicht genugsam bewiesene Hypothese. Musäus nahm dies zurück mit der Erklärung, daß jene Worte nicht aus seinem eigenen Sinne, sondern aus dem Sinne des Gegners geschrieben seien.896) Der Rationalismus, der nach der Mitte des 18. Jahrhunderts mit Macht einsetzte, gab mit der christlichen Lehre überhaupt, nämlich mit der satisfactio Christi vicaria, auch die Inspiration der Heiligen Schrift auf.897) Die Leugnung der satisfactio vicaria gibt die differentia specifica des Christentums auf und bringt die christliche Religion in eine Klasse mit der heidnischen Werklehre. Wozu dann noch eine von Gott inspirierte Heilige
-------------------------
nunc apologiam nostram, ex qua intelliges, et quid adversarii iudicaverint (retulimus enim bona fide), et quod articulos aliquot contra manifestam Scripturam Spiritus Sancti damnaverint.
895) Quenstedt I, 100.
896) Quenstedt berichtet 1,106: Vide disquisitionem Musaei de stylo Novi Testamenti observationibus Apologeticis M. Iac. Grossii oppositam anno 1641, in qua § 16 ait: Ad argumentum Grossii ab adversario responderi posse, quod nitatur hypothesi nondum concessa nec satis probata, scii. Spiritum Sanctum apostolis non solum res, sed ipsa etiam verba inspirasse. Item § 39: Sermonem apostolorum non esse sermonem Dei quoad materiale seu ipsa verba, sed quantum ad formale, scii, id, quod per sermonem revelatur. Conf. der Jenaer Theologen ausführliche Erklärung Loc. 1, De Scriptura Sacra, p. 31 sq., ubi idem D. Musaeus monet, se hoc non ex sua, sed ex antagonistae personam gerentis mente dixisse. über Musäus vgl. Philippi, Glaubenslehre 3 I, 252.
897) Nitzsch-Stephan, S. 33 ff. 556. über Töllner auch RE.2 XV, 711 ff. Töllner argumentiert so, daß er nicht bloß die obedientia activa, sondern die stellvertretende Genugtuung Christi überhaupt verwirft.
323 > Die Heilige Schrift. [English ed. ~ 267-268]
Schrift? Die theologische Tätigkeit der Rationalisten geht darin auf, nachzuweisen, daß die recht, das ist, nach der Vernunft, ausgelegte Schrift weiter nichts als eine erhabene, durch JEsus von Nazareth exemplifizierte Morallehre sei. — „Der Reformator der Kirche des 19. Jahrhunderts”, Schleiermacher († 1834), führte nicht, wie der Reformator des 16. Jahrhunderts, die Theologie in die Schrift zurück, sondern leitete sie in den Sumpf des Gefühlsrationalismus. Quelle und entscheidende Norm der Theologie soll nicht die Schrift, sondern das fromme Selbstbewußtsein des theologisierenden Subjekts, das christliche Erlebnis usw. sein. Nach der Methode „Schleiermacher”, wenn auch mit Abweichungen in bezug auf den Inhalt des „frommen Selbstbewußtseins”, betreibt wahrhaftig und zugestandenermaßen die gesamte moderne Theologie, die liberale und die Positive, ihre theologische Tätigkeit. Weil sie nicht zur Schriftlehre von der stellvertretenden Genugtuung Christi zurückgekehrt ist, so steht sie damit außerhalb der Sphäre, von welcher aus Christi Wort, das wir in den Schriften der Apostel und Propheten haben, als Christi oder Gottes Wort erkannt wird. Wer Christo und seinen Aposteln nicht glaubt, was sie von der Versöhnung der Welt durch die stellvertretende Genugtuung Christi lehren, der wird konsequenterweise Christo und den Aposteln auch nicht glauben, was sie von der Heiligen Schrift sagen. Wer sich unter Verwerfung der göttlichen Gedanken seine eigenen Gedanken über Gottes Versöhnung der Sünderwelt macht, wird konsequenterweise sich auch seine eigenen Gedanken über Gottes Wort, die Heilige Schrift, machen, auch mit ausdrücklicher Verwerfung des göttlichen Urteils über die Schrift.898) Wir können
--------------------
898) An diesen Punkt wurde anläßlich des Briggs-Prozesses auch in „L. u. W.” (1893, S. 163 f.) erinnert: „Wenn jemand so entschieden die Inspiration der Schrift leugnet wie D. Briggs, so hat man alle Ursache zu fragen, ob Briggs überhaupt noch etwas von der christlichen Lehre glaube. Unter christlicher Lehre verstehen wir natürlich nicht das Gesetz — denn Teile des Gesetzes haben auch noch alle heidnischen Religionen —, sondern das Evangelium, das heißt, die Lehre, daß ein Mensch aus Gnaden, um Christi willen, durch den Glauben und nicht durch eigene Werke selig wird. Glaubt jemand wirklich dies Evangelium, glaubt er, daß Gott die Menschen durch seines Sohnes stellvertretendes Leiden und Sterben von der ewigen Verdammnis errettet habe, dann hat er wenig Lust, daran zu zweifeln, daß Gott auch noch das an den Menschen getan habe, ihnen die Heilige Schrift als sein unfehlbares Wort zu geben. Wer die Lehre von der Rechtfertigung glaubt, kann wohl vorübergehend mit Zweifeln in bezug auf die Göttlichkeit der Schrift angefochten werden, aber daß er dieselbe
324 > Die Heilige Schrift. [English ed. ~ 269]
die Stellung der modernen Theologie zur Schrift in Zusammenfassung so beschreiben: Die modernen Theologen wollen nicht der Schrift glauben, was diese über sich selbst sagt, sondern sie wollen a posteriori, auf dem Wege der menschlichen Untersuchung und Kritik, den Charakter der Schrift bestimmen.899) Bei diesem modus procedendi kommen sie zu dem Resultat, daß die Schrift nicht Gottes unfehlbares Wort ist, sondern ein vom Heiligen Geist mehr oder minder beeinflußter geschichtlicher Bericht über Gottes Offenbarung im Wort (Offenbarungsurkunde). In diesem geschichtlichen Bericht, weil er zum Teil vom Heiligen Geist, zum Teil von Menschen (der „Urgemeinde”, primitive Church) stamme (daher: „gottmenschlicher” Bericht), seien naturgemäß Irrrtümer nicht ausgeschlossen. Deshalb sei es Aufgabe der modernen Theologie, die in hohem Maße Sinn für die „Wirklichkeit” besitze, an der Schrift nach Inhalt und Wortlaut Kritik zu üben, wenn es ihr
----------------------------
beharrlich leugnen und dabei doch die christliche Lehre von der Vergebung der Sünden durch den Glauben an Christi Verdienst festhalten könne, ist schwer anzunehmen. D. Briggs hat — nach seiner deutlichen Erklärung — den christlichen Glauben über Bord geworfen. ... Er spricht dies deutlich in der näheren Darlegung der von ihm angenommenen ‘progressive sanctification’ aus. Er begründet seine Lehre, daß die ‘Heiligung’ der Seele noch nach dem Tode sich weiter entwickeln müsse, damit, daß er sagt, man könne doch unmöglich annehmen, daß ‘Vater und Kind, Mutter und Säugling, der Lehrer und der Schüler, der sich aufopfernde Missionar und der Neubekehrte, der eifrige Evangelist und der Dieb und Mörder, der noch vom Galgen aus in seiner letzten Stunde sich zu Christo kehrt, — daß diese alle gleich behandelt werden sollten’. Dieser Argumentation liegt die Leugnung des Christentums zugrunde, nämlich die Leugnung der Lehre: ‘Es ist hie kein Unterschied; sie sind allzumal Sünder und mangeln des Ruhms, den sie an Gott haben sollten, und werden ohne Verdienst gerecht aus seiner Gnade, durch die Erlösung, so durch Christum JEsum geschehen ist.’ D. Briggs will den Schächer am Kreuz nicht mit dem ‘eifrigen Evangelisten' zugleich und alsbald ins Paradies kommen, sondern erst noch durch die ‘progressive sanctification’ hindurchgehen lassen, weil er überhaupt nicht glaubt, daß die Vergebung der Sünden allein um Christi Verdienstes willen geschieht und daher dem Gläubigen, wenn er glaubt und sobald er glaubt, alle Missetaten getilgt werden wie eine Wolke und seine Sünden wie ein Nebel. Briggs ist also vom christlichen Glauben im Zentrum abgefallen. Daß nun auch die Schriftstellen, welche bezeugen, daß die Heilige Schrift Gottes Wort sei, keinen Eindruck mehr auf ihn machen, braucht uns nicht wunderzunehmen. Er wäre bei seiner Lehre vom Heilswege vom christlichen Glauben abgefallen, wenn er auch noch äußerlich die Schrift als Gottes Wort stehen ließe.”
899) Bei Hastings VII, 346 findet sich eine zutreffende Beschreibung dieser a posteriori-Methode der modernen Theologie.
325 > Die Heilige Schrift. [English ed. ~ 269-270]
bisher auch noch nicht gelungen sei, die Grenzen zwischen Wahrheit und Irrtum festzustellen. In der Hauptsache sei man einig, nämlich darin, daß die Schrift nicht als Gottes unfehlbares Wort anzusehen sei, und daß die Schrift, als unfehlbares Gotteswort angesehen, auch nicht „lebenswarmes” Christentum erzeugen könne, vielmehr sei bei der alten Schriftauffassung „Intellektualismus” die naturgemäße Folge. Wenn die neueren Theologen noch von „Inspiration” reden, so verstehen sie darunter nicht die einzigartige göttliche Handlung, wodurch Gott den heiligen Schreibern sein Wort eingab, damit es für seine Kirche der Glaubensgrund bis an den Jüngsten Tag sei (Eph. 2,20; Joh. 17,20), sondern sie verstehen unter „Inspiration” nur eine, wenn auch gesteigerte, geistliche Erleuchtung, die allen Christen zukomme. Wie die Erleuchtung, die allen Christen zukomme, nicht völlige Irrrtumslosigkeit einschließe, so mache auch die gesteigerte Erleuchtung der heiligen Schreiber diese nicht irrtumslos. Zur Charakteristik der modernen Theologie gehört auch, daß die Mehrzahl ihrer Vertreter fordern, es seien „offenbar” Grade in der Inspiration der Schrift anzunehmen. Diese Annahme von Graden in der Inspiration hat aber nicht mehr Sinn als die Annahme von Graden in der Gottheit. Wenn Subordinatianer den Sohn Gottes Gott „im zweiten Sinne des Worts” nennen, so heben sie damit den Gottesbegriff auf, und wenn neuere Theologen von Graden der Inspiration reden, so lassen sie damit den schriftgemäßen Begriff von Inspiration fahren. Kahnis verbindet denn auch beides miteinander: Grade in der Gottheit und Grade in der göttlichen Inspiration der Heiligen Schrift. Er nimmt drei Grade von Inspiration an, wenn er auch bekennt, seiner Sache nicht ganz sicher zu sein. Er schreibt (Zitat bei Baier-Walther, S. 103): „Unter diesen prophetischen und apostolischen Schriften sind sowohl vom Gesichtspunkte des Ursprungs als des Inhaltes aus Unterschiede. Wir können das Deuteronomium nicht den vier ersten Büchern gleichstellen. Unter den Propheten stehen Obadia und Jona unter Iesaia, Jeremia, Ezechiel. Im Neuen Testamente treten die Pastoralbriefe und der Brief an Philemon auf eine zweite Linie. Das Wort der Offenbarung, welches innerhalb des Reiches Alten und Neuen Bundes ergeht, ist nur im Zusammenhang der Geschichte desselben zu verstehen. Und so treten denn die Geschichtsbücher Alten und Neuen Bundes in ihr kanonisches Recht, aber ein Recht zweiten Grades. Wie der Inhalt derselben das Zusammenwirken des Göttlichen und Menschlichen im Reiche Gottes ist, so sind auch die heiligen
326 > Die Heilige Schrift. [English ed. ~ 270-271]
Geschichtschreiber nicht notwendig Männer der Offenbarung, sondern Männer, die im Geiste des Reiches Gottes stehen. Dahin gehören im Alten Testament die prophetischen Geschichtsbücher in erster, die hagiographischen Ruth, Esra, Nehemia in zweiter, die Bücher Esther und Chronik in dritter Linie. Im Neuen Testament fallen in diese zweite Reihe in erster Linie die drei ersten Evangelien, in zweiter die Apostelgeschichte. Eine dritte Klasse bilden die alt- und neutestamentlichen Hagiographen, deren Inhalt weder Offenbarung noch Geschichte des Reiches ist, sondern das Leben im Reiche Gottes, wie es sich im einzelnen darstellt. Dahin gehören im Alten Testament in erster Linie die Psalmen, in zweiter die Sprüche Salomos, Hiob und Klagelieder Jeremias, in dritter das Hohelied, Koheleth und Daniel, im Neuen Testament in erster Linie der Hebräerbrief und der 2. und 3. Brief Johannis, welche bei aller Wahrscheinlichkeit doch nicht sicher johanneischen Ursprungs und überdies mehr Persönlichen Inhalts sind, in zweiter die übrigen katholischen Briefe und die Apokalypse. Wenn bei der ersten Klasse die Persönlichkeit von wesentlicher Bedeutung ist, so tritt sie dagegen in der zweiten Klasse zurück, da hier alles auf die objektive Wahrheit und den Geist der Darstellung ankommt. Es liegt aber in der Natur der dritten Klasse, daß das Subjekt in Bedeutung tritt. Es ist nicht gleichgültig, ob ein Psalm von David ist oder nicht, die Sprüche von Salomo sind oder ändern, Daniel echt oder unecht usw. Aber man muß sich bei diesen Schriften dritten Ranges wohl hüten, auf Authentie zu viel stellen zu wollen. Mag dieser Versuch, vom Standpunkt der Inspiration aus die Schrift in drei Klassen zu teilen, mangelhaft sein, jedenfalls ist eine Unterscheidung von Graden der Inspiration im Sinne der Schrift, wie sie denn auch in alter und neuer Zeit bedeutende Autoritäten für sich hat.” Bekanntlich ist diese Unterscheidung nicht im Sinne der Schrift. Es heißt in der Schrift 2 Tim. 3, 16: πάσα γραφή θεόπνευστος womit alle Schriften des Alten Testaments (τά Ιερά γράμματα, V. 15) unterschiedslos in eine Klaffe gestellt werden. Christus zitiert Joh. 10,34 aus den Psalmen, Ps.82,6: „Ihr seid Götter”, setzt aber nicht hinzu, daß es nur ein Schriftwort „dritter Klasse” sei, wie Kahnis meint, sondern sagt: „Die Schrift kann nicht gebrochen werden.” Die ganze Unterscheidung von Graden in der Inspiration ist eine menschliche Erfindung, die nur den Zweck hat, das menschliche theologisierende Subjekt von der lästigen Fessel der göttlichen Autorität der Schrift zu befreien.
327 > Die Heilige Schrift. [English ed. ~ 271]
So ist es leider richtig, wenn es bei Nitzsch-Stephan (S. 258) über „die gegenwärtige Lage” heißt: „In der Gegenwart hat die orthodoxe Inspirationslehre kaum mehr dogmatische Bedeutung. Doch wird sie von einzelnen, wie Kölling und Nösgen, noch immer mit einzelnen Abwandlungen behauptet. . . . Die übrigen Theologen — auch die konservativen — verwerfen die alte Lehre.” Zöckler nennt 900) als vereinsamte Vertreter der alten Lehre: Kohlbrügge, Gaußen, Kuyper und „auf lutherischer Seite besonders Walther in St. Louis und die von ihm geleitete Missourisynode”. Auch die meisten neueren amerikanischen Theologen in den reformierten Kirchengemeinschaften haben die Inspiration der Schrift aufgegeben.901) Bekannte Ausnahmen sind Charles Hodge-Princeton, William Shedd- Union Seminary, New York, Benjamin B. Warfield-Princeton.902) In Deutschland ist von den Theologen, die allgemein
-------------------------------
900) Handbuch der theol. Wissenschaften 2 III, 149.
901) Daher der an „die Laien” gerichtete Aufruf der „Fundamentalisten”, einen Bund zu bilden gegen das ungläubige Geschlecht von Predigern, das in den "skeptical schools and seminaries of to-day” großgezogen ist. Vgl. L. u. W. 1923, 89 f. Aus dem Kreise der Fundamentalisten hat neuerdings John Horsch eine treffliche Schrift geschrieben, in der der amerikanische Liberalismus entschieden bekämpft wird. Der Titel der Schrift lautet: Modem Religious Liberalism. The Destructiveness and Irrationality of the New Theology. Fundamental Truth Depot, Scottdale, Pa. 331 Seiten. Vgl. die Anzeige dieser Schrift in L. u. W. 1922, S. 179 ff. [F.B.]
902) Charles Hodge, Systematic Theology, 1873, 3 Bände. Er sagt 1, 170: "Admitting that the Scriptures do contain, in a few instances, discrepancies which, with our present means of knowledge, we are unable satisfactorily to explain, they furnish no rational ground for denying their infallibility. ‘The Scripture cannot be broken.’ (John 10, 35.) This is the whole doctrine of plenary inspiration, taught by the lips of Christ Himself.” Doch macht Hodge hie und da unnötige Verbeugungen vor Geologen und Astronomen, wodurch er seinen Standpunkt schwächt. — William Shedd, Dogmatic Theology, 2 Bände und 1 Supplementband 2 1889, I, 93.103: "Scripture itself asserts verbal inspiration. . . . Those who contend that the Bible is fallible because it contains a human element commit the same error in kind with those who assert that Jesus Christ was sinful because He had a human nature in His complex person. The human element ... is not a fallible element, because it is blended with the divine element of inspiration and kept free from human error.” Doch gilt auch bei Shedd dieselbe Bemerkung wie bei Hodge. — Benjamin B. Warfield hat unsers Wissens bis zu seinem kürzlich erfolgten Tode († 1921) die Inspiration und absolute Irrrtumslosigkeit der Schrift gelehrt, eine Stellung, die er schon in seiner Antrittsrede in Princeton (1887) vertrat (abgedruckt im Presbyterian Quarterly, p. 389 sqq).
328 > Die Heilige Schrift. [English ed. ~ 272]
bekannt sind, bisher nur Philippi in der letzten Zeit seines Lebens zur Schriftlehre von der Inspiration zurückgekehrt.903)
Halten wir weiter Umschau, so finden wir, daß innerhalb der römischen Kirche einige Theologen, und zwar solche mit bedeutendem Namen, die Inspiration auf die Glaubensgeheimnisse oder die Hauptsachen beschränken, in den übrigen Dingen aber eine bloße Bewahrung vor Irrtum angenommen haben.904) Einige andere sind weiter gegangen und haben ausdrücklich die Möglichkeit und die Wirklichkeit von Irrrtümern zugegeben.905) Sozinianer und
-------------------------
Er hat darüber Anfeindung und Spott aus der eigenen Mitte erfahren müssen, wobei es ihm ein Trost war, daß eine „ganze lutherische Synode” einstimmig sich zur Inspiration der Schrift bekenne.
903) Daß Philippi seine frühere Stellung, nach welcher er noch die Möglichkeit eines Irrtums in der Schrift zugab, in der dritten Auflage seiner „Glaubenslehre” widerrufen hat, wurde schon oben (S. 270) erwähnt. Von weniger bekannten deutschländischen Theologen bekennt sich Wilhelm Rohnert (Dogmatik der ev.-luth. K., 1902) zu „der vielgeschmähten altkirchlichen Inspirationslehre”. — Eine ausführliche Darstellung und Beurteilung der modern-theologischen Lehre von der Inspiration findet sich im 11. Bericht der Synodalkonferenz, 1886. [English translation here.]
904) So der Jesuit Franz Suarez († 1617). Quenstedt zitiert, Syst. I, 106, aus Suarez’ Traktat De Fide, disp. 5, sect. 3, § H 5 und 15: Hic modus (wodurch der Heilige Geist auch die Worte darreicht) est maxime proprius et perfectus et verisimilius est, observari a Spiritu Sancto, quoties mysteria, quae scribuntur, supernaturalia sunt et captum humanum excedunt, Suarez setzt jedoch hinzu: Non videtur autem necessarium, ut semper dictentur verba hoc peculiari modo; quando enim Autor Canonicus scribit aliquid, quod secundum se humanum est et subiacet sensibus, satis videtur, quod Spiritus illi specialiter assistat et custodiat illum ab omni errore et falsitate et ab omnibus verbis, quae non expediunt vel decent talem Scripturam. Quenstedt setzt hinzu: Suaresii sententiam laudat et approbat D. Georgius Calixtus Exercit. de autoritate Scripturae, thes. 47.
905) Quenstedt verweist I,114 aus Pighius († 1542) und zitiert aus dessen Abhandlung über die Hierarchie Ecclesiastica, 1.1, c.2: Matthaeus et Iohannes evangelistae potuerunt et labi memoria et mentiri. . . . Quis certos nos reddet vera esse et certa, quae scribunt omnia de Christo (praesertim Marcus et Lucas), quae nunquam viderant, sed crediderunt narrantibus aliis? Quenstedt erinnert a. a. O. auch daran, daß Erasmus in seinen Bemerkungen zu Kap. 2 und 27 des Matthäusevangeliums sage: evangelistas testimonia huiusmodi non e libris deprompsisse, sed, memoriae fidentes, ita ut fit, lapsos esse.. Quenstedt berichtet aber auch 1,117, daß D. Eck, acerrimus alias errorum et superstitionum papisticarum propugnator, in einem öffentlichen Briefe Erasmus sehr scharf angriff. Dies ist mit Recht als Beweis für die Tatsache angeführt worden (so auch von Walther in „L. u. W.” 1886, S. 35 f.), daß im Papsttum die Inspiration der Schrift als feststehende Lehre galt. Wir setzen hierher den An-
329 > Die Heilige Schrift. [English ed. ~ 272-273]
Arminianer nehmen Irrrtümer in der Schrift in „nebensächlichen Dingen” an.906) Es mag hier auch darauf hingewiesen werden, daß alte und neue Schwärmer, wie die Quäker u. a., im Interesse ihres
-----------------------------
fang des längeren Zitats, das Quenstedt aus Ecks Brief an Erasmus abdruckt: Istis verbis innuere videris, evangelistas more humano scripsisse et quod memoriae confisi haec scripserint, quod libros videre neglexerint, quod ita, hoc est, ob eam causam lapsi sint. Audi me, Erasme, arbitrarisne, Christianum patienter laturum, evangelistas in evangeliis lapsos? Si hic vacillat Sacrae Scripturae autoritas, quae pars alia sine suspicione erroris erit? ut pulcherrimo argumento Aur. Augustinus collegit.
906) Faustus Socinus in De Auctoritate Scripturae, c. 1, p. 15: Quaedam in Scriptura per se ipsa falsa apparere, sed quae parvi sint momenti, p. 71: fieri potuisse, ut evangelistäe et apostoli in aliquibus leviter errarint. (Bei Quenstedt 1,114. Ausführlicher bei Günther, Symbolik 4, S. 97.) Über die Stellung der Sozinianer zur Schrift auch Schneckenburger, „Kleinere Protest. Kirchenparteien”, S. 34 f.: „Die Zuverlässigkeit (der Schrift) beschränkt Socin auf dasjenige, was zur Lehre gehört. ... In untergeordneten Punkten räumt er Irrrtümer ein.” Gerade „was zur Lehre der Schrift gehört”, Christi Gottheit und stellvertretende Genugtuung, leugnet Socin, und daraus fließt dann auch naturgemäß die Leugnung der Inspiration der Schrift. Beachten wir, was neuere Unitarier von der Schrift lehren, so tritt uns hier eine völlig sachliche Übereinstimmung mit der modernen Theologie, auch der positiv sich nennenden, entgegen. Günther, a. a. O., S. 96 f.: „In C. W. Wendtes What do Unitarians Believe? heißt es: Mir halten die Bibel nicht für einen Fetisch, für ein wörtlich eingegebenes und unfehlbares Orakel Gottes.’ (S. 15.) In Unitarian Principles and Doctrines heißt es: ,Die Unitarier halten die Bücher der Bibel für die Urkunde der Lehre Gottes an das jüdische Volk und an die ersten Christen durch ihre weisen Männer und ihre Propheten. Ihre Lehre von der Bibel ist die, daß sie eine Sammlung von Büchern über verschiedene Gegenstände ist — historische, biographische, poetische und moralische, von verschiedenem Wert, aber meist mit einer religiösen Haltung und Absicht. Die Inspiration, die sie in der Bibel finden, ist eine Inspiration der Männer, deren Geschichte erzählt wird, nicht eine Inspiration der Worte und Buchstaben. Das Alte Testament ist die Literatur des jüdischen Volks, das Neue Testament die frühe christliche Literatur. Die Unitarier schätzen die Bibel ebenso wie irgendeine Sekte; sie gebrauchen sie in ihren Kirchen, gebrauchen sie in ihren Familien, helfen mit Freuden bei ihrer Verbreitung, aber sie machen aus diesem heiligen Buche keinen Abgott noch verehren sie seinen Namen. Sie schätzen sie wegen der Ideen, die sie behauptet, und wegen der Wahrheit, die sie enthält, und machen nicht mehr daraus, als sie wirklich ist, noch behaupten sie, daß sie etwas sei, was sie zu sein nie beansprucht.’ (S. 23.) In Scriptural Belief of Unitarian Christians heißt es: ,Unitarier glauben, daß die Bibel das Wort Gottes enthält, nicht daß jedes Wort, welches sie enthält, Gottes Wort ist.’” — Über die arminianische Lehre von der Schrift Schneckenburger a. a. O., S. 10 f. Günther a. a. O., S. 97. Episcopius behauptet Inst. Theol. IV, 1,4: scriptores sanctos potuisse labi et reipsa läpsos esse memoria in rebus levibus et nihil ad salutem pertinentibus.
330 > Die Heilige Schrift. [English ed. ~ 273-274]
„inneren Lichtes” oder einer „unmittelbaren Offenbarung” Schrift und Gottes Wort nicht „identifizieren” wollen und insofern in den Bahnen der modernen Theologie wandeln. Es liegt hier eine prinzipielle Übereinstimmung vor. Der Schwärmer bekannte Reden vom „Geist”, vom „inneren Licht”, von „unmittelbarer Offenbarung” usw. haben denselben Sinn wie die Reden moderner Theologen von einer „ Selbst gewißheit” des Christentums und seiner Theologie, das ist, von einer Gewißheit, die nicht von der Heiligen Schrift abhängt, sondern „in sich selbst ruht und unmittelbare Wahrheit ist” (Erlanger Theologie). Und wenn die Schwärmer dann weiter den „Geist”, das „innere Licht” usw. für die „Hauptquelle” oder die „eigentliche Quelle der Wahrheit” erklären und die Schrift nur als „untergeordnete Regel” gelten lassen wollen, so entspricht das genau der Stellung der modernen Theologie, die ebenfalls dadurch in der christlichen Kirche alles auf den Kopf stellt, daß sie die Schrift als Quelle und Norm der christlichen Lehre aufgegeben hat, sich auf das „fromme Selbstbewußtsein” des theologisierenden Subjekts, das „Erlebnis” als angeblich „sturmfreie Burg”, zurückzieht und von hier aus die Schrift korrigiert.907) — Über Cal-
-------------------------
907) Über die Stellung der Quäker zur Schrift und über ihren Zusammenhang mit der „orthodox-reformierten” Stellung zur Schrift vgl. Schneckenburger a. a. O., S. 67 ff. Das Quäkertum stellt die konsequente Durchführung der orthodox-reformierten Lehre dar, insofern diese die seligmachende Gnadenoffenbarung und Gnadenwirkung des Heiligen Geistes sich nicht durch das äußere Wort der Schrift, sondern außer und neben demselben vollziehen läßt. „Alles dieses treiben die Quäker um einen Schritt weiter und langen ganz nahe bei der Linie an, jenseits deren die Schrift als historisches Buch eigentlich etwas ganz Gleichgültiges, Zufälliges, Wesenloses ist gegenüber der unmittelbaren Begeisterung.” (S. 71.) „Sie (die Schrift) steht unter diesem Höheren (dem unmittelbaren Wort), welches ihre Autorität erst begründet.” (S. 73.) Ausführliche Belege über die Stellung der Quäker zur Schrift bei Günther a. a. O., S. 93. 97. Nach Robert Barclay, dem Dogmatiker der Quäker, ist die Schrift aus der Offenbarung des Heiligen Geistes hervorgegangen; er fügt aber hinzu: Nihilominus, quominus solummodo sint declaratio fontis et non ipse fons, ideo non existimandae sunt principalis origo omnis veritatis vel cognitionis, nec adaequata primaria regula fidei et morum, licet, cum dent verum et fidele testimonium primae originis, sint et possint existimari regula secundaria, subordinata Spiritui, a quo, quam habent, excellentiam et certitudinem derivant. Barclay will daher auch das innere Licht oder die unmittelbare Offenbarung nicht nach der Schrift, als ob die Schrift eine gewissere Norm wäre, geprüft haben, weil die unmittelbare Offenbarung die Gewißheit in sich selbst trage. Er schreibt: Non inde sequitur, quod hae revelationes divinae ad externum Scripturarum testimonium ... tanquam ad nobiliorem aut certio-
331 > Die Heilige Schrift. [English ed. ~ 274-
vins Stellung zur Schrift ist auch in neuerer Zeit ziemlich ausführlich verhandelt worden. Seeberg sagt 908) von Calvin: „Calvin ist also der Schöpfer der sogenannten altdogmatischen Inspirationstheorie.” Seeberg begründet sein Urteil damit, daß Calvin die Schrift Alten und Neuen Testaments nicht nur „Orakel” Gottes nennt, sondern auch ausdrücklich sagt, daß die Schrift, einschließlich des Geschichtlichen in ihr (historiae), didante Spiritu Saneto geschrieben sei,909) wobei die heiligen Schreiber Spiritus Sancti amanuenses waren.910) Seeberg weist auch darauf hin, daß Calvin sich sehr entschieden gegen die Kritiker wende, die Fragen aufwerfen wie diese: Quis nos certiores fecerit a Mose et prophetis haec fuisse scripta, quae sub eorum nominibus leguntur? Quin etiam quaestionem movere audent, fueritne unquam aliquis Moses? Calvin nennt solche Kritiker „nebulones” und ihre Weisheit ,,insania”.911) Seeberg erklärt seinen Dissensus von Heppe, der über Calvin sagt: „Von einer eigentlichen Inspiration der Aufzeichnung ist keine Rede.” 912) Doch muß zugegeben werden, daß Calvin im Wider-
---------------------------
rem normam et amussim examinari debeant. Nam divina revelatio· et illuminatio interna est quiddam per se evidens et clarum, intellectum bene dispositum propria evidentia et claritate cogens ad assentiendum atque in-superahiliter movens et flectens. Barclay will daher auch, daß die Christen nicht die Heilige Schrift, sondern die innere unmittelbare Offenbarung ihre feste Burg oder „letzte Zuflucht” sein lassen. Er schreibt: Illud, ad quod omnes Christianitatis professores, cuiuscunque generis seu speciei sunt, ultimo recurrunt, cum ad extremum pressi sunt et cuius causa cetera omnia fundamenta commendantur et creditu digna habentur et sine quo reiiciuntur: illud, inquam, oportet necessario esse solum certissimum immobile fundamentum omnis fidei Christianae. Sed interna, immediata, obiectiva Spiritus revelatio illud est, ad quod omnes Christianitatis professores ultimo recurrunt etc. Ergo est solum certissimum immobile fundamentum. Eine traurige Selbsttäuschung! Aber die Übereinstimmung mit der modernen Theologie, die ebenfalls im Gegensatz zur Schrift das „Erlebnis” oder die „Selbstgewißheit” des theologisierenden Subjekts für die „sturmfreie Burg” des Christentums erklärt, liegt auf der Hand. Barclay will daher auch, gerade wie die modernen Theologen, Schrift und Gottes Wort nicht identifiziert haben. Er sagt in seinen Animadversiones gegen Nikolaus Arnold, daß die Schrift nicht „eigentlich und schlechthin Gottes Wort sei und genannt werden müsse”. Zitat bei Günther a. a. O., S. 97. Ebendaselbst (S. 93) ist auch ein Zitat aus dem American Christian Record der Hicksitenquäker mitgeteilt, aus dem hervorgeht, daß diese Partei der Quäker ebenfalls in der Terminologie moderner Theologen von der Schrift redet.
908) Dogmengesch. II, 385. 909) Inst. IV. 8. 6.
910) Inst. IV, 8, 9. 911) Inst. I, 8, 9.
912) Die Dogmatik d. ev.-ref. K., 1861, S. 16 f.
332 > Die Heilige Schrift. [English ed. ~ 275]
spruch mit seinen direkten Aussagen, die Schrift sei dictante Spiritu Sancto geschrieben und die heiligen Schreiber seien als Spiritus Sancti amanuenses zu bezeichnen, den Evangelisten gelegentlich unrichtiges Zitieren alttestamentlicher Schriftstellen zuschreibt.913) Hier liegt also eine Inkonsequenz auf seiten Calvins vor. Aber es ist noch auf einen andern Punkt hinzuweisen, um Calvins Bekenntnis zur Inspiration der Schrift nicht zu überschätzen. Es ist daran zu erinnern, daß es wenig praktischen Wert hat, wenn sowohl die älteren als auch die neueren calvinistischen Theologen (Hodge, Shedd, Böhl usw.) die Verbalinspiration lehren, solange sie wirklich in den dem Calvinismus eigentümlichen Lehren Calvinisten bleiben. Als echte Calvinisten lehren sie, daß die Erlösung, die durch Christum geschehen ist, sich nicht auf alle Menschen, sondern nur auf einen Teil derselben erstrecke. Infolgedessen lehren sie auch mit Calvin, daß der Zweck des Schriftworts nicht der sei, alle Menschen zum Glauben und zur Seligkeit zu führen, sondern den größten Teil der Menschen zu verstocken. Calvin schreibt: 914) Quos [Deus] in vitae contumeliam et mortis exitium creavit, ut irae suae organa forent et severitatis exempla, eos, ut in finem suum perveniant, nunc audiendi Verbi sui facultate privat, nunc eius praedicatione magis excoecat et obstupefacit. Weiter lehren alte und neue Calvinisten, daß die Menschen, welche tatsächlich zum Glauben und zur Seligkeit erleuchtet werden, dieser Erleuchtung nicht durch das äußere Schriftwort, sondern ohne dasselbe durch eine unmittelbare Erleuchtung des Heiligen Geistes teilhaftig werden. Es liegt auf der Hand, daß hiermit die Wahrheit, daß die Schrift Gottes inspiriertes Wort ist, praktisch völlig entwertet wird. Calvinisten müssen — worauf aus ihrer eigenen Mitte hingewiesen worden ist —915) lutherisch werden, das heißt, sie müssen die gratia partcularis und die immediata Spiritus Sancti operatio Vergessen, wenn sie unter den Schrecken des Gesetzes aus dem Schriftwort als Gottes Wort Trost schöpfen wollen. Solches Vergessen findet durch Gottes Gnade in vielen Fällen statt.916) Dieselbe prak-
---------------------------------
913) Calvin bemerkt, Comment, super Ioh. (Tholucks Ausgabe, Berlin 1833, p. 346): Quum illic [Ps. 22] queratur David, se hostibus praedae fuisse, metaphorice sub nomine vestium sua omnia designat, ac si uno verbo dixisset, spoliatum se ac nudatum ab improbis fuisse. Quam figuram dum negligunt evangelistae, a nativo sensu discedunt.
914) Inst. III, 24, 12. 915) Vgl. III, 201 ff.
916) Dieser Gegenstand wurde schon aus anderer Veranlassung unter Beifügung der nötigen Belege, S. 25—28 und 29—31, behandelt.
333 > Die Heilige Schrift. [English ed. ~ 275-276]
tische Entwertung der Inspiration der Schrift liegt bei den Synergisten vor, im Falle sie noch die Inspiration der Schrift bekennen. Weil die Synergisten die Erlangung der Gnade Gottes von einer Leistung auf seiten des Menschen abhängig machen (Selbst-entscheidung, Selbstbestimmung, „verschiedenes Verhalten”, geringere Schuld im Vergleich mit andern Menschen), und weil sich bei keinem Menschen die geforderte Leistung findet,917) so errichten sie mit ihrer Beschränkung der sola gratia eine ebenso feste Blockade gegen die Erlangung der Gnade Gottes wie die Calvinisten mit ihrer Beschränkung der universalis gratia. Der christliche Glaube, welcher von Gott zur Gerechtigkeit gerechnet wird, hält dafür, daß Gott den Gottlosen (τον άσεβή) rechtfertigt.918) Wer sich im Vergleich mit andern Menschen vor Gott besser oder weniger schuldig dünkt, schließt sich eo ipso von der Gnade aus.919) Die Rettung für die Synergisten liegt gerade wie für die Calvinisten in der Inkonsequenz. Wie die Calvinisten die Beschränkung der universalis gratia, so müssen die Synergisten die Beschränkung der sola gratia vergessen, wenn ihnen die Wahrheit, daß die Schrift Gottes eigenes Wort ist, praktisch etwas nützen soll. Auch dieses Vergessen findet ohne Zweifel in vielen Fällen statt. Aber auch das ist lediglich der göttlichen Gnade zu verdanken, die aus einem an sich seelenverderblichen Irrtum errettet.920) Von selbst versteht sich auch, daß die römischen Theologen ihr Bekenntnis zur Inspiration der Schrift praktisch, dadurch völlig entwerten, daß sie die authentische Auslegung der Schrift dem Papst überlassen. Durch diese exegetische Methode bringen sie es, soviel an ihnen ist, dahin, daß nicht Gott durch sein Wort, die Heilige Schrift, zu den Menschen redet, sie lehrt und regiert, sondern ber Papst — unter dem Schein der Schrift — Kirche und Welt seinem päpstlichen „Ich” unterwirft. Mit Recht erklärt Luther den Grundsatz der „Romanisten”, „es gebühre die Schrift niemand auszulegen denn dem Papst”, für eine der „drei Mauern”, hinter welchen sich das Papsttum verschanzt und seine Herrschaft aufrichtet und zu erhalten sucht.921)
--------------------------------
917) Röm. 3, 19: υπόδικος πας δ κόομος τφ ϑεφ. V. 23: ον γάρ εστιν διαστολή.
918) Röm. 4, 5. 919) Luk. 18, 9—14; Röm. 11, 22.
920) Auch dieser Punkt wurde schon S. 31 behandelt. Weitere Darlegungen II,591 ff.; III, 144 ff.
921) An den christlichen Adel deutscher Nation, X, 269 f.
= = = = = = = = = = = = = = = = = = = =
Part 2 – pages 334-690 may be found here.