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1902 Missouri Synod, Pieper-Das Wesen des Christentums
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24        Verhandlungen der Lösten Allgemeinen oder

Das Wesen des Christentums.

(Vortrag, gehalten von Prof. F. Pieper.)

So ziemlich in der ganzen äußeren Christenheit ist in den beiden letzten Jahren über das Wesen des Christentums verhandelt worden. Das will sagen: man hat darüber verhandelt, worin das Christentum eigentlich bestehe und wodurch es sich von allen andern Religionen unterscheide. Veranlaßt wurden diese Verhandlungen durch die Vorlesungen des Berliner Professors Harnack über diesen Gegenstand. Was Harnack sagte und bald darauf drucken ließ, verdient allerdings nicht die allgemeine Aufmerksamkeit, die es erregte. Der Berliner Professor hat nur alte, längst bekannte Behauptungen wiederholt. Harnacks Lehre ist kurz diese: Christus ist nicht Gott, sondern ein einzigartig weiser und tugendhafter Mensch. Christus hat daher auch nicht an Stelle der Menschen das göttliche Gesetz gehalten und die Strafe für die Uebertretung des Gesetzes getragen.


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Das Christentum besteht daher auch nicht im Glauben an Christum, sondern in des Menschen eigener Sittlichkeit, wozu der Mensch durch die einzigartige Persönlichkeit Christi angeregt und angeleitet werden soll. Diese Lehre ist, wie gesagt, nichts Neues. Die Unitarier und Rationalisten aller Zeiten, das heißt, die Leugner der heiligen Dreieinigkeit und die sogenannten Vernunftgläubigen aller Zeiten, haben sie gelehrt. Aber Tatsache ist, daß aus Veranlassung des Auftretens Harnacks schier in der ganzen Welt Verhandlungen über das Wesen des Christentums gepflogen worden sind.

Und das Resultat? Das Resultat ist keineswegs eine Uebereinstimmung derer, die sich Christen nennen. Wir stehen vor der Tatsache, daß die, die sich Christen nennen, nicht darin übereinstimmen, was Christentum sei.

Man könnte befremdet fragen: Wie? Das Christentum ist nun schon seit beinahe zweitausend Jahren, ja, schon seit der Verkündigung der ersten Verheißung von Christo, also seit beinahe sechstausend Jahren, in der Welt — und noch immer ist man in der Christenheit über das Wesen des Christentums uneins? Noch immer streitet man darüber, worin das Christentum eigentlich bestehe?

Darauf ist zu sagen: Die Christenheit ist in Bezug auf das Wesen des Christentums völlig eins. Alle Glieder der christlichen Kirche halten tatsächlich dafür, daß sie durch den Glauben an Christum, den Sünderheiland, ohne Verdienst ihrer Werke, Vergebung der Sünden und die Seligkeit haben. Durch diesen Glauben, und durch nichts anderes, sind sie ja Glieder der christlichen Kirche. Wer diesen Glauben hat, gehört zur christlichen Kirche; wer dieses Glaubens nicht ist, gehört nicht zur christlichen Kirche. Auch die Seelen, welche im Pabsttum und unter den Secten zur christlichen Kirche gehören, sind des Glaubens, daß sie nicht durch ihre Werke oder ihre eigene „Sittlichkeit", sondern durch Christum Vergebung der Sünden haben. Das ist der Eine Glaube, welchen der Apostel Paulus von der christlichen Kirche aussagt, wenn er schreibt: „Ein HErr, Ein Glaube", Eph. 4,5. Das ist der „Eine Sinn", welchen der Heilige Geist in der ganzen Christenheit gewirkt hat und erhält, wie wir singen vom Heiligen Geist: „Die ganze Christenheit auf Erden hält in Einem Sinn gar eben." Aller Christen Glaube und Sinn ist in den Schriftworten ausgesprochen: „Das Blut JEsu Christi, des Sohnes Gottes, macht uns rein von aller Sünde", 1 Joh. 1, 7., und: „So halten wir es nun, daß der Mensch gerecht werde ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben", Röm. 3, 28., sowie in dem Kindervers:

Christi Blut und Gerechtigkeit,

Das ist mein Schmuck und Ehrenkleid,

Damit will ich vor Gott bestehn,

Wenn ich zum Himmel werd eingehn.

Abweichende Meinungen in Bezug auf das Wesen des Christentums finden sich nur bei dem Haufen, der sich christlich nennt, aber nicht christ-


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lich ist. Von den Leuten nämlich, welche durch ihre Sittlichkeit oder durch ihre Werke zu Gott kommen wollen, die also das Wesen des Christentums in die Sittlichkeit setzen, sagt die Schrift Gal. 5, 4.: „Ihr habt Christum verloren, die ihr durch das Gesetz gerecht werden wollt, und seid von der Gnade gefallen", und Gal. 3,10.: „Die mit des Gesetzes Werken umgehen, die sind unter dem Fluch." Diese Leute gehören also nicht zur christlichen Kirche. Von der christlichen Kirche kann man nicht sagen: „Viel Köpfe, viel Sinne." Die christliche Kirche ist wirklich Eines Sinnes. Die christliche Kirche ist die Gemeinde der Gläubigen, das heißt, die Gemeinde derer, welche glauben, daß sie durch Christum Vergebung der Sünden haben Luther schreibt: „Es ist nicht mehr denn eine einige Kirche oder Gottes Volk auf Erden, die da hat einerlei Glauben, Taufe, einerlei Bekenntniß Gottes des Vaters und Christi 2c. und bei solchem einträchtiglich mit einander hält und bleibt. In dieser muß ein jeder sich finden lassen und derselben eingeleibet sein, wer da will selig werden und zu Gott kommen, und wird außer ihr niemand selig." *)

        Hiermit ist denn schon die Frage nach dem Wesen des Christentums positiv und negativ beantwortet. Auch ist hiermit bereits auf die Wichtigkeit, an dem Wesen des Christentums festzuhalten, hingewiesen.

        Doch dürfte es dienlich sein, auf die Sache noch etwas näher einzugehen. Ich lege noch etwas ausführlicher dar:

I. Das Wesen des Christentums besteht im Glauben an Christum, nicht in des Menschen eigener Sittlichkeit.

II. An diesem Wesen des Christentums muß die christliche Kirche festhalten, wenn sie ihre Aufgabe in der Welt erfüllen will.

I.

        Also vom Wesen des Christentums wollen wir etwas ausführlicher

handeln.

Unter dem Wesen eines Dinges verstehen wir das, was ein Ding zu dem macht, was es ist, oder: wodurch ein Ding das ist, was es ist, wodurch sich daher ein Ding von andern Dingen unterscheidet. So reden wir z. B. von dem Wesen des Menschen im Unterschied von den Tieren und finden das Wesen des Menschen darin, daß er im Unterschiede von den Tieren eine vernünftige Seele hat. So verstehen wir auch unter dem Wesen des Christentums das, was das Christentum zum Christentum macht und wodurch sich das Christentum von allen andern Religionen unterscheidet.

Was ist das? Was in oder an einem Menschen macht ihn zu einem Christen? Nicht dies, daß er einen bestimmten Rock trägt, wie Luther oft erinnert. Auch nicht dies, daß er Leib und Seele, und zwar eine vernünf-

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*) Erl. Ausg., 9, S. 285 f.


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tige Seele hat; auch nicht dies, daß er Mann oder Weib, jung oder alt ist; auch nicht dies, daß er gebildet oder ein Naturmensch, daß er weiß oder schwarz oder gelb 2c. ist; auch nicht dies, daß er ein Amerikaner oder Deutscher oder Engländer ist; auch nicht dies, daß er einen Gott glaubt und nach seinem Gewissen ehrbar zu leben trachtet und nach den Landesgesetzen sich hält. Nein, nur eins im Menschen macht ihn zum Christen: der Glaube an Christum, dies, daß der Mensch, der nun einmal ein Sünder ist, zur Erlangung der Gnade Gottes und der Seligkeit sich auf Christum verläßt. Dadurch unterscheidet sich das Christentum von allen andern Religionen, die es sonst noch in der Welt gibt. Alle andern Religionen sind nämlich Werkreligionen, das heißt, Religionen, die den Menschen Anleitung geben, wie sie — die Menschen — durch eigene Güte, eigene Bemühungen, eigene Werke sich Gottes Gunst zuwege bringen. Darin stimmen alle nichtchristlichen und die angeblich christlichen Religionen überein. Nur die Art der Werke, die sie vorschreiben, ist bei den verschiedenen Religionen verschieden. Das Christentum aber ist nicht eine Werkreligion, sondern die Glaubensreligion, die Religion des Glaubens an Christum. Ein Christ ist ein Mensch, der nicht durch eigene Güte und Werke, sondern durch Christi Gerechtigkeit und Werke in den Himmel kommen will.

Woher kommt das? Woher kommt dieses Wesen des Christentums? Worin hat dieses Wesen des Christentums seinen Grund? Woher kommt dieser Unterschied zwischen Christentum und Heidentum? Er kommt daher: die christliche Religion hat einen Heiland, alle andern Religionen nicht. Die heidnischen Religionen haben bloße Lehrer, Lehrer, die den Menschen moralische Vorschriften geben, durch deren Befolgung die Menschen sich in den Himmel bringen sollen. Christus, der menschgewordene Gottessohn, hat die Sache anders angegriffen. Er hat kein neues Gesetz gepredigt, aber er hat sich an Stelle der Menschen unter das alte, ewig verbindende Gesetz gegeben, es an Stelle der Menschen gehalten und die Strafe für die Uebertretung des Gesetzes an Stelle der Menschen durch sein Sterben und Blutvergießen bezahlt. Wie die Schrift von Christo bezeugt : „Als die Zeit erfüllet ward, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einem Weibe und unter das Gesetz getan, auf daß er die, so unter dem Gesetz waren, erlösete", Gal. 4, 4. 5. Und abermal: „Siehe, das ist Gottes Lamm, welches der Welt Sünde trägt", Joh. 1, 29. „Fürwahr, Er trug unsere Krankheit und lud auf sich unsere Schmerzen.... Er ist um unserer Missetat willen verwundet und um unserer Sünde willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf ihm, auf daß wir Friede hätten", Ies. 53, 4. 5. Kurz, weil Gottes Sohn Mensch geworden ist, als Gottmensch an Stelle der Menschen Gottes Gesetz gehalten und die Strafe für die Uebertretung des Gesetzes bezahlt und also aller Menschen Heiland geworden ist, so besteht nun das Wesen des Christentums nicht darin, daß ein Mensch versucht, Gottes Gebote zu halten, sondern darin, daß ein Mensch an den


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glaubt, der für ihn und für alle Menschen das Gesetz gehalten hat. Darum ist das Christentum nicht eine Werkreligion, sondern die Glaubensreligion. Darum besteht nun das Wesen des Christentums lediglich im Glauben an Christum. Luther pflegt zu sagen: Weiß ist jemand von der Weiße und schwarz von der Schwärze. Ein Christ ist jemand von Christo, das heißt, dadurch, daß er sich vor Gott auf Christi Tun und Leiden verläßt. Freilich lehrt das Christentum auch Sittlichkeit und gute Werke. Wir werden später noch sehen, daß nur im Christentum wahre Sittlichkeit und vor Gott gute Werke sich finden. Aber ein Christ will weder zur Hälfte noch zum vierten Theil, auch nicht zum tausendsten Theil durch eigene Tugend und Werke, sondern allein durch Christi Gerechtigkeit und Werke selig werden. Dieses Wesen des Christentums kommt schon durch den Kinderspruch zum Ausdruck: „Also hat Gott die Welt geliebet, daß er seinen eingebornen Sohn gab, auf daß alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben", Joh. 3,16. Auf dieses Wesen des Christentums im Unterschiede von allen anderen Religionen hat auch der bekannte Sprachforscher Max Müller treffend hingewiesen, als er vor einer Bibelgesellschaft einen Vortrag über die Bibel, das Religionsbuch des Christentums, hielt. Der berühmte Orientalist sagte u. a.: „Ich darf sagen, daß ich seit vierzig Jahren in der Erfüllung meiner Pflichten als Professor des Sanskrit an der Universität Oxford so viel Zeit dem Studium der heiligen Bücher des Ostens gewidmet habe, wie irgend ein anderer Mensch in der Welt. Und ich wage es, dieser Versammlung zu sagen, was ich als den Einen Grundton aller dieser sogenannten heiligen Bücher gefunden habe; der Eine Grundton, der Eine Accord, der sich durch alle hindurchzieht, ist die Seligkeit durch Werke. Sie alle lehren, die Seligkeit müsse erkauft werden. Unsere eigene Bibel — unser heiliges Buch aus dem Osten — ist von Anfang bis zu Ende ein Protest gegen diese Lehre. Gute Werke werden allerdings auch in diesem heiligen Buche des Ostens gefordert; aber sie sind nur der Ausfluß eines dankbaren Herzens — sie sind nur ein Dankopfer, die Früchte unseres Glaubens. Sie sind nie das Lösegeld der wahren Jünger Christi. Laßt uns nicht unsere Augen verschließen gegen das, was edel und wahr ist ; aber laßt uns die Hindus, Buddhisten und Muhammedaner belehren, daß es nur Ein heiliges Buch des Ostens gibt, das ihr Trost sein kann in jener ernsten Stunde, in welcher sie ganz allein hinüber müssen in die unsichtbare Welt."

        So haben wir gesehen, daß und warum der Glaube an Christum Christentum sei. Sehen wir uns nun die gegen heilige Meinung, die Meinung, daß das Christentum in des Menschen eigener Güte und Gerechtigkeit bestehe, noch etwas näher an.

        Da sagen wir: wir haben in Einer Hinsicht Respect vor den — freilich seltenen — Leuten, die sich aufrichtig bemühen, Gottes Gebote zu halten, um auf diesem Wege selig zu werden. Auch der Apostel Paulus gibt


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den Juden, die ihre eigene Gerechtigkeit aufzurichten trachteten, das Zeug-niß, „daß sie eifern um Gott", Röm. 10, 2. Solche Leute sind uns in einer Hinsicht lieber als die groben Lasterknechte, die ohne Scheu nach ihren Lüsten dahinleben. Die Gerechtigkeit der Werke, die justitia operum, hat — wie auch unser Bekenntniß wiederholt einschärft — großen Werth für den Staat und das bürgerliche Leben. Wir leben im Staat ungestörter in der Gesellschaft ehrbarer als lasterhafter Leute. Gott belohnt auch die natürliche Ehrbarkeit mit irdischen Gütern. Aber das Verkehrte ist nun dies, wenn jemand das, was im Staat und im bürgerlichen Leben Werth hat, vor Gott geltend machen, dadurch vor Gott gerecht und selig werden will. Der Apostel Paulus gibt, wie wir gehört haben, den Juden, die ihre eigene Gerechtigkeit vor Gott aufzurichten trachteten, zwar das Zeugniß, daß sie um Gott eifern, setzt aber hinzu: „mit Unverstand", Röm. 10, 2. Sie eifern als solche, die die Sache nicht verstehen, die geistlich blind sind. Demnach sagen wir: wer mit Professor Harnack das Wesen des Christentums, anstatt in den Glauben an Christum, in des Menschen eigene Sittlichkeit setzt, der ist geistlich noch nicht richtig im Kopfe, der ist noch blind, stockstaarblind, der hat noch keine Ahnung vom Wesen des Christentums, der verwechselt noch Heidentum und Christentum, der steckt noch in der Religion des Fleisches. Das erklärt die Schrift ausdrücklich.

Das Fleisch äußert sich in Bezug auf die Religion in doppelter Weise. In einem Theil der Menschen spricht es: Es gibt keinen Gott, keinen Himmel und keine Hölle. Alle Religion ist Thorheit. Lastet uns essen und trinken. Das ist das materialistische Fleisch. In einem andern Theil spricht das Fleisch der Menschen: Es gibt einen Gott, und man muß, um zu Gott zu kommen, die Sünde meiden und das Gute tun. Dies ist das religiöse Fleisch. Aber es ist nichtsdestoweniger Fleisch. Wenn jemand durch eigene Sittlichkeit, durch eigene Werke zu Gott kommen will, so nennt die Schrift das Fleisch. Als die Galater, durch jüdische Irrlehrer verführt, vom Evangelium auf das Gesetz gefallen waren, als sie, anstatt durch den Glauben an Christum, auch durch eigene Werke vor Gott gerecht werden wollten, ruft ihnen der Apostel Paulus Gal. 3, 1. 3. zu: „O ihr unverständigen Galater, wer hat euch bezaubert, daß ihr der Wahrheit nicht gehorchet? ... Im Geist habt ihr angefangen, wollt ihr'S denn nun im Fleisch vollenden?" Es heißt also fleischlich gesinnet sein und nach dem Fleische wandeln, wenn jemand durch eigenes Tun zu Gott kommen will. Gottes Urteil ist hier anders als der Menschen Urteil. Es imponirt uns Menschen oder, um mit Luther zu reden, es „sperrt den Leuten die Mäuler auf", wenn jemand sich redlich Mühe gibt oder sich doch wenigstens redlich Mühe zu geben scheint, durch ein äußerlich rechtschaffenes Leben nach der Vorschrift des Gesetzes, auch mit Wachen, Fasten, sich kasteien und andern sonderlichen Werken, den Himmel zu ver-


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dienen. Wir Menschen sind geneigt, das „geistlich" zu nennen. Aber nach der Schrift ist das eitel fleischliches Wesen. Wenn jemand, in der Meinung, sich dadurch Gottes Gnade zu erwerben, alle seine Habe den Armen gäbe, sich schier zu Tode fastete, sich blutig geißelte, ja, das Fleisch sich stückweise vom Leibe risse, so wäre das noch immer Fleisch. Luther schreibt zu Gal. 3, 3. („Im Geist habt ihr angefangen, wollt ihr's denn nun im Fleisch vollenden?"): „Paulus nennt hier Fleisch nicht Wollust, viehische Leidenschaften oder sinnliche Begierden. . . . Fleisch ist (hier) nichts anderes als die Gerechtigkeit, die Weisheit des Fleisches und die Gedanken der Vernunft, welche sich bemüht, durch das Gesetz gerecht zu werden."*) Kurz, durch eigene Werke gerecht werden wollen, ist das Characteristicum des blinden Heidentums; ohne eigene Werke, durch den Glauben an Christum selig werden wollen, das ist Characteristicum des Christentums.

Hiermit hängt es denn auch zusammen, daß das Christentum allen Menschen von Natur ein tief verborgenes Geheimniß ist. Harnack freilich meint, was Johannes der Täufer und Christus selbst gelehrt haben, sei der Menschheit schon vorher im Wesentlichen bekannt gewesen. Er sagt: „Was kann ,neu* gewesen sein, nachdem die Menschheit schon so lange vor JEsus Christus gelebt und so viel Geist und Erkenntniß erfahren hatte?"**) Diese Meinung Harnacks beruht aber auf seiner falschen Meinung, daß Christus nur Sittlichkeit oder das Gesetz Gottes gelehrt habe. Das Gesetz ist allerdings den Menschen nichts Neues. Auch die Heiden misten von Gottes Gesetz, wie die Schrift oft und ausdrücklich bezeugt. Die Heiden misten nicht bloß, daß ein Gott sei, Röm. 1,19., sondern sie misten auch „Gottes Gerechtigkeit", Röm. 1,32. Des Gesetzes Werk ist geschrieben in ihren Herzen, sintemal ihr Gewissen sie bezeuget, Röm. 2, 15. Wenn Missionare den Heiden das Gesetz predigen, so predigen sie ihnen nichts Neues. Die Schrift des göttlichen Gesetzes ist in den Herzen der gefallenen Menschen zwar etwa« verwischt, aber durchaus nicht ganz ausgetilgt. Daher finden wir auch unter den Heiden, wie Luther sagt, treffliche Summarien des Gesetzes, Zusammenstellungen, in denen nicht bloß das böse Werk, sondern auch die bösen Gedanken und Begierden für Sünde erklärt werden. Kurz, das Gesetz hat das Christentum mit den heidnischen Religionen gemeinsam, wenn auch das Christentum in dem Wort der göttlichen Offenbarung das göttliche Gesetz in seiner ursprünglichen und vollkommenen Reinheit hat. Aber eins ist den Heiden völlig unbekannt. Ihnen ist völlig unbekannt, daß es jemand gibt, der das Gesetz für sie gehalten hat. Ihnen ist völlig unbekannt, daß Gott seinen Sohn in die Welt gesandt hat, um an Stelle der Menschen dem göttlichen Gesetz Genugtuung zu leisten, und daß nun die Menschen ohne eigene Werke, durch den Glauben an

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*) St. L. Ausg., IX, 288f.

**) „Das Wesen des Christentums." Dritte Aufl., S. 30.


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Christum selig werden. Dies Evangelium von Christo nennt Paulus 1 Cor. 2 „die heimliche, verborgene Weisheit Gottes", „welche keiner von den Obersten dieser Welt erkannt hat". Dies Evangelium von Christo bezeichnet er als etwas, „das kein Auge gesehen und kein Ohr gehöret hat und in keines Menschen Herz kommen ist". Und dieses Evangelium von Christo bezeichnet der Apostel als den eigentlichen Inhalt der ganzen christlichen Lehre, wenn er an derselben Stelle sagt: „Ich hielt mich nicht dafür, daß ich etwas wüßte unter euch, ohn allein JEsum Christum, den Gekreuzigten." Der Heidenwelt, die in Finsterniß und im Schatten des Todes sitzt, geht erst dann das Licht auf, wenn ihr das Evangelium von Christo gepredigt wird, wenn ihr die Botschaft gebracht wird: „Ihr seid durch Christum mit Gott versöhnt, ohne eure Werke ist durch Christum Gnade, volle Gnade für euch vorhanden; glaubt das, so habt ihr einen gnädigen Gott."

        Das ist das Wesen des Christentums.

II.

        Und an diesem Wesen des Christentums muß die christliche Kirche festhalten, wenn sie die Aufgabe erfüllen will, die ihr in dieser Welt zugewiesen ist, wenn sie das ausrichten will, wozu sie von Gott in die Welt gestellt ist und von Gott erhalten wird.

        Wozu nämlich ist die christliche Kirche in der Welt?

1.

        Erstlich und vor allen Dingen dazu, die Menschen selig zu machen. Durch den Staat sollen die Menschen äußerlich in Ordnung gehalten werden. Die Kirche hingegen soll die Menschen selig machen. Das ist die Aufgabe der Kirche in der Welt. Diesen Zweck der christlichen Kirche geben alle, die noch Christen sein wollen, ohne Weiteres zu.

        Wodurch aber erreicht die Kirche diesen ihren Zweck? Einzig und allein durch die Predigt des Evangeliums von Christo dem Gekreuzigten. Sie muß predigen: Gott hat den, der von keiner Sünde wußte, für uns zur Sünde gemacht, auf daß wir würden in ihm die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt. Dies Evangelium von Christo ist eine Kraft Gottes, die da selig macht alle, die daran glauben. Durch die eigene Sittlichkeit, durch die eigenen Werke, wird kein Fleisch vor Gott gerecht. Im Gegenteil: Die mit des Gesetzes Werken umgehen, sind unter dem Fluch. So gewiß es ist, daß alle diejenigen einen gnädigen Gott haben, die an Christum glauben, so gewiß ist es auch, daß Gott allen denen ungnädig ist, die mit ihrer eigenen Sittlichkeit vor ihn hintreten. Was würde daher geschehen, wenn die Kirche das Wesen des Christentums nicht in das Evangelium von Christo, sondern in des Menschen eigene Sittlichkeit setzen wollte, wenn sie anstatt der Gnade Gottes in Christo des Menschen Tugend und


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Werke zum Grund der Seligkeit machen wollte? Dies würde geschehen: sie würde die Menschen nicht zur Seligkeit, sondern in die ewige Verdammnißführen. Die Kirche würde mit dieser Predigt die größte Betrügerin werden, die es in der Welt gibt. Es gibt in der Welt viel Betrug. In , Handel und Wandel werden die Dinge fortwährend anders dargestellt, als sie sind, und dadurch Leute an ihrem irdischen Gut geschädigt oder zu schädigen gesucht. Aber der größte Betrug in der Welt ist eine Kirche, die anstatt Christum den Gekreuzigten menschliche Werke als Grund der Seligkeit predigt. Die bringt die Menschen um ihre Seligkeit, denn durch des Gesetzes Werke wird kein Fleisch gerecht, sagt der Apostel Gal. 2,16.

Ein Welt- und Menschenbetrug ist daher das Pabsttum. Das Pabsttum sucht alle Menschen an sich zu locken mit dem Versprechen, die Menschen sicher zur Seligkeit zu führen. Es behauptet, die alleinseligmachende Kirche zu sein. Und wenn die Menschen, durch dieses Versprechen und durch diese Behauptung angelockt, sich in den Schooß der Pabstkirche begeben, so werden sie angeleilet, anstatt allein auf Christum den Gekreuzigten auch auf eigene Werke und die Werke der Heiligen zu vertrauen, und da- j durch, soviel auf die Pabstkirche ankommt, mit Haufen in die Hölle geführt. Wenn Leute unter dem Pabsttum selig werden — und es gibt solche —, so kommt das daher, daß sie die papistische Werklehre nicht glauben, sondern in Sünden- und Todesnoth Christum als ihren einigen Erretter ergreifen.  Das Pabsttum ist durch seine in den Schein der Kirchlichkeit gehüllte Werklehre die größte Betrugsfirma in der Welt. Ein Welt-und Menschenbetrug sind ferner die Logen mit ihrer Religion. Die Logen nämlich haben auch die Werkreligion. Daß Christus der Gekreuzigte der sei, durch den alle Menschen zu Gott kommen mussen, ist ihnen ärgerlich. Sie wollen die Menschen auf Grund ihrer eigenen Vervollkommnung in ein besseres Jenseits führen. Betrüger an der Menschheit sind alle Sectenprediger, die so reden, als ob das Christentum in der Befolgung der "Golden Rule" bestehe, und die Bekehrung des Menschen als einen Versuch, ein besseres Leben zu führen, beschreiben. Betrüger an der Menschheit wären auch wir, wenn wir dem Berliner Professor folgen und das Wesen des Christentums in die menschliche Sittlichkeit setzen wollten. Wir würden dann auch, soweit unsere Lehre in Betracht kommt, keinen Menschen zur Seligkeit führen können. All unser Predigen wäre vergeblich. Alle unsere Geldopfer wären vergeblich. Alle unsere Synodalversammlungen wären vergeblich. Bestände das Wesen des Christentums anstatt im Glauben an das Evangelium von der Vergebung der Sünden um Christi willen in unserer eigenen Sittlichkeit, müßten wir durch eigene Werke selig werden, dann würde ich den Vorschlag machen, uns sofort zu vertagen und nach Hause zu gehen. Wir wären dann doch als Kirche nichts nutz in der Welt, wir könnten dann doch keinen Menschen zur Seligkeit führen, denn durch des Gesetzes Werke wird kein Fleisch vor Gott gerecht. Ich wüßte nicht, was


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uns anderes übrig bliebe, als Wehe über die ganze Welt und über uns selbst zu schreien.

Darum müssen wir unverworren bleiben mit dem alten und immer wieder neu aufgeputzten Irrtum, daß das Wesen des Christentums in des Menschen Sittlichkeit bestehe. Nein, nein! Das Christentum besteht im Glauben an das Evangelium, im Glauben an die Vergebung der Sünden, die Christus den Menschen erworben hat. Indem wir dies predigen, machen wir Menschen selig und erreichen so den Zweck der christlichen Kirche.

2.

        Zum andern soll die christliche Kirche den Menschen ein ruhiges Gewissen vor Gott und damit das höchste Glück verschaffen, das es hier auf Erden für die Menschen gibt. Durch den Dienst der christlichen Kirche soll ein Mensch sprechen können, und zwar in allen Lebenslagen sprechen können — auch in Krankheit, Armuth und mitten im Tode —: „Ich weiß, ich habe einen gnädigen Gott; Gott zürnt nicht mit mir, sondern Gott liebt mich, wie ein Vater sein Kind." Wenn eine Kirche, soviel an ihr ist, dies nicht leistet, so ist sie nichts nütze in der Welt. Christi Testament lautet: „Den Frieden lasse ich euch; meinen Frieden gebe ich euch", Joh. 14, 27. Dieses Testament des HErrn muß die Kirche vollstrecken.

        Wie aber geschieht dies? Wodurch allein verschafft die Kirche den Gewissen Ruhe? Wodurch allein kann sie in Menschenherzen die Zuversicht wirken: wir haben Vergebung der Sünden, einen gnädigen Gott? Allein durch das Evangelium, allein auf dem Wege des Glaubens an Christum, den Sünderheiland. „Nun wir denn sind gerecht worden durch den Glauben, so haben wir Friede mit Gott durch unsern HErrn JEfum Christ, durch welchen wir auch einen Zugang haben im Glauben zu dieser Gnade, darinnen wir stehen, und rühmen uns der Hoffnung der zukünftigen Herrlichkeit, die Gott geben soll", Röm. 5, 1. 2. Die Werklehre, das Vertrauen auf die eigene Sittlichkeit, läßt das Gewissen stets unruhig, unter der Anklage des göttlichen Gesetzes. Gottes Gesetz ist eine gewaltige Größe.  Es ist eine göttliche Größe. Gottes Gesetz, wie es in der Schrift geschrieben und auch wie es in unserem eigenen Herzen geschrieben steht, hört nicht auf, uns zu verurteilen und ein böses Gewissen zu machen, solange noch Sündliches an uns sich findet. Dieses verdammende Gottesurteil des Gesetzes kann nicht durch menschliches Meinen und Tun, sondern nur durch ein anderes göttliches Urteil aufgehoben werden, durch das göttliche Urteil des Evangeliums, wodurch Gott selbst um Christi willen die Sünder von ihrer Sündenschuld losspricht. Das böse Gewissen im Menschen weicht nur einer Behandlung: es muß das Blut JEsu Christi, des Sohnes Gottes, durch den Glauben dem Herzen applicirt werden. Professor Harnack freilich glaubt, die Gewissen ohne Christi Blut stillen zu können. Er gibt den Menschen die Anweisung, sie sollten


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sich nur nach dem Beispiele Christi Gott als Vater vorstellen. Alles, was ein Menschenantlitz trage, solle nur zuversichtlich sein Haupt erheben und Gott seinen Vater nennen, ohne Christi Person und Werk in das Evangelium einzustellen, das heißt, ohne an Christum den Gekreuzigten zu glauben. Aber Harnack mag von Zuversicht reden und zur Zuversicht auffordern, soviel er will. Die Zuversicht bleibt, mit Luther zu reden, nur in den Worten und im Munde und kommt nie ins Herz hinein. Und wenn die ganze Menschheit sich bei den Händen faßte und zehn Jahre lang, ja, ein ganzes Lebenlang schreien würde: Wir glauben zwar nicht an Christi für uns vergossenes Blut, aber wir stellen uns Gott als gnädig vor, so würde sie von ihrem eigenen Herzen und Gewissen dennoch verdammt werden. Die Menschen würden mit bösem Gewissen in die Grube fahren.

Es steht so: Gott wird als gnädig, als Vater erkannt, ergriffen, erfahren nur in Christo, nicht an Christo vorbei. Die Juden wollten auch mit Umgehung Christi Gott ihren Vater nennen. Sie weigerten sich, gerade wie Harnack, Christi Person und Werk in das Evangelium einzustellen. Christus aber hält ihnen vor : „So ihr nicht glaubet, daß ich es sei" — nämlich euer Heiland und Sündentilger —, „so werdet ihr sterben in euren Sünden", Joh. 8, 24. Ein Gewissen zur Ruhe, zum Frieden bringen, kann keine Creatur; das ist nicht Mensche n werk, sondern Gottes Werk. Gott der Heilige Geist muß an Stelle des Verdammungsurteils ein Begnadigungsurteil in das Gewissen schreiben. Der Heilige Geist aber ist ein Geist, der Christum verklärt. Indem er Christum als das Gotteslamm, das der Welt Sünde getragen hat, in den Herzen verklärt, wischt er das göttliche Verdammungsurteil im Gewissen aus und setzt er an dessen Stelle das Begnadigungsurteil und damit die Zuversicht: „Ich habe einen gnädigen Gott." Werklehrer, die das Wesen des Christentums in des Menschen eigene Sittlichkeit setzen, können ein Gewissen zeitweilig einschläfern, aber nicht zufriedenstellen. Sie sind nicht Friedebringer für die Menschheit, sondern Peiniger derselben. Luther nennt in der Erklärung von Ies. 52, 7. Werklehrer, wie die Papisten und Harnack, „traurige Nachteulen", die „mit ihrem Geheule schrecken". Aber von den Boten, die den Menschen das Evangelium von Christo dem Gekreuzigten bringen, sagt er: „Sie haben liebliche Füße, denn sie bringen das allerfröhlichste Wort für die unruhigen Gewissen mit sich. Das wissen diejenigen, deren Gewissen einmal in Gefahr gewesen sind."*)  Und zu Ies. 40, 2. bemerkt Luther: „Die Vergebung der Sünden steht nicht im Wirken [eines Menschen], noch auch darin, daß man das Gesetz lehrt und tut, sondern schlechterdings in der gnädigen Erlassung (der Sünden). Und diesen Spruch muß man sorgfältig festhalten. Denn wenn

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*) St. L. Ausg., VI, 611.


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die durch den Anblick der Sünden und durch das Gericht Gottes erschrockenen Gewissen das Gesetz [das heißt, das Urteil des Gesetzes] empfinden, so sollen wir unsere Zuflucht nicht zu unserem Tun und Werken nehmen. Denn die Sünde kann nicht durch unsere Werke überwunden werden. ... Es wird eine höhere Kraft, eine größere Macht zur Ueberwindung der Sünde erfordert. Daher müssen die bekümmerten Seelen so unterrichtet werden, daß sie erstlich ... alle Hoffnung von ihrem Verdienst wegwerfen; darnach, daß sie auf dieses Wort sehen: ,Ihre Missetat ist vergeben', und sich auf Christum werfen, der für uns ein Fluch geworden, auf daß er uns von dem Fluche erlösete, der deshalb gelitten hat und gekreuzigt worden ist, damit wir, nachdem unsere Sünden überwunden sind, gerecht im Glauben leben möchten, als die da versöhnt sind mit dem Vater durch das Blut des Sohnes und gerecht geachtet durch den Glauben an den Sohn. Das ist unsere Lehre, von welcher wir wissen, daß sie kräftig sei, die Gewissen aufzurichten."*) An dieser Lehre müssen auch wir festhalten und mit Harnack und allen Werklehrern unverworren bleiben, wollen wir anders die Gewissen recht stillen.

3.

Die christliche Kirche soll die Menschen zum Dienste Gottes zurückführen, sie reich machen an guten Werken. Um einen modernen Ausdruck zu gebrauchen: Die christliche Kirche soll „christliche Sittlichkeit" pflegen. Das ist auch ein Zweck der Erlösung, die durch Christum geschehen ist. St. Paulus schreibt Tit. 2, 14. von Christo: „Der sich selbst für uns gegeben hat, aus daß er uns erlösete von aller Ungerechtigkeit und reinigte ihm selbst ein Volk zum Eigentum, das fleißig wäre zu guten Werken." Die guten Werke der Menschen reichen nicht hin zur Erlangung der Seligkeit. Zur Erlangung der Seligkeit sind allein Christi vollkommene Werke genugsam. Aber deshalb sind die guten Werke der Christen nicht gering zu achten. Sie sind überaus kostbar. Sie sind mehr werth als die ganze Welt. Denn die Welt und alles, was darinnen ist, verbrennt am jüngsten Tage. Aber die guten Werke der Christen verbrennen nicht, sondern folgen ihnen nach in die Ewigkeit; sie werden von Gott mit einem herrlichen Gnadenlohn gekrönt. Gute Werke sind ein ewiger Schatz, den die Christen sich hier auf Erden sammeln sollen. Zu den Pflichten eines christlichen Predigers gehört auch die Sorge, daß alle Glieder der Gemeinde reich werden an guten Werken.

Aber wie kommt es zu guten Werken? Nur durch den Glauben an das Evangelium; nur dann, wenn die Seligkeit nicht aus den Werken des Menschen, sondern durch den Glauben an Christum den Gekreuzigten gelehrt wird. Wer das Wesen des Christentums in die menschliche Sittlichkeit,

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*) A. a. O., 473 f.


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in die Werke des Menschen setzt, der verliert mit der Seligkeit auch die guten Werke. Es hat noch niemals ein Mensch eher ein einziges gutes Werk getan, als bis er vorher glaubte, daß er ohne seine Werke, durch den Glauben an Christum einen gnädigen Gott habe.

Weshalb? Soll ein Werk gut sein, so muß es Gott getan werden, so muß Liebe zu Gott im Herzen des Thäters sein. Nun kommt aber nach dem Sündenfall Liebe zu Gott nur auf Eine Weise in ein Menschenherz, nämlich wenn es erkennt, glaubt und also erfährt: Gott hat sich meiner in Christo erbarmt; Gott hat mich durch Christum von der ewigen Verdammniß errettet und mir den Himmel geschenkt. Wenn daher der Apostel Paulus die Christen zur „christlichen Sittlichkeit" ermahnt, sagt er Röm. 12,1.: „Ich ermahne euch durch die Barmherzigkeit Gottes, daß ihr eure Leiber begebet zum Opfer, das da lebendig, heilig und Gott wohlgefällig sei." „Durch die Barmherzigkeit Gottes", das heißt, durch Erinnerung an die Tatsache, daß Gott auch seines eigenen Sohnes nicht verschont, sondern ihn für euch alle dahingegeben hat. Gute Werke tun, ist eine Kunst, die auf eine ganz bestimmte Menschenrasse sich beschränkt, die nur der kann, der an Christum als seinen Sündentilger glaubt. Luther sagt: „Christus muß für allen Dingen unser und wir sein werden, ehe wir zu den Werken greifen." *) Und an einer anderen Stelle: „Du mußt den Himmel haben und schon selig sein" (nämlich durch den Glauben an Christum), „ehe du gute Werke tust. Die Werke verdienen nicht den Himmel, sondern wiederum (umgekehrt), der Himmel, aus lauter Gnaden gegeben, tut die guten Werke dahin, ohne Gesuch des Verdienstes."**)

Zur christlichen Sittlichkeit gehört ja vor allen Dingen und zuerst eine himmlische Gesinnung, eine Gesinnung, die die eiteln Dinge dieser Welt verachtet und nach dem, das droben ist, trachtet. Diese Gesinnung aber bringt man einem Menschen weder durch Stoßen und Schlagen noch durch Streicheln, weder durch moralische Unterweisung noch durch Cultur und Wissenschaft, sondern einzig und allein dadurch bei, daß man ihm den durch Christum erworbenen Himmel schenkt. Das geschieht aber einzig und allein durch das Evangelium und den Glauben an dasselbe. Alles, was nicht durch den Glauben an Christum seinen Schatz im Himmel hat, ergötzt sich in irgend einer Weise an den Träbern dieser Welt. Etwas anderes ist gar nicht möglich.

Wer daher der christlichen Kirche die Lehre nimmt, daß wir ohne unsere Werke, durch den Glauben an Christum einen gnädigen Gott und die Seligkeit haben, der nimmt der christlichen Kirche damit auch die guten Werke. Und doch hat es seit des Apostels Paulus Zeiten viele Leute gegeben, die sich Christen nennen und dafür gestritten haben, man müsse, wenn es mit der „Sittlichkeit" und den guten Werken recht flecken solle, den Glauben an

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*) Erl. Ausg., 10, S. 43.            **) Walch, XII, 183.


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Christum zurück- und dafür die Werke des Menschen in den Vordergrund stellen. Es ist dies ein Beleg dafür, daß die Menschen, wenn sie in Sachen der Religion anstatt Gottes Wort den eigenen Gedanken folgen, unwissend, blind, thöricht, toll und rasend sind. Sie sind so unsinnig, als wenn jemand, der Früchte haben will, seinen Zweck dadurch erreichen wollte, daß er den Baum zerstört, der die Früchte hervorbringt. Nein, es ist eine unverrückliche Ordnung zwischen dem Glauben an Christum und den guten Werken. An erster Stelle steht der Glaube an Christum, und an zweiter Stelle stehen die guten Werke. Wer die Werke an die erste Stelle rücken will, der zerstört damit die guten Werke. Die guten Werke müssen an zweiter Stelle stehen bleiben, oder sie stehen überhaupt nicht, das heißt, sind überhaupt nicht vorhanden. Außer dem Glauben an Christum gibt es eine äußere, bürgerliche, natürliche Moral, die ihren Werth hat für das bürgerliche Leben, aber keine christliche Sittlichkeit, keine guten Werke, weil es außer dem Glauben an Christum keinen Heiligen Geist, keine auf Gott gerichtete Gesinnung, keine Liebe zu Gott gibt. Man kann außer Christo wohl von der Liebe zu Gott reden. Auch die Heiden haben das getan. Auch die Papisten, die Unitarier, die Logen 2c. tun das. Aber die Rede bleibt ein bloßes Gerede. Liebe zu Gott und dem Nächsten wird nach dem Fall nur auf Eine Weise in das menschliche Herz hineingepflanzt: durch den Glauben an Christum, den Sünderheiland. Darum sind alle diejenigen, welche mit Harnack und allen Werklehrern das Wesen des Christentums anstatt in den Glauben an Christum in die menschliche Sittlichkeit setzen wollen, Feinde und Zerstörer aller guten Werke. Die christliche Kirche muß mit ihnen unverworren bleiben.

4.

Die christliche Kirche soll die Menschen weise, verständig machen, so weise und verständig, daß sie in religiösen Dingen klar und sicher zwischen Wahrheit und Irrtum unterscheiden können. „Ihr werdet die Wahrheit erkennen", sagt der HErr Christus von denen, die zu seiner Kirche gehören, Joh. 8, 32.

Wann aber und wodurch kommt geistlicher Verstand in den Menschen hinein? St. Paulus schreibt 1 Cor. 2,15.: „Der Geistliche richtet alles, und wird von niemand gerichtet." Wer ist hier der „Geistliche" ? Das ist nach dem Zusammenhang des Textes nicht etwa der Pastor oder irgend eine besonders begabte Person in der Kirche, sondern jeder Christ, das heißt, jeder Mensch, der das Evangelium von Christo im Glauben erkannt und angenommen hat, der da weiß, daß man nicht durch eigene Werke, sondern durch den Glauben an Christum den Gekreuzigten einen gnädigen Gott und die Seligkeit hat. Das hat der Apostel Paulus zu Corinth und überall gepredigt, wie er an derselben Stelle, 1 Cor. 2,2., berichtet: „Ich hielt mich nicht dafür, daß ich etwas wüßte unter euch, ohn


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allein JEsum Christum, den Gekreuzigten." Das Seligwerden durch Christum den Gekreuzigten nennt der Apostel „die heimliche, verborgene Weisheit Gottes", die auch die Obersten in dieser Welt nicht erkannt haben, die aber Gott durch den Heiligen Geist im Evangelium von Christo geoffenbart hat. Und wer diese Weisheit, wer dieses Evangelium von Christo glaubt, der ist geistlich weise, geistlich verständig.

Hier an diesem Punkte ist die Scheidelinie zwischen Weisheit und Thorheit unter den Menschen. Wer erkannt hat, daß der Mensch ohne eigene Werke, durch den Glauben an Christum selig wird, der ist geistlich weise. Wer noch meint, das Wesen der christlichen Religion bestehe in des Menschen eigener Sittlichkeit, der ist noch geistlicher Weise unklug, nicht bloß etwas, sondern völlig blind, wenn er sonst auch alles Wissen, das es in der Welt gibt, in sich vereinigte. Christus, der Sünderheiland, der die Welt mit Gott versöhnt hat, ist eben das einzige geistliche Licht für die Menschen. Wer dieses Licht nicht in sich ausgenommen hat, das heißt, wer nicht auf Christi Tun und Leiden vor Gott vertraut, sondern noch seine eigene Gerechtigkeit vor Gott aufzurichten trachtet, der wohnt noch in dichter Finsterniß. Der versteht nichts vom Alten Testament, den« der Inhalt des Alten Testaments ist Christus, der Sünderheiland, wie Petrus Apost. 10, 43. bezeugt: „Von diesem" (nämlich Christo) „zeugen alle Propheten,        daß durch seinen Namen alle, die an ihn glauben, Vergebung der Sünden empfahen sollen." Der versteht nichts vom Neuen Testament, denn der Inhalt des Neuen Testaments ist auch Christus, der Sünderheiland, wie St. Paulus von seiner neutestamentlichen Predigt bezeugt : „Ich hielt mich nicht dafür, daß ich etwas wüßte unter euch, ohn allein JEsum Christum, den Gekreuzigten", 1 Cor. 2, 2. Dem ist die ganze heilige Schrift ein gänzlich unverstandenes, mit sieben Siegeln verschlossenes Buch, und wenn er auch die ganze Schrift Wort für Wort auswendig wüßte. Der versteht trotz alles Redens von Christo, von christlicher Sittlichkeit, von Liebe zu Gott und dem Nächsten 2c. vom Christentum nicht das Mindeste. Er meint noch, daß ein ganzes Dutzend Wege in den Himmel führen, und er kann je nach Umständen und nach einander Türke, Jude, Buddhist, Papist, Unitarier, Logenglied oder irgend etwas anderes werden. Ein Sprüchwort sagt: „In der Nacht sind alle Katzen grau." In der Nacht, in finsterer, stockfinsterer Nacht aber befinden sich und wandeln in geistlicher Beziehung noch alle, welche meinen, daß man durch die eigene Sittlichkeit in den Himmel kommen könne und müsse. Sie halten daher auch alle Religionen für wesentlich gleich. Sobald aber jemand das Licht des Evangeliums von Christo, dem Sünderheiland, aufgegangen ist, da hört die Zeit des Irrens in geistlichen Dingen auf. Nun weiß er: nicht ein Dutzend Wege führen in den Himmel, sondern nur ein einziger Weg: das Vertrauen auf JEsum Christum den Gekreuzigten. Klar und sicher erkennt und verwirft er alle Religionen als falsch, die Menschentun zum Grunde der Gnade Gottes


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und Seligkeit machen wollen. Er bleibt von Türken, Juden, Buddhisten, Papisten, Unitariern und Logen und allen falschen Religionen unverführt.

So hätten wir gesehen, warum es so wichtig ist, unter allen Umständen und allem Irrtum gegenüber festzuhalten, daß das Christentum im Glauben an Christum den Gekreuzigten besteht. Nur so nämlich können wir Menschen 1. selig, 2. der Gnade Gottes gewiß, 3. fleißig in guten Werken und 4. geistlich verständig machen. Gott erhalte uns aus Gnaden um Christi willen bei der Wahrheit des Evangeliums!