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Christliche Dogmatik Vol 2a 2017-06-12
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Volume 2a: pages, 1- 358

This is OCR text output for volume 2 of Franz Pieper's Christliche Dogmatik, produced by BackToLuther in 2015.  Originally, only the German text was recognized, not the but now the English, Latin, Greek or and Hebrew are available.  Yet This provides searchable text especially for the German, the base language of these textbooks.  –  However, I am adding recognition for the other languages and formatting as time permits.  See the noted date below for my progress. — Because of the size of this book is too large for Google Docs (672 pages), it has been broken up into Vol. 2a and Vol. 2b.   The other Part 2b (pages 358-690) may be found here.  – Any detailed use of this must be checked with the scanned version by clicking on the  >  link at the top of each page.

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Table of Contents [Inhaltsangabe]

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Christliche Dogmatik.

Von

D. Franz Pieper.

Zweiter Band:

Die seligmachende Gnade.   Christi Person und Werk.

Der seligmachende Glaube.   Die Entstehung des Glaubens.

Die Rechtfertigung durch den Glauben.

St. Louis, Mo.

CONCORDIA PUBLISHING HOUSE.

1917.


III  >  [English ed. VII]

Vorwort.

In diesem zweiten Bande der Dogmatik kommen die christlichen Lehren von der seligmachenden Gnade, von Christi Person und Werk, vom Glauben, von der Entstehung des Glaubens und von der Rechtfertigung durch den Glauben zur Darstellung, über die Aufgabe und die Methode einer zusammenhängenden Darstellung der christlichen Lehre habe ich mich in dem Vorwort zum ersten Bande ausgesprochen. Auch bei der Darstellung der Lehren, die den Inhalt dieses zweiten Bandes bilden, war ich bemüht, eine im rechten Sinne moderne Darlegung zu bieten. Darunter verstehe ich natürlich nicht eine „Orientierung der Dogmatik an dem „modernen Zeitbewußtseinoder dem „modernen Weltbild”. Das sind „schwankende Größen", wie selbst im liberal-theologischen Lager zugestanden worden ist. Eine im rechten Sinne moderne, „auf der Höhe der Zeit stehendeDarstellung der christlichen Lehre muß vornehmlich zwei Merkmale haben. Erstlich muß sie lediglich an Gottes Wort „orientiertsein, und zwar in diesem bestimmten Sinne, daß Gottes Wort ihre einzige Erkenntnisquelle ist. Dies gehört deshalb zu einer wirklich modernen Dogmatik, weil das Wort, das der Heilige Geist durch die Apostel und Propheten geredet hat und nun in der Heiligen Schrift schriftlich fixiert vorliegt, nicht nur für die apostolische Zeit, sondern für die christliche Kirche bis an den Jüngsten Tag, also gerade auch für das neunzehnte und zwanzigste Jahrhundert, das einzige principium cognoscendi der christlichen Wahrheit ist.1) Christus selbst sagt ausdrücklich, daß die Erkenntnis der christlichen Wahrheit sich nur durch das Bleiben an seinem Wort vermittelt,2) und sein Apostel erklärt, daß jeder verdüstert ist und nichts weiß (τετύψωζαι μηδέν έταστάμενος),, der nicht bei den gesunden Worten unsers HErrn JEsu Christi bleibt.3) Wenn in neuerer Zeit auch protestantische Dogmatiker die Heilige

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1) Joh. 17, 20; Eph. 2. 20.        2) Joh. 8, 31. 32.        3) 1 Tim. 6, 3. 4.


IV  >        Vorwort.  [English ed. VII–VIII]

 

Schrift als einzige Quelle der dogmatischen Darstellung ausdrücklich ablehnen und dafür das „christliche Glaubensbewußtseinoder das „christliche Erlebnissubstituieren wollen, so verzichten sie damit prinzipiell auf die sichere Erkenntnis der christlichen Wahrheit, und verlieren sie damit zugleich das Merkmal, im rechten Sinne modern zu sein. Nur durch das Bleiben an dem Wort der Schrift als der einzigen Erkenntnisquelle und darum auch der einzigen Norm der christlichen Lehre stehen wir tatsächlich „auf der Höhe der Zeitin jedem Jahrhundert, in jedem Jahre, an jedem Tage, zu jeder Stunde, bis auf die Stunde, da der HErr kommt und den Glauben an sein Wort in das Schauen von Angesicht zu Angesicht verwandelt. Das Wort menschlicher Lehrer, sei es das Wort einzelner Personen oder das Wort ganzer Kirchengemeinschaften, kann auch in dem Falle völliger Übereinstimmung mit Christi Wort immer nur als Zeugnis für die göttliche Wahrheit, nie als Quelle derselben in Betracht kommen. Zum andern gehört zu einer im rechten Sinne modernen Dogmatik, daß sie zu der „kirchlichen Bewegungnicht nur der Vergangenheit, sondern auch der Gegenwart in engste Beziehung tritt. Damit meine ich dies, daß die Dogmatik die für alle Zeiten in der Schrift geoffenbarte göttliche Wahrheit im Gegensatz zu den menschlichen Irrtümern nicht nur vergangener Zeiten, sondern auch unserer Zeit darzustellen und zu behaupten hat. Um ein Beispiel anzuführen: Die „kirchliche Bewegungder Gegenwart hat eine wunderliche „kirchliche Richtungan die Oberfläche gebracht. Es ist dies die Richtung, die es „bei dem heutigen Stande der Wissenschaftfür ein Ding der Unmöglichkeit erklärt, die Schrift nach dem Vorgang Christi (Joh. 10, 35) noch länger für Gottes unfehlbares Wort zu halten und demgemäß als einzige Quelle und Norm der christlichen Lehre zu verwenden. Die Vertreter dieser Richtung glauben sich der göttlichen Wahrheit sicherer und gewisser bemächtigen zu können, wenn sic dieselbe anstatt aus der Heiligen Schrift aus dem eigenen Inneren beziehen und an dem eigenen Inneren orientieren. Eine dogmatische Verständigung mit dieser Richtung ist nicht möglich, weil contra principium (nämlich das Sola Scriptura) necantem disputari non potest. Die Auseinandersetzung mit dieser Richtung vollzieht sich


V  >        Vorwort.  [English ed. VIII]

 

auch in diesem Teil der Dogmatik in der Weise, daß die „Wissenschaft", auf die man sich beruft, als unwissenschaftliche Selbsttäuschung, speziell als Unlogik, aufgezeigt wird.

Es könnte auf den ersten Blick befremden, daß der Christologie, insonderheit der Lehre von Christi Person, in der Darlegung ein etwas breiter Raum gewährt worden ist. Ich selbst dachte an Beschränkung, ließ dann aber den Gedanken aus mehreren Gründen wieder fallen. Einmal ist es Tatsache, daß die moderne Theologie auch positiver Richtung die Enhypostasie der menschlichen Natur Christi, das heißt, die Menschwerdung des Sohnes, zumeist ausdrücklich aufgegeben hat.4) Sodann haben wir mit der weiteren Tatsache zu rechnen, daß die lutherische Kirche Amerikas in reformierter Umgebung lebt. Die dogmatischen Arbeiten so bedeutender reformierter Dogmatiker wie Charles Hodge und William Shedd sind auch in unsern Kreisen verbreitet. In diesen Arbeiten wird aber die Christologie der lutherischen Kirche heftig, zum Teil fanatisch, bekämpft. Luther wird als ein Konfusionarius in der Christologie dargestellt und die Lehre der Konkordienformel als eine Sammlung von widerspruchsvollen Sätzen geradezu verspottet.5) So hielt ich es für geboten, den reformierten Einwürfen möglichst in alle Winkel nachzugehen und sie nicht nur als der Schrift, sondern auch als dem eigenen reformierten Standpunkt widersprechend aufzuzeigen.

Die ausführliche Darlegung der Lehre von der Entstehung des Glaubens oder von der Bekehrung dürfte jedermann in Ordnung finden. Einmal im Hinblick auf den langjährigen Kampf, der über diese Lehre in der amerikanisch-lutherischen Kirche geführt wurde, sodann angesichts der Tatsache, daß der Synergismus die Krankheit der modernen Theologie ist. Nichts ist der modernen Theologie auch positiver Richtung geläufiger als der Satz, daß dem Menschen vor der Bekehrung die Fähigkeit, sich für oder wider die Gnade zu entscheiden, gewahrt werden müsse. Die Erkenntnis, daß man mit diesem Satz die Schriftlehre von Sünde und Gnade leugnet und sich auf Erasmus' Plattform Wider Luther und die Kirche der Reformation gestellt

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4) Dorner, Geschichte der protestantischen Theologie, S. 875.

5) Hodge, Systematic Theology, II. 407—418.


VI  >        Vorwort.  [English ed. VIII–IX]

 

hat — diese Erkenntnis ist weiten Kreisen ganz verloren gegangen. Ich habe mir deshalb Mühe gegeben, die Einwände des Synergismus gegen den Monergismus vollständig zusammenzustellen und in ihrer Haltlosigkeit aufzuzeigen.

Daß der articulus stantis et cadentis ecclesiae, die Lehre von der Rechtfertigung, ausführlich dargelegt ist, bedarf keiner Entschuldigung, weil alle Schriftlehren entweder antecedens  oder consequens dieser Lehre sind und alle Irrlehren entweder direkt oder indirekt gegen diesen Artikel angehen.

Die Lehren, welche im zweiten und dritten Bande dargelegt werden, sind von mir in Synodalreferaten, in den Zeitschriften der Synode, in Vorträgen vor Studenten und in einzelnen Schriften ausführlich behandelt worden. Man wird es daher nicht übel deuten, wenn ich in der dogmatischen Darstellung hin und wieder auf diese Arbeiten verweise. Der dritte Band wird, will's Gott, in einigen Monaten erscheinen. Gewisser Umstände halber erscheint der erste Band zuletzt.

Soli Deo Gloria!!

St. Louis, Mo., im August 1917.

F. Pieper.


VII  >  [English ed. XI]

Inhaltsangabe.

Die seligmachende Gnade Gottes.

1. Die Notwendigkeit der Gnade, S. 1. [The Necessity of Grace, pg 3]  Der Gesetzesweg zur Seligkeit.   Der Gnadenweg zur Seligkeit.   Der Gnadenweg das Charakteristikum des Christentums.  Verhältnis der Gnadenmittel und des Glaubens zum Gnadenwege.

2. Der Begriff der seligmachenden Gnade, S. 5. [The Concept of Saving Grace, pg 7]  Die seligmachende Gnade ist die gnädige Gesinnung Gottes ftavor vei) in Christo, nicht die sogenannte eingegossene Gnade (gratia infusa).   Synonyma der Gnade.   Die scharfe Unterscheidung zwischen favor Dei und gratia infusa das Charakteristikum des Christentums und der lutherischen Kirche.

3. Die Eigenschaften der seligmachenden Gnade, S. 17. [Attributes of Saving Grace, pg 18]  Die Gnade ist a. nicht absolute, auf Gottes Machtvollkommenheit beruhende Gnade, sondern Gnade in Christo, das heißt, um Christi stellvertretender Genugtuung willen, b. Allgemeine Gnade. Direkte und indirekte Leugnung der allgemeinen Gnade, c. Ernstliche Gnade. Beschreibung der ernstlichen Gnade. Direkte und indirekte Leugnung der ernstlichen Gnade. Der schriftgemäße Begriff der Verstockung.

4. Die kirchliche Terminologie in bezug auf den Gnadenwillen Gottes, S. 36. [Theological Terminology Regarding the Divine Will of Grace, pg 34] Voluntas absoluta und ordinata.   Die Zweideutigkeit des Terminus voluntas conditionata.   Voluntas antecedens und consequens.   Voluntas revelata und abscondita.   Die wesentliche Verschiedenheit zwischen Luther und Calvin im Gebrauch dieses Terminus.

Slußbemerkung, S. 53.

 Die Lehre von Christo.

Wichtigkeit und Einteilung dieser Lehre, S. 56. [Importance and Division of the Doctrine, pg 55]

I. Die Lehre von Christi Person.

Zusammenfassende Darstellung, S. 58. [The Doctrine of the Person of Christ, pg 56]

Die wahre Gottheit Christi, S. 61. [The True Deity of Christ, pg 59]  Die Schriftlehre im Gegensatz zu den verschiedenen Abweichungen von der Schriftlehre. Ursachen der Leugnung der Gottheit Christi.

Die wahre Menschheit Christi, S. 67. [The True Humanity of Christ, pg 67]  Die Schriftlehre im Gegensatz zu den verschiedenen Abweichungen von der Schriftlehre.   Der Menschensohn. S. 74.  [The Son of Man, pg 71] Besonderheiten der menschlichen Natur Christi:, S. 75  [Peculiarities of Christ's Human Nature, p. 71]:    ihre Entstehung durch Wirkung des Heiligen Geistes, S. 75 [The Human Nature of Christ Came into Existence Through the Operation of the Holy Ghost, p. 71];   ihre Sündlosigkeit, S. 77;  [The Sinlessness of the Human Nature of Christ, p 73] ihre Unpersönlichkeit oder ihre persönliche Existenz in der Person des Sohnes Gottes (έννποοταοία), S. 84 [The Impersonality of the Human Nature of Christ, p. 79].


VIII  >        Inhaltsangabe.  [English ed. XI]

 

Die personliche Vereinigung (unio personalis), S. 92 [The Personal Union , p. 85].  Die Einzigartigkeit dieser Vereinigung im Unterschiede von allen andern Verbindungen Gottes mit den Kreaturen. Die Abweisung der verschiedenen Substitute für die unio personalis, S. 97 [English ed. - see pg 88].  Die christologischen Aufstellungen der Neuzeit in ihrer Abweichung von der Schriftlehre, S. 114 [The Personal Union and the Christological Theories of Modern Theology, p. 103].  Halbe und ganze Kenotiker, die Autohypostatiker. Offene und versteckte Gegner der .Zweinaturenlehre”. Der unwissenschaftliche Charakter der Gegenstellung, S. 128. [English ed. - see pg 114]

Die Gemeinschaft der Naturen (communio naturarum), S. 133. [The Communion of Natures, p. 118] Die communio naturarum ist nichts außer und neben der unio personalis, S. 134. [The Reason for the Special Discussion of the Communion of Natures, p. 118] Die Leugnung der Gemeinschaft der Naturen seitens der Reformierten schließt einen Selbstwiderspruch und eine Leugnung der Schriftaussagen in sich, S. 136. [Critique of the Denial of the Communion of Natures, p. 120] Die nähere Beschaffenheit der communio naturarum, S. 139. [The Communion of Natures More Completely Described, p. 123]  Sie besteht in einem Ineinandersein der Naturen (περιχώρησις), ohne Vermischung und Verwandlung derselben.

Die Mitteilung der Eigenschaften (communicatio idiomatum), S. 146. [The Communion of Attributes, p. 129] Sie ist nichts außer und neben der unio personalis. Die drei Arten der Mitteilung der Eigenschaften. Wichtigkeit, resp. Unwichtigkeit der Dreizahl. Der schlichte Christ glaubt sämtliche genera der Mitteilung der Eigenschaften auf Grund der klaren Schriftaussagen.

Erste Art der Mitteilung der Eigenschaften (genus idiomaticum), S. 152. [The First Genus of Communication of Attributes, p. 135] Veranlassung der Aufstellung dieses genus: die Absonderung des Sohnes Gottes von den Prädikaten der menschlichen Natur Christi, wie Geborenwerden, Leiden. Sterben. Nestorius, Zwingli, die Reformierten, Die Schriftwidrigkeit dieser Absonderung und ihr die satisfactio vicaria aufhebender Charakter. Definition des ersten genus der Mitteilung der Eigenschaften, S. 160: [English ed. p. 143]  „Weil die göttliche und die menschliche Natur in Christo eine Person bilden, so kommen die Eigenschaften, welche nur einer Natur wesentlich zugehören, stets der ganzen Person zu, aber die göttlichen Eigenschaften nach der göttlichen Natur, die menschlichen nach der menschlichen Natur,” Die Schriftmäßigkeit dieser Beschreibung, S. 161. [English ed, p. 146] Beurteilung der Leugner des ersten genus, S. 164. [Critique of the Denial of the First Genus, p. 147] Praktische Retraktion der Leugnung des ersten genus, S. 167. [English ed. p. 150]   [Die abstrakten Redeweisen bei der ersten Art der Mitteilung der Eigenschaften, S. 169]  [Abstract Terms in the First Genus, p. 151] 

Die zweite Art der Mitteilung der Eigenschaften (genus maiestaticum), S. 169  [The Second Genus of the Communication of Attributes, p. 152]Veranlassung der Aufstellung dieses genus: die Absonderung der Prädikate der göttlichen Natur von der menschlichen Natur Christi (Finitum non est capax infiniti), seitens der Reformierten. Diese Absonderung schließt sowohl einen Selbstwiderspruch in sich als auch einen Widerspruch gegen solche allgemeine Schriftaussagen, die die Mitteilung aller göttlichen Eigenschaften an die menschliche Natur decken, S. 171. [The Second Genus of the Communication of Attributes, p. 152] Die Schrift lehrt aber auch noch insonderheit die Mitteilung der einzelnen göttlichen Eigenschaften an die menschliche Natur Christi.

Die mitgeteilte Allmacht. Schriftlehre unter Berücksichtigung der Stände Christi, S. 176. [Communicated Omnipotence, p. 158]

Die mitgeteilte Allwissenheit. Schriftlehre unter Berücksichtigung der Stände Christi, S. 179. [Communicated Omniscience, p. 162]

Die mitgeteilte Allgegenwart. Konzentrierter Widerspruch der reformierten und moderner Theologen gegen die Mitteilung der Allgegenwart, S. 183.[Communicated Omnipresence, p. 166]  Beweis, daß auch dieser Widerspruch unwissenschaftlich und


IX  >        Inhaltsangabe.  [English ed. XI–XII]

schriftwidrig ist, S. 184. [English ed. p. 167] Einzelheiten in bezug auf die Mitteilung der Allgegenwart: 1. Die Art und Weise der Allgegenwart Christi nach der menschlichen Natur (modus omnipraesentiae), S. 192. [English ed. p. 173]  Der Wahn der lokalen Ausdehnung. Die Schriftlehre von der mindestens dreifachen Seinsweise Christi nach der menschlichen Natur: der räumlichen, unräumlichen und der übernatürlichen oder göttlichen Seinsweise (modus subsistendi). Nur nach der letzteren kommt der menschlichen Natur Christi die Allgegenwart zu.   2. Die mitgeteilte Allgegenwart und das heilige Abendmahl, S. 210. [English ed. p. 190] Die weitverbreitete Sage, daß die Lehre von der mitgeteilten Allgegenwart von Luther konstruiert sei, um die reale Gegenwart des Leibes und Blutes Christi im Abendmahl beweisen zu können. 3. Die Übereinstimmung der Lutheraner in bezug auf die mitgeteilte Allgegenwart, S. 215. [English ed. p. 195] Angebliche Differenz zwischen Luther und Brenz einerseits und Chemnitz und den Sachsen andererseits. 4. Die mitgeteilte Allgegenwart im Stande der Erniedrigung und der Erhöhung, S. 227. [English ed. p. 205]

Die mitgeteilte göttliche Ehre S.237. [Communicated Divine Honor, p. 215] Das Schwanken der Leugner des genus maiestaticum in bezug auf dieses Attribut. Die Schriftlehre. Die Einwände der reformierten und römischen Theologie beruhen auf der Aushebung der unio personalis, S. 237. [Communicated Divine Honor, p. 215]

Definition des zweiten Genus  [The Difference Between the Second Genus of Communication of Attributes and the First Genus, p. 219] der Mitteilung der Eigenschaften im Unterschiede von dem ersten: „Im zweiten Genus werden der Person Christi göttliche Eigenschaften auch nach der menschlichen Natur zugeschrieben, nicht zwar als wesentliche, wohl aber als mitgeteilte Eigenschaften, weil die göttliche Natur mit ihren Eigenschaften in der menschlichen Natur als ihrem eigenen Leibe wohnt und zur Wirksamkeit kommt", S. 241. [p. 219] 

Erläuterung dieser Definition durch die folgenden Punkte: 1. Keine Trennung der göttlichen Eigenschaften von dem göttlichen Wesen beim zweiten Genus. Widerlegung des Einwurfs, daß "two sets of divine propertiesdurch das genus maiestaticum entstehen, S. 247.  [In the Second Genus the Divine Attributes are Not Separated from the Divine Essence, p. 224]  2. Die vocabula abstracta beim genus maiestaticum, S. 251. [The Abstract Terms of the Genus Maiestaticum, p. 227]  3. Keine Gegenseitigkeit bei diesem genus. Die gegenteilige Annahme ist Wider die Schrift und sinnlos, S. 253. [No Reciprocity of the Second Genus, p. 229]  4. Alle göttlichen Eigenschaften, nicht nur die wirkenden, sondern auch die ruhenden, sind in die menschliche Natur Christi eingegangen; aber nur die ersteren bringt die Schrift zu direkter Aussage, S. 260 . [All Divine Attributes are Communicated to the Human Nature, p. 236]

Die dritte Art der Mitteilung der göttlichen Eigenschaften  [The Third Genus of the Communication of Attributes, p. 243] (genus apoteles maticum). Veranlassung der Aufstellung dieses Zenus. die menschliche Natur Christi sei in ihrem Handeln oder Wirken von dem Handeln oder Wirken der göttlichen Natur zu trennen, weil die endliche menschliche Natur nicht Organ für die Betätigungen der unendlichen göttlichen Natur sein könne, S. 267. [p. 243] Nachweis, daß mit dieser Behauptung die reformierte Theologie a. sich selbst, b. der Schrift widerspricht.

Definition des dritten Genus: „Alle Amtswerke, die Christus als Prophet, Hoherpriester und König zur Seligmachung der Menschen gewirkt hat und noch wirkt, wirkt er nach beiden Naturen, indem jede Natur das ihr Eigentümliche nicht getrennt von der andern, sondern in steter Gemeinschaft mit der andern in einem ungeteilten Akt (actio ϑεανδριχή) wirkt.  Nachweis, daß die reformierte Theologie mit der Leugnung dieses genus a. sich selbst, b. der Schrift widerspricht, S. 272. [English ed. p. 247] 


X  >                Inhaltsangabe.  [English ed. XII–XIII]

 

Die praktische Wichtigkeit des genus apotelesmaticum. [The Importance of the Genus Apotelesmaticum, p. 252]   Die Leugnung dieses xenus hebt den einzigartigen Charakter des prophetischen, hohepriesterlichen und königlichen Amtes auf, S. 277. [p. 252]  —  Das Zeugnis der alten Kirche für das genus apotelesmaticum, S. 284.  [The Genus Apotelesmaticum and the Ancient Church, p. 258] — Bei diesem genus werden gleichlautende Ausdrücke in verschiedenem Sinn gebraucht, S. 288.  [Lutherans and Reformed Use the Same Terms of the Third Genus in a Different Sense, p. 260] — Abweisung des Eutychianismus und Nestorianismus beim genus apotelesmaticum, S. 296. [Eutychianism and Nestorianism Repudiated in the Third Genus, p. 268] 

Zusammenfassende Beurteilung der reformierten Christologie, S. 299. [Summary Critique of Reformed Christology, p. 271] 

II. Die Stände Christi.

[The Doctrine of the States of Christ, p. 280] 

1. Wesen und Begriff der Erniedrigung und der Erhöhung. Die Schriftlehre, insonderheit Phil. 2, 5 ff., S. 311.  [The Nature of the humiliation and the Exaltation, p. 281]  2. Irrige Begriffe von der Erniedrigung Christi (Inkarnation, moderne Kenosis, bloße Krypsis), S. 328.  [False Views of the Humiliation of Christ, p. 292]  3. Der kryptisch-kenotische Streit, S. 337.  [The Crypto-Kenotic Controversy, 1619-1627, p. 296]  4. Unsicherheit in der Beurteilung dieses Streits, S. 345.  [?? omitted? ] 


Inhaltsangabe.

(for Part 2 only)

II. Die Stände Christi.

.... 5. Zur Terminologie in bezug auf die Erniedrigung und Erhöhung. Die Terminologie der F.C. ist schriftgemäß, S. 358. [On the Terminology Used in Describing the Humiliation and Exaltation, p. 301] 

Die einzelnen Teile der Erniedrigung und Erhöhung. Empfängnis und Geburt, S. 364 ; [2. The Several Stages of Christ's Humiliation and Exaltation, p. 305; Christ's Conception and Nativity, p. 306];   Erziehung, Zunehmen an Weisheit und sichtbarer Wandel, S. 368 [Christ's Education, Growth in Wisdom, and Visible Earthly Life, p. 309] ; Leiden, Tod und Begräbnis, S. 370 [Christ's Suffering, Death, and Burial, p. 310] ; die Höllenfahrt, S. 374 [Christ's Descent into Hell, p. 314]; die Auferstehung, S. 379 [The Resurrection of Christ, p. 320 (missing in printed book TOC] ; die vierzig Tage zwischen Auferstehung und Himmelfahrt, S. 382 [The Forty Days Between Christ's Resurrection and Ascension, p. 323] ; die Himmelfahrt, S. 382 [Christ's Ascension, p. 324] ; das Sitzen zur Rechten Gottes, S. 386. [Christ's Session at God's Right Hand, p. 329; Christ's Second Advent, p. 330] 

III. Christi Werk.

[The Doctrine of Christ's Office] 

Im allgemeinen, S. 388 [In General, p. 330] ; im besonderen: die Dreiteilung und die Zweiteilung, S. 393. [The Threefold Office of Christ, p. 333] 

Das prophetische Amt. [The Prophetic Office of Christ, p. 334]   Im Stande der Erniedrigung, S. 394 [The Execution of the Prophetic Office in the State of Humiliation, p. 334] ; im Stande der Erhöhung, S. 400. [The Execution of the Prophetic Office in the State of Exaltation, p. 339] 

Das hohepriesterliche Amt. Im Stande der Erniedrigung, S. 404. [The Sacerdotal Office of Christ in the State of Humiliation, p. 342]  Die satisfactio vicaria. [The Vicarious Satisfaction, p. 344]   Der schriftgemäße Inhalt dieses kirchlichen Ausdrucks. Objektive und subjektive Versöhnung, S. 411. [Objective and Subjective Reconciliation, p. 347]  Die Einwürfe gegen die satisfactio vicaria und ihre Widerlegung, S. 416. [Objections Raised Against the Vicarious Satisfaction, p. 351]  Geschichtliches über die satisfactio vicaria, S. 422. [Historical Notes on the Doctrine of the Vicarious Satisfaction, p. 356]  Nähere Beschreibung moderner Versöhnungstheorien, ihr schriftwidriger und unwissenschaftlicher Charakter, ihre praktische Unbrauchbarkeit, S. 429. [Some Modern Theories of the Atonement Examined, p. 361] 

Der tätige Gehorsam Christi (obedientia Christi activa), S. 446. [The Active Obedience of Christ, 372] 

Das Opfer Christi und die Sühnopfer des Alten Testaments, S. 453. [The Sacrifice of Christ and the Sacrifices of the Old Testament, p. 378] 

Wem und für wen Christus Genugtuung geleistet habe, S. 455. [To Whom and for Whom Christ Rendered Satisfaction, p. 379] 

Das hohepriesterliche Amt im Stande der Erhöhung, S.459. [The Intercession of Christ, p. 382] 

Das königliche Amt. [The Kingly Office of Christ, p. 385]  Die Dreiteilung der Reiche. [A Threefold Kingdom, p. 385] Einheit und Verschiedenheit der Reiche. [The Unity of the Three Kingdoms, p. 386; Differences of the Three Kingdoms, p. 387; The Doctrine of the Kingly Office of Christ an Article of Faith 389]  Abweichungen von der Schriftlehre, S. 461. [False Teachings Regarding the Kingly Office of Christ, p. 390] 


XI  >                Inhaltsangabe.  [English ed. XIII]

 

Die Aneignung des von Christo erworbenen Heils. 

[Application of Salvation, p. 397] 

(De gratia Spiritus S. applicatrice.)

1. Zusammenfassende Darstellung von der Berufung an bis zur Vollendung im ewigen Leben, S. 473. [Preliminary Survey, p. 397]  2. Die äußere Anordnung der einzelnen Teile der Heilsordnung. Unnötiger Streit darüber, S. 499. [Orderly Arrangement of the Doctrines Pertaining to the "Ordo Salutis", p. 419] 

Der seligmachende Glaube. 

Der Glaube, insofern er rechtfertigt und selig macht, hat nur das Evangelium zum Objekt, S. 505; [1. The Sole Object o} Saving Faith Is the Gospel, p. 423]  ist fiducia cordis, S. 508; [2. Saving Faith Is "Fiducia Cordis", p. 426]  ist fides specialis, S. 515; [3. Saving Faith Is "Fides Specialis", p. 431]  ist fides actualis, S. 517; [4. Saving Faith Is "Fides Actualis", p. 432]  ist lediglich instrumental, S. 524; [5. The Function of Faith in justification, p. 437]  ist fides directa, S. 532; [6. Saving Faith Is "Fides Directa", p. 443]  ist Gewißheit der Gnade. Glaube und Zeugnis des Heiligen Geistes, S. 534; [7. Saving Faith Embraces the Assurance of Grace, Faith, and the Testimony of the Holy Ghost, p. 445]  ist Glaube an das Wort von der Gnade, S. 535.  [8. Saving Faith Is Trust in the Grace That is Offered to Us in the Gospel, p. 446]  Der Glaube der Kinder, S. 537. [9. The Faith of Infants, p. 448]  Der Glaube in verschiedener Bedeutung und Terminologisches, S. 539. [10. On Me Meaning of be Term "Faith", p. 449] 

Die Entstehung des Glaubens oder die Bekehrung. [Conversion, p. 452] 

Der Abfall von der Schriftlehre innerhalb der lutherischen Kirche, S. 542.  Das Wesen der Bekehrung (forma conversionis), S. 544. [1. The Nature of Conversion, p. 454]  Die bewirkende Ursache der Bekehrung, S. 546. [2. The Efficient Cause of Conversion, p. 455]  Die Mittel, durch welche die Bekehrung sich vollzieht, S. 550. [3. The Means Through Which God Effects Conversion, p. 459]  Die inneren Vorgänge bei der Bekehrung, S. 551. [4. The Inner Motions of Conversion, p. 459]  Die Bekehrung geschieht im Augenblick, S. 552. [5. Conversion Is Instantaneous, p. 461]  Die Bekehrung kann vom Menschen verhindert werden, S. 557. [6. Man Can Prevent His Conversion, p. 464]  Transitive und intransitive Bekehrung, S. 558. [7. Transitive and Intransitive Conversion, p. 466]  Fortgesetzte Bekehrung, S. 559. [8. Continued Conversion, p. 466]  Wiederholte Bekehrung, S. 560. [9. Re-Conversion particulars, p. 467] 

Die Einwürfe gegen die Alleinwirksamkeit Gottes in der Bekehrung, S. 564 ff. [10. Objections to Divine Monergsm in Conversion, p. 471] 

Die angeblichen Gründe gegen die Alleinwirksamkeit Gottes: 1. Der Glaube werde von Gott gefordert, S. 564. [Argument 1: Since God requires men to believe..., p. 471]  2. Ohne die Annahme einer Mitwirkung oder eines rechten Verhaltens seitens des Menschen sei die Bekehrung ein Zwang, S. 566. [Argument 2: Unless man assists in bringing about his conversion ..., p. 472]  3. Gott gebe die Kraft zum Glauben, aber nicht den Akt des Glaubens, S. 567. [Argument 3: God gives man the ability to believe but does not create the act of faith. p. 473]  4. Würde der Heilige Geist ohne menschliche Mitwirkung den Glauben wirken, so würde nicht der Mensch, sondern der Heilige Geist Subjekt des Glaubens sein, S. 568. [Argument 4: If the Holy Ghost were the sole author of faith, He, and not man, would be doing the believing.  p. 474]  5. Weil der Grund der Nichtbekehrung im Menschen liege, so müsse auch für die Bekehrung irgendein Grund im Menschen liegen, S. 568.  [Argument 5: Since man can hinder his conversion, it follows that man can also co-operate toward his conversion..., p. 474-5] 6. Der „moralische Charakterder Bekehrung fordere Mitwirkung des Menschen zur Bekehrung, S. 571. [Argument 6: If man does not co-operate in his conversion, conversion is not a "moralprocess. p. 476]  7. Die Bekehrung als ein „freierVorgang schließe eine menschliche Mitwirkung ein, S. 573. [Argument 7: Man acts as a free agent in his conversion. p. 477]  8. Die natürliche Ehrbarkeit (probitas naturalis, iustitia civilis) bilde eine Art Vorbereitung auf die Bekehrung, S. 574. [Argument 8: Natural probity, civil righteousness prepare men for conversion. p. 478]  9. Die Fähigkeit, die Gnadenmittel zu gebrauchen, sei als ein Beitrag zur Bekehrung auszufassen, S. 575. [Argument 9: Natural man is able to make use of the means of grace, say the synergists as they argue against the monergism of the Holy Ghost. P 479] 

Die wirklichen Gründe für die Bekämpfung der Alleinwirksamkeit Gottes in der Bekehrung: 1. die dem Menschen angeborne opinio legis, daß der Mensch irgend etwas zu seiner Rückkehr in Gottes Gnadengemeinschaft tun könne und müsse, S. 581; [The True Reason for Opposing Divine Monergism in Conversion, p. 483]  2. im besonderen die versuchte Beseitigung der crux theologorum, warum bei der allgemeinen ernstlichen Gnade Gottes und dem gleichen gänzlichen Verderben aller Menschen nicht alle Menschen tatsächlich bekehrt werden. Luther, die Konkordienformel und die lutherischen Theologen des sechzehnten Jahrhunderts erwarten


XII         >        Inhaltsangabe.  [English ed. XIII–XIV]

 

die Beantwortung dieser Frage im ewigen Leben; die Synergisten und die Calvinisten beantworten diese Frage in diesem Leben — die ersteren durch Leugnung der sola gratia, die letzteren durch Leugnung der universalis gratia. Der Unterschied zwischen den früheren und späteren lutherischen Theologen. Der Unterschied zwischen den späteren lutherischen Theologen und den lutherischen Theologen der Neuzeit. Die richtige Stellung einzelner Theologen Deutschlands. Die richtige und die falsche Stellung amerikanischer Theologen und Gemeinschaften.

Zusammenfassende Darstellung der Schädlichkeit des Synergismus, S. 591. [The Pernicious Character of Synergism, p. 492] 

Die Synonyma von Bekehrung.  [11. Synonyms of Conversion, p. 498]  Unvermeidliche Verwirrung der Lehre von der Heilsaneignung, wenn nicht die Synonyma von Bekehrung erkannt werden.  Die Synonyma im lutherischen Bekenntnis, S. 599. [English ed., p. 498]   Die Wiedergeburt (regeneratio), S. 600. [English ed., p. 499]   Die Lebendigmachung oder Auferweckung (vivificatio, resuscitatio), S. 601.  [English ed., p. 500]  Die Erleuchtung (illuminatio), S. 603. [English ed., p. 501]  Die Berufung (vocatio), S. 604. [English ed., p. 502]   Die Buße (poenitentia), S. 604. [English ed., p. 502] 

Die Rechtfertigung durch den Glauben. 

[Justification by Faith, p. 503] 

1. Die Rechtfertigung geschieht ohne des Gesetzes Werke durch den Glauben, S. 606. [1. Justification by Faith, Without the Deeds of the Law, p. 503]   2. Die Polemik der Schrift gegen die Einmengung der Werke in die Rechtfertigung, S. 609.  [2. The Strong Language Used in Scripture Against the Workmongers, p. 506]  3. Die Voraussetzungen der Rechtfertigung durch den Glauben, S. 611. [3. The Postulates of Justification by Faith, Without Works, p. 508]   4. Die zentrale Stellung der Lehre von der Rechtfertigung, S. 617. [4. Justification the Central Doctrine of the Christian Religion. p. 512]   5. Die tatsächliche Übereinstimmung aller Christen im Artikel von der Rechtfertigung, S. 621. [5. All Christians Believe in Justification by Faith, p. 516]   6. Die Schädlichkeit des Irrens in der Lehre von der Rechtfertigung, S. 624. [6. The Disastrous Results of the Denial of Justification by Faith, p. 518]   7. Die kirchliche Terminologie zur Sicherstellung der christlichen Lehre von der Rechtfertigung, S. 628.  [7. The Terminology Employed in Presenting This Doctrine, p. 522]  8. Die Rechtfertigung aus den Werken, S. 654. [8. Justification on the Basis of Works, p. 541]   9.  Die Lehre von der Rechtfertigung und die Scheidung von Gesetz und Evangelium, S. 659. [9. The Doctrine of Justification and the Distinction Between the Law and the Gospel, p. 545]   10. Die Gewißheit der Rechtfertigung, S. 663. [10. The Assurance of justification, p. 548]   11. Die Papstkirche und die Lehre von der Rechtfertigung, S. 667. [11. The Papacy and the Doctrine of justification, p. 552]   12. Die neuere protestantische Theologie und die Lehre von der Rechtfertigung, S. 670. [12. Modern Protestant Theology and the Doctrine of Justification, p. 555] 

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Druckfehler.

S. 101, Z. 9 v. o., ist zu lesen Geß statt Gaß.

S. 101, Z. 2 v. u., Geßsche Idee statt Gaßsche Idee.

S. 180, Z. 1 v. o., sind die griechischen Akzente verschoben. Es muß heißen: ό ών εν τφ ονρανφ.

S. 459, letzte Z. v. u., „sie statt „letztere”.

S. 477, Z. 18 v. o., 1 Kor. 2, 14 statt 1 Kor. 2, 19.

S. 481, Z. 3 v. u., Prägnanz statt Prägung.

S. 568, Z. 21 v. o., „diestatt „diese”.


1  >  [English ed. 3]

Die seligmachende Gnade Gottes.

('Η χάρις τοϋ ϑεοϋ η σωτήριος.)

De gratia Dei erga homines lapsos.

 

1. Die Notwendigkeit der Gnade. ^

Die Schrift lehrt, daß alle Menschen durch Adams Fall Sünder geworden sind und nach der göttlichen Gerechtigkeit, die im Gesetz zum Ausdruck kommt, unter dem Urteil der Verdammnis liegen.1) Die Schrift lehrt ferner, daß die Menschen auf dem Gesetzeswege (έξ έργων νόμον) an dieser Sachlage nichts andern, das heißt, das Verdammungsurteil nicht in ein Rechtfertigungsurteil umwandeln können.2) Die es auf dem Gesetzeswege versuchen, erlangen anstatt der Rechtfertigung den Fluch,3) weil sie der Forderung des Gesetzes, die aus völlige 

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1) Das die Sachlage zusammenfassende Urteil Röm.3,19: υπόδικος (straffällig) πάς ο κόσμος τφ ·ϑεφ.  Das Urteil geht nach dem Kontext auf die gesamte, Heiden und Juden umfassende Menschenwelt. Dazu die Schmalk. Art. „Das ist die Donneraxt Gottes, damit er beide die offenbarlichen Sünder und falsche Heiligen in einen Haufen schlägt und läßt keinen recht haben, treibet sie allesamt in das Schrecken und Verzagen.(312, 2.)

2) Röm. 3, 20: εξ έργων νόμον ον δικαιωϑήσεται πασα σαρξ ενώπιον ϑεον. Ebenso Gal. 2, 16. Das Futurum δικααοϑήσεται (logisches Fut.) drückt aus: es wrrd in keinem Falle, in dem es sich um Rechtfertigung handelt, dazu kommen, daß ein Mensch auf dem Gesetzeswege gerecht wird.

3) Gal. 3, 10: όσοι εξ έργων νόμον είσίν, νπό κατάραν εΐσίν. Είναι εκ τίνος bezeichnet die Herkunft und dann die Beschaffenheit, wie Joh. 18, 36: εκ τον κόσμον τούτονí, aus der Welt her, weltlich, die Art der Welt an sich tragend; Röm. 2, 8: or die Eigenwilligen, und oft. Οί εξ έργων νόμον == aus den Werken des Gesetzes her, die Werkleute, deren charakteristische Beschaffenheit dann besteht, daß sie durch eigenes Tun vor Gott gerecht werden wollen. Diese Werkleute nun „stehen nach der Schrift sämtlich unter dem Fluch, so daß also an ein Gesegnetwerden derselben nicht zu denken ist”. (Meyer.) Calov: Tantum abest, ut per legem vitam consequantur ulla ratione, ut etiam vi legis sub maledictione concludantur.


2  >        Die seligmachende Gnade Gottes.  [English ed. ~ 3–4]

 

Erfüllung lautet, nicht gerecht werden.4) Die Menschen können und sollen aber auf dem Gnadenwege (χάριτι, κατά χάριν) selig werden.5) Dieser Gnadenweg ist den Menschen im Evangelium von Christo geoffenbart, das deshalb το εναγγέλιον τής χάριτος τον ϑεον heißt, Apost. 20, 24. Das Evangelium von Christo hat nämlich den wunderbaren Inhalt, daß Gott die Menschen ohne Gesetz, also ohne Werke ihrerseits (χωρϊς νόμον, χωρίς έργων νόμον, δωρεάν) aus Gnaden um Christi willen durch den Glauben gerecht achtet und selig macht.6) Dieser Gnadenweg ist das Charakteristikum der christlichen Religion, das heißt, das, wodurch sich die christliche Religion von allen andern Religionen unterscheidet. Wahrend nämlich alle andern Religionen, weil ihnen das Evangelium von Christo unbekannt ist.7) Menschenwerke zum Grund der Seligkeit machen, ist nach der christlichen, durch Gottes Offenbarung im Wort bekannt gewordenen Religion die Gnade Gottes in Christo unter Ausschluß aller Menschenwerke die Ursache des Heils der Menschen. Wer von den Menschen selig wird, wird ohne Gesetz und Werke aus Gottes Gnade in Christo selig. So ist es bei Gott beschlossen τή χάριτι — ονκ εξ έργων, ϊνα μή τις κανχήοηται, Eph. 2, 8. 9. Diesen Unterschied zwischen heidnischer und christlicher Religion sollten namentlich die Lehrer innerhalb der Christenheit klar erkannt haben.8)

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4) Gal. 3,10: γέγραπται γάρ επικατάρατος πας ος ονκ εμμένει εν πάοι τοις γεγραμμένοις εν τφ βιβλΐφ τον νόμον τον ποιήοαι αντά. Alford: They εξ έργων νόμον cannot be sharers in the blessing, for they are accursed, it being understood that they do not and cannot έμμένειν εν πασιν, etc."

5) Eph. 2, 8. 9 τή γάρ χάριτι έοτε σεσωσμένοι . . . ονκ εξ έργων; Röm. 4,16: διά τοντο εκ πΐοτεως, ΐνα κατά χάριν.

6) Röm. 3, 21. 22. 24. 28: Νυνί δε χωρίς νόμον δικαιοσύνη ϑεοῦ πεφανέρωται — δικαιοσύνη δε ϑεοῦ διά πΐοτεως ’Ιησον Χρίστον — δικαιούμενοι δωρεάν τή αντον χάριτι διά τής άπολντρώοεως τής εν Χριστώ Ίηοον — λογιζόμεϑα ονν πίοτει δικαιοναϑαι άνϑρωπον χωρίς έργων νόμον.

7) 1 Kor. 2, 6—14: όφϑαλμος ονκ είδε και ονς ονκ ήκονοε και επί καρδίαν άνθρώπων ονκ άνέβη.  Nach dem Kontext ist hier nicht speziell vom ewigen Leben, sondern vom Evangelium überhaupt die Rede, insofern das Evangelium gänzlich außerhalb des Gebietes liegt, an das menschliches Wissen und menschliche Forschung hinanreicht.

8) Auf diesen Unterschied zwischen Heidentum und Christentum hat Max Müller in einem Vortrag vor der Britischen Bibelgesellschaft treffend hingewiesen: „Ich darf sagen, daß ich seit vierzig Jahren in der Erfüllung meiner Pflichten als Professor des Sanskrit an der Universität Oxford so viel Zeit dem Studium der heiligen Bücher des Ostens gewidmet habe, wie irgendein anderer Mensch in der Welt. Und ich wage es, dieser Versammlung zu sagen, was ich als den einen Grundton aller dieser sogenannten heiligen Bücher gefunden


3  >        Die Notwendigkeit der Gnade.  [English ed. ~ 4–5]

 

Freilich nennt die Schrift bei der Beschreibung des Weges, auf dem die Menschen selig werden sollen, noch andere und mehr Dinge als die Gnade Gottes in Christo. Sie sagt auch vom

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habe; der eine Grundton, der eine Akkord, der sich durch alle hindurchziecht, ist die Seligkeit durch Werke. Sie alle lehren, die Seligkeit müsse erkauft werden. Unsere eigene Bibel — unser heiliges Buch aus dem Osten — ist von Anfang bis zu Ende ein Protest gegen diese Lehre. Gute Werke werden allerdings auch in diesem heiligen Buche des Ostens gefordert; aber sie sind nur der Ausfluß eines dankbaren Herzens — sie sind nur ein Dankopfer, die Früchte unsers Glaubens. Sie find nie das Lösegeld der wahren Jünger Christi. Laßt uns nicht unsere Augen verschließen gegen das, was edel und wahr ist; aber laßt uns die Hindus, Buddhisten und Mohammedaner belehren, daß es nur ein heiliges Buch des Ostens gibt, das ihr Trost sein kann in jener ernsten Stunde, in welcher sie ganz allein hinüber müssen in die unsichtbare Welt.(F. Pieper, Wesen des Christentums 1903, S. 5.) [also 1902 Missouri Synod convention essay; English translation: What Is Christianity?, 1933, p. 6 ff.]

 Das Wesen des Heidentums ist nicht etwa Atheismus; „denn es ist nie kein Volk so ruchlos gewesen, das nicht einen Gottesdienst aufgerichtet und gehalten habe(Gr. Kat. 388,17; auch Cicero, Tusc. 1,13), sondern Werklehre, das ist, der Versuch, durch eigenes Tun Gott zu versöhnen. Apologie (122, 85 Semper in mundo haesit impia opinio de operibus. Gentes habebant sacrificia ... sentiebant opera illa propitiationem et pretium esse, propter quod Deus reconciliaretur ipsis. Das Wesen des Christentums aber ist nicht Werklehre oder „Sittlichkeit", wie neuerdings wieder mit Energie behauptet wird (Harnack), sondern der Glaube an die Vergebung der Sünden um des Mittlers Christi willen ohne Rücksicht auf eigene Sittlichkeit oder Unsittlichkeit. Die „Sittlichkeitist erst eine Folge und Wirkung des Christentums. Man betritt daher innerhalb der äußeren Christenheit heidnisches Gebiet, sobald man Werke, „Sittlichkeit2c. unter die causae gratiae et salutis einreiht. So richtig in der Theorie auch Luthardt: „Im späteren Judentum der pharisäischen Gesetzesherrschaft wurde alles auf Gesetzeserfüllung, das heißt, auf menschliche Leistung und göttliche Gegenleistung, gestellt, mit andern Worten: der Boden heidnischer Betrachtungsweise und Religiosität betreten. Denn das ist das Charakteristische des Heidnischen, daß hier alles Verhältnis von Gott und Mensch so leistungsmäßig, also nach dem Gesichtspunkte der Werktätigkeit betrachtet wird.(Glaubenslehre 1898, S. 467.) Unermüdlich ist Luther in der Darlegung, daß der Weg der Werke das Heidentum und der Gnadenweg das Christentum charakterisiere. (Vgl. Einleitung zur Erklärung des Galaterbriefes, IX, 17 ff.) Luther urteilt hier von allen, die nicht die Gerechtigkeit Christi mit Ausschluß aller eigenen Werke als justitia christiana erkennen: Sunt vel Judaei vel Turcae vel Papistae vel haerfetici, quia inter has duas justitias, activam legis et passivam Christi, non est medium. Daß Luther so oft Papisten und Schwärmer mit Heiden, Juden, Türken ac. in einer Reihe nennt, ist nicht auf Rechnung der „übertreibenden Polemik des 16. Jahrhundertszu setzen, sondern beruht auf der richtigen Erkenntnis, daß Papisten und Schwärmer, sofern sie die Gnade und Seligkeit auf die justitia infusa gründen, tatsächlich heidnisch lehren. Auch die Apologie sagt von jedem, der mit Werken Vergebung der Sünden vor Gott verdienen wollte: judaice et gentiliter sensit. Nam et ethnici habuerunt


4  >        Die seligmachende Gnade Gottes.  [English ed. ~ 5–6]

 

Evangelium und von der Taufe, daß sie selig machen,9) ebenso von dem Glauben.10) Aber damit beschränkt die Schrift nicht etwa den Begriff „Gnade", sondern damit nennt sie nur die Mittel, welche der Aneignung der bereits vollkommen vorhandenen Gnade dienen. Der Gebrauch der Gnadenmittel Vonseiten des Menschen ist nicht als eine menschliche Leistung aufzufassen, wodurch der Mensch sich wenigstens ein teilweises Anrecht an die Gnade erwirbt. Ebensowenig stellt der Glaube, wodurch der Mensch der Gnade teilhaftig wird, in irgendeinem Sinne eine menschliche Leistung dar. Vielmehr stellt die Schrift sowohl die Gnadenmittel, als Gebemittel Vonseiten Gottes, als auch den Glauben, als Nehmemittel vonseiten des Menschen, in Gegensatz zu dem Weg der Werke. Durch das Wort und die Sakramente selig werden ist nach der Schrift so viel als aus Gnaden um Christi willen ohne eigene Werke selig werden.11)  Ebenso: durch den Glauben selig werden ist so viel als ohne Werke allein aus Gottes Gnade um Christi willen die Seligkeit erlangen. Der Gnadenweg ist der Glaubensweg und der Glaubensweg ist der Gnadenweg.12)

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quasdam expiationes delictorum, per quas .fingebant se reconciliari Deo. (187, 17.) Die moderne „religionsgeschichtliche” betrachtung des Christentums ist aufs äußerste bemüht, den Unterschied zwischen Christentum und Heidentum aufzuheben, indem sie sehr ungeschichtlich den Glauben an die Erlösung durch Christi Opfer als unwesentlich aus dem Christentum ausscheidet und dafür die „sittliche Ausgabe der menschlichen Selbstaufopferung im Dienste der Menschheit einsetzt. So Pfleiderer (Religion und Religionen 1906, S. 215 ff.). So ganz neuerdings auch wieder Frank B. Jevons: "Christianity alone of the religions of the world teaches that self-sacrifice is the way to life eternal.” (An Introduction to the Study of Comparative Religion, 1908, p. 69. — Vgl. über den Unterschied von Christentum und Heidentum L. u. W. 37, 21 ff. F. Pieper, Die Lehre von der Rechtf. 1889, S. 3 ff.)  [1916 printed  edition]

9) Röm. 1, 16 το εναγγέλιον — δνναμις ϑεοῦ ίστιν είς σωτηρίαν 1 Petr. 3, 21: ä (scil, μας άντίτνπον νυν σώζει βάπτισμα.

10) Luk. 7, 50: ή πίστις σον σέσωκέ σε.

11) So stehen Evangelium und Taufe im Gegensatz zu den Werken Tit. 3, 4. 5: δτε δε ή χρηστότης και ή φιλανθρωπία επεφάνη τον σωτήρος ημών ϑεοῦ, ονκ εξ έργων των εν δικαιοσύνη ων εποιήσαμεν ημείς, άλλα κατά τον αντοΰ ελεον εσωσεν ήμας διά λοντρον παλιγγενεσίας. Luther im Gr. Kat.. „Also stehest du klar, daß da (in der Taufe) kein Werk ist, von uns getan, sondern ein Schatz, den er uns gibt und der Glaube ergreift, sowohl als der HErr Christus am Kreuz nicht ein Werk ist, sondern ein Schatz im Wort und uns fürgetragen und durch den Glauben empfangen.(490, 37.)

12) Röm. 4, 16: διά τοντο εκ πίστεως, ΐνα κατά χάριν. Eph. 2, 8:  τη γάρ χάριτι έατε σεαωσμένοι διά τής πίστεως — ονκ εξ έργων. Baier. Gratiae Dei et merito Christi fides non opponitur, sed subordmatur. (III, 278.)


5  >        Begriff der seligmachenden Gnade.  [English ed. ~ 6–7]

 

Wenn wir von einer Notwendigkeit der Gnade reden, so ist natürlich nicht eine Notwendigkeit auf seiten Gottes gemeint, sondern eine Notwendigkeit für den Menschen, falls der sündige Mensch das Heil erlangen soll. Die von spekulativen Theologen und Philosophen vertretene Theorie, daß die Erlösung der Welt durch Christum eine notwendige Entfaltung des göttlichen Wesens sei, ist heidnische (pantheistische) Spekulation über das Wesen Gottes. Nach der Schrift wendet Gott in Christo sich in freiem Erbarmen der Welt zu, Joh. 3, 16; Luk. 1, 78 :c. Die Dogmatiker drücken dies dadurch aus, daß sie sagen, Gott sei eine causa libera unsers Heils.13)

2. Begriff der seligmachenden Gnade. ^

Das Wort Gnade (χάρις), von Gott in bezug auf die sündigen Menschen ausgesagt,14) bezeichnet zunächst Gottes gnädige Gesinnung, die Gott um Christi willen gegen die sündigen Menschen bei sich hegt und darin besteht, daß er in seinem Herzen, „vor seinem inneren Forum", den Menschen die Sünde nicht zurechnet, sondern vergibt.15) Diese gnädige Gesinnung läßt Gott im

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13) Baier: Deus est causa efficiens beatitudinis nostrae. Est autem haud dubie causa libera. (Compend. ed. Walther III, 4.) A. von Öttingen: „Sobald diese ,Notwendigkeit' abstrakt gefaßt oder mit 'schlechthinniger Weltursächlichkeit' kombiniert wird, haben wir den pantheistischen Gedanken, wie er dem Hegelschen und Schleiermacherschen System zugrunde liegt, dort spekulativ-logisch, hier religiös-mystisch angehaucht. Der Hegelsche Determinismus zeigt sich in seiner Behauptung, daß Gott notwendig und ewig sich im Prozeß der Selbstentfaltung bewege. Und mit der Weltwerdung Gottes geht sozusagen die an und für sich notwendige Vermenschlichung Gottes Hand in Hand. Von einem freien, in Ewigkeit gefaßten Liebesratschluß der Erlösung kann da im Grunde nicht mehr die Rede sein. Gott hat es ,ewig an sich', Mensch zu werden und in der Menschheit,für sich' zu fein, um als Geist — als der an und für sich seiende Gott — sich selbst zu erfassen und zum Selbstbewußtsein im Geiste des Menschen (mens humana, wie Spinoza sagte) zu gelangen. Hier tritt das ethische Motiv göttlicher Barmherzigkeit — ebenso wie der göttlich berechtigte Zornwille gegenüber der Sünde — gänzlich zurück.(Dogmatik 1900, II, 1, 594.)

14) Wir sehen hier ab von dem Begriff der Gnade, wonach Gott auch in bezug auf alle Kreaturen Gnade, Güte, Erbarmen sc. zugeschrieben wird, Ps. 136; 145, 9; Jona 4,10. 11 2c. (Vgl. L. u. W. 31, 8 f.) Einen Zusammenhang dieser Gnade mit der seligmachenden, die sich nur auf die sündigen Menschen bezieht, offenbart Matth. 24, 14. Die Welt und alles, was in ihr ist, ist noch in Existenz um der Gnade willen, die den sündigen Menschen gegenüber vorhanden ist und im Evangelium verkündigt wird.

15) So in der Grußformel in den Pastoralbriesen, 1 Tim. 1,2; 2 Tim. 1,2 2c.: Χάρις, ελΐος, ειρήνη άπό ϑεοῦ πατρός και Χρίστον Ίηαον τον κνρίον ημών.


6  >        Die seligmachende Gnade Gottes.  [English ed. ~ 7–8]

 

Evangelium den Menschen bezeugen 16) und will er von ihnen aus Grund des Zeugnisses des Evangeliums geglaubt haben. 17) Gratia Dei salvifiya est gratuitus Dei favor propter Christum.  Luther: „Gnade heißt eigentlich Gottes Huld oder Gunst, die er zu uns trägt bei sich selbst."18) — Gnade im Sinne von gratuitus Dei favor gehört in eine Klasse mit einer Anzahl von Ausdrucken, die ebenfalls Gottes Gesinnung in Christo zu der verlorenen Sunderwelt bezeichnen, nämlich Gottes Liebe (άγάπη, Joh. 3, 16; l Joh. 4, 9), Barmherzigkeit und Erbarmen (ελεος, Tit. 3,5, οίκτιρμοί, Röm. 12, 1), Freundlichkeit und Leutseligkeit Tit. 3, 4). Alle diese Ausdrucke bezeichnen, wenn auch in verschiedenen Nebenbedeutungen (connotata), die auf Grund der Schrift sorgfältig zu erwägen und ins Licht zu stellen sind, eine Bestimmtheit oder einen Affekt in Gott, nämlich die Gesinnung, nach welcher Gott die vom Gesetz verurteilten Menschen auf dem Gnadenwege ohne des Gesetzes Werke selig machen will.19)

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Die Stellung neben ελεος, Barmherzigkeit, kennzeichnet als gnädige Gesinnung in Gott. Dieselbe Bedeutung hat in der kürzeren Grußformel m den paulinischen Briefen: Χάρις νμΐν καί ειρήνη κτλ., Röm. 1,7; I Kor. 1,3 2c. RE.3 8.V. „Gnade": „Die χάρις ist für Paulus zunächst Gottes persönliche Gesinnung.” ubrigens bezeichnet auch ειρήνη in dieser Verbindung die „persönliche Gesinnungin Gott. Das Wort bezeichnet hier, wenn man genau reden will, nicht sowohl das Friedensverhältnis, in dem wir zu Gott stehen, als das objektive Friedensverhältnis, in dem Gott durch Christum zu den Menschen stebt und das Menschen ihrerseits genießen, sofern sie es glauben. Χάρις, ελεος, ειρήνη, nebeneinander stehend, bezeichnen gleicherweise objektive Verhältnisse in Gott die vor dem Glauben der Menschen vorhanden sind und durch den Glauben angeeignet werden sollen. Daher wird, wie die Gnade so auch der Friede im Evangelium verkündigt, Eph. 2, 17 2c., und heißt das Evangelium, wie το εναγγέλιον τής χάριτος (Apost. 20, 24), so auch το εναγγέλιον τής ειρήνης (Eph. 6,15). Die Bedeutung von auf welche Cremer im Wörterbuch zu Röm. 5, 1 hinweist, hat in einer ganzen Reihe von Schriftstellen statt.

16) So ist es des Apostels Amt, διαμαρτνρασϑαι τό εναγγέλιον τής χάριτος τον ϑεοῦ, Apost. 20, 24.

17) Mark. 1, 15: Πιστεύετε εν τφ εναγγελίφ.  Hebr. 4, 16. ΠροσερχώμεΦα ονν μετά παρρησίας τφ ϑρόνο) τής χάριτος.

18) St. L. XIV, 98.

19) Baier: Intelligitur nomine gratiae divinae hoc loco benignus Dei favor erga peccatores. . . . Dicitur alias misericordia, amor, benignitas Dei etc. (Comp. III, 4.)  Die Synonyma des Wortes Gnade in ihren Nebenbezeichnungen genau aufzufassen, ist deshalb so wichtig, weil wir dadurch erkennen, wie Gottes Herz in Christo zu einer verlorenen


7  >        Begriff der seligmachenden Gnade.  [English ed. ~ 8–9]

 

Sodann bezeichnet das Wort „Gnadeauch etwas im Menschen, nämlich eine gute Beschaffenheit (Fähigkeit) und die guten Werke, die Gott infolge seiner gnädigen Gesinnung in den Gläubigen

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Sünderwelt steht. Sie „führen hinaus in des Vaters Herz, sollen uns Gott „süße machen", und es gebührt sich, „daß man mit diesen Worten einschlafe und aufstehe”. (Luther XI, 1096. 1084. 1103.) Luthers Ausführung zu Joh. 3, 16: „Also hat Gott die Welt geliebet2c. ist wohl der gewaltigste Hymnus, den ein Lehrer der Kirche auf die Liebe Gottes gegen die ganze sündige Menschenwelt gesungen hat (XI, 1092 ff.). [See Lenker’s English translation in The precious and sacred writings of Martin Luther, ... v.12, pp. 350-371; also new publication in Am. Ed. Vol. 77 (Church Postil III), p. 365-381, see full sermon in this Preview]: Luther über Gottes „Gnade, „Freundlichkeit, „Leutseligkeit2c.: XII, 128 ff. In bezug auf die begriffliche Verschiedenheit dieser Ausdrücke ist zu sagen: Gottes Gnade in Christo stellt die Schrift in den schärfsten Gegensatz zu den Werken des Menschen. Wo die Gnade Gottes als Beweggrund des göttlichen Handelns genannt wird, da sind Menschenwerke als Beweggrund ausgeschlossen, Röm. 11, ει δε χάριτι ονκέτι εξ έργων κτλ. Und wie die Gnade Gottes von menschlichen Werken und menschlichem Verdienst völlig unabhängig ist, so wird sie auch durch die menschliche Schuld nicht gebunden, Röm. 5, 20: οῦ Ιπλεόναοεν ή αμαρτία, νπερεπερίσαενσεν ή χάρις. — Gottes Barmherzigkeit sieht auf das Elend der Menschen, das Gott zu Herzen geht und ihn zum Handeln bewegt, nicht als causa meritoria (Papisten), Wohl aber als causa impulsiva externa sive προκαταρκτική, nach Eph. 2, 1—3; vgl. V. 4. (L. u. W. 31, 65 f. 68.) Trench zu χάρις unb ελεος: “St. Paul sets χάρις and ελεος over against one another in sharpest antithesis, showing that they mutually exclude one another, it being of the essence of that which is owed to χάρις that it is unearned and unmerited, as Augustine urges so often: Gratia nisi gratis sit non est gratia. . . . But while χάρις has thus reference to the sins of men, and is that blessed attribute of God which these sins call out and display, His free gift in their forgiveness, ελεος, has special and immediate regard to the misery which is the consequence of these sins. . . . We may say, then, that the χάρις of God is extended to men as they are guilty, His ελεος as they are miserable.” (Synonyms of the N. T., p. 203 sqq.).) Trench weist auch darauf hin, wie hoch die in der Schrift geoffenbarte göttliche Barmherzigkeit über dem heidnischen Begriff von Barmherzigkeit steht. Cicero: Misericordia est aegritudo ex miseria alterius injuria laborantis. Nemo enim parricidae aut proditoris supplicio misericordia commovetur. (Tusc. IV, 8.) Gott ist barmherzig gegen die aus eigener Verschuldung Leidenden. — Die Liebe Gottes bringt zum Ausdruck, daß Gottes Herz an der verlorenen Sünderwelt hängt, nach Vereinigung mit ihr strebt und zu diesem Zweck seinen eingeborenen Sohn in den Tod gegeben hat, Joh. 3, 16; Röm. 5, 8. (Luther XII, 1097 f.) Gott ist der größte Philanthrop, Röm. 3, 4 [sic Titus 3:4]: ἡ χρηστότης καὶ ἡ φιλανθρωπία ἐπεφάνη τοῦ σωτῆρος ἡμῶν θεοῦ.  Dazu Luther XII, 129 f.: Man muß festhalten, daß solche Leutseligkeit „treffe alles das, was Mensch heißt, es sei wie gering es wolle. Denn Gott liebt nicht die Person, sondern die Natur, und heißt nicht personselig, sondern leutselig . . . gleichwie Geiz möchte Geldliebe heißen, und David 2 Kön. 1 Frauenbegierde nennt Frauenliebe. Also nennen die natürlichen Meister etliche Tiere Menschenlieber oder leutselig, als da sind Hunde, Pferde, Delphine. Denn dieselbigen Tiere


8  >        Die seligmachende Gnade Gottes.  [English ed. ~ 9]

 

wirkt. Nomen gratiae per metonymiam effectus pro causa pro donis ex benevolentia Dei in nos collatis sumitur.20) Wenn 1 Petr. 4, 10. 11 die Christen ermahnt werden, als gute Haushalter oder Verwalter ποικίλης χάριτος ϑεοῦ sich zu beweisen, so bezeichnet hier nicht die Gnade, wonach Gott ihnen die Sünden vergibt, sondern eine den Christen verliehene und ihnen inhärierende Fähigkeit und Tätigkeit, wonach die Christen das Rechte reden und in rechter Gesinnung einander dienen: εϊ τις λαλέϊ, ώς λόγια ϑεοῦ εΐ τις διακονει, ώς εξ Ισχύος ης χορηγεί ό ϑεος.  Ebenso wird Röm. 15, 15. 16 und öfter die Ausrichtung des Predigtamtes und 1 Petr. 2, 19 das geduldige Leiden der Christen eine von Gott verliehene genannt. Gnade in diesem Sinne ist donum gratiae, gratia inhaerens, gratia infusa.21)

Wenn von der Ursache die Rede ist, wodurch Gott bewogen wird, die sündigen Menschen zu berufen, zu rechtfertigen und selig zu machen, bezeichnet Gottes Gnade immer Gottes gnädige Gesinnung in Christo (favor Dei), unter Ausschluß der Bedeutung, wonach Gnade auch die den Christen verliehenen Gnaden

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haben natürliche Lust und Liebe zu den Menschen, tun sich auch zu ihnen und dienen ihnen gerne 2c. Einen solchen Namen und Liebe eignet hier der Apostel (durch das Wort φιλανθρωπία, Menschenliebe) unserm Gott. — Gottes Güte oder Freundlichkeit (χρηστότης) steht im Gegensatz zur Schärfe oder Strenge (άποτομία, Röm. 11, 22) und drückt aus, daß Gott nicht als strenger Richter, sondern als ein freundlicher HErr mit uns handelt, invitans ad familiaritatem sui, dulcis alloquio (Hieronymus zu Gal. 5, 22). Luther: ,,Χρηστότης ist das freundliche, liebliche Wandeln eines gütigen Lebens, daß jedermann gern mit demselben Menschen umgeht und seine Gesellschaft fast süß, jedermann zu Gunst und Liebe reizt, der die Leute Wohl leiden kann, niemand verachtet, niemand mit sauren, harten, seltsamen Gebärden oder Weise verjagt. . . . Also hat sich Gott auch durchs Evangelium uns erzeigt ganz lieblich und freundlich, jedermann bereit, niemand verachtet, alle unsere Untugend uns zu gut hält, niemand verjagt mit Strengigkeit. (XII, 129.) — Alle angeführten Begriffe, nicht bloß die stehen nach der Schrift im Gegensatz zu menschlichem Verdienst, wie aus dem Zusammenhang Eph. 2, Tit. 3, Joh. 3, Röm. 11 2c. hervorgeht. — Inwiefern wir auf Grund der Schrift nach Menschenart auch von Gott sagen müssen, daß er durch seine Gnade, Barmherzigkeit 2c. bewogen werde (nicht univoce, aber auch nicht aequivoce, sondern analogice, Ies. 49, 15), ist bei der Lehre von Gott dargelegt.

20) Hülsemann, Praelectt. F. C., p. 542.

21) Chemnitz: Vocabulum gratiae in Scriptura saepe quidem favorem, benevolentiam seu misericordiam, aliquando vero etiam dona ipsa, quae ex benevolentia conferuntur, significat. (Examen, p. 138.) — Vgl. Grimms Zusammenstellung der Schriftstellen, in denen χάρις Gnadengäbe bezeichnet.


9  >        Begriff der seligmachenden Gnade.  [English ed. ~ 9–10]

 

gaben ober die gratia infusa bezeichnet.22) Dies geht klar daraus hervor, daß die Schrift, wenn es sich um die Ursache der Berufung, Rechtfertigung und Seligkeit handelt, die Gnade Gottes allen Werken der Menschen entgegensetzt. Es heißt 2 Tim. 1, 9 von der Versetzung in den Christenstand: „Gott hat uns selig gemacht und berufen ον κατά τα εργα ημών, άλλα κατ Ιδίαν πρόϋ'εσιν και χάριν την δοϑεΐσαν ήμϊν εν Χριστώ Ίησοϋ προ χρόνων αιωνίων; Röm. 3, 24 28, von der Rechtfertigung: δικαιούμενοι δωρεάν (geshenkweise, , χωρίς νόμου) τή αντον χάριτι, διά της άπολντρώσεως τής εν Χριστώ Ίησοϋ, und besonders Röm. 11, 6: εί δε χάριτι, οϋκέτι εξ έργων, έπει ή χάρις οϋκέτι γίνεται γάρις.23) Auch der Glaubeselbst, wiewohl er eine Gabe Gottes im Menschen ist — denn nicht der Heilige Geist, sondern der Mensch glaubt —, macht nicht gerecht und selig, insofern er ein Werk, eine gute Qualität im Menschen ist und gute Qualitäten (gute Werke) im Menschen hervorbringt, sondern lediglich als Instrument, wodurch der in sich gottlose Mensch die gnädige Gesinnung Gottes auf sich bezieht oder sich zueignet.24) Dies lehrt die Schrift, indem sie bei der Erlangung

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22) Hülsemann: Falsum est, uspiam, quando de causis sive instrumentalibus sive meritoriis justificationis et salutis ex parte nostra agitur, accipi hoc vocabulum (gratiae) pro dono infuso. (Praelectt. F. C., p. 542.)

23) Chemnitz (Loci II, 728 sq.): Sicut aliud est justificatio, aliud renovatio, ita distinguenda est significatio vocabuli gratiae in articulo renovationis et justificationis. Et constituendum est, quae sit propria et genuina ejus significatio in articulo justificationis, hoc est, in his et similibus sententiis, Rom. 3, 24: „Justificamur gratis per ipsius gratiam“, Eph. 2, 5. 8: „Gratia salvati estis.Ibi enim non significat dona renovationis per Spiritum Sanctum seu novas qualitates, quasi propter illas justificemur et salvemur, sed significat gratuitam Dei bonitatem, favorem, benevolentiam et misericordiam Dei, qua non secundum opera et dignitatem nostram, sed ex mera misericordia propter Christum peccatores, qui poenitentiam agunt et fide confugiunt ad mediatorem, recipit in gratiam, acceptat ad vitam aeternam, remissis peccatis et imputata justitia Christi.

24) Apologie (96, 56): Fides non ideo justificat aut salvat, quia ipsa sit opus per se dignum, sed tantum, quia accipit misericordiam promissam. Noch schärfer Luther, wenn er ausführt, daß der Glaube zwar donum Dei sei, aber nicht als donum Dei rechtfertige: Nos dicimus, fidem esse opus promissionis seu donum Spiritus Sancti. Et tamen ne hoc quidem respectu fides justificat, quatenus est donum Spiritus. Sancti, sed simpliciter quatenus habet se correlative ad Christum. Non enim hoc principaliter quaeritur, unde sit fides aut quale sit opus aut quomodo caeteris operibus antecellat, quia fides non per se aut virtute aliqua intrinseca justificat. (G. A. 58, 353.)


10  >        Die seligmachende Gnade Gottes.  [English ed. ~ 11]

 

der Rechtfertigung und Seligkeit nicht bloß die Gnade Gottes, sondern auch den Glauben den Werken entgegensetzt, Röm. 4,6 5: τω μη εργαζομένου, πιστενοντι δε έηϊ τον δικαιονντα τον ασεβή, λογίζεται ή πίστις αντον εις δικαιοσύνην. Nach der Schrift ist διά τής πίστεως, εκ πίστεως, πίστει so viel als ονκ εξ έργων νόμον, χωρίς έργων νόμον

 2c.25)

Diese scharfe Scheidung von Gnade (favor Dei) und Gnadengabe (gratia infusa), wenn es sich um die Erlangung der Rechtfertigung und Seligkeit handelt, ist von der äußersten Wichtigkeit. An diesem Punkte scheiden sich abermal Christentum und Heidentum. Sobald man die Gnade im Sinne von gratia infusa zur Ursache oder Mitursache der Rechtfertigung und Seligkeit macht, lehrt man nur scheinbar christlich. In Wirklichkeit lehrt man unter dem Namen „Gnadeeine Rechtfertigung und Seligkeit aus dem Gesetz und Menschenwerken, und die christliche Lehre vom Seligwerden aus Gnaden ist damit aufgegeben, wie der Apostel ausdrücklich erklärt Gal. 5, 4 Κατηργήθητε από τον Χρίστον, οΐτινες εν νόμω δικαιούσθε, τής χάριτος εξεπέσατε.

Daß man die Gnade im Sinne von gratia infusa oder gute Qualität im Menschen an die Stelle des gratuitus Dei favor setzt oder doch mit ihm verbindet, ist der Grundirrtum aller derer, die innerhalb der äußeren Christenheit von der reinen christlichen Lehre abweichen. Die römische Kirche geht in ihrem Gegensatz gegen die christliche Gnadenlehre so weit, daß sie diejenigen, welche die rechtfertigende Gnade als Gottes gnädige Gesinnung in Christo definieren und die gratia infusa von der Ursache der Rechtfertigung ausscheiden, mit dem Anathema belegt.26)  Die calvinistischen Reformierten werden, wenn sie auch die seligmachende Gnade richtig als Gottes gnädige Gesinnung definieren,27) durch die Leugnung der gratia universalis auf die gratia infusa als Grund der Rechtfertigung und Seligkeit zurückgeworfen. Wird nämlich geleugnet, daß für

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25) Eph. 2, 8. 9; Gal. 2, 16; Röm. 3, 28.

26) Conc. Trid. (sess. VI, can. XI): Si quis dixerit homines justificari vel sola imputatione justitiae Christi vel sola peccatorum remissione, exclusa gratia et caritate, quae in cordibus eorum per Spiritum Sanctum diffundatur atque illis inhaeret; aut etiam gratiam qua justificamur esse tantum favorem Dei, anathema sit.

27) Calvin (Inst. 3, 2. 7): Justa fidei definitio nobis constabit, si dicamus, esse divinae erga nos benevolentiae firmam certamque cognitionem, quae gratuitae in Christo promissionis veritate fundata per Sp. S. et revelatur mentibus nostris et cordibus obsignatur.


11  >        Begriff der seligmachenden Gnade.  [English ed. ~ 12]

 

alle Menschen Gnade in Christo vorhanden ist und im Evangelium dargeboten wird, so ist man gezwungen, die nach Gewißheit der Gnade Fragenden anstatt aus die objektive Gnadenzusage in den Gnadenmitteln aus die Wirkungen der Gnade im Menschen, aus die Erneuerung und die guten Werke, also aus die Aratia inkusa, zu verweisen. Dasselbe ist der Fall bei allen, die eine offenbarende und wirkende Tätigkeit des Heiligen Geistes außerhalb der geordneten Gnadenmittel (Wort und Sakrament) annehmen, ob sie sich reformiert oder anders nennen.28)  Indem sie nämlich nach unmittelbaren, heimlichen Offenbarungen und Wirkungen des Geistes im eigenen Innern suchen heißen, wenden sie jedesmal Auge und Herz von der objektiven gnädigen Gesinnung Gottes ab, die durch Christum vorhanden ist und in den Gnadenmitteln zur Erweckung des Glaubens und zur Ergreifung durch den Glauben geoffenbart vorliegt.29) Ebenso liegt aus der Hand, daß alle, welche eine menschliche Mitwirkung zur Entstehung des Glaubens annehmen, das Heil, anstatt aus den gratuitus Dei favor in evangelio revelatus, auf „aliquid in homine“, nämlich aus ein mixtum compositum von Gnadengabe und menschlicher Leistung, gründen. Dies ist bei den Arminianern, den arminianisierenden Sekten und den synergistisch lehrenden Lutheranern der Fall. Sie fassen die fides justificans und salvans nicht als Gegensatz von menschlicher Leistung, nicht als bloßes Instrument, wodurch die gnädige Gesinnung Gottes in Christo oder die Vergebung der Sünden aus Grund der Verheißung des Evangeliums geglaubt wird, sondern als gute Qualität im Menschen unter verschiedener Benennung. Die Arminianer sagen ausdrücklich, daß der rechtfertigende Glaube die guten Werke nicht aus-, sondern einschließe.30) Die synergistischen

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28) So Zwingli in Fidei Ratio: Gratia ut a spiritu divino fit aut datur (loquor autem latine cum gratiae nomine utor pro venia, scilicet indulgentia et gratuito beneficio), ita donum istud ad solum spiritum pervenit. Dux autem vel vehiculum spiritui non est necessarium, ipse enim est virtus et latio, qua cuncta feruntur, non qui ferri opus habeat; neque id unquam legimus in scripturis sacris, quod sensibilia, qualia sacramenta sunt, certo secum ferent spiritum. (C. F. Karl Müller, Die Bekenntnisschriften der ref. K. 1903, p. 86.)

29) Über die Fälschung des Gnadenbegriffs durch Loslösung der Wirkung des Heiligen Geistes von den Gnadenmitteln vgl. F. P., Lehre von der Rechts. 1889, S. 88 ff.

30) Limborch (Theol. christ. VI, 4, 22): Sciendum, quando dicimus, nos fide justificari, nos non excludere opera, quae fides exigit et tanquam


12  >        Die seligmachende Gnade Gottes.  [English ed. ~ 13]

 

Lutheraner definieren den rechtfertigenden Glauben als sittliche Tat, Selbstentscheidung, gutes Verhalten 2c. Als praktisches Resultat kann nicht ausbleiben, daß sie bei der Frage nach der Gnade Gottes die Herzen nicht auf Gottes gnädige Gesinnung in Christo, sondern auf eine Leistung im Menschen und die gratia infusa richten.31) Endlich wird auch innerhalb der recht lehrenden Kirche die gratia infusa praktisch an die Stelle von favor Dei gesetzt, so oft die Vergebung der Sünden auf das Gefühl der Gnade, anstatt auf Gottes Gnadenzusage in der objektiven Verheißung des Evangeliums gegründet wird.32)

Es kommt daher zur Reinerhaltung der christlichen Lehre nicht bloß etwas, sondern alles darauf an, daß die rechtfertigende und seligmachende Gnade als favor Dei propter Christum aufgefaßt und festgehalten wird. Nur so bleibt die Schriftlehre von der vollkommenen Versöhnung der Welt mit Gott, die durch Christi stellvertretende Genugtuung bewirkt ist und nicht erst noch durch menschliches Tun bewirkt oder vervollständigt werden soll, in Geltung. Nur so behalten die Gnadenmittel ihre schriftgemäße Bedeutung, daß sie a. gewisse Zeichen und Zeugnisse des gnädigen Willens Gottes gegen uns sind, das heißt, die Vergebung der Sünden herzubringen und schenken (vis dativa mediorum gratiae), und dadurch b. den

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foecunda mater producit, sed ea includere. Der rechtfertigende Glaube ist den Arminianern Gehorsam gegen das ganze Wort Gottes, auch gegen das Gesetz. Er hat zum Objekt non tantum ipsius (Christi) propitiationem, sed et praecepta, promissa et minas. ( Limborch 1. e. VI, 4, 29.)

31) Möhler nennt (Symbolik, 5. Aufl., S. 636 f.) die arminianische Lehre wesentlich „katholisch", weil sie die Rechtfertigung auf die innere Umwandlung und die guten Werke gründe. Ebensowenig können sich die synergistischen Lutheraner bei ihrer Auffassung des Glaubens als sittlicher Tat, guten Verhaltens 2c. beklagen, wenn ihnen moderne römische Polemiker vorwerfen, daß sie die Gnadenlehre Luthers ausgegeben haben. (Ganß, Luther’s Latest Biographer, 1902, p. 10 sqq.)

32) Luther erinnert (XI, 453. ff.) daran, daß dies bei den Christen sehr oft der Fall und die Quelle großer Gewissensnot ist. Es ist aber eine falsche Praxis; denn „Gott nicht will leiden, daß wir uns sollen auf etwas anderes verlaßen oder mit dem Herzen hangen an etwas, das nicht Christus in seinem Wort ist, es sei wie heilig und voll Geistes es wolle. Der Glaube hat keinen andern Grund, darauf er bestehen könne. . . . Was ist es, daß du so hin und wieder läufst, dich selbst so zermarterst mit ängstigen und betrübten Gedanken, als wolle Gott dein nicht mehr Gnade haben, und als sei kein Christus zu finden, und willst nicht eher zufrieden sein, du findest ihn denn bei dir selbst und fühlest dich heilig und ohne Sünde; da wird nichts aus: es ist eitel verlorene Mühe und Arbeit”.


13  >        Begriff der seligmachenden Gnade.  [English ed. ~ 13–14]

Glauben erzeugen und stärken (vis operativa mediorum gratiae).33) Nur so bleibt die Schriftlehre vom Glauben, als dem Empfangsorgan der Vergebung der Sünden und der Seligkeit, unangetastet, denn der rechtfertigende und seligmachende Glaube hat die in der evangelischen Verheißung bezeugte gnädige Gesinnung Gottes (vorem sive misericordiam Dei), nicht die gratia infusa, zum Objekt.34) Nur so ist Gewißheit der Gnade Gottes möglich, weil die Gnade, als gratuitus Dei favor, sich nicht „teilet und stücket", sondern uns „ganz und für voll gerecht für Gott rechnetum Christi willen (Luther), während die gratia infusa „noch nicht vollkommenist und daher sofort der Zweifel Platz greifen muß, sobald sie zur causa oder concausa der rechtfertigenden Gnade gemacht wird. Nur so bleibt auch die schriftgemäße Lehre von der Heiligung und den guten Werken stehen, weil Heiligung und gute Werke stets nur Frucht und Folge der im Glauben bereits erkannten göttlichen Barmherzigkeit in Christo sind, Röm. 12,1: Παρακαλώ υμάς, αδελφοί, διά των οίκτιρμών τον ϑεοϋ, παραστήσαι τα σώματα υμών ϑυσίαν. . . τω ϑεω. Gute Werke werden nie getan, um Gnade zu erlangen, sondern sind stets nur Dankopfer für die durch den Glauben bereits erlangte Gnade und Seligkeit. Luther: „Lieber Mensch, du mußt den Himmel haben und schon selig fein, ehe du gute Werke tust."35) Kurz, der im Evangelium ausgesprochene gratuitus Dei favor propter Christum ist der unbewegliche Gnadenhimmel, der über die christliche Kirche ausgespannt ist und unter dem die Christen durch den Glauben wohnen und wirken. Durch das

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33) So A. C., Art. XIII und V. Die wirkende Kraft der Gnadenmittel beruht aus der darbietenden oder schenkenden; das heißt, dadurch, daß Gott in den Gnadenmitteln uns kavorein vei propter Oüristuni, die Vergebung der Sünden, zusagt oder schenkt, ruft der Heilige Geist den Glauben in uns hervor. Röm. 10, 17: Ή πίστις εξ ακοής. Luther: „So man das Wort Gottes öffentlich und klar predigt, dann hebt an auszusteigen ein solcher Glaube und Hoffnung, eine solche starke Zuversicht in Christum.(XII, 1506.)

34) Apol. 96, 55: Quoties nos de fide loquimur, intelligi volumus objectum, scii, misericordiam promissam. Es ist daher ganz konsequent, daß das Tridentinum, nachdem es den christlichen Begriff der rechtfertigenden Gnade, die favor Dei, mit dem Fluch belegt hat, unmittelbar darauf (oan. XII) auch den christlichen Begriff des rechtfertigenden Glaubens, nämlich daß der Glaube das Vertrauen aus Gottes Barmherzigkeit in Christo sei, verflucht: Si quis dixerit fidem justificantem nihil aliud esse quam fiduciam divinae misericordiae peccata remittentis propter Christum, vel eam fiduciam solam esse qua justificamur, anathema sit.

35) St. L. Ausg. XII, 136.


14  >        Die seligmachende Gnade Gottes.  [English ed. ~ 14–15]

Anfchauen. dieses Gnadenhimmels entsteht der Glaube, wird der Glaube erhalten und ist der Glaube „ein lebendig, fchäftig, tätig, mächtig Ding", so daß er nicht fragt, ob gute Werke zu tun sind, sondern ehe man fragt, hat er sie getan, und ist immer im Tun. (Luther XIV, 99.) Die christliche Dogmatik hat daher dem schriftgemäßen Begriff der seligmachenden Gnade große Aufmerksamkeit zuzuwenden und durchaus feftzuhalten: die feligmachende Gnade ist die gnädige Gesinnung Gottes oder die Vergebung der Sünden, die um Christi willen im Herzen Gottes gegen die ganze Sünderwelt vorhanden ist, im Evangelium bezeugt wird und von allen Menschen auf Grund des Evangeliums geglaubt werden soll.

Dadurch, daß die Kirche der Reformation wieder zu dem rechten Begriff der feligmachenden Gnade als kavor voi proptor Oüristum im Unterschiede von der gratia infusa zurückkehrte, ist sie zur apostolischen Reinheit der christlichen Lehre. zurückgekehrt?6) Luther schärft in seiner Widerlegung des Latomus (1521) und in feiner Vorrede zum Römerbrief (1522) den Unterschied von „Gnadeund „Gnadengabeein.37) Melanchthon polemisiert schon in der ersten Ausgabe feiner Loci sehr entschieden gegen die scholastische Auffassung der seligmachenden Gnade als qualitas, quae sit in animis sanctorum, und führt aus, daß dadurch der Kirche das Evangelium geraubt fei. Er selbst definiert die Gnade als condonatio seu remissio peccati.38) Luther und Melanchthon sind sich bewußt, daß man an

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36) Eine treffliche Ausführung hierüber bei Plitt, Einleitung in die Augustana II, 15 ff.

37) Rationis Latom. Confutatio:        Gratiam        accipio hic proprie pro favore Dei, sicut debet, non pro qualitate animi, ut nostri recentiores (die Scholastiker) docuerunt. (Opp. v. a. V, 489. St. L. XVIII, 1162.) In der Vorrede zum Römerbrief: „Gnade und Gabe sind des Unterschieds, daß Gnade eigentlich heißet Gottes Huld oder Gunst, die er zu uns trägt bei sich selbst, aus welcher er geneigt wird, Christum und den Geist mit seinen Gaben in uns zu gießen. Ob nun wohl die Gaben und der Geist in uns täglich zunehmen und noch nicht vollkommen sind, daß also noch böse Lüste und Sünde in uns überbleiben, welche wider den Geist streiten, so tut doch die Gnade so viel, daß wir ganz und für voll gerecht für Gott gerechnet werden. Denn seine Gnade teilet und stücket sich nicht, wie die Gaben tun, sondern nimmt uns ganz auf in die Hulde um Christus', unsers Fürsprechers und Mittlers, willen und um das in uns die Gaben angefangen sind.” (XIV, 98.)

38) Loci, ed. Kolde 1890, S. 168 ff.: Hic merito quis expostulet cum scholasticis, qui sacrosancto vocabulo gratiae tam foede abusi sunt, cum pro qualitate, quae sit in animis sanctorum, usurpant. . . . Nos simpli-


15  >        Begriff der seligmachenden Gnade.  [English ed. ~ 16]

diesem Punkt auch die Unklarheiten Augustins zu beseitigen habe, weil Augustin nicht sowohl die gnädige Gesinnung Gottes in Christo, als vielmehr die allein aus Gottes Gnade fließende Erneuerung in den Vordergrund rückt und zum Grunde der Rechtfertigung macht.39) Auch das lutherische Bekenntnis weist immer wieder darauf hin, daß die rechtfertigende und seligmachende Gnade nicht ein llabiims im Menschen, sondern Gottes Barmherzigkeit w. sei.40) Luther spricht es immer wieder aus, daß sowohl das Papsttum als das Schwärmertum auf dem Grundirrtum der gratia infusa aufgebaut sei.41) Insonderheit ist der alter Martinus, Chemnitz, bemüht, den

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cissime nomenclaturam hanc facimus gratiae, secuti phrasin scripturae, ut sit gratia favor, misericordia, gratuita benevolentia Dei erga nos. Donum ipse Spiritus Sanctus, quem in eorum corda effundit, quorum est misertus. Fructus Spiritus Sancti fides, spes, caritas et reliquae virtutes. Et haec quidem de nomine gratiae. In summa, non aliud est gratia nisi condonatio seu remissio peccati. Donum est Spiritus Sanctus, regenerans et sanctificans corda.

39) Über die Rechtfertigungslehre Augustins vid. Plitt, Einleitung ec. II, 18 ff. — Kirn über Augustin in RE.3 sub voce „Gnade": „Die Gnadenlehre Augustins berührt sich zwar mit der Paulinischen, indem sie das Heil ausschließlich aus Gott zurückführt. Sie unterscheidet sich von dieser aber dadurch, daß . . . sie ihr Wesen nicht sowohl in der Sündenvergebung als in der Mitteilung sittlicher Kräfte sieht.” Luther und Melanchthon über Augustins Rechtfertigungslehre in dem Briefwechsel mit Brenz, Corp. Ref. II, 502 3y. (die Nummern 984. 986. 992. 996); dann die Quaestiones de justificatione coram Deo propositae a Ph. Melanchthone D. Martino Luthero a. 1536, Erl. Ausg. 58, 347 ff. St. L. XX, 448 ff. Luther weist aber mit Recht auf solche Aussprüche Augustins hin, in denen dieser, mit Gott handelnd, sich allein der gnädigen Gesinnung Gottes und des Verdienstes Christi tröstet, Erl. Ausg. 58, 352; St. L. XXII, 453. Wie es kam, daß Augustin die Gnade als gratia infusa herauskehrte und den gratuitus Dei favor zurücktreten ließ: L. u. W. 28, 344. Chemnitz, Loci II, 727

40) Apologie (150, 260): Iactatur in scholis quod bona opera placeant propter gratiam et quod sit confidendum gratiae Dei. Hic interpretantur gratiam habitum, quo nos diligimus Deum. . . . Cur non exponunt hic gratiam misericordiam Dei erga nos ? Et quoties mentio hujus fit, addere oportet fidem. Non enim apprehenditur nisi fide promissio misericordiae, reconciliationis, dilectionis Dei erga nos. In hanc sententiam recte dicerent confidendum esse gratia.

41) Luther (XIII, 917): „Das sieht man an allen Schwärmern und Rottengeistern durchaus, daß sie alle in dem Irrtum find, daß sie nicht verstehen, wie die Sünden vergeben werden. Denn frage den Papst und alle seine Doctores, so werden sie dir nicht können sagen, was die Absolution” (die im Wort ausgesprochene Vergebung der Sünden) „ausrichte. Denn auf dieser Lehre bestehet das ganze Papsttum: die Gnade werde dem Menschen eingegossen durch eine heim-


16  >        Die seligmachende Gnade Gottes.  [English ed. ~ 17]

schriftgemäßen Begriff der seligmachenden Gnade ins Licht zu stellen. Chemnitz weist historisch nach, wie der Gnadenbegriff von Pelagius verkehrt, aber auch von Augustin nicht richtig gefaßt sei, und legt dann sehr ausführlich aus der Schrift dar, quod gratia in articulo justificationis intelligenda sit de sola gratuita misericordia, bonitate, benevolentia seu favore Dei complectentis sua gratia et recipientis in gratiam indignos propter Filium mediatorem.42) Auch die späteren Dogmatiker schärfen mit Quenstedt mehr oder weniger ausführlich ein und erweisen aus der Schrift: Gratia per quam justificamur non notat donum vel effectum quoddam gratiae in nobis, sed affectum benevolentissimum in Deo seu gratuitum Dei favorem.43) Insonderheit hat auch die treulutherische Kirche Amerikas den reformierten Sekten und den neueren Lutheranern gegenüber den Unterschied von „Gnade” und „Gnadengabe” betont und aufrechterhalten. Walther schreibt: „Wie herrlich stellt Luther die Vergebung durchs Wort dem ,innerlichen Licht,’ der Schwärmer entgegen, denen jeder, der noch die Vergebung der Sünden aufs Wort baut, für einen Unbekehrten gilt, und die nur den bekehrt nennen, der sich sogenannter Erfahrungen rühmt und darauf baut. Diese Erfahrungen oder die besondern Vorgänge und Gefühle in der Seele und Gemüt nennt man Gnade Gottes, während die Heilige Schrift unter Gnade das versteht, was in Gottes Herzen ist: seine

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liche Wirkung; wer dazu kommen wolle, der müsse reuen, beichten und genugtun. . . . Also sagen die Wiedertäufer auch: Was sollte die Taufe zur Vergebung der Sünden tun? Ist's doch nur eine Handvoll Wassers! Der Geist muß es tun, so wir recht von Sünden sollen rein werden; das Wasser kann's nicht tun. Ziehen also die Vergebung der Sünden auch vom Wort hinweg."

42) Loci, Francof. 1599, II, 721 sqq. Examen 1668, p. 138.

43) Syst. II, 766 sq: Gratia qua justificamur est misericordia et gratuitus Dei favor, non infusus caritatis aut sanctitatis habitus aut qualitas nobis subjective inhaerens. — Distinguendum inter gratiam et donum gratiae, inter ipsum favorem et effectum favoris. Gratia per quam justificamur non notat donum vel effectum quoddam gratiae in nobis, sed affectum benevolentissimum in Deo seu gratuitum Dei favorem. Non diffitemur quidem quandoque gratiam Dei metonymice accipi pro donis gratiae, eam tamen gratiam qua justificamur aliam esse negamus quam gratuitum Dei favorem et misericordiam, — Gratiam Dei in articulo justificationis gratuitum Dei favorem significare, probatur . . . a gratiae infusae ab actu justificationis remotione. Gratia infusa est opus legis seu bonus motus voluntatis et appetituum, quae tamen ab actu justificationis removentur, Rom. 3, 20. Quod igitur ab actu justificationis excluditur, id per vocabulum gratiae in articulo justificationis non denotatur.


17  >        Gnade in Christo.  [English ed. ~ 17–18]

Gunst, Erbarmung und Liebe, die im Wort ausgesprochen wird und nun geglaubt werden soll, und jene dagegen Gaben nennt. Und zwar sind dieselben gar herrliche Gaben; aber wer darauf die Vergebung baut, hat auf Sand gebaut.” (Die luth. L. von der Rechtf., S. 85 f.)44)

3. Eigenschaften der seligmachenden Gnade. ^

a. Gnade in Christo. Die Gnade, nach welcher Gott den sündigen und vom Gesetz verurteilten Menschen gnädig gesinnt ist, ist nach der Schrift nicht eine absolute, das heißt, auf Gottes Machtvollkommenheit beruhende,45) sondern eine Gnade in Christo oder um Christi willen, das heißt, eine durch Christi stellvertretende Genugtuung (satisfactio vicaria) erworbene Gnade. Wohl werden wir ohne Werke unsererseits, δωρεάν τη αύτοϋ χάριτι, gerecht, aber — so fügt der Apostel sofort hinzu — διά της άπολυτρώαεως της εν

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44) Vgl. F. Pieper im Bericht des Südlichen Distrikts 1883, S. 48 f.: „Es ist auf den verschiedenen Gebrauch des Wortes Gnade aufmerksam zu machen. In der Heiligen Schrift wird Gnade auch das genannt, was durch Gottes Gnade im Menschen gewirkt wird, also im Menschen ist. Daß jemand Gottes Wort lieb hat, die Sünde meidet und gottselig wandelt, ist auch Gottes Gnade, eine Gnadengabe. Nun fragt es sich, ob das Wort ,Gnade so zu fassen sei, wenn wir sagen: ein Mensch wird aus Gnaden gerecht. Die Antwort ist: Nein! Hier hat das Wort Gnade eine ganz andere Bedeutung. Es bezeichnet die gnädige Gesinnung, die,Gunst (favor) Gottes, die Christus zuwegegebracht hat und infolge welcher nun Gott den Sündern umsonst Vergebung der Sünden darreicht. Es heißt Röm. 3, 24: ,Und werden ohne Verdienst gerecht aus seiner — nämlich Gottes — ,Gnade, durch die Erlösung, so durch Christum JEsum geschehen ist. An dieser Bedeutung des Wortes Gnade ist in der Lehre von der Rechtfertigung durchaus festzuhalten. Dadurch bleibt man aus der rechten Bahn, während man sofort in Papismus fällt, sobald man hier Gnade und Gnadenwirkungen verwechselt. Darum ist den Papisten gegenüber neben dem aus Gnaden auch an dem allein durch den Glauben festzuhalten. Denn das allein durch den Glauben zwingt zur rechten Auffassung des Wortes Gnade. Werden wir allein durch den Glauben gerecht, so muß die Gnade darin bestehen, daß Gott aus gnädiger Gesinnung in Christo Vergebung der Sünden im Wort des Evangeliums zusagt."

45) So behauptet Socin: Nisi velimus Deo minus concedere quam hominibus ipsis concedatur, confitendum omnino est, Deum jure (nach seiner Machtvollkommenheit) potuisse nobis peccata nostra ignoscere, nulla pro ipsis vera satisfactione accepta. (Praelect. theol., c. 16. Vgl. Calov, Socinianismus profligatus, p. 370. Quenstedt II, 436.) Auch Thomas von Aquino spricht dieselbe Meinung aus mit der Begründung, daß Gott niemand über sich habe, cum non habeat superiorem. (Summa III, qu. 46, art. 2.)


18  >        Die seligmachende Gnade Gottes.  [English ed. ~ 18]

Χριστώ Ίησον, Röm. 3, 24. Gottes gnädige Gesinnung darf also nicht ohne die Erlösung, die durch Christum geschehen ist, gedacht werden.46) Man hat den Versuch gemacht, die Erlösung durch Christum als Befreiung im allgemeinen und nicht als Loskaufung durch ein Lösegeld zu denken. Aber damit nimmt man seinen Standpunkt außerhalb der Heiligen Schrift.47) Die Schrift nennt als Kaufpreis, um den Gnade für die Menschen vorhanden ist, ausdrücklich die Tatsache, daß Christus für die Menschen sowohl unter die Pflicht,48) als unter den Fluch des den Menschen gegebenen göttlichen Gesetzes trat.49) Die weitere thetische und antithetische Darlegung der satisfactio vicaria erfolgt bei der Lehre von Christi Werk. Hier ist der Hinweis auf Christi Verdienst nötig, um den schriftgemäßen Begriff der seligmachenden Gnade ins Licht zu stellen. Nach der Schrift schließen zwar Menschenverdienst und Gottes Gnade einander völlig aus, Röm. 11, 6: έι χάριτι οϋκέτι έξ έργων, aber Christi Verdienst und Gottes Gnade schließen sich nicht aus, sondern sind unzertrennlich miteinander verbunden. Oder was dasselbe ist: Die gnädige Gesinnung, welche Gott nunmehr gegen die Sünderwelt hegt, schließt die Befriedigung der fordernden und strafenden Gerechtigkeit Gottes durch Christi stellvertretende Genugtuung nicht aus, sondern ein.50) An diesem Punkte handelt es sich um die Bejahung oder Leugnung des christlichen Gnadenbegriffs. Wie die Gnade zunichte wird (οϋκέτι γίνεται χάρις, Röm. 11, 6), wenn man das Verdienst der Menschenwerke mit ihr verbinden will, so wird sie auch aufgehoben, wenn man sie von der stellvertretenden Genug-

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46) Quenstedt: Justificamur quidem gratia, Rom. 3, 24, non autem absoluta, quia διά τής άπολυτρώαεως τής εν Χριστφ Ίησοϋ.        (II, 774.) Gut auch David Brown in Commentary Critical, etc. zu διά τής απολύτρωσε οος κτλ.[pg.228]: “A most significant clause, teaching us that though justification is quite gratuitous, it is not a mere fiat of the divine will, but based on a redemption, i. e., the payment of a ransom in Christ's death."

47) So richtig Meyer zu Röm. 3, 24 gegen Ritschl u. a.

48) Gal. 4, 4. 5: Γενόμενος υπό νόμον, ί'να τούς υπό νόμον εξαγοράση (obedientia activa).

49) Gal. 3, 13: Ημάς εξηγόρασεν εκ τής κατάρας τον νόμου γενόμενος νπερ ήμ,ών κατάρα (obedientia passiva).

50) Röm. 3, 25: εις ενδειξιν τής δικαιοσύνης αντοϋ κτλ. Die δικαιοσύνη ϑεον kann hier nach dem Kontext (διά την πάρεσιν των προγεγονότων αμαρτημάτων εν τή ανοχή τον ϑεον) nur die fordernde und strafende Gerechtigkeit Gottes bezeichnen. So richtig Meyer, Philippi, Thomasius 2c. Vgl. besonders auch Stöckhardt im Kommentar, S. 154 ff.


19  >        Gnade in Christo.  [English ed. ~ 19–20]

tuung Christi loslösen will. Die ohne diese Genugtuung gedachte Gnade ist ein non-ens. Wer sie glaubt, „glaubt in die Luft hinein” und hat sich auf heidnisches Gebiet begeben, denn es ist — wie Luther richtig bemerkt — ein Charakteristikum des Heidentums, daß es an Gott glauben will ohne die „Kost" der Erlösung, die durch Christum geschehen ist.51) Auch schon dadurch wird der christliche Gnadenbegriff gefälscht, wenn die Gnade nur teilweise auf Christi stellvertretende Genugtuung gegründet wird, indem man annimmt, daß Christi Verdienst nicht an sich, seinem innern Wert nach, sondern nur nach Gottes Schätzung oder Verordnung eine Genugtuung für die Sünden der Menschen darstelle (Acceptilations-theorie: Scotisten, Arminianer 2c.52). Es ist durchaus festzuhalten, daß die Schrift die Gnade nicht bloß teilweise, sondern ganz auf Christi Verdienst gründet. Alle Gnade, die vorhanden ist, ist διά τής άπολντρώσεως τής εν Χριστώ vorhanden.53)  Die Botschaft von der Gnade Gottes, Apost. 20, 24, und die Botschaft von Christo, dem Gekreuzigten, 1 Kor. 2, 2, sind nach der Schrift Wechselbegriffe und decken sich vollständig. Durch eine auch nur teilweise Loslösung der Gnade von Christi Verdienst wird die Gnade extra Christum gedacht, Christus in seinem Erlösungswerk aus dem Mittelpunkt gerückt, während doch Paulus sagt: „Ich hielt mich nicht dafür, daß ich etwas wüßte unter euch, εΐ μή Ίησοῦν

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51) Luther (XI, 1085 f.): „Ich habe zuvor oft gesagt, daß der Glaube nicht allein genug sei zu Gott, sondern die Küste muß auch da fein. Der Türke und Juden glauben auch an Gott, aber ohne Mittel und ohne Köste. Was ist nun die Kost? Das zeigt das Evangelium an. . . . Christus lehrt hier, daß wir nicht verloren sind, sondern das ewige Leben haben, das ist, daß uns Gott habe lieb gehabt also, daß er es sich kosten hat lassen sein einiges, liebstes Kind, welches er hat gesteckt in unser Elend, Hölle und Tod und hat ihn das lassen aussausen. Das ist die Weise, selig zu werden. Quenstedt: Dei misericordia et Christi meritum arctissimo nexu cohaerent et divinus amor salvificus in Christi intercessione, sponsione et merito est fundatus, Joh. 1, 17; Rom. 8, 39; 1 Cor. 1, 4; 1 Tim. 1, 14. Recte Chemnitius in Harm. Ev., c. 28, p. 152: Extra Christum nulla gratia et misericordia Dei erga peccatores, nec debet, nec potest recte cogitari. Errant igitur Sociniani, qui amorem Dei erga homines peccatores extra et citra satisfactionem Christi ponunt. (II, 6.)

52) Das Nähere bei der Lehre von Christi Werk.

53) Richtig bemerkt Meyer zu Röm. 3, 24 gegen Hofmanns Auffassung von απολντρωσις als Befreiung, „die sich der Befreiende etwas kosten läßt: „Nein, der Begriff des Kaufpreises, und zwar des Äquivalents, liegt darin, welches modo vicario für den Befreiten eintritt."


20  >        Die seligmachende Gnade Gottes.  [English ed. ~ 20]

Χριστόν και τοντον εστανρωμένον", 1 Kor. 2, 2, und zu Spekulationen über den Willen Gottes außer Christo Anlaß gegeben.54) 

Gewaltig schärft Luther ein, daß wir uns ja keine Gedanken von Gottes Gnade ohne Christi stellvertretende Genugtuung machen sollen. Er sagt: „Also wird uns wohl umsonst Gnade gegeben, daß sie uns nichts kostet, aber sie hat dennoch einen andern für uns viel gekostet und ist mit unzähligem, unendlichem Schatz erworben, nämlich durch Gottes Sohn selber."55) Fragen wie diese: ob Gott nicht kraft seiner göttlichen Machtvollkommenheit, als oberster Richter 2c., also ohne die stellvertretende Genugtuung Christi, den Menschen gnädig sein könne, sind auch völlig unnütz, da die Tatsache, daß Gott nur um Christi willen den sündigen Menschen gnädig gesinnt ist, durch die Offenbarung der Schrift feststeht.56)

Von allen, welche lehren, daß Gott ohne Christi stellvertretende Genugtuung den Menschen auf Grund ihrer eigenen „Sittlichkeit" gnädig sei (so die Unitarier aller Zeiten: Photinianer, Socinianer, Ritschl, Harnack 2c.), ist zu urteilen, daß sie den christlichen Glauben aufgegeben haben und außerhalb der christlichen Kirche stehen. Die christliche Kirche ist die Gemeinschaft derer, die an Christum

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54) So denkt Calvin die Gnade Gottes extra Christum, wenn er Institutt. II, 17, 1 behauptet, daß Christi Verdienst als das Verdienst eines Menschen (!) nicht genügenden Wert habe, sondern seinen Wert durch Gottes Verordnung (ordinatio) bekomme. Damit ist der christliche Gnadenbegriff preisgegeben und für die Spekulation über den absoluten Gott der Grund gelegt.

55) XII, 262 f.

56) Quenstedt: Non opus est de potestate Dei disputare, ubi de voluntate ejus ex revelatione constat. (II, 436.) Scharf weist Luther alle menschliche Spekulation über Gottes Können zurück, wenn in der Schrift eine Offenbarung über Gottes tatsächliches Wollen und Tun vorliegt. Er schreibt gegen den Einwurs der Schwärmer, daß der Glaube der Christen durch das gepredigte Evangelium genugsam gestärkt werden könne ohne Christi Leib im Abendmahl: „Ja, das möcht' wohl außer dem Sakrament geschehen. Ist wahr, es möcht' auch wohl außer dem Leib Christi, der zur Rechten Gottes ist, geschehen; sollt' darum Christus zur Rechten Gottes nicht sein? Item, es möcht' ohne das Evangelium geschehen, denn wer wollte Gott wehren, wo er uns mit der Tat hätte wollen erlösen und nichts davon predigen lassen noch Mensch werden? Gleichwie er Himmel und Erde geschaffen hat und alles macht noch immerdar ohne äußerlich Predigen und wird nicht Mensch drum: sollte drum das Evangelium nichts sein? Nun er's aber dir will durch die Menschheit, durchs Wort, durchs Brot im Abendmahl geben, wer bist du hoffärtiger, undankbarer Teufel, der du fragen darfst, warum er's nicht sonst und ohne die Weise tue? Willst du ihm Weise und Maße setzen und wählen? Du solltest vor Freuden springen, daß er's tut, durch welche Weise er will, allein daß du es erlangest.” (XX, 882 f.)


21  >        Allgemeine Gnade.  [English ed. ~ 21]

glauben, das heißt, glauben, daß sie um Christi willen einen gnädigen Gott haben, Eph. 1, 7: εν ᾧ (scil. Χριστφ) εχομεν την απολντρωσιν διά τον αίματος αυτόν, την αφεσιν των παραπτωμάτων.57)

b. Allgemeine Gnade. Die gnädige Gesinnung Gottes in Christo erstreckt sich nicht nur auf einen Teil der Menschen, sondern auf alle Menschen ohne Ausnahme. Oder was dasselbe ist: die seligmachende Gnade ist eine allgemeine. Gratia Dei erga homines lapsos non particularis, sed universalis est. Die Schriftaussagen lassen sich dem Partikularismus gegenüber in drei Gruppen ordnen: a. Die Schrift nennt als Objekt der Gnade (Liebe, Barmherzigkeit 2c.) Gottes in Christo ausdrücklich alle Menschen, Tit. 2,11: έπεφάνη ή χάρις τοϋ ϑεοϋ ή σωτήριος πάσιν άνθρώποις; die Welt, Joh. 3,16: οϋτω ήγάπησεν ό ϑεός τον κόσμον, ώστε τον νίόν αντον τον μονογενή εδωκεν;  die ganze Welt, 1 Joh. 2, 2: αυτός (Christus) ιλασμός έστιν περι των αμαρτιών ημών ον περί τών ήμετέρων δε μόνον, άλλα και περι όλου τοϋ κόσμον.  Die Einschränkung von Joh. 3, 16 auf „die Welt der Erwählten" verbietet V. 18, wonach zu der Welt, von der die Rede ist, auch die Ungläubigen gehören, b. Die Schrift sagt ausdrücklich, daß die gratia universalis sich auch auf alle einzelnen Individuen beziehe, 2 Petr. 3, 9: (ό κύριος) μή βονλόμενός τινας (irgendwelche) άπολέσϋ·αι; auch wenn Gott Hesek. 33, 11 schwört: „Ich habe keinen Gefallen am Tode des Gottlosen", so kommt zum Ausdruck, daß Gottes Heilswille sich auf jedes Individuum erstrecke, dem die Bezeichnung „der Gottlose", הָרָשָׁ֔ע, [HEBREW] zukommt, c. Die Schrift bezeugt reichlich, daß die seligmachende Gnade sich auch auf alle diejenigen erstrecke, die schließlich verloren gehen. Auch auf sie erstreckt sich

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57) Art. IV der A. C. lehrt, „daß wir Vergebung, der Sünden bekommen und für Gott gerecht werden aus Gnaden um Christus' willen durch den Glauben, so wir glauben, daß Christus für uns gelitten hat und daß uns um seinetwillen die Sünde . . . vergeben wird”. Der Gr. Kat. legt dar, daß die „Erlösung durch Christum von Christi stellvertretender Genugtuung zu verstehen sei (454, 31), und der Glaube an diese Genugtuung zum Gliede der christlichen Kirchemache (456, 43 ff.); alle, welche durch ihre Sittlichkeit Gottes Gnade erlangen wollen, sind „außer der Christenheit (extra christianitatem) (458, 56; 460, 66). Vgl. Luthers wahrhaft klassische Ausführung wider den „greulichen, schrecklichen Verstand und Irrtum derer, die da meinen, daß Gott „Wohl ohne Christi Leiden hätte mögen vergeben und nicht zurechnen die Sünde (XII, 261 ff.). Vgl. F. Pieper in „L. u. W.: „Das Wesen des Christentums nach Prof. Harnack, 47, 322 ff.  [See also 1902 Missouri Synod convention essay, 1903 book by the same name; English translation: What Is Christianity?, 1933]


22  >        Die seligmachende Gnade Gottes.  [English ed. ~ 21–22]

Christi Verdienst, 1 Kor. 8, 11: Der schwache Bruder wird umkommen, „um welches willen doch Christus gestorben ist", δι δv Χριστός άπέϋανεν; Röm. 14, 15: υπέρ ου Χριστός άπέϑανεν;58) die falschen Lehrer, welche die Verdammnis über sich führen, verleugnen den HErrn, „der sie erkauft hat", 2 Petr. 2, 1. Nicht minder erstreckt sich auch auf die Verlorengehenden der auf ihre Bekehrung gerichtete Wille Gottes, Matth. 23, 37: ηϑέλησα έπισυναγαγεΐν τά τέκνα σου ... καί ονκ ήφελήσατε.59) Mit Recht jagt Gerhard in bezug auf die allgemeine Gnade, daß die Schrift mit Worten, Christus mit Tränen, Gott selbst mit einem Eide sie bezeuge.60)

Die gratia universalis ist die Lehre der lutherischen Kirche. Das lutherische Bekenntnis hält die Allgemeinheit der seligmachenden Gnade im ganzen Umfange fest. Es lehrt den dreifachen Universalismus der Liebe Gottes, des Verdienstes Christi und der ernstlichen Wirksamkeit der Gnadenmittel in allen Hörern des Wortes.61) Der partikulare Gnadenwille wird im luthe

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58). Der Einwurf, daß hier von einem Fall die Rede sei, der gar nicht Vorkommen könne (so Shedd, Dogmatic Theology II, 481), zerstört das ganze Argument des Apostels.

59) Thomasius stellt die Schriftaussagen so zusammen: „Gottes Liebeswille ist ein universaler; er umfaßt alle Menschen, 1 Tim. 2, 4: δς πάντας ανθρώπους θέλει οωθήναι, die Gesamtheit des abgefallenen Geschlechtes, Joh. 3,16: insbesondere Röm. 11, 32; er schließt keinen vom Heile aus, 2 Petr. 3, 9, selbst diejenigen nicht, die es von sich stoßen, wie denn Christus auch für die gestorben ist, die sich an ihm stoßen und ihn verwerfen, Röm. 14, 15; 1 Kor. 8, 11; 2 Petr. 2, 1. (Dogmatik, 2. Aufl. I, 423.)

60) De elect. et reprob., § 57: Huic sententiae (von der partikularen Gnade) opponimus beneficam illam Dei voluntatem, qua serio omnium conversionem et salutem expetit, quam beneficam voluntatem Scriptura verbis, Christus lacrymis, Deus ipse juramento testatam fecit.

61) F. C. 709, § 28—42 [Triglotta, pg 1071–1077]: „Wir müssen in alle Wege steif und fest darüber halten, daß, wie die Predigt der Buße, also auch die Verheißung des Evangelii universalis, das ist, über alle Menschen gehe. Darum Christus befohlen hat, zu predigen in seinem Namen Buß' und Vergebung der Sünden unter allen Völkern. Denn Gott hat die Welt geliebet und derselben seinen Sohn gegeben. Christus hat der Welt Sünde getragen, Joh. 1, sein Fleisch gegeben vor der Welt Leben, Joh. 6, sein Blut ist die Versöhnung vor der ganzen Welt Sünde, 1 Joh. 2. Christus spricht: Kommet alle zu mir, die ihr beladen seid, ich will euch erquicken, Matth. 11. Gott hat alles beschlossen unter den Unglauben, auf daß er sich aller erbarme, Röm. 11. Der HErr will nicht, daß jemand verloren werde, sondern daß sich jedermann zur Buße kehre, 2 Petr. 3. . . . Solchen Beruf Gottes, so durch die Predigt des Worts geschieht, sollen wir


23  >        Allgemeine Gnade.  [English ed. ~ 22–23]

rischen Bekenntnis ausdrücklich verworfen.62) Freilich haben die Synergisten dem lutherischen Bekenntnis den Vorwurf gemacht, daß es tatsächlich die gratia universalis aufhebe, weil es neben der gratia universalis so entschieden die sola gratia lehrt, den Seligwerdenden nicht besseres, sondern auch übles Verhalten und die gleiche Schuld im Vergleich mit den Verlorengehenden zuschreibt und deshalb die Frage, warum die einen vor den andern bekehrt und selig werden, für in diesem Leben unlösbar erklärt und zu den unbegreiflichen Gerichten und unerforschlichen Wegen Gottes rechnet.63) Dieser Vorwurf, daß die Lehre der Konkordienformel von der sola gratia sachlich die gratia universalis aufhebe, ist nicht nur zur Zeit der Verabfassung der Konkordienformel seitens der Synergisten laut geworden, sondern auch zu unserer Zeit von den deutschländischen und amerikanischen Synergisten sehr entschieden wiederholt worden.64) Aber diese ganze Argumentation beruht auf dem Grundirrtum, daß nicht die Aussagen der Heiligen Schrift, sondern die menschliche Meinung von einem „einheitlichen System" das Maß der christlichen Lehre sei. Auch Luther bezeugt gewaltig, wie die Allgemeinheit der Liebe Gottes und der Erlösung durch Christum, so auch die ernstliche Berufung aller Hörer des Wortes.65) Daß Luthers

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für kein Spiegelsechten halten, sondern wissen, daß dadurch Gott seinen Willen offenbaret, daß er in denen, die er also berufet, durchs Wort wirken wolle, daß sie erleuchtet, bekehret und selig werden mögen.

62) V. 6. 557, § 17—19: „Demnach verwerfen wir folgende Irrtum: 1. Als wann gelehret wird, daß Gott nicht wolle, daß alle Menschen Buße tun und dem Evangelio glauben; 2. item, wann Gott uns zu sich berufe, daß es nicht sein Ernst sei, daß alle Menschen zu ihm kommen sollen; 3. item, daß Gott nicht wolle, daß jedermann selig werde, sondern, unangesehen ihre Sünde, allein aus bloßem Rat, Vorsatz und Willen Gottes zur Verdammnis verordnet, daß sie nicht können selig werden."

63) F. C. 716 f., § 57—64.

64) Man argumentiert wie Luthardt: „Würde Gott das Ergreifen des Heils, den Glaubensgehorsam, die Bekehrung . . . selbst wirken, so wäre allerdings der Prädestinatianismus” (die Leugnung der gratia universalis) „unvermeidlich.” (Die Lehre vom freien Willen, S. 276.) Das Nähere bei der Lehre von der Bekehrung und Gnadenwahl.

65) Zu Joh. 1, 29: „In jenem Leben werden wir in Ewigkeit unsere Freude und Lust daran haben, daß der Sohn Gottes sich so tief herunterläßt und nimmt meine Sünde auf seinen Rücken, ja nicht allein meine Sünde, sondern auch der ganzen Welt, die von Adam an bis aus den allerletzten Menschen getan ist, die will er getan haben und auch dafür leiden und sterben, damit ich ohne Sünde sei und das ewige Leben und Seligkeit erlange. ... Und ist der Text Gottes Wort und nicht unser Wort noch von uns erdacht,


24  >        Die seligmachende Gnade Gottes.  [English ed. ~ 23–24]

Unterscheidung zwischen voluntas revelata und abscondita die gratia universalis intakt lasse, wird unter dem.Abschnitt „Zur kirchlichen Terminologie in bezug auf den Gnadenwillen Gottes" dargelegt werden.

Angesichts des so klaren Schriftzeugnisses für die allgemeine Gnade Gottes in Christo sollte man es kaum für möglich halten, daß innerhalb der christlichen Kirche die gratia universalis je in Frage gestellt worden wäre. Dennoch ist es geschehen. Augustinus hat, soweit wir sehen können, die allgemeine Gnade nicht gerade direkt bekämpft; wohl aber liegt die Leugnung der gratia universalis bei ihm im Hintergründe, und er hat deshalb an Schriftstellen wie 1 Tim. 2, 4: „Gott will, daß allen Menschen geholfen werde" mit verschiedenen unmöglichen Auslegungen herumgedeutelt.66) Es ist

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daß Gott dies Lamm darum habe geschlachtet und das Lämmlein aus Gottes Gehorsam gegen den Vater her ganzen Welt Sünde auf sich         hat. Aber die Welt will nicht hinan. . . . Was soll das Lamm mehr tun? Es spricht: Ihr seid alle verdammt, aber ich will eure Sünde auf mich nehmen; ich bin die ganze Welt worden, habe die Person aller Menschen von Adam her angenommen, daß, so man von Adam Sünde bekommen hat, so will er uns Gerechtigkeit dafür geben. Da sollte ich sagen: Das will ich glauben. ... Daß man aber nicht glaubt, das geschieht nicht aus Mangel des HErrn Christi, sondern die Schuld ist mein. Glaube ich's nicht, so liege ich in meiner Verdammnis. Ich muß kurzum sagen, das Gotteslämmlein habe die Sünde der Welt getragen, und es ist mir ernstlich geboten, daß ich's glauben und bekennen soll, auch darauf sterben. Ja, möchtest du sagen, wer weiß, ob er auch meine Sünde trage? Ich glaube Wohl, daß er St. Petri, St. Pauli und anderer Heiligen Sünde getragen hat, die waren fromme Leute; wenn ich nun auch St. Petrus oder St. Paulus wäre! Hörst du nicht, was hier St. Johannes sagt: ,Dies ist das Lamm Gottes, das da trägt die Sünde der Welt’? Nun kannst du ja nicht leugnen, du seiest auch ein Stück der Welt. ... So du in der Welt bist und deine Sünden sind ein Stück der Welt Sünde, so stehet hier der Text: Alles, was Sünde heißt, Welt und der Welt Sünde, vom.Anfang der Welt her bis ans Ende, das liegt allein aus dem Lamm Gottes; und dieweil du denn auch ein Stück von der Welt bist und bleibst in. der Welt, so wirst du auch des mitgenießen, davon an diesem Ort der Text sagt. (VII, 1717 ff.)

66)        Bald verwandelt er omnes homines in multos (De corrept. et gratia, c. 14), bald in omne hominum genus (Enchir. ad Laur., c. 103). An der letzteren Steste, am Anfang des Kapitels, meint er sogar die Worte fassen zu können: tanquam diceretur, nullum hominem fieri salvum, nisi quem salvum fieri ipse (Deus) voluerit. Augustinus fühlt, daß er mit diesen Auslegungen den Sinn der Stelle nicht getroffen hat. Er sagt daher schließlich noch in Verzweiflung: Et quocxmque alio modo intelligi potest, dum tamen credere non cogamur, aliquid omnipotentem Deum voluisse fieri factumque non esse. Er hat die Schriftwahrheit aus den Augen verloren, daß Gott, durch die Gnadenmittel wirkend, widerstanden werden kann, Matth. 23, 37; Apost. 7, 51.


25  >        Allgemeine Gnade.  [English ed. ~ 24–26]

ihm nicht gelungen, Pelagius gegenüber die völlig schriftgemäße Stellung zu finden.67) Im Gottschalkschen Streit im 9. Jahrhundert (Gottschalk  869) tappten beide Seiten ungefähr gleicherweise im Dunkeln. Gottschalks Irrtum aber tritt klar darin zutage, daß er Gottes Heilswillen und Christi Verdienst auf die Auserwählten beschränkt.68) — Nicht nur geleugnet, sondern zum Teil heftig bekämpft wird die gratia universalis in den calvinistisch-reformierten Kirchengemeinschaften und dagegen der dreifache Partikularismus der seligmachenden Gnade in der schroffsten Form behauptet: weder liebt Gott alle Menschen, noch hat Christus alle erlöst, noch will der Heilige Geist alle bekehren.69) Praktisch ohne Bedeutung

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67) Vgl. Chemnitz' Loci, De justif., p. 728. Der Grundfehler Augustins besteht darin, daß er im Gegensatz zu Pelagius, der die erneuernde Kraft der Gnade leugnete, die gratia infusa so in den Vordergrund rückte, daß ihm der erste und vorzüglichste Begriff der Gnade, die Gnade als Vergebüng der Sünden (favor Dei propter Christum), bei seinem Theologisieren wenigstens stark in den Hintergrund trat. Die Rechtfertigung ist ihm nicht bloß Gottes Rechtfertigungsurteil, sondern auch die Einflößung von Gnadenkräften.

68) Ego Goteschalcus credo et confiteor quod . . Illos omnes impios et peccatores, quos proprio fuso sanguine Filius Dei redimere venit, hos omnipotentis Dei bonitas ad vitam praedestinatos irretractabi liter salvari tantummodo velit: et rursum illos omnes impios et peccatores, pro quibus idem Filius Dei nec corpus assumsit, nec orationem, ne dico sanguinem fudit, neque pro eis ullo modo crucifixus fuit, quippe quos pessimos futuros esse praescivit, quosque justissime in aeterna praecipitandos tormenta praefinivit, ipsos omnino perpetim salvari penitus nolit. (Bei Gieseler II, 1. 101.)

69) So im Gegensatz zu allen Milderungsversuchen innerhalb der reformierten Kirche selbst (Amyraldismus) die Formula Consensus Helvetici 13: Christus ... in tempore novi foederis sponsor factus est pro iis solis, qui per aeternam electionem dati ipsi sunt ut populus peculii, semen, et haereditas ejus. Pro solis quippe electis ex decretorio patris consilio propriaque intentione diram mortem oppetiit, solos illos in sinum paternae gratiae restituit, solos Deo patri offenso reconciliavit et a maledictione legis liberavit. 16: haec omnia quum ita se omnino habeant, haud sane probare possumus oppositam doctrinam illorum, qui statuunt, Christum propria intentione et consilio tum suo, tum Patris ipsum mittentis mortuum esse pro omnibus et singulis, addita conditione impossibili, si videlicet credant. Besonders deutlich auch Beza: Nullum tempus fuit vel est vel erit, quo voluerit, Felit aut voliturus sit Deus singulorum misereri. (Respons. 2. ad acta Colloq. Mompelg., p. 194; bei Quenstedt II, 11.) Friedr. Spanheim: Sententiae nostrae summa est: Nec voluntatem omnium et singulorum hominum miserendi ad salutem, Deo adscribi posse; nec voluntatem omnes et singulos per Christum redimendi, neque voluntatem omnes et singulos


26  >        Die seligmachende Gnade Gottes.  [English ed. ~ 24–26]

für die Frage nach der gratia universalis ist der Unterschied zwischen Supralapsariern (Gott hat beschlossen, einen Teil der Menschen zur Verdammnis zu erschaffen 70) und den Infralapsariern (Gott hat beschlossen, einen Teil der Menschen in der Verdammnis, die durch den Sündenfall über alle Menschen gekommen ist, zu belassen, oder an ihnen mit seiner Gnade vorbeizugehen 71)).  Auch der sogenannte hypothetische Universalismus der Amyraldisten, wonach für alle Menschen durch Christum Gnade vorhanden ist, Gott aber nur in den Auserwählten den Glauben wirken will, kommt praktisch auf die Leugnung der gratia universalis hinaus.72) — Der Partikularismus in allen Formen hat

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per Christum vocandi: adeoque gratiam universalem nec statui debere nec defendi posse. (Disp. de gratia univers., thes. 5, p. 231; bei Quenstedt

II, 11.) Die Westminster Confession of Faith: “Neither are any other redeemed Christ, effectually called . . . but the elect only.” (Chap. III, 6.)

70) Calvin: Non pari conditione creantur omnes, sed aliis vita aeterna, aliis damnatio aeterna praeordinatur. Itaque prout in alterutrum quisque conditus est, ita vel ad vitam vel ad mortem praedestinatum dicimus. (Inst. III, 21, 5. Ebenso III, 24, 12.)

71) So die Dordrechter Beschlüsse (bei Schaff, The Creeds of Christendom III, 550 ff.) und die meisten reformierten Bekenntnisse. Nach den Dordrechter Beschlüssen soll Gott beschlossen haben, einen Teil der Menschen „in communi miseria, in quam se sua culpa praecipitarunt, relinquere nec salvifica fide et conversionis gratia donare”. (l. c., p. 555.) So auch die Westminster Confession of Faith: “The rest of mankind God was pleased, according to the unsearchable counsel of His own will, whereby He extendeth or withholdeth mercy as He pleaseth for the glory of His sovereign power over His creatures, to pass hy, and to ordain them to dislionor and wrath for their sin, to the praise of His glorious justice.” (Bei Schaff III, 610.) Die amerikanischen Presbyterianer haben in ihrer  Confession of Faith an diesem Wortlaut bisher nichts geändert. Doch wurde von der General Assembly 1903 ein Declaratory Statement und ein Brief Statement of the Reformed Faith angenommen. Beide Schriftstücke haben die Tendenz, dem Arminianismus neben dem Calvinismus Hausrecht bei den Presbyterianern zu gewähren. Die Schriftstücke sind abgedruckt bei E. F. Karl Müller, Die Bekenntnisschristen der res. K. 1903, S. 941 ff. Zur Beurteilung vgl. L. u. W. 48, 182 f.; 49, 187 f.

72) Amyraldisten, nach Moses Amyraldus (Amhraut),  1664, zuletzt Professor in Saumur. Vgl. A. Schweizer, Zentraldogmen II, 292 ff. Letzterer über Amhraut in RE.2 (in RE.3 beibehalten): „Der Amyraldismus hält den realen Partikularismus fest, so zwar, daß ein idealer Universalismus hinzugenommen wird. Der Hauptsatz ist dieser: ,Es gibt in Gott einen Willen, daß alle Menschen selig werden unter der Bedingung des Glaubens, eine Bedingung, die sie an sich wohl leisten könnten, bei der nun einmal anhaftenden er


27  >        Allgemeine Gnade.  [English ed. ~ 26]

seinen Grund nicht in der Schrift, sondern in einer menschlichen Spekulation über den Willen und die Wirksamkeit Gottes. Wie die reformierte Christologie allen Schriftaussagen, die auf die Gemeinschaft der Naturen und die Mitteilung der Eigenschaften in der Person Christi lauten, schließlich einen philosophischen Satz entgegenstellt: Finitum non est capax infiniti, so beruht die reformierte Leugnung der Schriftlehre von der gratia universalis im letzten Grunde und ausschlaggebend auf einem philosophischen Satz, nämlich auf dem Satz: „Was Gott ernstlich beabsichtigt, muß auch in jedem Falle tatsächlich geschehen.” Nun werden nicht alle Menschen tatsächlich selig. Folglich hat Gott nie die Welt geliebt, Christus nie die Welt versöhnt und will der Heilige Geist nie in allen Hörern des Wortes den Glauben wirken. So argumentiert Calvin in den vier Kapiteln seiner Institutiones, in denen er seine Lehre von der Prädestination darlegt.73) Er tut die Schriftaussagen, welche auf den allgemeinen Gnadenwillen lauten, mit der immer wiederkehrenden Bemerkung ab, daß man die Ausdehnung des göttlichen Gnadenwillens nach dem Resultat beurteilen müsse.74) So argumentiert ein neuerer Reformierter, Böhl, gegen 1 Tim. 2, 4: „Wenn nach dieser Stelle der Wille Gottes ein solcher wäre, wonach Gott alle, Haupt für Haupt, retten wollte, so würde das auch geschehen, oder es gäbe nichts Gebrechlicheres und Hinfälligeres als den Willen Gottes, der sich an der größeren Zahl der Menschen von Adam bis jetzt nicht realisiert hätte."75) So argumentiert Charles Hodge: "It cannot be supposed that God intends what is never accomplished; that He purposes what He does not intend to effect; that He adopts means

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erbten Korruption aber unausweichlich verschmähen, so daß dieser allgemeine Gnadenwill? keinen einzigen faktisch selig macht. Daneben gibt es einen partikularen Willen in Gott, mit welchem er ewig festgesetzt hat, eine bestimmte Anzahl bestimmter Personen zu retten, alle andern aber mit dieser Gnade zu übergehen.’" Damit stimmt Quenstedts Urteil: Calvinistae hypothetici categoricis merito sunt annumerandi. (Syst. II, 11.)

73) Institutt. III, 21—24.

74) Vgl. sonderlich III, 24, 15—17. Der Aussage des Propheten Hesekiel, Gott habe keinen Gefallen am Tode des Gottlosen, sondern daß sich der Gottlose bekehre von seinem Wesen und lebe, Hesek. 33, 11, hält Calvin entgegen: Experientia docet, ita velle (Deum) resipiscere quos ad se invitat, ut non tangat omnium corda. Aus den Einwurs, daß dann aber den allgemeinen Verheißungen nicht zu trauen sei, antwortet er: Quamlibet universales sint salutis promissiones, nihil tamen a reproborum praedestinatione discrepant, modo in earum effectum mentem dirigamus.

75) Dogmatik, S. 286.


28  >        Die seligmachende Gnade Gottes.  [English ed. ~ 27]

for an end which is never to be attained. This cannot be affirmed of any rational being who has the wisdom and power to secure the execution of his purposes. Much less can it be said of Him whose power and wisdom are infinite. If all men are not saved, God never purposed their salvation and never devised and put into operation means designed to accomplish that end. We must assume that the result is the interpretation of the purposes of God."

Und speziell in bezug auf das Verdienst Christi fügt Hodge noch hinzu: "If equally designed for all men, it must secure the salvation of all.”76) Das ist menschliche Philosophie über den Willen Gottes, aber nicht Schriftlehre. Die Schrift lehrt allerdings, "that God intends what is never accomplished”. Die Schrift lehrt, daß Gott beabsichtigt, die Welt durch Christum selig zu machen, Joh. 3, 17: „Gott hat seinen Sohn nicht gesandt in die Welt, daß er die Welt richte, sondern ινα σωϋή ὁ κόσμος δι’ αύτον, und daß dennoch Gottes Absicht an einem Teil der Welt nicht erreicht wird, V. 18: „Wer aber nicht glaubet, der ist schon gerichtet, weil er nicht geglaubt hat an den Namen des eingeborenen Sohnes Gottes.” Die Schrift lehrt, daß Christus auch für die gestorben ist, die Verloren gehen, Röm. 14, 15: μη τω βρώματί σον άπόλλνε υπέρ ον Χρίστος άπέϋανε; ebenso 2 Petr. 2, 1. 2. Auch an zahlreichen Beispielen, lehrt die Schrift, daß Gott die Seligkeit derer will, an welchen er seinen Willen nicht erreicht. In bezug auf Jerusalem erklärt Christus: ήϑέλησα έπισυναγαγεΐν τα τέκνα σου . . . και ονκ ή'ϑελήσατε, Matth. 23, 37. Von den Pharisäern und Schriftgelehrten heißt es, daß sie den Willen Gottes (την βουλήν τοϋ ϋεοΰ), der auch ihre Seligkeit wollte,77) ήϑέτησαν, zu nichte machten, Luk. 7, 30. Die Juden von Antiochia vermochten es auch, die ihnen von Gott zugedachte und im Wort des Evangeliums angetragene Seligkeit zurückzuweisen, wie der Apostel ausdrücklich erklärt: Ύμΐν ήν άναγκάϊον πρώτον λαληϑήναι τον λόγον τοϋ ϑεον' επειδή δε άπωϑεΐσϑε αυτόν και ονκ άξιους κρίνετε έαντονς τής αιωνίου ζωής κτλ. Der        Satz: “We must assume that the result is the interpretation of the purposes of God" ist also als ein Menschengedanke zu bezeichnen, der im krassesten Gegensatz zu den Schriftaussagen steht. Nach diesem schriftwidrigen

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76) Systematic Theology II, 323.

77) Auch die Johannestaufe war nicht eine leere Zeremonie, sondern geschah είς αφεσιν αμαρτιών ηαφ nach Mark. 1, 4.


29  >        Ernstliche Gnade.  [English ed. ~ 28]

Menschengedanken aber deuten nun die Vertreter der gratia particularis die auf die gratia universalis lautenden Schriftaussagen um, indem sie für die allgemeinen Begriffe: „alle Menschen", „Welt", „ganze Welt” 2c. wider den Kontext und die Wortbedeutung die partikularen: „allerlei Menschen", „die Erwählten", „die Kirche” 2c. einsetzen und den im Schriftwort ausgedrückten allgemeinen Gnadenwillen für eine bloße voluntas signi erklären, der nach der vo1untas beneplaciti, wonach Gott die Seligkeit nur der Erwählten wolle, zu verstehen sei.78)

Daß die Gnade Gottes, wiewohl sie ihr Ziel nicht bei allen Menschen erreicht, dennoch mit Recht eine gratia seria et efficax zu nennen sei, und woher es komme, daß die Menschen mit ihrer endlichen Macht dem Willen des allmächtigen Gottes erfolgreich widerstehen können, wird in dem folgenden Abschnitt dargelegt.

c. Ernstliche Gnade. Die gnädige Gesinnung Gottes in Christo ist nicht ein müßiges Zuschauen Gottes (otiosa complacentia, nuda velleitas), sondern eine ernstliche und wirkungskräftige (gratia seria et efficax). Diese Eigenschaft müssen wir auf Grund der Schrift von der Gnade Gottes aussagen: 1. weil Christus der Kirche befohlen hat, in alle Welt zu gehen und aller Welt das Evangelium, das ist, die Tatsache, daß Gott um Christi willen allen Menschen gnädig ist, zu verkündigen;79) 2. weil der Heilige Geist in allen, die das Evangelium hören, den Glauben an das Evangelium wirken will. Besonders klar tritt dies Matth. 23, 37 hervor, wo Gottes Gnadenabsicht in bezug auf das im Unglauben bleibende Jerusalem mit den Worten beschrieben wird: ηϋέλησα έπισνναγαγεϊν τά τέκνα οου. ’Επισνναγαγεϊν heißt geistlich versammeln, zum Glauben bringen; und daß Christus nicht bloß äußerlich und obenhin,

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78) Calvin im Kommentar zu 1 Tim. 2, 4: De hominum generibus, non de singulis personis sermo est. Ebenso in Institutt. III, 24,16. Shedd bezieht (Dogmatic Theology II, 479) alle Stellen, die eine Erlösung der Welt durch Christum aussagen, auf die Kirche. Chamier: Etsi Deus velit omnes homines salvari voluntate illa sive signi sive conditionata sive non efficaci, at non vult tamen omnes salvari voluntate illa beneplaciti sive absoluta sive efficaci. (Panstrat. III, 7, 6; bei Quenstedt II, 13.) Vgl. in L. u. W. 44, S. 65—166, F. Pieper: „Geraten Lutheraner angesichts der Schriftstellen, welche von der Prädestination handeln, in Verlegenheit?" Hier ist auf alle Einwürfe, mit denen die Reformierten die universalen Schriftaussagen in partikulare verwandeln wollen, eingegangen und zugleich der Nachweis geführt, daß alle Schriftstellen, die von der Confession of Faith für die gratia particularis angeführt werden, diese nicht beweisen.

79) Mark. 16, 15; Luk. 24, 47; 2 Kor. 5, 19.


30  >        Die seligmachende Gnade Gottes.  [English ed. ~ 28–29]

sondern sehr angelegentlich und ernstlich die Kinder Jerusalems versammeln wollte, kommt noch besonders durch den Zusatz zum Ausdruck: „wie eine Henne ihre Küchlein unter ihre Flügel sammelt”.80) Ebenso lehrt die Schrift, daß Gottes Gnadenwille und Gnadenwirkung nicht bloß auf die erste Hervorbringung, sondern auch auf die Erhaltung und Vollendung des Glaubens sich erstrecke, Phil. 1, 6: ό έναρξάμενος εν νμιν εργον άγαϑόν έπιτελέσει αχρι ημέρας Χρίστον Ίησον;  3. weil die Schrift die Tatsache, daß viele Hörer des Evangeliums tatsächlich nicht zum Glauben kommen, nicht auf ein Vorbeigehen mit der Gnade und einen Mangel der ernstlichen Gnadenwirkung Gottes, sondern auf den Widerstand zurückführt, wodurch die Menschen sich beharrlich wider die Gnadenwirkung des Heiligen Geistes setzen, Matth. 23, 37: ήϑέλησα έπισνναγαγεϊν . . . και ονκ ηϑεληοατε; Apost. 7, 51: αεί τώ πνενματι τφ άγίω άντιπίτιτετε. Wenn man nicht darauf verzichten will, aus bestimmten Worten der Schrift einen bestimmten Sinn zu entnehmen, so ist hier ausgesprochen, daß der Heilige Geist auf die unbekehrt bleibenden Juden gleichsam eindrang, sie zu bekehren, und daß der ernstlich beabsichtigte Erfolg nur durch das Widerstreben der Juden verhindert wurde.81) Denn allerdings kann der Wirkung Gottes, wodurch er den Glauben in den Menschen Hervorbringen will, widerstanden werden (gratia resistibilis). Die Möglichkeit des

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80) Dazu Luther VII, 1269 f.: „Christus braucht einer sehr lieblichen und tröstlichen Figur, daß er sich vergleicht einer Gluckhenne. ... Es ist kein Vogel, ja schier kein Tier, das sich so herzlich und so mit großem Ernst seiner Jungen oder Küchlein annimmt, als eben eine Henne. Siehe doch, wie sie lebt und tut für ihre Küchlein, daß sie auch gar eine andere Stimme und Geschrei gewinnt, wenn sie ihre Küchlein führt. Siehe, wie sie sich ziert und die Flügel ausbreitet, ja einem wohl gar auf den Hals fliegen darf, daß kein Tier einen solchen Affekt hat, als eine Henne hätte. . . . Also malt sich der HErr Christus selbst ab und hat dasselbige auch oft mit dem Werk beweiset, daß er sei gleichwie eine Gluckhenne. Denn erstlich ist Moses gewesen, der versammelte das Volk auch unter das göttliche Wort und seinen Schutz. Also hat auch David, Iesaias, Jeremias und alle Propheten getan, daß sie sind Federn und Flügel alle gewesen, unter welchen Fittichen und Flügeln Gott gerne das jüdische Volk versammelt hätte. Aber Christus sagt allhier: David habt ihr verjagt, Iesaiam erschlagen, Eliam verjagt und alle andern Propheten totgeschlagen und habt nicht gewollt unter diese Flügel. Also bin ich jetzt und meine Apostel auch Gluckhennen, wir glucken und rufen: Höret uns, kriechet unter unsere Flügel 2c.! Und wenn Gott noch Prediger schickt und sein Wort gibt, so breitet er die Flügel aus, auf daß wir darunter kriechen, Schutz, Schirm und Hilfe da suchen sollen wider den Weiher, den Teufel, und all seine Engel."

81) L. u. W. 44, 99.


31  >        Ernstliche Gnade.  [English ed. ~ 29–30]

menschlichen Widerstandes der göttlichen Wirksamkeit gegenüber ist freilich nicht, wie man neuerdings wieder versucht hat, damit zu erklären, daß die Wirkung, wodurch Gott den Glauben in den Menschen hervorbringt, nicht eine Wirkung der göttlichen Allmacht sei.82) Die Allmachtswirkung lehrt die Schrift sehr klar, wenn sie von den Christen Eph. 1, 19. 20 sagt: Πιστεύοντες κατά την ενέργειαν τον κράτους της ισχύος αυτού, ήν ένήργησεν εν Χριστώ έγείρας αυτόν εκ νεκρών.83) Wohl aber müssen wir auf Grund der Schrift sagen: Die Wirksamkeit Gottes, die sich durch die Gnadenmittel vollzieht, hat die Eigenart, daß ihr widerstanden werden kann, wiewohl es auch eine Allmachtswirkung ist. Der Satz Luthers ist schriftgemäß: Gott, durch Mittel wirkend, kann widerstanden werden; Gott, ohne Mittel in aufgedeckter Majestät wirkend, kann nicht widerstanden werden.84) Wenn Christus durch sein Wort mit den Menschen handelt und zu ihnen spricht: Δεύτε πρός με πάντες, Matth. 11, 28, so ist Widerstand möglich, denn Christus berichtet: ονκ ή§ελήσατε, Matth. 23, 37. Wenn Christus aber am Jüngsten Tage, in aufgedeckter Herrlichkeit (έν τή δόξη αυτού) erscheint, ist jeder Widerstand ausgeschlossen, wie Christus ebenfalls berichtet: σνναγϑήσονται έμπροσϑεν αυτού πάντα τά εϑνη κτλ.., Matth. 25, 31. 32. Der Satz der Vertreter der gratia particularis, daß Gott, wo er ernstlich wirke, nicht widerstanden werden könne, ist also auf Grund der Schrift dahin zu berichtigen, daß Gott, durch Mittel wirkend, auch wenn er ernstlich wirkt, widerstanden werden kann.85)

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82) So z. B. Dieckhoff im Gnadenwahlsstreit. Vgl. die Abhandlung „Widerstehliche und unwiderstehliche Gnade" L. u. W. 1887, S. 117 ff.

83) Ebenso 2 Kor. 4, 6. Vgl. F. Pieper, Grunddifferenz 2c., S. 16 f.

84) Luther sagt in De servo arbitrio: Aliquem posse extolli supra Deum, quatenus est praedicatus et cultus, id est, supra verbum et cultum, quo Detis nobis cognitus est et nobiscum habet commercium. Sed supra Deum non cultum nec praedieatuin, ut est in sua natura et majestate, nihil potest extolli, sed omnia sunt sub potenti manu ejus. (Opp. v. a. VII, 221 sq. St. L. XVIII, 1794.) Dies ist der biblische Begriff der „göttlichen Selbstbeschränkung", deren Kenntnis man bei Luther und in der F. C. vermißt. (Vgl. Öttingen, Dogmatik II, 1, 591.) Die neueren Synergisten reden irrig von einer „göttlichen Selbstbeschränkung" in dem Sinne, daß Gott darauf verzichtet, allein, ohne menschliche Beihilfe, den Glauben an das Evangelium zu wirken.

85) Wir haben hierzu ein Seitenstück im Reich der Natur. Das natürliche Leben in Pflanzen, Tieren und Menschen wird allein durch Gottes Allmacht erzeugt und erhalten, und doch kann der Mensch mit seiner beschränkten Macht pflanzliches, tierisches und menschliches Leben hindern und, wenn es entstanden ist, zerstören.


32  >        Die seligmachende Gnade Gottes.  [English ed. ~ 30–31]

Damit fällt aber das ganze calvinistische Argument, daß der „Erfolg" die rechte Auslegung für den Willen Gottes sei, dahin.

Auch die göttliche Handlung der Verstockung ist nicht ein Beweis gegen, sondern für die gratia seria et efficax, wenn die Verstockung schriftgemäß aufgefaßt wird. Nach der Schrift ist die Verstockung nicht eine absolute, sondern sie vollzieht sich auf dem Grunde der menschlichen Schuld, das heißt, des Widerstandes gegen Gottes Wort und Willen. Die Verstockung ist das Zorngericht Gottes über diejenigen, welche die ihnen dargebotene Gnade verachten und der Wirksamkeit des Heiligen Geistes widerstreben. Sie erfolgt, wie es Röm. 11, 9 ausdrücklich heißt, „zur Wiedervergeltung” (εις άνταπόδομα).86) Dies geht auch aus dem Zusammenhang der Stellen in den Evangelien hervor, an denen über Verstockung, Verblendung, Verbergung der Gnade 2c. berichtet wird: Joh. 12, 40; Matth. 13,14.15; 11,25.26; 23, 38 :c. Den Worten Joh. 12, 40: „Er hat ihre Augen verblendet und ihr Herz verstocket” 2c. gehen die Worte vorher (V. 35—37): „Da sprach JEsus: Es ist das Licht noch eine kleine Zeit bei euch. Wandelt, dieweil ihr das Licht hübt, auf daß euch die Finsternis nicht überfülle. . . . Glaubet an das Licht, dieweil ihr es habt, aus daß ihr des Lichtes Kinder seid. Solches redete JEsus und verbarg sich vor ihnen. Und ob er wohl solche Zeichen vor ihnen tat, glaubten sie doch nicht an ihn.” Dem Bericht von der Verbergung der Gnade Matth. 11, 25:  άπέκρυψας ταϋτα άπό σοφών και συνετών, geht ein Bericht von der dringlichsten Anerbietung der Gnade Vonseiten Gottes vorher, V. 20 ff.: „Da fing er an die Städte zu schelten, in welchen am meisten seiner Taten geschehen waren und hatten sich doch nicht gebessert” 2c. Und indem die Personen, denen die Verbergung widerfuhr, als σοφοί καί συνετοί beschrieben werden, kommt zum Ausdruck, daß sich hier ein Strafgericht an Leuten vollzieht, die der göttlichen Offenbarung der Gnade ihre eigene Weisheit entgegenstellten.87) Dem Bericht der Entziehung der Gnade,

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86) Meyer im Kommentar: „So müsse sie (die Juden) Wiedervergeltung betreffen für das, was sie getan, indem sie nämlich den Glauben an Christum verworfen haben."

87) So auch Luther zu diesen Worten (VII, 133 f.): „Christus rühmet hier, Gott tue recht, daß er seine Geheimnisse diesen Weisen und Klugen verbirgt, weil sie selbst über, nicht unter Gott sein wollen. Nicht, daß er es in der Tat oder dem Willen nach verberge, da er ja befiehlt, es öffentlich unter dem ganzen Himmel und in allen Landen zu predigen, sondern


33  >        Ernstliche Gnade.  [English ed. ~ 31–32]

Matth. 23, 38: αφίεται νμιν 6 οίκος υμών έρημος, gehen die Worte unmittelbar vorher: „Jerusalem, Jerusalem, die du tötest die Propheten. . . . Wie oft habe ich deine Kinder versammeln wollen . . ., und ihr habt nicht gewollt.” Wenn also Juden verstockt wurden, so ging dem vorher, was Stephanus ihnen Apost. 7, 51 vorhielt: „Ihr widerstrebet allezeit dem Heiligen Geist, wie eure Väter, also auch ihr.” Die Schriftlehre von der Verstockung ist also ein Beweis nicht gegen, sondern für die gratia seria et efficax.88)

Aber die gratia seria et efficax hat die christliche Kirche nicht nur gegen die Calvinisten, sondern auch gegen die Synergisten festzuhalten, insofern diese die Wirkung der göttlichen Gnade nur auf die Möglichkeit, nicht auf die Wirklichkeit des Glaubens sich erstrecken lassen. Die Arminianer und die synergistischen Lutheraner sagen zwar von der Gnade, daß sie seria, efficax, sufficiens sei, ja alles wirke. Sie fügen dann aber hinzu, daß die göttliche Gnadenwirkung in den Gnadenmitteln doch nicht hinreiche, den Glauben zustandezubringen. Zum tatsächlichen Zustandekommen des Glaubens sei die menschliche Mitwirkung erforderlich. Die einen nennen das, wovon der Glaube neben der göttlichen Gnadenwirkung noch abhängen soll, geradezu menschliche Mitwirkung (cooperatio) und Betätigung des natürlichen freien Willens.89) Andere nennen

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daß er eine solche Predigt erwählt hat, vor welcher die Weisen und Klugen von Natur einen Abscheu haben, und die ihnen durch ihre eigene Schuld verborgen ist, weil sie dieselbe nicht haben wollen, wie Ies. 6, 9 heißt: ,Sehet es und merket es nicht.’ Siehe, sie sehen, das ist, sie haben die Lehre, welche offenbarlich und öffentlich gepredigt worden ist, und doch sehen sie nicht, weil sie sich von derselben abkehren und sie nicht haben wollen. So verbergen sie sich selbst durch ihre eigene Blindheit die Wahrheit."

88) L. u. W. 44, 101 f.: „Es ist ein sonderlicher Betrug des Teufels, wenn man bis auf die neueste Zeit die Verstockung als Beweis für die partikulare Gnade und Gnadenwirkung des Heiligen Geistes angeführt hat, während sie doch gerade das Gegenteil beweist. . . . Wir möchten den oben angeführten Ausspruch Gerhards noch etwas erweitern. Wir möchten sagen: Den allgemeinen ernstlichen Gnadenwillen Gottes beweisen: die Worte der Schrift, die Tränen Christi, der Eid Gottes und — das Zorngericht, der Verstockung, das heißt, der Zorn Gottes über diejenigen, welche seine heiße Liebe in Christo verachten und dem Heiligen Geist widerstreben. Auch Luther zu Matth. 13, 15: „Ich wollte ihnen zwar gerne helfen, spricht er (Gott), deshalben sende ich ihnen meinen Sohn; aber die Verstockung ihres Herzens steht meinem Willen und ihrer Seligkeit entgegen.” (VII, 195.)

89) Die Apol. Conf. Remonstr. nennit die Gnabe gratia efficax ex eventu in dem Sinne, ut statuatur gratia habere ex se sufficientem vim ad pro–


34  >        Die seligmachende  Gnade Gottes.  [English ed. ~ 32–33]

es die durch die Gnade ermöglichte „Selbstentscheidung", das rechte menschliche „Verhalten" oder Nachgeben der Gnade gegenüber, die Unterlassung des mutwilligen Widerstrebens 2c.G Der Sinn bleibt immer derselbe, nämlich der, daß die göttliche Wirkung in den Gnadenmitteln nicht zureicht, den Glauben selbst hervorzubringen. Die Schrift aber lehrt, daß die Gnade den Glauben nicht bloß möglich, sondern auch wirklich macht, oder nicht bloß die Kraft zum Glauben, sondern auch den Akt des Glaubens gibt, Phil. 1, 29: Ύμίν εχαρίοϑη . . . τό εις αντον πιατεύειν.  Das Nähere bei der Lehre von der Bekehrung. Der Hinweis hier war nötig, um die gratia seria et efficax schriftgemäß zu bestimmen.

Freilich entsteht nun, wenn auf Grund der Schrift sowohl die gratia universalis, seria et efficax als auch die sola gratia festgehalten wird, eine Frage, welche zu allen Zeiten die crux theologorum gewesen ist, nämlich die Frage: Warum werden dann nicht alle Menschen bekehrt und selig? Sowohl die Calvinisten als die Synergisten haben, wie aus dem Dargelegten hervorgeht, eine Antwort auf diese Frage. Die Calvinisten beantworten diese Frage durch die Leugnung der umiversalis gratia und die Synergisten durch die Leugnung der sola gratia. Beide Lösungen widersprechen der Schrift. Die lutherische Kirche erkennt an diesem Punkte ein in diesem Leben unlösbares Geheimnis an und lehrt, daß die uuiversalis gratia und die sola gratia ohne rationelle Vermittlung nebeneinander festzuhalten seien, oder, was dasselbe ist, daß bei dieser Frage alle Gedanken sich innerhalb dieser Grenzen zu halten haben: wer selig wird, wird allein aus Gnaden selig, nicht infolge einer geringeren Schuld oder eines besseren Verhaltens der Gnade gegenüber; wer verloren geht, geht durch eigene Schuld verloren, nicht aus einem Mangel der Gnade und Gnadenwirkung Gottes.91)

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ducendum assensum in voluntate, sed, quia vis illa partialis est, non posse exire in actum sine cooperatione liberae voluntatis humanae, ac proinde ut effectum habeat, pendere a libera voluntate. (Vgl. Winer, Komp. Darstell. 2c., 3. Aufl., S. 81 f.)

90) So Latermann und die meisten neueren Lutheraner. Vgl. Luthardt, Christl. Glbslehre 1898, S. 441 f. — Lutheran Standard vom 28. Februar 1891: "According to the revealed order of salvation the actual final result of the means of grace depends not only on the sufficiency and efficacy of the means themselves, but also upon the conduct of man in regard to the necessary condition of passiveness and submissiveness under the Gospel call.Vgl. F. Pieper, Grunddifferenz 2c., S. 19 ff.

91) F. C. 716, 57—64. Vgl. F. Pieper, Grunddifferenz 2c., S. 12—26.


35  >        Ernstliche Gnade.  [English ed. ~ 33–34]

Die mancherlei Versuche, dieses Problem zu lösen, offenbaren nicht theologische Reife, sondern theologische Unreife. Die allgemeine Gnade ist und bleibt ein Artikel des Glaubens. Auch der Umstand, daß nicht alle Völker der Erde und alle einzelnen Personen innerhalb eines Volkes das Evangelium gehabt haben, soll uns nicht bewegen, die in der Schrift so klar gelehrte gratia universalis et seria in Zweifel zu ziehen. Es sind, wie die Konkordienformel erinnert, unbegreifliche Gerichte Gottes, wenn Gott die Verachtung des Evangeliums auch an den Nachkommen straft.92) Die Konkordiensormel hat hierfür Schriftgrund in Röm. 11, 33 f. Um die allgemeine Gnade vor dem Forum des menschlichen Begreifens zu retten, hat man teils gemeint, daß die Heiden um Christi willen auch ohne Glauben an das Evangelium auf Grund ihrer Tugendbestrebungen selig werden,93) teils angenommen, daß noch nach diesem Leben eine Gelegenheit, das Evangelium zu hören und zu glauben, geboten werde.94) Aber das sind Menschengedanken, die in der Schrift keinen Grund haben. Die Schrift weiß von keinem Heil für die Menschen ohne den Glauben an das Evangelium.95) Auch weiß die Schrift von keiner Gelegenheit zum Glauben nach diesem Leben. 1 Petr. 3, 18 ff. (τοΐς εν φυλακή πνενμαοι πορευϑείς έκήρνξε) handelt nach dem Zusammenhänge nicht von der Verkündigung des Evangeliums, sondern von einer Gerichtsverkündigung denen gegenüber, die hier auf Erden Gottes Wort hatten und verachteten. Die eingehende Besprechung dieser Stelle bei der Lehre von der Höllenfahrt Christi. Darum bleibt uns, wollen wir anders Schriftgrund unter den Füßen behalten, nur eins übrig: wir müssen die Allgemeinheit der seligmachenden Gnade auf Grund des klaren Schriftzeugnisses glauben. Die geschichtliche Erfahrung scheint ihr zu widersprechen. Aber es geziemt uns nicht,

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92) F. C. 716, 58.

93) So z. B. Hofmann, Schriftbeweis, 2. Ausl. I, 568 f.

94) Martensen, Kliefoth 2c.

95) Mark. 16, 15 s.; Joh. 3, 16 2c. Nach der Schrift erscheint das Licht des Heils in einem Lande erst mit der Predigt des Evangeliums. Ies. 9, 1 ff.; 60, 1 ff.; Apost. 13, 47 ff. Gr. Kat. 460, 66: „Was außer der Christenheit ist, es seien Heiden, Türken, Juden oder falsche Christen und Heuchler, ob sie gleich nur einen wahrhaftigen Gott glauben und anbeten, so wissen sie doch nicht, was ergegen ihnen gesinnet ist, können sich auch keiner Liebe noch Guts zu ihm versehen, darum sie im ewigen Zorn und Verdammnis bleiben. Denn sie den HErrn Christum nicht haben, dazu mit keinen Gaben durch den Heiligen Geist erleuchtet und begnadet sind."


36  >        Die seligmachende Gnade Gottes.  [English ed. ~ 34–35]

die klare Schrift nach dem uns nicht klaren geschichtlichen Walten Gottes auszulegen. Im ewigen Leben, wo unsere Erkenntnis Gottes und der göttlichen Dinge nicht mehr fragmentarisch (ex 1 Kor. 13, 12) sein wird, wird auch dieses Dunkel licht sein.

4. Zur kirchlichen Terrninologie in bezug auf den Gnadenwillen Gottes. ^

Die gnädige Gesinnung, welche Gott in Christo für alle Menschen hegt, nennt die Schrift auch Gottes Willen gegen die Menschen, 1 Tim. 2, 4: „Gott will (ϑέλει), daß allen Menschen geholfen werde2c. Bei den Verhandlungen über diesen Willen Gottes sind die Ausdrücke voluntas absoluta, ordinata, conditionata, antecedens und consequens, revelata und abscondita gebraucht worden. Beurteilt man diese Ausdrücke nach der Schrift, so ist zu sagen:

1. Der Wille, wonach Gott alle Menschen selig machen will, ist nicht ein absoluter (voluntas absoluta), sondern ein geordneter (voluntas ordinata) zu nennen, weil er sowohl aus Christi Verdienst (satisfactio vicaria) sich gründet, als auch die Gebemittel (media δοτικά) Vonseiten Gottes, das Evangelium und die Sakramente, und das Nehmemittel (medium ληπτικόν) aufseiten des Menschen, den Glauben, in sich schließt. Gott will alle Menschen selig machen, aber um Christi willen und aus dem Wege der Gnadenmittel und des Glaubens. Absolut könnte man diesen Willen Gottes nur insofern nennen, als er von menschlicher Würdigkeit völlig unabhängig ist; denn Gott will die Seligkeit der gesamten Menschheit und der einzelnen Personen χάριτι, ganz losgelöst von den Werken der Menschen, χωρίς έργων νόμου. Was die menschliche Würdigkeit anlangt, so ist unter den Menschen kein Unterschied, πάντες γάρ ημαρτον και υστερούνται της δόξης του ϑεοϋ,

Röm. 3, 23.

2. Der Ausdruck bedingter Wille (voluntas conditionata) ist mehrdeutig. Wird er gleichbedeutend mit voluntas ordinata gebraucht — und das ist hin und wieder auch von Luther und andern rechtgläubigen Lehrern geschehen 96) —, so ist er sachlich richtig.

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96) So Luther in dem Fakultätsgutachten über die allgemeine und Privatabsolution (an den Rat zu Nürnberg, 1539): „Daß auch gedachte Absolution conditionalis ist, ist sie, wie sonst auch eine gemeine Predigt und eine jede Absolution, beide gemein und privat, hat die Kondition des Glaubens; denn ohne Glauben entbindet sie nicht, und ist darum nicht ein Fehlschlüssel. Denn der Glaube bauet


37  >        Terminologie in bezug auf den Gnadenwillen Gottes.  [English ed. ~ 35]

Sachlich Falsches bezeichnet der Ausdruck „bedingter Wille", wenn er gebraucht wird, um irgendeine menschliche Leistung bei der Aneignung des Heils zum Ausdruck zu bringen. So reden alte und neue Synergisten mit Vorliebe von einem „bedingten Gnadenwillen" Gottes, weil sie die Entstehung des Glaubens oder die Bekehrung nicht der Alleinwirksamkeit Gottes zuschreiben, sondern den Menschen zur Bekehrung durch „Selbstentscheidung", gutes „Verhalten", Unterlassung des mutwilligen Widerstrebens 2c. Mitwirken lassen. Aus die Mehrdeutigkeit des Ausdrucks „bedingter Gnadenwille” und die Verwendung desselben, um menschliches Verdienst und Werklehre zu verdecken, haben auch schon alte Theologen aufmerksam gemacht. Konditionalsätze können sowohl eine eigentliche Bedingung, das heißt, die Forderung einer Leistung, bezeichnen, z. B.: „Wenn du arbeitest, erhältst du Lohn", als auch die bloße Art und Weise angeben, wie etwas zustandekommt, z. B.: „Wenn du issest, wirst du satt.” Aus die konditionalen Schriftaussagen gesehen, stellt sich die Sache so: Bei der Beschreibung des Gesetzeswillens Gottes durch den Satz: „Wenn du das Gesetz hältst, wirst du selig" drückt das „wenn" eine eigentliche Bedingung oder Leistung aus; bei der Beschreibung des göttlichen Gnadenwillens aber durch die Redeweise: „Wenn du das Evangelium glaubst, wirst du selig” bezeichnet „wenn" immer nur die Art und Weise oder den Weg der Aneignung der Gnade, nie eine Leistung Vonseiten des Menschen, weil die Schrift den Glauben bei der Erlangung der Gnade und Seligkeit jeder menschlichen Leistung entgegensetzt, Röm. 3, 28: πίατει . . . χωρίς έργων νόμον;  Gal. 2, 16: εκ πίοτεως Χρίστον και ονκ εξ έργων νόμον,97)

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nicht auf unsere Würdigkeit, sondern ist nur so viel, daß einer die Absolution annimMt und ja dazu sagt.” (Walch XXI, 424 f.)

97)        Heerbrand: Fides non est conditio neque ut conditio requiritur, proprie loquendo. Quia non propter ejus dignitatem vel meritum aut quatenus est opus, promittitur aut offertur justificatio. Est enim fides quoque (als Werk oder inhärierende Qualität) imperfecta; sed est modus quidam, oblatum beneficium et donatum per et propter Christum accipiens. Den Glauben mit einer Hand vergleichend, fügt Heerbrand hinzu: Manus non conditio dicitur, sed medium et instrumentum, quo eleemosyna accipitur. (Comp., 379 sq.) Auch spätere Theologen find sehr beflissen, den „sittlichen” begriff des Glaubens abzuweisen, wenn der Glaube eine Bedingung der Aneignung des Evangeliums genannt wird. So Seb. Schmidt: Equidem conditio vocata pridem etiam est fides justificans a nostratibus theologis. Sed conditio intelligenda est non moralis, sed physica, ut sic loquar, instrumenti necessarii. Quando namque dico: Si credideris, salvaberis, non con


38  >        Die seligmachende Gnade Gottes.  [English ed. ~ 36]

3. In bezug aus die Unterscheidung zwischen einem vorhergehenden oder ersten (vol. antecedens, vol. prima) und einem nachfolgenden oder zweiten Willen (vol. consequens, vol. secunda)98) jst viel Ungehöriges für und Wider beigebracht worden. Die Unterscheidung ist schriftgemäß, wenn sie gebraucht wird, um den Joh. 3, 17. 18 2c. ausgesprochenen Gedanken auszudrücken. Nach dieser Schriftaussage sollen wir uns Gott zunächst so vorstellen, daß er alle Menschen durch den Glauben an Christum selig machen will (vol. prima), V. 17. 18a: „Gott hat seinen Sohn nicht gesandt in die Welt, daß er die Welt richte, sondern daß die Welt durch ihn selig werde; wer an ihn glaubet, wird nicht gerichtet.” Verdammen will Gott erst dann, wenn die Menschen nicht an Christum glauben (vol. secunda), V. 18 b: „Wer aber nicht glaubt, der ist schon gerichtet, weil er nicht geglaubt hat (δη μη πεπίστενκεν) an den Namen des eingebornen Sohnes Gottes.” Es ist ein durchaus schriftwidriger Gedanke, wenn der Calvinismus sich den Willen Gottes von vornherein als zweiteilig vorstellt, als ob Gott einen Teil der Menschen selig machen, den andern Teil verdammen wolle. Nichtig ist der Einwurs, daß es in Gott kein Vorher und Nachher gebe.99) So richtig es ist, daß es in Gott keine Zeit, sondern nur

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ditionem moralem, sub qua salvandus sis, sed necessitatem instrumenti, per quod salvandus es, significo. (Articulorum F. C. Repetitio, p. 235; bei Baier ed. W. III, 268.) In bezug auf die Mehrdeutigkeit der Konditionalsätze und ihren Mißbrauch seitens der Römischen bemerkt Gerhard: Particula st aut est αίτιολογική aut συλλογιστική, id est, designat causam vel consequentiam. In concionibus legalibus: si feceris hoc, vives, particula si est αίτιολογική, siquidem obedientia est causa, propter quam servantibus legem datur vita aeterna; sed in evangelicis promissionibus: si credideris, salvus eris, particula si est συλλογιστική, denotatur enim modus applicationis divinitus constitutus, soli fidei competens. (Locus de ev., § 26.)

98) So redet Chrysostomus (Homil. I in Epist. ad Ephes.) von einem ϑέλημα προηγονμενον und πρώτον, wonach Gott will, daß die Sünder nicht verloren werden, und von einem ϑελημα δεύτερον, wonach Gott will, daß die beharrlichen Sünder schließlich umkommen. Joh. Damascenus (De orthod. fide II, 29): Λέγεται τό μεν πρώτον (scil. daß Gott die Seligkeit aller Menschen will) προηγονμενον ϑέλημα ... τό δε δεύτερον (daß Gott         die Sünder strafen will) επόμενον ϑέλημα.  Vgl. die historische Ausführung bei Buddeus, Institutiones, 1741, p. 227.

99) So antwortet der reformierte Theolog Voetius auf die Frage: An volxmtas recte distinguatur in antecedentem et consequentem? also: Si per antecedentem intelligitur volxmtas proprie dicta seu beneplaciti, negandum. In Deo enim seu in actu volendi Dei seu a parte actus volendi nec prius est nec posterius, nec antecedens nec consequens, nec conditio nec conditio


39  >        Terminologie in bezug auf den Gnadenwillen Gottes.  [English ed. ~ 37]

„eitel Gegenwart" gibt, so grundverkehrt ist es, danach unsere Gotteserkenntnis bestimmen zu wollen. Es kommt für unsere Erkenntnis Gottes nicht darauf an, wie die Dinge in Gott sind — Gott in seinem Wesen ist für uns Menschen ψώς απρόσιτον, 1 Tim., 16 —, sondern darauf, wie Gott in gnädiger Herablassung zu dem unvollkommenen menschlichen Auffassungsvermögen in der Heiligen Schrift sich uns offenbart. Nach der in der Schrift vorliegenden göttlichen Offenbarung aber müssen und sollen wir Menschen einen göttlichen Akt vor dem andern denken. Dies haben lutherische Theologen mit Recht sehr entschieden Calvinisten gegenüber betont.100) Wir müssen festhalten: Zwar gibt es in Gott keine Zeit, sondern Gott ist der unterschiedslos Ewige (Deus temporis est expers); auch gibt es in Gott keine Teile, sondern Gott ist der absolut Einfache (Deus ab onini compositione vera et reali liber est). So darf auch die Unterscheidung zwischen einem ersten und zweiten Willen Gottes nicht dahin verstanden werden, als ob es in Gott eine zeitliche Aufeinanderfolge der Gedanken und zwei geteilte Willen (duae reapse distinctae voluntates) gäbe. Aber Gott in seiner unterschiedslosen Ewigkeit und in seiner absoluten Einfachheit ist Gott in seiner Majestät und für uns Menschen unerkennbar. Wir Menschen sind mit unfern Vorstellungen an Zeit und Raum gebunden. Weil Gott aber von uns Menschen dennoch erkannt werden will, so ist er selbst aus seiner uns unzugänglichen Majestät herausgetreten und in seinem Wort Mensch geworden. In seinem Wort redet Gott mit uns nach der Weise der Menschen, das heißt, so, wie wir Menschen es verstehen können. Luther sagt: „Gott handelt mit uns nicht nach seiner Majestät, sondern zieht menschliche Gestalt an und redet mit uns durch die ganze Schrift wie ein Mensch mit einem Menschen . . . alles redet er mit uns ohne Majestät und, daß ich so sage, unter Ent

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natum, sed purus simplex et indivisibilis actus voluntatis, quo omnia vult, quae vult, sicuti uno simplicissimo actu intelligit, quae intelligibilia sunt. (Select. disputationum P. V, p. 88. Bei Heppe, Dogmatik der ref. K., S. 71 f.)

100) So führt Hollaz aus, daß lutherische Theologen mit der Unterscheidung von vol. antecedens und consequens nicht eine Zeit in Gott setzen oder wirkliche Teile im Willen Gottes annehmen, sondern: dicitur voluntas Dei antecedens et consequens ab ordine rationis nostrae (nach  der Ordnung unsers Auffassungsvermögens) diversos volendi actus in Deo pro diversa objectorum consideratione distinguentis et unum actum prae altero considerantis. (Examen, P. III, s. 1. c. 1. qu. 5.) Reusch: In puncto rationis (begrifflich) saepe una Dei perfectio ante est concipienda, quam altera perfectio in Deo concipi potest. (Annotationes in Baieri Comp., p. 176.) [Ed.  – citation also in Baier-Walther 2, 33  and 2,163]


40  >        Die seligmachende Gnade Gottes.  [English ed. ~ 38]

äußerung der göttlichen Gestalt (exinanita forma Dei).”101) Die Sachlage ist daher für unsere Gotteserkenntnis diese: Weil wir Menschen von dem absolut einfachen Gott keine Vorstellungen haben können, so offenbart sich uns Gott in der Schrift „stückweise", das heißt, nach verschiedenen Eigenschaften (attributa), die zwar in Gott völlig eins find, von uns aber auf Grund der göttlichen Offenbarung unterschieden werden müssen.102) Und weil mir Menschen mit unfern Gedanken an eine Zeitfolge gebunden sind, so hat Gott selbst in seinem Wort uns geoffenbart, wie wir eins nach dem andern zu denken haben, oder in welcher Ordnung und Abfolge unsere Gedanken über Gott und Gottes Willen sich bewegen müssen, wenn sie rechte Gedanken sein sollen. Auf diese Weise haben wir Menschen in diesem Leben zwar keine adäquate, die Sache vollkommen deckende, wohl aber eine richtige, für die Schwachheit dieses Lebens passende Gotteserkenntnis. Fragen wir nun: „Wie steht Gottes Wille in bezug auf das Seligmachen und Verdammen der Menschen?" so müssen wir auf Grund von Joh. 3,17. 18 2c. erst denken, daß Gott keinen Menschen verdammen, sondern alle Menschen ohne Ausnahme durch den Glauben an Christum selig machen will; an zweiter Stelle erst dürfen wir denken, daß Gott die nicht an Christum Glaubenden verdammen will. Wird daher die Unterscheidung voluntas antecedens (prima) und voluntas consequens (secunda) gebraucht, um die Joh. 3, 17. 18 und durch die ganze Schrift gelehrte Abfolge der Gedanken auszudrücken, daß Gott durch das Evangelium alle Menschen retten und nur die Nichtglaubenden verdammen will, so ist sie als völlig schriftgemäß anzuerkennen. Der Einwurf, daß es in Gott kein Vorher und Nachher gibt, trifft die Sache nicht, da es sich hier nicht darum handelt, wie Gott in sich ist, sondern wie er sich für uns Menschen in seinem Wort geoffenbart hat. Die „absolute Gotteserkenntnis" gehört zu den sine mente soni, an denen das Vokabular gewisser Philosophen und Philosophierender Theologen so reich ist. Andererseits ist nicht zu vergessen, daß die Unterscheidung zwischen einem ersten und zweiten Willen in Gott von den Semipelagianern und Synergisten je und je

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101) Zu 1 Mos. 21, 17. Opp. KX. 3, 138. St. L. II, 1442.

102) Gerhard. Quamvis attributa Dei nec inter se nec ab essentia divina realiter sint in Deo distincta, tamen sigillatim de illis ut agatur, intellectus nostri imbecillitas requirit. ,Condescendit nobis Deus, ut nos consurgamus', Augustinus de spec., c. 112., et cum homines simus, humano modo nobis loquitur. (De nat. Dei, §51.)


41  >        Terminologie in bezug aus den Gnadenwillen Gottes.  [English ed. ~ 38–39]

zur Unterbringung ihres Irrtums verwendet worden ist. Man bezieht den zweiten Willen nicht bloß auf die Verdammnis der Ungläubigen, sondern auch auf das Seligwerden der Gläubigen. Und letzteres tut man in der Weise, daß man den ersten Willen Gottes oder den allgemeinen Gnadenwillen nur unter menschlicher Mitwirkung, die man zum Teil in den Glauben selbst hineinschiebt (Selbstbestimmung, rechtes Verhalten 2c.), sich durchsetzen und Frucht bringen läßt. Um diesem Mißbrauch von Vorneherein zu wehren, ist es geraten, der Weise der Theologen zu folgen, die die voluntas consequens nur auf die um ihres Unglaubens willen Verlorengehenden beziehen.103) Dies ist sachgemäß. Was nämlich die durch den Glauben Seligwerdenden betrifft, so kommt an ihnen kein neuer Wille zur Ausführung, sondern an ihnen vollzieht sich nur das, was Gott nach seinem allgemeinen Gnadenwillen oder der voluntas antecedens in bezug auf alle Menschen will. Der allgemeine Gnadenwille hat keinen andern Inhalt als diesen, daß Gott aus Gnaden ohne menschliche Werke und Mitwirkung alle Menschen durch den Glauben an Christum selig machen will. Es liegt daher kein sachlicher Grund vor, in bezug auf die, welche durch den Glauben an Christum selig werden, eine Teilung des Willens Gottes in einen ersten und zweiten Willen vorzunehmen. Vielmehr leistet diese Teilung dem Irrtum Vorschub, als ob der. allgemeine Gnadenwille nicht ein ernstlicher und wirksamer Wille wäre, sondern erst durch den als menschliche Leistung gefaßten Glauben zu einem kräftigen Gnadenwillen gemacht werde. Um bei der Verwendung der Unterscheidung zwischen voluntas antecedens und consequens eine klare Sache zu behalten, sollte man daher sagen: Nach der vol. antecedens will Gott alle Menschen durch den Glauben an Christum selig machen; nach der vol. consequens will er die, welche nicht an Christum glauben, verdammen. Hiermit deckt sich die Terminologie, wonach man die vol. antecedens als Wille der Barmherzigkeit (vol. misericordiae) und die vol. consequens als Gerichtswille (vol. justitiae) bezeichnet hat.104)

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103) Auf diese Verschiedenheit unter den Theologen macht Baier aufmerksam: Hanc (voluntatem consequentem) quidem aliqui exponunt praecise de ea, quae ex nostro vitio ortum ducit seu qua vult Deus propter peccatum v. g. punire, damnare etc.; alii latius accipiunt de ea, quaecunque in nobis sive a peccato sive aliunde causam vel occasionem habet. (Comp. II, 36.)

104) So definiert Gerhard: Antecedens voluntas est, qua Deus ut benignissimus pater omnes homines vult salvos fieri et ad agnitionem veri


42  >        Die seligmachende Gnade Gottes.  [English ed. ~ 39–40]

4. Die Unterscheidung zwischen einem geoffenbarten und verborgenen Willen Gottes (voluntas revelata, signi — volnntas abscondita, beneplaciti) ist ebenfalls viel gemißbraucht worden, ist aber nicht schlechthin zu verwerfen, sondern in ihrem schriftgemäßen Sinn ins Licht zu stellen und festzuhalten. Die Schrift lehrt einerseits einen Willen Gottes, der uns völlig offenbar ist.105) andererseits deutet sie auf einen Sinn Gottes hin, den kein Mensch erkannt hat noch erkennen kann.106) Völlig offenbar ist uns aus der Heiligen Schrift sowohl der Gesetzes- als auch der Evangeliumswille Gottes. Nach dem Gesetzeswillen fordert Gott, daß alle Menschen in ihrer ganzen Beschaffenheit und in allen Gedanken, Worten und Werken mit seinem Gesetz übereinstimmen, und spricht er über alle Übertreter das Verdammungsurteil aus.107) Nach dem Evangelium oder nach seinem Gnadenwillen will Gott alle Menschen χωρίς έργων νόμον um Christi willen und durch den Glauben an ihn selig machen. Zwar nennt die Schrift den Gnadenwillen Gottes die geheime, verborgene Weisheit Gottes, die nie in eines Menschen Herz gekommen ist?108) Aber der eingeborene Sohn, der in des Vaters Schoß ist, der hat uns das ganze Geheimnis enthüllt, nämlich: „Also hat Gott die Welt geliebet, daß er seinen eingebornen Sohn gab, auf daß alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben.” 109) Aüch in bezug auf den Umfang dieses Gnadenwillens Gottes ist nicht die geringste Dunkelheit vorhanden, wenn wir an die Offenbarung der Schrift uns halten. Nach der Schrift will Gott sich nicht zweiteilig an den Menschen verherrlichen, an einem Teil seine Liebe und Barmherzigkeit, an dem andern Teil seinen Zorn und seine Strafgerechtigkeit demonstrieren, wie die Calvinisten meinen, sondern nach der Schrift will Gott an allen Menschen seine Gnade verherrlichen, weil Gott seinen Sohn nicht gesandt hat in die Welt, daß er die Welt richte, sondern daß die Welt durch ihn selig werde.110) Das Gericht greift erst dann Platz, wenn jemand an den Namen des eingeborenen Sohnes nicht geglaubt hat.111)

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tatis venire; consequens voluntas est, qua Deus.ut justissimus judex finaliter impoenitentes et incredulos vult damnari. (Locus de nat. Dei,§ 271.)

105) 1 Kor. 2, 10: ήμϊν ό ϑεός άπεκάλνψε διά τον πνεύματος αντοϋ, scil., was kein Auge gesehen hat 2c. V. 16: νοϋν Χριβτον (νουν κυρίου) εχομεν.

106) Röm. 11, 34: τις εγνω νοϋν κυρίου; scil. niemand.

107) Matth. 5, 17—19; Gal. 3, 10.

108) 1 Kor. 2, 6—9.        109) Joh. 3, 16.

110) Joh. 3, 17.        111) Joh. 3, 18.


43  >        Terminologie in bezug auf den Gnadenwillen Gottes.  [English ed. ~ 40–41]

Dies ist die voluntas Dei revelata. Man hat diesen Willen auch passend voluntas signi genannt in dem Sinne, daß der in seinem Wesen unsichtbare und für uns Menschen nicht erkennbare Gott durch sein Wort aus der Unsichtbarkeit und Unerkennbarkeit heraustritt und durch sein Wort als durch ein in die menschlichen Sinne fallendes Zeichen (signum) sich uns zu erkennen gibt.112) Andererseits weist die Schrift auf einen hier auf Erden unerkannten und unerkennbaren Sinn Gottes hin, wenn sie von „unbegreiflichen Gerichten und unausspürbaren Wegen" Gottes redet und ausruft: „Wer hat des HErrn Sinn erkannt, oder wer ist sein Ratgeber gewesen?"113) Die Schrift unterläßt es auch nicht, die Punkte anzugeben, an denen die Gerichte Gottes für uns unerforschlich werden und wir für seine Wege die Spur verlieren, nämlich dann, wenn wir die Geschicke der einzelnen Personen und der einzelnen Völkex (Isaak und Ismael, Jakob und Esau, Juden und Heiden, Röm. 9—11) miteinander vergleichen. Dann taucht die Frage auf: „Warum die einen vor den andern?” (Cur alii pras aliis?) Die Frage wäre beantwortet, wenn wir sagen dürften: „Die einen haben sich besser verhalten als die andern.” Dann hätten wir an dem besseren Verhalten einen „Erklärungsgrund" für die Tatsache, daß die einen vor den andern bekehrt und selig werden. Aber der Apostel sagt: „Wer hat ihm (Gott) etwas zuvorgegeben, so daß ihm wiedervergolten wird?” (V. 36.) Die synergistische Lösung der Schwierigkeit durch Einstellung einer causa discriminis in homine widerspricht also der Schrift. Auch dann wäre die Frage beantwortet, wenn wir sagen dürften, daß Gott nur partikular gnädig ist und daher an einem Teil der Menschen mit seiner Gnade und Gnadenwirkung vorbeigehen, die, welche tatsächlich unbekehrt bleiben, gar nicht bekehren will. So der Calvinismus. Aber auch diese Erklärung ist unstatthaft. Den ernstlichen Gnaden

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112) Luther: Vocatur voluntas signi effectus Dei, quando ipse foras procedit ad nos, nobiscum agens per aliquod involucrum et externas res, quas possumus apprehendere, sicut verbum Dei et caeremoniae ab ipso institutae. (Opp. ex.. 2, 173. St. L. I, 489.) Luther hat meistens das Evangelium im Auge, wenn er von der voluntas signi redet. Daß er aber darunter auch das Gesetz befaßt, insofern es in der Schrift geoffenbart ist, versteht sich nicht nur von selbst, sondern wird von ihm gelegentlich auch ausgesprochen. Er sagt von den zehn Geboten und Exempeln des Zornes Gottes: „etiam sunt voluntas signi”. (l. c., p. 176. St. L. I, 491.)

113) Röm. 11, 33. 34.


44  >        Die seligmachende  Gnade Gottes.  [English ed. ~ 41–42]

willen Gottes auch gegen das ungehorsame Israel bezeugt der Apostel nicht nur Kap. 10, 21, indem er aus Ies. 65, 2 Gott also redend einführt: „Den ganzen Tag habe ich meine Hände ausgestreckt zu einem Volk, das ungehorsam ist und widerspricht",114) sondern er erklärt auch noch unmittelbar vor dem Hinweis auf die existierenden unbegreiflichen Gerichte Gottes, daß Gott „sie alle” (τούς πάντας, die Juden und die Heiden) dem Unglauben anheimgegeben habe (σννέκλεισε), „damit er sich aller erbarme”.115) Das göttliche Erbarmen ist also allgemein, erstreckt sich ebenso weit wie der menschliche Unglaube. So bleibt die Frage, warum die einen vor den andern bekehrt und selig werden, unbeantwortet. Daran fügt der Apostel noch zu weiterer Darlegung und Begründung des unbegreiflichen Waltens Gottes die Aussage, daß alles, was ist und geschieht, „von Gott und durch Gott und zu Gott ist”.116) Das sind, wie Luther erinnert, Worte der göttlichen Majestät. Sie beschreiben Gott als den schlechthin Unabhängigen, der aller Dinge Anfang, Mittel und Ende ist und in dieser seiner Majestät alles durchwaltet nach seiner Weisheit und Erkenntnis, die uns völlig unbegreiflich ist. Kurz, es gibt ein Walten Gottes, dessen Gründe wir nicht erkennen. Das ist der Deus absconditus, die voluntas abscondita. Wir müssen daher die Unterscheidung zwischen dem geoffenbarten und dem verborgenen Gott als schriftgemäß stehen lassen. Aber es gilt nun, sich bei dieser Unterscheidung vor einer Torheit zu hüten, wodurch konsequenterweise die ganze christliche Lehre, wie sie so klar und deutlich in der Schrift geoffenbart vorliegt, unsicher

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114) Röm. 10, 21.

115) Allerdings ist V. 32 von dem allgemeinen, Juden und Heiden umfassenden göttlichen Erbarmen, also von der gratia universalis die Rede. Der Zusammenhang ist dieser: Die Heiden sollen sich nicht über die Juden erheben. Als Grund dafür gibt der Apostel an, daß Gott auch das Volk der Juden nicht gänzlich verworfen habe, wie die Heiden anzunehmen geneigt waren (V. 17—24), sondern sich auch aus den Juden — während der Zeit der Heiden — seine Kirche sammelt gemäß der den Vätern gegebenen Verheißung (V. 25—29). Der gegenwärtige Unglaube der Juden kann ihn daran so wenig hindern, wie der ehemalige Unglaube der Heiden ihn gehindert hat, sich der Heiden zu erbarmen (V. 31. 32). Dies begründet der Apostel mit,dem Schlußsatz V. 32: „Denn er hat sie alle” (Juden und Heiden) „dem Unglauben anheimgegeben, damit er sich ihrer aller erbarme. Es ist hier von Juden und Heiden die Rede, nicht insofern sie erwählt, sondern insofern sie ungläubig find und Gott beider Unglauben heben will.

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116) Röm. 11, 36.


45  >        Terminologie in bezug aus den Gnadenwillen Gottes.  [English ed. ~ 42]

gemacht wird. Die Torheit besteht darin, daß man die vol. abscondita in die vol. revelata mengt. Es ist dies eine Torheit, weil es schlechterdings nicht angeht, Bekanntes durch Unbekanntes erklären zu wollen. Diese Torheit begeht aber der Calvinismus, indem er aus dem uns Menschen unbegreiflichen geschichtlichen Walten Gottes, daß ein Volk vor dem andern das Evangelium hat und die einen vor den andern bekehrt und selig werden, frank und frei den Schluß zieht, daß es mit dem in der Schrift geoffenbarten allgemeinen Gnadenwillen (gratia universalis) Gottes nichts sei. Dieselbe Torheit begeht der Synergismus. Aus dem uns unbegreiflichen geschichtlichen Walten Gottes, daß die einen vor den andern bekehrt und selig werden, schließt er frank und frei, daß es mit der in der Schrift geoffenbarten sola gratia nichts sei, daß die Bekehrung und Seligkeit des Menschen nicht allein von Gottes gnädiger Gesinnung und von Gottes Gnadenwirkung in den Gnadenmitteln, sondern auch von der menschlichen Selbstentscheidung, dem besseren Verhalten, der geringeren Schuld 2c. abhänge. Der Synergismus mengt die voluutas adssouäita in der Weise in die voluntas revelata, daß er die auf die sola gratia lautende voluntas aufhebt. Die rechte Weise ist die, daß wir das Vorhandensein der unbegreiflichen Gerichte und unerforschlichen Wege und in diesem Sinne einer voluntas Dei abscondita nicht leugnen — denn die Schrift lehrt sie , aber bei der Frage, wie Gott gegen die Menschen gesinnt sei und was er Mit und an den Menschen tun wolle, das Auge von der voluntas abscondita gänzlich abwenden und Gottes Willen gegen uns allein nach dem in der Schrift bezeugten Willen beurteilen, der sowohl auf die universalis gratia als auf die sola gratia lautet. Dies ist die Weise der lutherischen Kirche in ihrem Bekenntnis. Die Konkordienformel fixiert genau den Punkt, wo Gott für uns unbegreiflich ist. Es ist neben dem, daß Gott alle Dinge weiß und alle Dinge seinem Willen und seiner Bestimmung unterstehen,117) sonderlich die Tatsache, „daß Gott sein Wort an einem Ort gibt, am andern nicht gibt, von einem Ort hinwegnimmt, am andern bleiben läßt. Item, einer wird verstockt, verblendet, in verkehrten Sinn gegeben, ein anderer, so wohl in gleicher Schuld, wird wiederum bekehret”. Dieses geschichtliche Walten Gottes läßt die Konkordienformel unter Verweisung auf Röm. 11, 33 als ein uns unbegreifliches Geheimnis Gottes stehen und zerrt es in keiner Weise in die

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117) F. C. 715 f., 54—56.


46  >        Die seligmachende  Gnade Gottes.  [English ed. ~ 43]

voluntas revelata hinein. Sie bricht von hier aus weder die sola gratia nieder, wie die Synergisten tun, noch zerstört sie von hier aus die universalis gratia, wie es die Weise der Calvinisten ist. Die geoffenbarte sola gratia läßt sie intakt, indem sie von denen, die bekehrt und selig werden, nicht eine geringere Schuld und ein besseres Verhalten, sondern die gleiche Schuld und das gleiche üble Verhalten aussagt. Und die geoffenbarte universalis gratia läßt sie intakt, indem sie das Verlorengehen nicht mit einem partikularen Gnadenwillen, sondern mit der Verachtung des Gnadenwillens begründet.118) Die Verfasser der Konkordienformel sind sich klar bewußt, daß sie mit der universalis gratia und der sola gratia zwei Wahrheiten bekennen, die sich gegenseitig aufzuheben scheinen. Aber sie halten beide Wahrheiten fest, weil beide in der Schrift geoffenbart vorliegen und es Gottes Wille ist, daß wir bei unfern Gedanken über Gott und Gottes Willen „uns an sein geoffenbartes Wort halten” (in verbo ipsius revelato acquiescere nos oportet)119) und feine unbegreiflichen Gerichte und unausforschlichen Wege, wie sie uns im geschichtlichen Walten Gottes entgegentreten, unbegreiflich und unausforschlich bleiben lassen.120)

Es ist hier auch der Ort, auf Luthers Stellung zur voluntas revelata und abscondita noch besonders einzugehen, weil man bis auf unsere Zeit nicht aufgehört hat, Luthers Lehre mit der Lehre Calvins zu identifizieren und Luther die Annahme von contradictoriae Dei voluntates im Unterschiede von der Lehre der Konkordienformel zuzufchreiben.121) Aber Luthers Stellung deckt sich sachlich mit der Stellung der Konkordienformel. Dies kommt in kurzer Zusammenfassung in Luthers Schreiben an einen Ungenannten vom Jahre 1528 zum Ausdruck.122) Hier gibt Luther zunächst zu, daß Gott der Allmächtige „alle Dinge weiß, und müssen alle Werk' und Gedanken in allen Kreaturen nach seinem Willen geschehen, juxta decretum voluntatis suae”. Er setzt aber sofort hinzu: „So ist doch sein (Gottes) ernstlicher Will' und Meinung, auch Befehl, von Ewigkeit beschlossen, alle Menschen selig und der ewigen Freude teilhaftig zu machen, wie Ezechiel am 18. Kapitel klärlich gemeldt wird, da er saget: ‘Gott will nicht den Tod des Sünders, sondern

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118) F. C. 716 f., 57—61.        119) F. C. 716, 55.

120) F. C. 717, 62—64.

121) So Dieckhoff im Gnadenwahlsstreit. Vgl. L. u. W. 1886, 193 ff.

122) St. L. X, 1736 f. Bei De Wette III, 354.


47  >        Terminologie in bezug aus den Gnadenwillen Gottes.  [English ed. ~ 43–44]

daß er sich bekehre und lebest Will er nun die Sünder, die unter dem weiten, hohen Himmel allenthalben leben und schweben, selig machen und haben, so wollet Ihr Euch durch Euer närrische Gedanken, vom Teufel eingegeben, nicht absondern und von der Gnade Gottes scheiden.” Man beachte, daß es nach Luther „närrische Gedanken, vom Teufel eingegeben", sind, wenn jemand Gott, insofern er für uns absconditus, in seinem Wissen, Wirken und Willen unbegreiflich ist, in das gewisse geoffenbarte Wort mengt und sich dadurch die allgemeine Gnade ungewiß macht. In einem Schreiben vom Jahre 1531123) sagt Luther: „Solche Gedanken sind eitel Forschung der göttlichen Majestät” und „gewißlich des leidigen Teufels Einblasen und feurige Pfeile”. Sehr derb setzt er hinzu: „Fallen sie ein, so laßt sie wieder ausfallen, gleichwie einer flugs ausspeiete, so ihm Kot ins Maul fiele.” Man soll solche Gedanken „dem Teufel heimschieben” und zu ihm sagen: „Bist du ja so klug in solchen Sachen, so fahre hin gen Himmel und disputiere mit Gott selbst; der kann dir genug antworten.” Dies ist Luthers sich gleichbleibende Weise, von einem geoffenbarten und unerforschlichen Willen 'in Gott zu reden.124) Summarisch zusammengefaßt, lehrt Luther dies: Es gibt für unsere menschliche Erkenntnis unergründliche Tiefen und einen unerforschlichen Willen in Gott. Dahin rechnet er Gottes Allwissenheit, Allwirksamkeit und sonderlich die Frage: Cur alii prae aliis? Aber dieser Wille ist für uns Menschen nicht Erkenntnisobjekt. Ihn erforschen und nach ihm Gottes Gesinnung gegen uns beurteilen zu wollen, ist Torheit, Vermessenheit und Verderben. Wie Gott gegen uns und alle Menschen gesinnt sei, können und sollen wir allein nach dem geoffenbarten Willen beurteilen. Wie Gott sich uns geoffenbart hat in Christo, wie er in der Krippe liegt und am Kreuze hängt, und in den von ihm geordneten objektiven Zeichen, in Wort und Sakrament, nämlich daß er alle Menschen selig machen wolle, so und nicht anders ist Gott gegen uns tatsächlich gesinnt. Dieser Wille ist gewiß. Auf ihn soll sich die Erkenntnis richten und der Glaube zuversichtlich (cum certa fiducia) verlassen. Zu beachten ist hierbei, daß Luther nicht erst in der späteren Zeit seiner Wirksamkeit,

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123) St. L. X, 1746.

124) Einige Hauptstellen aus Luther: St. L. I, 488 ff.; II, 174 ff.; III, 811 ff.; VIII, 785 f.; IX, 1353 s.; X, 1526 ff.; X, 1736 ff.; X, 1744 ff.; XIII, 199 ff.


48  >        Die seligmachende Gnade Gottes.  [English ed. ~ 45]

wie in seiner Erklärung zu Gen. 6, 5 125) und zu Gen. 26, 9,126) so redet, sondern gerade auch 1525 in De servo arbitrio 127) und in einem

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125) Opp. exeg. II, 172 sqq.; St. L. I, 488 ff.: Nos in N. T, habemus baptismum, coenam Domini, absolutionem et ministerium verbi. Haec sunt, ut scholastici vocarunt, voluntas signi, in quae intuendum est, cum Dei voluntatem scire volumus; alia est voluntas beneplaciti, substantialis Dei voluntas seu nuda ipsius majestas, quae est Deus ipse. Ab hac removendi sunt oculi. . . . Sed hoc curemus singuli, ut maneamus in symbolis istis, quibus se ipse Deus nobis revelavit, in Filio nato ex virgine Maria, jacente inter jumenta in praesepi, in verbo, in baptismo, in coena Domini et absolutione. Nam in his imaginibus videmus et invenimus Deum, quem sustinere possumus, qui nos consolatur, in spem erigit, salvat. . . . Filius incarnatus est illud involucrum, in quo divina majestas cum omnibus suis donis sic se nobis offert, ut nullus tam miser peccator sit, quin ad eum accedere ausit cum certa fiducia consequendae veniae. 

126) Opp. exeg. VI, 292 sqq.; St. L. II, 176 ff.: In libello de servo arbitrio et alibi docui, esse distinguendum, quando agitur de notitia vel potius de subjecto divinitatis. Aut enim disputandum est de Deo abscondito aut de Deo revelato. De Deo, quatenus non est revelatus, nulla est fides, nulla scientia et cognitio nulla. Atque ibi tenendum est, quod dicitur: Quae supra nos, nihil ad nos. Ejusmodi enim cogitationes, quae supra et extra revelationem Dei sublimius aliquid rimantur, prorsus diabolicae sunt, quibus nihil amplius proficitur, quam ut nos ipsos in exitium praecipitemus, quia objiciunt objectum impervestigabile, videlicet Deum non revelatum. . . . Deus revelat nobis suam voluntatem per Christum et evangelium. . . . En, habes Filium meum; qui audit eum et baptisatur, is in libro vitae scriptus est; hoc revelo per Filium, quem potes manibus contrectare et oculis intueri. Haec studiose et accurate sic monere et tradere volui, quia post mortem meam multi meos libros proferent in medium et inde omnis generis errores et deliria sua confirmabunt. Scripsi autem inter reliqua, esse omnia absoluta et necessaria, sed simul addidi, quod adspiciendus sit Deus revelatus. ... Ibi potes de fide et salute tua certus esse ac dicere: Ego credo in Filium Dei, qui dixit: „Qui credit in Filium, habet vitam aeternam.” Ergo in eo non est damnatio aut ira, sed beneplacitum Dei Patris. Haec eadem autem alibi quoque in libris meis protestatus sum et nunc etiam viva voce trado. Ideo sum excusatus.

127) Opp. v. a. VII, 222 sq.: St. L. XVIII, 1795 f.: Relinquendus est Deus in majestate 'et natura sua, sic enim nihil nos cum illo habemus agere, nec sic voluit a nobis agi cum eo, sed quatenus indutus et proditus est verbo suo, quo nobis sese obtulit, cum eo agimus, quod (nämlidh das geoffenbarte Wort) est decor et gloria ejus, quo psalmista eum celebrat indutum. . . . Nobis spectandum est verbum relinquendaque illa voluntas imperscrutabilis, verbo enim nos dirigi, non voluntate illa inscrutabili oportet. Atque adeo, quis sese dirigere queat ad voluntatem prorsus inscrutabilem et incognoscibilem? Satis est nosse tantum, quod sit quaedam in Deo voluntas imperscrutabilis, quid vero, cur et quatenus illa velit, hoc prorsus non licet quaerere, optare, curare aut tangere, sed tantum


49  >        Terminologie in bezug auf den Gnadenwillen Gottes.  [English ed. ~ 45–46–47]

in demselben Jahre geschriebenen Brief an die Christen zu Antwerpen 128) dieselbe Weisung gibt.

Zwar sagt auch Calvin, man solle den geheimen Willen Gottes nicht erforschen wollen, sondern sich an Christum und das Evangelium halten.129) Aber Calvin befindet sich in einer großen Selbst

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timere et adorare. Igitur recte dicitur: Si Deus non vult mortem, nostrae voluntati imputandum est, quod perimus. Recte, inquam, si de Deo praedicato dixeris, nam ille vult omnes homines, salvos fieri, dum verbo salutis ad omnes venit, vitiumque est voluntatis, quae non admittit eum, sicut dicit Matth. 23: „Quoties volui congregare filios tuos, et noluisti.” Daß Luther gerade auch in De servo arbitrio dem Deus praedicatus nicht einen unkräftigen, unwirksamen Scheinwillen, sondern eine voluntas seria et efficax in bezug auf die Rettung aller Hörer zuschreibt, geht daraus hervor, daß er unmittelbar vorher von Gott, insofern er im Wort an uns herantritt, sagt: Deplorat mortem, quam invenit in populo et amovere studet. Hoc enim agit Deus praedicatus, ut ablato peccato et morte salvi simus.

128) St. L. X, 1531: Am meisten pocht er” (ein „Rumpelgeist" in Antwerpen, der vorher auch in Wittenberg Luther besucht hatte) „da hart, daß Gottes Gebot gut wäre, und Gott nicht wollte Sünde haben; welches ohne Zweifel wahr ist, und half nicht, daß wir solches auch bekannten. Aber da wollte er nicht hinan, daß Gott, wiewohl er die Sünde nicht will, so verhängt er doch, daß sie geschieht, und solch Verhängnis geschieht ja nicht ohne seinen Willen. Denn wer zwingt ihn, daß er sie verhängt? Ja, wie könnte er's verhängen, wenn er's nicht wollte verhängen? Hier fuhr er mit seinem Kopf hinauf und wollte begreifen, wie Gott Sünde nicht wollte und doch durchs Verhängen wollte, und meinte den Abgrund göttlicher Majestät, wie diese zwei Willen miteinander möchten bestehen, auszuschöpfen.” (Hieraus erhellt, daß Luther die Allwirksamkeit Gottes, wonach alles von, durch und zu Gott ist, Röm. 11, 36, zu den Geheimnissen der göttlichen Majestät rechnet, aus denen man also auch nicht Schlüsse gegen die gratia universalis, die menschliche Verantwortlichkeit re. machen darf.) „Mir ist auch nicht Zweifel, er wird mich bei euch dargeben, als habe ich gesagt, Gott wolle die Sünde haben. Darauf will ich hiermit geantwortet haben, daß er mir unrecht tut und, wie er sonst voll Lügen steckt, hier auch nicht wahr sagt. Ich sage, Gott hat verboten die Sünde und will derselben nicht. Dieser Wille ist uns offenbart und not zu wissen. Wie aber Gott die Sünde verhängt oder will, das sollen wir nicht wissen, denn er hat's uns nicht offenbart. . . . Derhalben ist meine Bitte, ob euch dieser Geist mit der hohen Frage von dem heimlichen Willen Gottes viel wollte bekümmern, so weicht von ihm und sprecht also: Jst's zu wenig, daß uns Gott lehret von seinem öffentlichen Willen, den er uns offenbaret hat? Was narrest du uns und willst uns da hineinführen, das uns zu wissen verboten und unmöglich ist und du selbst nicht weißt? Laß Gott solches befohlen sein, wie das zugeht; uns ist genug, daß wir wissen, wie er keine Sünde will. Wie er aber die Sünde verhängt oder will, sollen wir lasten gehen.” (E. A. 53, 345 f.; St. L. X, 1531.)

129) Inst. III, 24, 5: Si paternam Dei clementiam propitiumque animum quaerimus, ad Christum convertendi sunt oculi, in quo solo Patris


50  >        Die seligmachende Gnade Gottes.  [English ed. ~ 47]

täuschung. Er kann gar nicht auf Christum und das Evangelium verweisen, weil er Christum und das Evangelium nicht für alle Hörer des Wortes vorhanden sein läßt. Tatsächlich verweist er auch nicht auf Christum und das Evangelium, sondern auf eine innere Erneuerung und Heiligung, auf eine zu erwartende gratia infusa. Der Christus, auf den Calvin verweist, ist nicht der Christus, der der Welt Sünde getragen hat und im Evangelium als der Heiland aller Sünder gepredigt wird, sondern eine interior Spiritus illuminatio. Calvin sagt daher ausdrücklich, daß Gottes Wille gegen uns nicht zu beurteilen sei nach der allgemeinen Berufung (universalis vocatio), wodurch Gott alle ohne Unterschied zu sich einladet, auch solche, die er gar nicht selig machen, sondern durch Vorlegung des Wortes nur in größere Verdammnis führen will, sondern nach der speziellen Berufung (specialis vocatio), die in der inneren Erleuchtung des Heiligen Geistes besteht.130) Calvin täuscht sich auch selbst mit seiner Unterscheidung zwischen den verborgenen Tiefen der Gottheit und der Offenbarung Gottes im Wort.131) Die Tiefen der Gottheit sind Calvin nicht verborgen, sondern so klar, daß er damit durch die Offenbarung im Wort (durch die gratia universalis) einen Strich macht. Es ist auffallend, wie oft Calvin bei der Darlegung seiner Lehre vom Willen Gottes gegen die Menschen sich selbst widerspricht. So sagt er immer wieder, die Berufung durchs Wort sei auch deshalb allgemein gefaßt, damit die Verworfenen sich nicht entschuldigen könnten, sondern wegen der Verachtung der Liebe und Gnade Gottes sich selbst doppelt verdammen müßten.132) Dabei hat Calvin ganz vergessen, daß es nach seiner

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anima acquiescit (Mattii. 3, 17). . . . Christus ergo speculum est, in quo electionem nostram contemplare convenit et sine fraude licet.

130) Inst. III, 24, 8: Est universalis vocatio, qua per externam verbi praedicationem omnes pariter ad se invitat Deus, etiam quibus eam in mortis odorem et gravioris condemnationis materiam proponit. Est altera specialis, qua ut plurimum solos fideles dignatur, dum interiori sui Spiritus illuminatione efficit, ut verbum praedicatum eorum cordibus insideat. . . . Pauci electi sunt ex magno vocatorum numero; non tamen ea vocatione unde fidelibus dicimus aestimandam esse electionem.

131) Inst. III, 21, 1. 2; 24,3.

132) Inst. III, 24, 15: Teneamus prophetae consilium, non placere Deo mortem peccatoris (Ezech. 33, 11): ut confidant pii, simulae poenitentia tacti fuerint, sibi paratam esse apud Deum veniam; impii vero sentiant, duplicari crimen suum, quod tantae Dei clementiae et facilitati non respondent. 24, 17: Cur omnes nominat  (scil, in den evangelischen Verheißungen)? Nempe quo tutius piorum conscientiae acquiescant . . impii


51  >        Terminologie in bezug auf den Gnadenwillen Gottes.  [English ed. ~ 4748]

Lehre gar keine Liebe und Gnade Gottes für die Verworfenen gibt, also auch von ihnen nicht verachtet werden kann.133)

Es ist ziemlich allgemein Sitte geworden, bei Luther und Calvin eine wesentliche Übereinstimmung hinsichtlich der Annahme eines geoffenbarten und verborgenen Willens Gottes zu finden. Aber zwischen beiden sind Berührungspunkte nur im Ausdruck. In der Sache differieren sie vollständig. Die völlige sachliche Differenz tritt in den folgenden Punkten hervor: 1. Was es um den Gnadenwillen Gottes sei, wieweit er sich erstrecke und was er wirke, will Luther lediglich nach Gottes Wort selbst, nach der Schriftaussage, beurteilt wissen. Calvin will, was von Gottes Gnadenwillen zu halten sei, lediglich aus dem Resultat (effectus) oder aus der geschichtlichen Erfahrung (experientia) bestimmen. 2. Luther läßt den im Schriftwort bezeugten allgemeinen Gnadenwillen völlig intakt und sagt, es sei „närrisch", ihn wegen des Vorhandenseins der unbegreiflichen Gerichte Gottes nicht zu glauben.134) Calvin hingegen wundert sich über die Torheit der Leute, die noch den allgemeinen Gnadenwillen glauben, da doch der Erfolg des Evangeliums nur ein partikularer sei.135) 3. Luther lehrt, daß Gott auch an den Verlorengehenden zur Hervorbringung des Glaubens und zur Abwendung der Verdammnis wirksam ist,136) daß aber der Wirksamkeit

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autem non causentur sibi deesse asylum, quo se a peccati servitute recipiant, dum oblatum sibi ingratitudine sua respuunt. 24, 2: Reprobos manet gravius judicium, quod testimonium amoris Dei repudient.

133) Hierauf macht Gerhard aufmerksam, wenn er zu Luk. 7, 30 und Apost. 7, 51 bemerkt: Observa emphasin in his dictis. Pharisaei et legis periti dicuntur sprevisse consilium Dei non baptizati a Johanne: quodnam fuit id consilium? Utique illud, quod per concionem et baptismum Johannis voluit Deus eos vocare ad poenitentiam et ad regnum Messiae. Absolutum quoddam decretum et consilium de ipsorum perditione nequit hoc loco intelligi. Illud enim non sprevisse, sed potius implevisse dicendi fuissent. Judaei dicuntur resistere Spiritui s., utique ergo Spiritus s. voluit in illorum cordibus' operari; si absoluto. decreto denegata ipsis conversio, non dici possent Spiritui s. resistere, quia potius obsecuti fuissent decreto isti ab aeterno facto. (De elect., § 68.)

134) Vgl. S. 46 sf.

135) Inst. III, 24, 15: Profertur Ezechielis locus (33, 11), quod Deus nolit mortem peccatoris, sed magis ut convertatur et vivat. Si hoc ad totum humanum genus extendere placet, cur plurimos ad resipiscentiam non sollicitat?

136) De servo arbitrio, Opp. v. a. VII, 222: Deplorat (Deus) mortem, quam invenit in populo et amovere studet. Hoc enim agit Deus praedicatus, ut ablato peccato et morte salvi simus.


52  >        Die seligmachende Gnade Gottes.  [English ed. ~ 48–49]

Gottes, die durch das Mittel des Wortes sich vollzieht, widerstanden werden könne,137) und daß daher der Mißerfolg des Wortes dem menschlichen Widerstande zuzuschreiben sei.138) Calvin lehnt es ab, daß es einen Willen Gottes gibt, der nicht geschieht,139) und leugnet jede auf Bekehrung abzielende Wirkung Gottes an den Verlorengehenden.140) 4. Luther nimmt zwischen dem geoffenbarten Willen Gottes und den unbegreiflichen Gerichten Gottes nur einen Scheinwiderspruch an, der sich im ewigen Leben lösen werde.141) Calvin setzt die unbegreiflichen Gerichte Gottes in einen wirklichen Widerspruch zu dem geoffenbarten Willen Gottes, und seine Harmonisierungsmethode besteht darin, daß er den geoffenbarten Willen durch den verborgenen aufhebt.

Auf den sachlichen Unterschied zwischen Luthers und Calvins Lehre hat ein neuerer reformierter Theolog, E. F. Karl Müller, mit den folgenden Worten hingewiesen: „In der Tat hat Luthers auf Wort und Sakrament unmittelbar ausruhende Glaubensart die sogenannte Objektivität der Gnadenmittel, das heißt, nicht bloß ihre

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137) Siehe Note 84.        138) Siehe Note 87. 88.

139) Inst. III, 24, 16: Si tenacius urgeant quod dicitur velle misereri omnium, ego contra excipiam quod alibi scribitur, Deum nostrum esse in coelo, ubi faciat quaecunque velit (Ps. 115, 3).

140) Inst. III,        24, 12: Quos (Deus) in vitae contumeliam et mortis exitium creavit, ut irae suae organa forent et severitatis exempla, eos, ut in finem suum perveniant, nunc audiendi verbi sui facultate privat, nunc ejus praedicatione magis excaecat et obstupefacit.

141) Opp. v. a. VII, 365 sq.; St. L. XVIII, 1965: Tria mihi lumina pone, lumen naturae, lumen gratiae, lumen gloriae, ut habet vulgata et bona distinctio. In lumine naturae est insolubile, hoc esse justum, quod bonus affligatur et        malus bene habeat. At hoc dissolvit lumen gratiae. In lumine gratiae est insolubile, quomodo Deus damnet eum, qui non potest ullis suis viribus aliud facere quam peccare et reus esse; hic tam lumen naturae quam lumen gratiae dictant, culpam esse non miseri hominis, sed iniqui Dei, nec enim aliud judicare possunt de Deo, qui hominem impium gratis sine meritis coronat et alium non coronat, sed damnat, forte minus vel saltem non magis impium. At lumen gloriae aliud dictat et Deum cujus modo est judicium incomprehensibilis justitiae, tunc ostendet esse justissimae fet manifestissimae justitiae tantum, ut interim  (in diesem Leben) id credamus, moniti et confirmati exemplo luminis gratiae, quod simile miraculum in naturali lumine implet. So sagt auch Dorner von Luther: „Einen Widerspruch (zwischen dem heimlichen und geoffenbarten Willen Gottes) „nimmt jedoch Luther nicht an, vielmehr, daß der Widerspruch nur Schein sei, das fordert er zu glauben.” (Geschichte der prot. Theol., S. 206.)


53  >        Schlußbemerkung.  [English ed. ~ 49–50]

Zuverlässigkeit, sondern ihre Wirksamkeit in jedem Falle den ,Sakramentiererrn’ gegenüber oft in einer Weise betont, welche den Prädestinationsglauben schließlich untergraben mußte."142) Das ist richtig. Nur ist hinzuzufügen, daß Luther den Prädestinationsglauben im Sinne der gratia particularis nie gehabt hat.

Schlußbemerkung. ^ 

Die Stellung Luthers und der Konkordienformel, wonach hinsichtlich des Gnadenwillens Gottes die beiden Prädikate: universalis gratia und sola gratia, ohne rationelle Vermittlung festzuhalten sind und daher die Frage: Cur alii prae aliis? für in diesem Leben unlösbar erklärt wird, hat durch die Jahrhunderte hindurch bis auf unsere Zeit eine allseitige Kritik hervorgerufen. Die Kritik durchläuft die ganze Skala von der entschiedensten Verurteilung an bis zur gütigen Entschuldigung. Shedd spricht vom calvinistischen Standpunkt aus der Stellung Luthers und der Konkordienformel jede Existenzberechtigung ab, indem er behauptet, es gebe nur "two great systems of theology which divide evangelical Christendom, Calvinism and Arminianism."143) Dasselbe tut Luthardt vom synergistischen Standpunkt aus, wenn er behauptet, Man müsse die sola gratia fahren lassen, falls man die universalis gratia festhalten wolle.144) Auch wohlmeinende spätere lutherische Dogmatiker, wie Gottfried Hoffmann, rechnen es zu den „etwas harten Reden” (duriusculas phrases), wenn Luther und Brenz — die Konkordienformel ist hinzuzunehmen — erklären, sie könnten die Frage: Cur alii prae aliis? in diesem Leben nicht beantworten.145) Diese Kritik offen

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142)  RE.3 XV, 599.        143) Dogmatic Theology I, 448.

144) Die Lehre vom freien Willen 1863, S. 276. Vgl. Note 64. Ebenso der spätere Melanchthon: Cum promissio sit universalis nec sint in Deo contradictoriae voluntates, necesse est, in nobis (scil, im Menschen) esse aliquam discriminis causam, cur Saul abjiciatur, David recipiatur. (Loci, ed. Detzer I, 74.) Ebenso die neueren amerikanischen und deutschländischen Synergisten. Vgl. L. u. W. 18, 193 ff.; 37, 293 f.

145) Synopsis Theologiae 1730,  p. 598 sq.:  Loca, quae ceu duriora allegari solent, inprimis petuntur ex Lutheri libro De servo arbitrio, Brentii Comment. in ep. ad Rom., ubi ad quaestionem: quid est igitur, quod Deus clementer conferat donum fidei Jacobo et non Esavo, Davidi et non Saulo, Petro et non Judae, alteri latroni et non alteri, cum eadem sit peccati massa etc., justo citius ad βάϋος consilii divini confugit. Die ganze Ausführung bei Gottfried Hoffmann (l. c., p. 598—603) ist in bezug auf die Stellung der späteren Theologen zu Luther und dem lutherischen Bekenntnis sehr instruktiv.


54  >        Die seligmachende Gnade Gottes.  [English ed. ~ 50–51]

bart die theologische Rückständigkeit der Kritiker. Die Frage kann nur und wird tatsächlich nur durch Calvinismus oder Synergismus beantwortet. Da nun aber die Schrift weder calvinistisch noch synergistisch, sondern sowohl die universalis gratia als die sola gratia lehrt, so gibt man bei der Beantwortung der Frage das Schriftprinzip Preis. Sodann macht jede der beiden versuchten Lösungen den Glauben an Christum völlig unmöglich. Dies ist erstlich bei dem Calvinismus der Fall. Woimmer gelehrt wird, daß die Gnade Gottes in Christo für den größten Teil der Menschen gar nicht vorhanden sei, muß jeder Zuhörer, insonderheit der vom Gesetze getroffene Sünder, im Zweifel bleiben, ob die Gnade auch ihn angehe. Dieser Zweifel aber schließt den Glauben schlechthin aus. Daß dennoch in calvinistischen Gemeinschaften viele zum Glauben kommen, hat seinen Grund darin, daß sowohl Prediger als Zuhörer die gratia particularis vergessen. Calvinistische Lehrer schärfen auch ausdrücklich ein, daß man sonderlich in der Anfechtung auf die Schriftaussagen schauen müsse, die auf die allgemeine Gnade lauten.146) So widerlegt der Calvinismus, der in seinen Vertretern oft so selbstbewußt auftritt und das Festhalten an der allgemeinen Gnade als Unverstand verspottet,147) völlig sich selbst. Auch der Arminianismus und Synergismus, der das Heil, anstatt allein von Gottes Gnade in Christo, entscheidend von der menschlichen Selbstbestimmung, Selbstentscheidung, einem besseren Verhalten, geringeren Widerstreben, einer geringeren Schuld 2c. abhängig sein läßt, kann keinen Menschen zum Glauben an die Gnade Gottes in Christo bringen. Solange der Wahn im Herzen steckt, daß die Gnade nur für den vorhanden sei, der das rechte Verhalten, die geringere Schuld 2c. vor Gott aufzuweisen hat, wird gerade der vom Gesetze Gottes getroffene Sünder nicht zuzugreifen wagen. Der Glaube kann überhaupt nicht entstehen, weil es die Eigenart des Glaubens ist, daß er nur auf Gnade baut.148) Sich im Vergleich mit andern Menschen einen Vorzug, eine geringere Schuld und so ein relatives Anrecht an die Gnade zuschreiben, defi

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146) Vgl. von Scheele, Symbolik II, 55. Calvin, Inst. III, 24, 17.

147) Vgl. Böhl, Dogmatik, S. 282 ff.

148) Vgl. Apol., S. 97: „So oft die Schrift vom Glauben redet, meinet sie den Glauben, der aus lauter Gnade bauet.” Luther, Opp. v. a. VII, 154: Quamdiu (homo) persuasus fuerit, sese vel tantulum posse pro salute sua, manet in fiducia sui, nec de se penitus desperat, ideo non humiliatur coram Deo, sed locum, tempus, opus aliquod sibi praesumit, vel sperat vel optat saltem, quo tandem perveniat ad salutem.


55  >        Schlußbemerkung.  [English ed. ~ 51–52]

niert die Schrift ausdrücklich als Abfall von der Gnade.149) Aber auch hier ist die Praxis oft besser als die Theorie. Schon Luther hat in De  servo arbitrio daran erinnert, daß viele, die mit dem Munde das Heil auf ihr Verhalten stellen, vor Gott und in ihrem Herzen allein auf die Gnade sich gründen.150) Endlich liegt auch auf der Hand, daß sowohl der calvinistische als der synergistische Lösungsversuch den schriftgemäßen Begriff der seligmachenden Gnade als gratuitus Dei favor propter Christum in die gratia infusa umsetzt. Wer die allgemeine, im Evangelium verkündigte gnädige Gesinnung Gottes leugnet, muß die nach der Gnade Fragenden notwendig auf die Wirkungen der Gnade, im Menschen, also auf die gratia infusa verweisen. Die Synergisten tun dies von vornherein durch die Behauptung, daß die Bekehrung und Seligkeit nicht allein von Gottes Gnade in Christo, sondern auch von dem besseren menschlichen Verhalten abhänge. So landen alle, die über die Schrift hinaus klug sein und die Frage: Cur alii prae aliis? in diesem Leben beantworten wollen, auf römischem Gebiet, in der Werklehre. Dies beweist den festgefügten inneren Zusammenhang der in der Schrift geoffenbarten christlichen Lehre, den Luther mit einem in sich geschlossenen Ringe vergleicht. Nimmt man zur Beseitigung von Lücken und scheinbaren Widersprüchen, also im Interesse eines sogenannten wissenschaftlichen Systems, an einzelnen Lehren Korrekturen vor, so ergibt sich als Resultat die Zerstörung der Zentrallehre des Christentums, der Rechtfertigung aus dem Glauben ohne Werke.

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149) Röm. 11, 18—22 ruft der Apostel den Heiden zu: „Rühme dich nicht wider die Zweige” (die Juden), und schärft ihnen ein, daß sie nur so lange im Glauben stehen, als sie sich keinen Vorzug vor den Juden zuschreiben, sondern an der Güte (χρηοτότης) bleiben.

150) Opp. v. a. VII, 166; St. L. XVIII, 1780: Ego vobis facile ostendam, quod viri sancti, quales jactatis, quoties ad Deum oraturi vel acturi accedunt, quam penitus obliti incedant liberi arbitrii sui, desperantes de semet ipsis, ac nihil nisi solam et puram gratiam longe alia meritis sibi invocantes, qualis saepe Augustinus, qualis Bernardus, cum moriturus diceret: Perdidi tempus meum, quia perdite vixi. Non video hic allegari vim aliquam, quae ad gratiam sese applicet, sed accusari omnem vim, quod nonnisi aversa fuerit. Quamquam illi ipsi sancti aliquando inter disputandum aliter de libero arbitrio locuti sunt, sicut video omnibus accidisse, ut alii sint, dum verbis et disputationibus intenti sunt, et alii, dum affectibus et operibus; illic dicunt aliter quam affecti fuerunt ante, hic aliter afficiuntur quam dixerunt, ante. Ex affectu vero potius, quam ex sermone metiendi sunt homines, tam pii, quam impii.


56  >        Die Lehre von Christo.  [English ed. ~ 55]

Die Lehre von Christo.

(Christologia.)

Die Wichtigkeit der Lehre von Christo. ^ Wir haben bereits bei der Bestimmung des Gnadenbegriffs erkannt, daß die Gnade Gottes gegen die Sünderwelt nicht eine absolute, in Gottes Machtvollkommenheit begründete, sondern eine durch Christum vermittelte oder von Christo erworbene Gnade ist. Hieraus erhellt die Wichtigkeit der Lehre von Christo. Wohl nennen wir nach kirchlichem Sprachgebrauch meistens die Lehre von der Rechtfertigung den Zentralartikel der christlichen Lehre oder den artlsulus stantls st saäsutls ssslsslas. Aber die Lehre von der Rechtfertigung gründet sich unmittelbar auf die Lehre von Christo, näher auf die Lehre von Christi gottmenschlicher Person und von Christi gottmenschlichem Werk. Gott rechtfertigt uns sündige Menschen aus Gnaden, χωρίς έργων νόμον, aber διά της άπολντρώσεως της εν Χριστώ Ίησον,1)  weil Christus für uns Bezahlung geleistet hat. Und dabei legt die Schrift besonderen Nachdruck darauf, daß die Person, die die Bezahlung leistet, kein Geringerer als der Sohn Gottes ist, κατηλλάγημεν τω ϑεφ διά τον ϑανάτον τον νιον αντον.2) Auch der Glaube, durch den die Rechtfertigung sich vollzieht, hat nicht einen beliebigen Inhalt, auch nicht Christum nur irgendwie zum Objekt, etwa als Gesetzeslehrer, Tugendvorbild, Offenbarer "of the universal fatherhood of God” 2c., sondern der Glaube richtet sich auf den Christus, der ο νιος τον ϑεον τον ζώντος ist 3)  und  sich  selbst gegeben hat für alle zur Erlösung (άντίλντρον).4) Trotz Harnack 5) gehört nicht bloß der Vater, sondern auch der Sohn in das. Evangelium. Wer Christum in seiner gottmenschlichen Person und in seinem gottmenschlichen Versöhnungswerk nicht Objekt des seligmachenden Glaubens sein lassen will, hebt die christliche Lehre von der Rechtfertigung und damit das ganze Christentum auf. Die Lehre von Christo ist daher mit größtem Fleiß von allen Verfälschungen rein zu erhallen.6)

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1) Röm. 3, 24.   2)  Röm. 5, 9.        3) Matth. 16, 17.     4)  1 Tim. 2, 6.

5) Wesen des Christentums. Leipzig, 1900, S. 91.

6) Gerhard: Necessitatem doctrinae de Christo 1. directe negant,

qui sanioribus gentilibus salutem tribuunt, quod ex Pontificiis et Calvinianis quosdam facere atque ex Photinianae doctrinae hypothesibus consequens esse suo loco demonstravimus. 2. Oblique eam labefactant Cal


57  >        Die Lehre von Christi Person.  [English ed. ~ 55–56]

Einteilung der Lehre von Christo. Um dem vielgestaltigen Irrtum gegenüber, der sich im Laufe der Zeit erhoben hat, die schriftgemäße Lehre von Christo allseitig zur Darstellung zu bringen, ist es Sitte geworden, diese Lehre in drei Unterabteilungen zu behandeln. Man handelt I. von der gottmenschlichen Person Christi (de persona Christi sive de Christo ϑεανϑρώπω), II. von den Ständen Christi (de statibus exinanitionis et exaltationis), weil die Schrift Christum nach der menschlichen Natur in einem doppelten Zustande, in der μορφή δούλου und in der μορφή ϑεον, zeigt, 7)  III. von dem Werk Christi (de        officio Christi), weil dem Irrtum gegenüber immer wieder darzulegen war, daß Christus nicht bloß das Gesetz Gottes gelehrt und den Menschen vorgelebt hat, sondern gerade dadurch der Heiland der Menschen ist, daß er an Stelle der Menschen unter die Pflicht 8) und unter den Fluch 9) des Gesetzes Gottes getreten ist.

Die müßige und gefährliche Spekulation, daß der Sohn Gottes Mensch geworden wäre, wenn die Menschen auch nicht gesündigt hätten, wird bei der Lehre von Christi Werk beurteilt werden.

I. Die Lehre von Christi Person. ^ 

(De persona Christi.)

Es ist vielfach Sitte geworden, über eine zu ausführliche und schwerfällige Darstellung der Lehre von der Person Christi namentlich bei den lutherischen Dogmatikern, aber auch schon in der Konkordienformel und bei Luther, zu klagen.10) Es werde ausführlich von der wahren, vollkommenen Gottheit (de Christo vero Deo sive de veritate divinae naturae), dann von der wahren, vollkommenen Menschheit Christi (de Christo vero homine sive de veritate et integritate humanae naturae) und endlich ganz besonders ausführlich von der persönlichen Vereinigung (de unione personali), der Gemeinschaft der Naturen und der Mitteilung der Eigenschaften (de communione naturarum et de communicatione idiomatum) gehandelt. Diese sehr ausführliche Behandlung ist Tatsache. Auch ist zuzugeben, daß einige der alten Dogmatiker manche Partien kürzer hätten darstellen können, ohne daß die Gründlichkeit der Darstellung dadurch gelitten

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viniani, dum controversias, quae de unione personali et eam consequente idiomatum communicatione verae ecclesiae cum ipsis intercedunt, extenuant. (Locus de persona et officio Christi, § 4.)

7) Phil. 2, 6 ff.; Luk. 24, 26.     8) Gal. 4, 4. 5.    9) Gal. 3, 13.

10) Vgl. Luthardt, Komp., 10. Aufl., S. 209.


58  >          [English ed. ~ 57–58]

hätte. Aber geschichtlich und sachlich unwahr ist die Vorstellung, als ob die alten Lehrer aus bloßer Streitsucht, und zur Plage der Menschheit, sich einer so ausführlichen Darstellung befleißigt hätten. Die Schuld an der ausführlichen und oft sehr ins einzelne gehenden Darstellung tragen die Irrlehrer. Diese sind nicht müde geworden, sehr ausführlich und auf mancherlei Weise sowohl die wahre vollkommene Gottheit und die wahre vollkommene Menschheit als auch die persönliche Vereinigung der göttlichen und menschlichen Natur in Christo zu leugnen. So war und ist es der Sachlage angemessen, wenn die Lehrer der Kirche, die die Wichtigkeit der Lehre von Christi Person erkennen, alle diese Wahrheiten als in der Schrift gelehrt darstellten und verteidigten. Auch wir können uns in unserer Zeit um des Gegensatzes willen einer ausführlichen Darlegung der Lehre von Christi Person nicht entziehen, obwohl wir der Notwendigkeit lieber überhoben wären. Schon Luther klagt darüber, daß er durch die Irrlehrer gezwungen sei, um die Lehre von Christo einen Streit zu führend) Auch Gerhard spricht sich sachgemäß darüber aus, wodurch die ausführliche Lehre von Christo veranlaßt ist.12)

Zusammenfassende Darstellung der Lehre von Christi Person. ^  Es wäre eine ganz falsche Vorstellung, wenn man annehmen wollte, daß die christliche Kirche erst im Laufe der Zeit und durch die Ausprägung von kirchlichen termini zur rechten Erkenntnis der Person Christi gekommen wäre. Luther hat vollkommen recht, wenn er ausführt, daß die rechte Lehre von Christi Person, inklusive der communicatio idiomatum, von allem Anfang an und vor allen Konzilien

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11) St. L. XVI, 2231: „Ach, HErr Gott, von solchem seligen, tröstlichen Artikel sollte man ungezankt, ungezweifelt in rechtem Glauben immer fröhlich sein, singen, loben und danken Gott dem Vater für solche unaussprechliche Barmherzigkeit, daß er uns seinen lieben Sohn hat lassen, uns gleich, Mensch und Bruder werden. So richtet der leidige Satan durch stolze, ehrsüchtige, verzweifelte Leute solchen Unlust an, daß uns die liebe und selige Freude muß verhindert und verderbet werden. Das sei Gott geklagt!"

12) Locus de pers. et officio Christi, § 3: Quemadmodum in munita regionis alicujus arce ac metropoli oppugnanda vires hostium potissimum occupantur: sic diabolus omnes calliditatis et potentiae suae vires in mysterio de Christo, quod doctrinae coelestis, metropolin esse novit, oppugnando jam inde a primo N. T. initio, imo a mundi usque exordio experiri voluit, modo enim divinam, modo humanam Christi naturam evertere, modo unionem personalem dissolvere, modo officium ejus labefactare conatus est ac viis dissimilibus ad eandem perpetuo contendit metam, videlicet ut sinceritatem ac puritatem hujus doctrinae corrumperet ac consequenter hunc salutis thesaurum hominibus eriperet.


59  >        Zusammenfassende Darstellung der Lehre von Christi Person.  [English ed. ~ 57–58]

beschlüssen in der Christenheit auf Grund der klaren Schriftaussagen erkannt und geglaubt worden ist.13) Alles das, was unter der Lehre von Christi Person z. B. im lutherischen Bekenntnis zum Ausdruck kommt, glaubt und erkennt der Christ, weil es im Wort der Propheten und Apostel klar geoffenbart vorliegt. Der Christ glaubt die zwei Naturen in Christo, wenn er liest oder hört, daß der ewige Sohn Gottes aus der Jungfrau Maria Mensch geworden ist.14) Er zweifelt nicht an der Einheit der Person, weil er vernimmt, daß ein und derselbe sich als Menschensohn und als Sohn des lebendigen Gottes darstellt.15) Er zweifelt auch nicht an der realen Gemeinschaft der Naturen, weil die Schrift sagt, daß die ganze Fülle der Gottheit nicht neben, sondern in Christi menschlicher Natur leibhaftig wohnt.16) Er glaubt auf das Zeugnis der Schrift hin, daß der HErr der Herrlichkeit gekreuzigt wurde,17) und daß darin der Wert des Leidens und Sterbens Christi liegt 18) (erstes Genus der Mitteilung der Eigenschaften). Er glaubt auch auf die Aussagen der Schrift hin, daß

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13) St. L. XVI, 2233: „Wohlan, dies Konzilium (zu Ephesus) hat auch nichts Neues im Glauben gestellet, wie wir droben gesagt, sondern den alten Glauben verteidigt wider den neuen Dünkel Nestorii, daß man daraus nicht kann Exempel nehmen noch Macht geben den Konziliis, neue oder andere Artikel des Glaubens zu setzen. Denn dieser Artikel ist zuvor in der Kirche von Anfang gewest, und nicht durchs Konzilium aufs neue gemacht,. sondern durch das Evangelium oder Heilige Schrift erhalten. Denn da stehet St. Lukas, Kap. 1, 32, daß der Engel Gabriel der Jungfrauen Maria verkündigt, daß aus ihr solle geboren werden der Sohn des Allerhöchsten. Und St. Elisabeth (Luk. 1, 431: ,Woher kommt mir das, daß die Mutter des HErrn zu mir kommt?' Und die Engel allesamt in der Weihnachten (Kap. 2, 111: ,Euch ist heute geboren ein Heiland, welcher ist Christus, der HErr.' Item, St. Paulus Gal. 4, 4: ,Gott hat seinen Sohn gesandt, von einem Weibsbilde geboren.' Diese Sprüche (weiß ich fürwahr) halten ja fest genug, daß Maria Gottes Mutter sei. So spricht St. Paulus 1 Kor. 2, 8: ,Die Fürsten dieser Welt haben den HErrn der Majestät gekreuzigt'; Apost. 20, 28: ,Gott hat die Kirche mit seinem eigenen Blut erworben', so doch Gott kein Blut hat, nach der Vernunft zu richten; Phil. 2, 6. 7: Christus, da er Gott gleich war, ward er ein Knecht und erfunden in aller Menschen Weise.' Und der Kinderglaube, Symbolum Apostolorum, sagt: Ich glaube an JEsum Christum, seinen einigen Sohn, unsern HErrn, der empfangen, geboren von Maria, gelitten, gekreuzigt, gestorben, begraben 2c. Da stehen ja klar genug die idiomata menschlicher Natur, und werden doch dem einigen Sohn und HErrn zugemessen, an welchen wir glauben gleich dem Vater, und als an einen rechten Gott."

14) Gal. 4, 4; Joh. 1, 1. 2. 14.        15) Matth. 16, 13—17.        16) Kol. 2, 9.

17) 1 Kor. 2, 9.        18) Röm. 5, 10; 1 Joh. 1, 7.


60  >        Die Lehre von Christo.  [English ed. ~ 58]

Christo in der Zeit nach seiner menschlichen Natur Allmacht, Allwissenheit 2c. gegeben worden ist.19) Er kommt angesichts der Schriftaussagen gar nicht aus den Gedanken, daß unter Allmacht, Allwissenheit 2c. nur „endliche, große Gaben" zu verstehen seien. Und wenn Christus seiner Kirche verheißt, daß er bei ihr sein wolle alle Tage bis an der Welt Ende,20) so denkt sich der Christ seinen gottmenschlichen Heiland nicht ohne und außerhalb, sondern mit und innerhalb seiner menschlichen Natur gegenwärtig, das heißt, er schreibt Christo auch nach der menschlichen Natur, wie Allmacht und Allwissenheit, so auch Allgegenwart zu (zweites Genus der Mitteilung der Eigenschaften). Und wenn die Schrift sagt, daß der Sohn Gottes gerade zu dem Zweck im Fleische erschienen sei, um durch sein Wirken in dem angenommenen Fleische und durch das angenommene Fleisch die Werke des Teufels zu zerstören und die Menschen zu retten,21) so denkt sich der Christ die Sache nicht anders, als daß Christus seine Amtswerke als Prophet, Hoherpriester und König nicht neben, sondern in dem angenommenen Fleische und durch dasselbe, das heißt, nach beiden Naturen, wirkt. Er glaubt una actio ϑεανδρική, wenn er auch den Ausdruck nicht kennt (drittes Genus der Mitteilung der Eigenschaften). Der Gedanke, daß das Endliche des Unendlichen nicht fähig sei (finitum non est capax infiniti), liegt ihm durchaus sern, weil ihm aus Grund der Schriftaussagen feststeht, daß der Sohn Gottes tatsächlich in das Fleisch eingegangen ist, also das Unendliche mit dem Endlichen zu einer Person verbunden hat. In dieser kurzen Darlegung aus Grund klarer Schriftaussagen, die jedem Christen verständlich sind, ist die ganze Lehre von Christi Person bis in ihre äußersten Spitzen enthalten. Auch in bezug aus die theologische Darstellung der Lehre von Christi Person macht Seeberg die richtige Bemerkung, daß aus der zugegebenen persönlichen Vereinigung von Gott und Mensch in Christo die innigste Gemeinschaft der Naturen und die Mitteilung der Eigenschaften sich ganz von selbst ergebe.22)

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19) Matth. 28, 18; Matth. 11, 27; Joh. 3, 34. 35.

20) Matth. 28, 20.        21) 1 Joh. 3, 8; Hebr. 2, 14. 15.

22)        RE.3 IV, 255 ff.: „Voraussetzung der kirchlichen Lehre von der communieatio idiomatum ist der Satz, daß auf Grund der Menschwerdung des Sohnes Gottes  als  der  andern  Person  der göttlichen Dreieinigkeit ein  einheitliches Subjekt  des  Gottmenschen vorhanden sei, kraft der Initiative  des  die menschliche Natur an sich nehmenden Logos, so daß nun beide vollständige Naturen, die göttliche und die menschliche, in persönlicher Einheit unlösbar miteinander verbunden seien. Wer die in dem Akte der Menschwerdung vollzogene


61   >  [English ed. ~ 59]

1. Die wahre Gottheit Christi. ^

Die Schrift legt großen Nachdruck aus die Beschaffenheit der Person Christi, speziell aus die Gottheit Christi. Man hat neuerdings wieder behauptet, ein „christologisches” bekenntnis sei nicht Voraussetzung für das Evangelium, und insonderheit habe Christus den Satz: „Ich bin Gottes Sohn" nicht in sein Evangelium eingerückt.23) Das gerade Gegenteil ist der Fall. Christus selbst rückt das „christologische” bekenntnis zu seiner wesentlichen Gottheit so gewaltig in den Vordergrund, daß er nur da von Gott gewirkten Glauben an sich anerkennt, wo es vorhanden ist. Wir haben Matth. 16, 13 ff. eine mit seinen Jüngern veranstaltete Katechese über seine (Christi) Person. Auf Christi Frage berichten die Jünger, daß die Leute (οί ανϑρωποι) ihn für Johannes den Täufer, Elias, Jeremias oder der Propheten einen, also für einen bloßen Menschen, halten. Christus appelliert an die bessere, nicht von Fleisch und Blut, sondern von seinem Vater im Himmel gewirkte Erkenntnis seiner Jünger und stellt fest, daß der Menschensohn ο νιος τον ϋεον τον ζώντος sei. An diesem Bekenntnis hängt die Seligkeit: Μακάριος εϊ Σίμων, βάρ Ιωνά, und dies Bekenntnis ist die πέτρα, von der Petrus ist und auf der die Kirche Christi steht, die die Höllenpforten nicht überwältigen sollen. An diesem Bekenntnis, daß der Menschensohn ό νιος τον ϑεον τον ζώντος sei, hat denn auch die Kirche Gottes aller Zeiten dem groben und dem feineren Irrtum gegenüber festgehalten. Die Unitarier behaupten, Christus werde nur Gott genannt (Christus Deus nuncupativus), ohne

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Einigung der beiden Naturen zu persönlicher Einheit leugnet, hat keinen Grund, im Sinne der Kirche nach der Weise der Idiomenmitteilung zu forschen; für wen aber diese Einigung und Einheit eine Tatsache des Glaubens ist, der wird nicht anders können, als nun auch irgendwie comnunicatio idiomatum im Gottmenschen zu setzen. . . . Eben deswegen trafen auch alle Einwürfe der reformierten Theologie, so gewiß sie die Blößen der lutherischen Auffassung aufdeckten” (?), „nicht zum Ziele; denn wer einmal die hypostatische Einheit des Gottmenschen zugibt und behauptet, diese innigste und tiefste Vereinigung der beiden Naturen, verliert damit das Recht, gegen die Mitteilung der Idiome sich zu erklären."

23) Harnack, Wesen des Christentums, S. 92: „Der Satz: ,Ich bin der Sohn Gottes' ist von JEsu selbst nicht in sein Evangelium eingerückt worden, und wer ihn als einen Satz neben andern dort einstellt, fügt dem Evangelium etwas hinzu.S. 93: „Wie weit entfernt man sich von seinen (JEsu) Gedanken und von seiner Anweisung, wenn man ein ,christologisches' Bekenntnis dem Evangelium voranstellt und lehrt, erst müsse man über Christus richtig denken, dann erst könne man an das Evangelium herantreten. Das ist eine Verkehrung."


62  >  [English ed. ~ 59–60]

dem Wesen nach oder im metaphysischen Sinne des Wortes Gott zu sein. Auf dasselbe kommt es hinaus, wenn man in neuerer Zeit sich dahin ausgedrückt hat, daß das Christo beigelegte Prädikat der Gottheit nicht ein „Seinsurteil", sondern nur ein „Werturteil" enthalte.24) Ebenso schon de Wette, wenn er von dem Glauben an die Gottheit Christi sagt, daß er „ideal ästhetischer Art" sei und dem „frommen Gefühl" angehöre, keineswegs aber eine göttliche Natur in Christo zur Grundlage habe.25) Auch sogenannte Positive Theologen unserer Zeit lassen die wesentliche Gottheit Christi (die „Zweinaturenlehre") fahren und setzen die Gottheit Christi z. B. in einen Potenzierten Gotteswillen um, der in Christo in einzigartiger Weise wirksam wird.26) Das ist unitarisches Fahrwasser. Die Subordinatianer wollen die wesentliche Gottheit Christi stehen lassen. Sie behaupten, Christus sei Gott nicht bloß dem Namen, sondern dem Wesen nach, aber — Gott von geringerer Qualität, Gott „nur in des Wortes zweitem Sinne”.27) Daß sowohl die Unitarier als die Subordinatianer die Schrift Wider sich haben, und daß allein das όμοούσως, im Sinne von eandem numero essentiam cum Patre habens, schriftgemäß sei, ist bei der Lehre von Gott (De Deo) ausführlich dargelegt worden. Hier sei der Übersicht wegen und mit Bezug auf Christi Erlösungswerk nur kurz so viel wiederholt: Wenn die Schrift Christum ϑεός 28) und δ νιος του ϑεον 29) nennt, so gebraucht sie diese Ausdrücke nicht im uneigentlichen Sinne, wie auch Kreaturen wegen göttlicher Funktionen Gott genannt werden,30) sondern im eigentlichen, das heißt, im wesentlichen oder metaphysischen Srnne des Wortes. Dies geht unwidersprechlich daraus hervor, daß die Schrift dem Sohne im Verhältnis zum Vater dasselbe göttliche Wesen und dieselben göttlichen Wirkungen der Zahl nach (eandem numero essentiam et easdem numero operationes ad extra) und überhaupt die ganze Reihe der göttlichen Attribute zuschreibt. Denn allerdings geht die Aussage Joh. 10, 30: „Ich und der Vater sind eins” (εν εομεν) nicht auf die Einheit der Gesinnung oder des Willens oder der Machtwirkung, 31) sondern auf die Einheit, und zwar die nume

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24) Ritschl 2c. Vgl. „Ritschls Theologie, L. u. W., Jahrg. 40. 41.

25) Dogmatik d. ev.-luth. K., § 66.

26) Vgl. Seeberg, Grundwahrheiten 2c. 1902, S. 109 ff.

27) Kahnis, Dogmatik, 2. Aufl., 1,361. Vgl. die Abhandlung: „Der moderne Subordinatianismus im Licht der Schrift", L. u. W. Jahrg. 40

28) Joh. 1,1 2c.         29) Matth. 16, 16 2c.

30) Joh. 10, 35. προς οϋς ο λόγος (Auftrag, mandatum) τον ϑεον εγένετο

31) Arianer, Sozinianer, Subordinatianer 2c.


63  >        Die wahre Gottheit Christi.  [English ed. ~ 60–61]

rische Einheit, des Wesens. Eine andere Auffassung ist nach dem Zusammenhang nicht möglich. V. 28 sagt Christus von sich die Allmacht und Allmachtswirkung aus durch die Versicherung, daß niemand seine Schafe aus seiner Hand reißen könne. Daran fügt er V. 29 die Aussage, daß seine Schafe, die ihm der Vater gegeben habe, niemand aus seines Vaters Hand reißen könne. Die so von ihm und dem Vater ausgesagte Gleichheit und Einheit der Allmacht und Allmachtswirkung begründet dann Christus V. 30 mit der weiteren Aussage: „Wir sind eins", Έγώ και δ πατήρ εν έσμεν,  also mit der Einheit des Seins, unitas essentiae.32) Ebenso geht die Aussage Joh. 5, 17: ‘Ο πατήρ μου εως άρτι έργάζεται, κάγώ εργάζομαι auf  die  numerische Einheit der Allmachtswirkung des Vaters und des Sohnes. Denn als die Juden in diesen Worten Christi eine gotteslästerliche Anmaßung sehen, weil Christus sich dadurch Gott gleich mache (ίσον εαυτόν ποιων τώ ϑεῷ, V. 18), schränkt dieser seine Behauptung nicht ein, sondern er verstärkt und begründet sie vielmehr durch die weitere Aussage, daß ihm die unitas operationis mit dem Vater zukomme: „Was immer der Vater tut, das tut gleicherweise (ομοίως) auch der Sohn", V. 19. Der Sohn kann nichts von ihm selber tun, weil es nicht zwei Allmachtswirkungen, sondern nur ein und dieselbe Allmachtswirkung in dem Vater und dem Sohn gibt. Die sogenannte orthodoxe Auffassung dieser Stelle ist die allein textgemäße.33) Was die göttlichen Attribute im allgemeinen betrifft, so bezeugt die Schrift: Christus ist vor Abraham 34) und vor der Welt.35) Er hat die Welt

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32) Gut Alford: "The apparent diversity of the two expressions εκ τής χειρός μ ον and εκ τής χειρός τον πατρός μ ον gives oceasion t ο the assertion that Christ and the Father are one, one in essence primarily, but therefore also one in working and power and will."

33) Quenstedt: Observandum ad hoc dictum Joh. 5, 19. 20: Phrasis ον δνναται ον δεν ποιεΐν non notat άδνναμίαν, impotentiam seu imbecillitatem, ut Joh. 15, 5: „Sine me nihil potestis facere“, sed potius cum de Deo simpliciter praedicatur, summam perfectionem naturae eodem modo operantis, ut aliter se habere nequeat, designat, uti alias άδύνατον dicitur Deum mentiri, cum sit άψενδής, Tit. 1, 2. De Christo vero cum usurpatur exprimit ipsius et Patris et essentiae et potentiae et voluntatis et operationis identitatem, unitatem, inseparabilitatem ac simul τρόπον νπάρξεως, quod nimirum Filius, sicut non a se ipso, sed a Patre per aeternam generationem essentiam suam habeat, sic quoque a se ipso operandi potentiam non habeat aut a se ipso agat, sed a Patre. (Syst. I, 470.)

34) Joh. 8, 51.        35) Joh. 17, 5; 1, 1.


64  >        Die Lehre von Christo.  [English ed. ~ 61–62]

erschaffen;36) er erhält die Welt und ist der Welt gegenwärtig.37) Er weiß alle Dinge.38) Er ist allmächtig wie der Vater,39) weckt die Toten auf wie der Vater 40) und tut überhaupt Wunder wie der Vater aus eigener Kraft.41) Er ist deshalb auch von allen Kreaturen als ihr Gott und HErr anzubeten.42) 

Auf den wunderlichen Einwurf einiger Subordinatianer, daß Christus nur im Prädikat, nicht im Subjekt Gott (ϑεός) genannt werde 43) und deshalb Gott von geringerem Range oder von geringerer Qualität sei, ist zu sagen, daß diesem Argument polytheistische Anschauungen zugrunde liegen. Gott, im metaphysischen Sinne des Wortes, ist nicht ein Gattungsbegriff, sondern bezeichnet immer  das nur einmal vorhandene göttliche Wesen (unam numero essentiam divinam). Gibt man nun zu,, daß der Sohn Gottes seinem Wesen nach oder im metaphysischen Sinne des Wortes ϑεός sei, und nennt man dabei doch den Sohn Gottes „Gott im zweiten Sinne des Wortes", so hat man die tritheistische Vorstellung, daß es, wie drei verschiedene göttliche Personen, so auch drei dem Range und der Qualität nach verschiedene göttliche Wesen, einen obersten Gott und zwei Untergötter, gibt. Der Subordinatianismus ist ein offenbarer Rückfall in den heidnischen Polytheismus. Die Worte Joh. 14, 28: Ό πατήρ μου μείζων μου εστιν beschreiben Christum nach der menschlichen Natur, und zwar nach der menschlichen Natur im Stande der Erniedrigung, weil nach dem Kontext von einem Zustand Christi die Rede ist, der mit dem Gang zum Vater aufhört.44) Auf die Frage, wie bei der numerischen Einheit des göttlichen Wesens nur der Sohn Mensch werden konnte, ohne daß zugleich der Vater und der Heilige Geist Mensch wurden, kann man nur

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36) Hebr. 1, 10; Joh. 1, 3.

37) Kol. 1, 16. 17: Έν αντφ εκτίσϑη τά πάντα . . . και τά πάντα εν αντφ όννέατηκεν.

38) Joh. 21, 17.        39) Joh. 10, 28—30. 40) Joh. 5, 21. 28. 29.

41) Joh. 2, 11; 1, 14.        42) Joh. 5, 23; 20, 28; Phil. 2, 9 ff.

43) Abgesehen davon, daß die Lesart ϑεός 1 Tim. 3, 16; Apost. 20, 28, kritisch noch immer nicht gefallen ist (das Nähere bei der Lehre von Gott), sollte man doch die Sache umkehren und sagen, Christus werde sogar im Prädikat (ϑεός ήν δ λόγος, Joh. 1, 1) und im Vokativ (Hebr. 1, 8: δ βρόνος σου, δ θεός, εις τον αίώνα; Joh. 20, 28: δ κύριός μου και δ ϋ·εός μου) ϑεός genannt Und dazu noch mit den Näherbestimmungen δ άληΰινός ϑεός, 1 Joh. 5, 20, δ μέγας ϑεός Tit. 2, 13, δ ών επί πάντων ϑεός,  Röm. 9, 5. Auf das Prädikat, das einem Dinge beigelegt wird, kommt es doch bei einer Wesensbestimmung zunächst und vornehmlich an.

44) So richtig Luther, St. L. XI, 1079 f.


65  >        Ursachen der Leugnung der wahren Gottheit Christi.  [English ed. ~ 62–63]

mit Luther sagen: Ich wollte Wohl so klug sein als irgendein Ketzer, wenn ich das begreifen könnte.45) Alle Erklärungsversuche sind vom Übel. Der christliche Glaube hält auf Grund des Zeugnisses der Schrift zweierlei fest: 1. daß im Sohne Gottes nicht bloß ein Teil, sondern die ganze Fülle der Gottheit ist, Kol. 2, 9; 2. daß nicht der Vater, sondern nur der Sohn in der Fülle der Zeit Mensch wurde, Gal. 4, 4. 6. Das Nähere bei der Lehre von der Trinität.

Ursachen der Leugnung der wahren Gottheit Christi. Fragt man, weshalb die wahre Gottheit Christi trotz ihrer so klaren Bezeugung in der Schrift immer wieder geleugnet wird, so ist zu sagen, daß dies einmal aus rationalistischem Interesse geschieht. Denn ist Christus nicht wahrer Gott, sondern nur, wie die meinten, Johannes der Täufer, Elias, Jeremias oder der Propheten einer,46) so braucht man nicht das anerkanntermaßen große Geheimnis 47) zu glauben, daß δ νιος τον δνϑρώπον sei δ νιος τον ϑεον τον ζώντος, also eine Person Gott und Mensch, ϑεάνϑρωπος. Bezeichnend ist in dieser Beziehung die naive Bemerkung de Wettes, daß durch die Lehre von der wesentlichen Gottheit Christi die ganze Lehre von Christi Person „verwirrt" werde.48) Vornehmlich aber liegt der Leugnung der wahren Gottheit Christi ein pelagianisches Interesse zugrunde. Es ist der Wahn aller natürlich gesinnten Menschen, daß der Mensch durch eigene Werke in den Himmel kommen könne und müsse. Dieser Wahn bleibt dem Menschen so lange unbenommen,

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45) Luther: „Indem er (Johannes) spricht: ,Das Wort ward Fleisch', schließt er den Vater und Heiligen Geist aus und behält allein den Sohn; spricht: das Wort, so im Anfang war, ist Fleisch worden, nicht der Vater, noch Heilige Geist. Der Vater ist nicht Mariä Sohn, der Heilige Geist auch nicht. . . . Fragst du nun die Vernunft, warum der Sohn und nicht der Vater sei Mensch worden, die wird dich's freilich nicht berichten können, ja, wird zur Närrin darüber. Darum höre, was dir der Heilige Geist durch St. Johannen: sagt: das Wort sei Mensch worden und habe gelitten, und nicht der Vater 2c. Wie das zugeht, sollst du glauben, und nicht wissen, noch verstehen, sondern sparen bis an jenen seligen Tag unserer Erlösung. Die Vernunft stößt sich an diesem Artikel, wenn sie ihn messen und fassen will mit ihrer Klugheit, gedenkt: In der Gottheit ist ein einig, unzertrennlich Wesen; wie kann die mittlere Person allein Mensch werden und nicht alle drei? Ich wollte Wohl so klug sein als irgendein Ketzer, wenn ich diese Worte: ,Das Wort ward Fleisch' meines Willens wollte meistern. Es heißt geglaubt, nicht gesehen, gemessen oder gegriffen. . . . Darum lassen wir die andern zwo Personen nicht in die Menschheit mengen.” (St. L. VII, 2160 f.)

46) Matth. 16, 13 ff.        47) 1 Tim. 3, 16.

48) Dogmatik d. ev.-luth. K., S. 129.


66  >        Die Lehre von Christo.  [English ed. ~ 63–64]

als er Christum für einen bloßen Menschen hält und ihn daher nur als Tugendvorbild 2c. auffaßt. Ist in Christo aber Gott selbst im Fleisch erschienen, um als Gottmensch durch sein Tun 49) und sein Leiden 50) die Menschen zu erlösen, dann steht es unverrücklich fest, daß es mit allen Menschenwerken zur Erlangung des Heils, also mit der sogenannten Sittlichkeitsreligion, nichts ist und die Menschen nur unter gänzlichem Verzagen an eigener Sittlichkeit und eigenen Werken, allein durch das Vertrauen auf Christi gottmenschliches Verdienst (sola fide) vor Gott bestehen und selig werden können. Die wahre Gottheit Christi treibt den Pelagianismus und jede Form der Werklehre aus, worin jeder natürlich gesinnte Mensch gefangen liegt. Gewaltig schärft dies Luther ein. Er bemerkt zu Gal. 2, 20: „Diese Worte: ,der Sohn Gottes, ,er hat mich geliebett und: ,er hat sich selbst für mich dargegeben’, sind lauter Donnerschläge und Feuer vom Himmel wider die Gerechtigkeit des Gesetzes und die Lehre von den Werken. So große Bosheit, so großer Irrtum, Finsternis und Unwissenheft war in meinem Willen und Verstände, daß ich nur durch ein so unaussprechlich großes Lösegeld befreit werden konnte. Was rühmen wir also, daß unsere Vernunft uns recht leite, daß unsere natürlichen Kräfte unverletzt seien, daß unsere Vernunft zum besten geneigt sei, daß jeder tun müsse, soviel an ihm ist . . ., während ich doch hier höre, daß so viel Böses in meiner Natur ist, daß die Welt und alle Kreatur nicht genugsam gewesen ist, Gott zu versöhnen, sondern Gottes Sohn selbst dafür hat dargegeben werden müssen? . . . Willst du noch herzukommen mit deiner Kappe und Platte, mit deiner Keuschheit, Gehorsam, Armut? Was ist das alles? Ja, was ist das Gesetz Mosis und die Werke des Gesetzes? Was sind alle Werke und alle Leiden aller Märtyrer? Was ist aller Gehorsam der heiligen Engel gegen den Sohn Gottes, der dahingegeben ist, und zwar aufs schmählichste dargegeben ist, nämlich in den Kreuzestod, so daß sein allerköstlichstes Blut ganz und gar vergossen worden ist, und zwar für deine Sünden? Wenn du diesen Schatz ansähest, so solltest du ja alle Kappen, Platten, alle Gelübde, Werke, Verdienste nach Billigkeit und Verdienste nach Würdigkeit, verfluchen, in den Kot treten, verspeien, verwünschen und in die Hölle verstoßen. Darum ist es eine unerträgliche und schreckliche Gotteslästerung, wenn du irgendein Werk erdichtest, wodurch du dich vermissest, Gott zu versöhnen, da du siehst, daß er nicht anders versöhnt werden kann als durch diesen unermeßlichen und unendlichen Schatz, nämlich durch

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49) Gal. 4, 4. 5.        50) 1 Joh, 1, 7.


67  >        Die wahre Menschheit Christi.  [English ed. ~ 64–65]

den Tod und das Blut seines Sohnes, denn ein Tröpflein desselben ist köstlicher als alle Kreatur.51) Gewaltig treibt daher Luther gerade auch in seinen Predigten vor dem Volk „Christologie” und speziell den Artikel von der wahren, wesentlichen Gottheit Christi. In einer Predigt über das 23. Kapitel des Matthäusevangeliums sagt er: „Diese Texte soll man Wohl ansehen, auf daß wir fest behalten den Artikel von der Gottheit Christi, davon wir in unserm christlichen Glauben sagen und bekennen: ,Ich glaube an JEsum Christum, seinen eingebornen Sohn, unsern HErrn, der empfangen ist vom Heiligen Geist’ 2c. : . . Christus ist eine andere Person (als der Vater). Ob er gleich wohl nicht Vater ist, dennoch ist er Schöpfer Himmels und der Erden, hat göttlich Wesen und Natur und ist danach auch zeitlich von der Jungfrau Maria geboren; und dennoch sind nicht zween Christus noch Söhne, sondern ein JEsus, wie wir denn sagen: ,Und an JEsum Christum? der ein einiger Sohn, eine Person ist und gleichwohl zweierlei Naturen hat, die vereinigt sind in der einigen Person und in Christo. Das lehren uns die heiligen Evangelia und beweisen's auch; und wenn dieser Artikel wankt, so sind wir verloren. Der Türke und Rotten wollen dran und den Artikel nicht lassen gut sein. ... Darum habe gut Achtung auf diese und dergleichen Sprüche, denn wenn dieser Artikel verloren wird, so sind wir nicht mehr Christen. "52) Und in dieser Betonung der Gottheit Christi folgt Luther nur der Schrift, die den erlösenden Wert der Gesetzeserfüllung Christi und die versöhnende Kraft des Todes Christi darin findet, daß es die Gesetzeserfüllung und der Tod des Sohnes Gottes ist: Έξαπέστειλεν ό ϑεδς τον viov αντον . . . γενόμενον υπό νόμον, ΐνα τους υπό νόμον εξαγοράσγ] ;53) κατηλλάγημεν τφ ϑεω διά τον ϑανάτον τον νίον αν τον.54)

2. Die wahre Menschheit Christi. ^

Eine ausführliche dogmatische Darlegung der wahren und vollkommenen Menschheit Christi ist dadurch veranlaßt, daß man innerhalb der äußeren Christenheit die Menschheit Christi teils ganz leugnete, indem man Christo nur einen Scheinkörper zuschrieb,55)

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51) St. L. IX, 237 f. Ferner IX, 376 ff., besonders auch XVI, 1688 f., wo Luther in heiligem Zorn alle papistische Werklehre mit dem Hinweis aus des Sohnes Gottes Erlösungswerk niederschlägt.

52) St. L. VII, 1263 f.  53) Gal. 4, 4. 5.        54) Röm. 5, 10.

55) So die Doketen. Der Doketismus ist den gnostischen Systemen gemeinsam auf Grund des Wahnes, daß die Materie das Böse sei. Besonders scharf


68  >  [English ed. ~ 66]

teils doch verstümmelte, indem man Christo einen Leib ohne Seele 56) oder einen Leib und eine Seele ohne Geist 57) oder Leib und Seele ohne einen menschlichen Willen 58) oder überhaupt ein höheres geistliches, dem unsern nicht gleichwesentliches Fleisch 59) zuschrieb.

Die Schrift lehrt klar und deutlich die wahre und vollkommene Menschheit Christi (veritatem et integritatem humnae Christi naturae). Sie nennt Christum nicht nur άνϑρωπος 60) und ὁ υιός τον ανθρώπου,61) sondern bringt auch auf mannigfache Weise zum Ausdruck, daß sie damit nicht einen Scheinmenschen, sondern einen wesentlichen Menschen beschreibe. Wie Christus nach seiner göttlichen Natur μονογενής παρά πατρός ist,62) so ist er nach seiner menschlichen Natur εκ τών πατέρων Israels,63) deren menschliches Wesen auf ihn gekommen ist. Er heißt deshalb speziell Abrahams

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ausgeprägt tritt der Doketismus bei Marcion hervor. Die Menschheit Christi ist ihm nach Tertullians Bericht ein bloßes phantasma, jeder wirkliche Leib caro stercoribus infersa und jede Geburt eine foeditas. (Tert. adv, Marcionem III, 8. 10. 21.)

56) So die Arianer, άψυχοι. An die Stelle der menschlichen Seele sei bei Christo der λόγος, natürlich der arianische, getreten. Tendenz: ήν τον πάϑονς νόησιν και την εξ αδον άνάστασιν τη ϑεότητι προσάγειν (beizulegen) und so den λόγος zum Geschöpf zu machen. (Athanasius c. Apoll. II, 3.)

57) So Apollinaris, Bischof von Laodicea, f um 390, aus Grund der platonischen Trichotomie σώμα (Leib), ψυχή (animalisches Lebensprinzip), νους (die vernünftige Seele oder der Geist, der den Menschen vom Tier unterscheidet). An die Stelle des νους sei bei Christo der λόγος getreten. Der Apollinarismus verworfen aus zwei römischen Synoden unter Damasus 374 und 376 (Mansi III, 481. 502) und zu Konstantinopel 381, can. 1.

58) So die Monotheleten. Der Monotheletismus zuerst von Bischof Sergius von Konstantinopel im 7. Jahrhundert vertreten. Verworfen aus der Synode von Konstantinopel 680. Akten bei Mansi XI, 190 ff.

59) So der Gnostiker Valentinus ( um 150): Christus sei mit einem himmlischen, geistlichen, seiner würdigen Leibe durch Maria hindurchgegangen, wie Wasser durch einen Kanal, ohne aus Maria eine der unsern gleichwesentliche menschliche Natur anzunehmen. Ähnlich Schwärmer des 16. und 17. Jahrhunderts (Wiedertäufer, Weigelianer 2c.). Vgl. Dorner, Glbslehre II, 309 s. Sehr ausführliches Material bei Baumgarten, Theol. Streitigkeiten II, 2469 (Streit „von der himmlischen Menschheit Christi"). Belege auch bei Günther, Symbolik 2, S. 149 [Günther, Symbolik 3, S. 174]. Gegen die himmlische Menschheit der Wiedertäufer F. C., Art. XII, 5. 728. — Vom Standpunkt der Vermischung der Naturen aus äußerte sich auch Eutyches dahin: "Εως σήμερον ονκ εΐπον τό σώμα τον κυρίου και ϑεοϋ ήμών όμοονσιον ήμϊν. (Mansi V, 742.)

60) 1 Tim. 2, 5; Joh. 8, 40.        61) Matth. 8, 20 2c.

62) Joh. 1, 14.        63) Röm. 9, 5.


69  >        Die wahre Menschheit Christi.  [English ed. ~ 66–67]

Same,64) Davids Sproß,65) Mariä Sohn 66) 2c. Die Schrift überliefert uns sogar ein doppeltes menschliches Geschlechtsregister Christi.67) Daß Christus seine menschliche Natur nicht vom Himmel gebracht, sondern aus seinen israelitischen Vorfahren, speziell aus der Jungfrau Maria, an sich genommen habe, kommt in der Schrift noch besonders dadurch zum Ausdruck, daß er καρπός τής κοιλίας der Maria heißt.68) Außerdem nennt die Schrift gelegentlich die einzelnen Bestandteile der menschlichen Natur Christi: den Leib, σώμα,69) σάρκα και όστεα,70) die Seele, ψυχή,71)  den Geist, τό πνεύμα,72) den menschlichen Willen, τό ϑέλημα.73) Alles zusammenfassend, sagt die Schrift Hebr. 2, 14: επεί τά παιδία κεκοινώνηκε σαρκός και αίματος, και αυτός (Christus) παραπλησίως μετέσχε των αυτών, ηαΐηίΐφ σαρκός καί αίματος.74)

Wer daher die wahre Menschheit Christi leugnet, tut dies aus andern als Schriftgründen. Auch hier liegt Rationalismus und Pelagianismus zugrunde. Rationalismus, indem man die Verbindung zwischen Gott und einem stofflichen menschlichen Leibe überhaupt für unziemlich und unmöglich erklärte,75) oder doch meinte, daß der Zusammenschluß zu einer persönlichen Einheit nicht Zustandekommen könne, wenn man der menschlichen Natur Christi auch eine vernünftige menschliche Seele (νοϋς) und einen menschlichen Willen

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64) 1 Mos. 22, 18: Gal. 3, 16.        65) Jer. 23, 5.        66) Luk. 2, 7.

67) Matth. 1, 1 ff. zeigt Christum als erbrechtlichen Sohn Davids, Luk. 3, 23 ff. als natürlichen Sohn Davids. Auch das erbrechtliche Register beweist indirekt die menschliche Natur Christi, insofern nur ein Mensch mit andern Menschen erbrechtlich verbunden sein kann.

68) Luk. 1, 42.        69) Joh. 2, 21.        70) Luk. 24, 39.

71) Matth. 26, 38.        72) Luk. 23, 46.

73) Luk. 22, 42: μη τό ϑέλημά μου, άλλα τό σόν γενέσϑω..

74) Nach dem Kontext „handelt es sich hier gerade um Hervorhebung verwahren und vollen Menschheit des Sohnes Gottes” (Moll). — Baier faßt die Schriftlehre von der wahren Menschheit Christi so zusammen: Christus est verus homo, nobis consubstantialis. Sic enim Scriptura eum expresse nominat hominem, 1 Tim. 2, 5; Joh. 8, 40. Filium hominis octogies bis in Scriptura appellari constat. Eo etiam pertinent appellationes de semine mulieris, Gen. 3, 15, semine Abrahae, Gen. 22, 18,– Gal. 3, 16, germine Davidis, Jer. 23, 5. Tribuuntur etiam Christo partes essentiales liominis: anima quidem, Matth. 26, 38; Luc. 23, 46, corpus humanum, Joh. 2, 21, caro, sanguis et ossa, Ebr. 2, 14; Luc. 24, 39. Denique genealogia ejus recensetur, quoad lineam ascendentem quidem Luc. 3, 23 sqq., quoad descendentem Matth. 1, 1 sqq. (Comp. III, 20 sq.)

75) Gnostiker.


70  >  [English ed. ~ 67–]

zuschreibe.76) Pelagianismus liegt der Leugnung und Verstümmelung der menschlichen Natur Christi zugrunde, indem man die Notwendigkeit einer stellvertretenden Genugtuung Christi nicht erkannte. Beim Gnostizismus fehlen alle Voraussetzungen für die biblische Lehre von einer satisfactio vicaria. Er kennt bei seinem Dualismus keine auf dem Menschen lastende Sünden schuld, sondern nur einen in den Menschen eingedrungenen Sündenstoff (Hyle). Die Erlösung durch Christum besteht ihm daher nicht in der Tilgung einer Sündenschuld, sondern in einer durch Christum angeregten Ausscheidung des Sündenstoffes.77) Aber auch bei der Verkürzung und Verstümmelung der menschlichen Natur Christi, wie sie bei den Apollinaristen, Eutychianern, Monotheleten, Weigelianern 2c. vorliegt, ist die Notwendigkeit der satisfactio vicaria in den Hintergrund getreten. Man vergißt, daß der Erlöser nicht bloß im Fleische erscheinen, sondern in dem angenommenen Fleische Arbeit (עֲמַ֤ל [HEBREW]) verrichten mußte.78) Der Erlöser mußte an Stelle der Menschen sowohl unter die Pflicht als unter die Strafe des den Menschen gegebenen und die Menschen verbindenden Gesetzes treten.79) Dies konnte er aber nur, indem er durch Annahme einer vollkommenen menschlichen Natur allerdinge den Menschen gleich wurde, nur ohne Sünde. Die Schrift betont daher in der Beschreibung des Erlösungswerks, wie die wahre Gottheit, so auch die wahre, vollkommene Menschheit Christi, indem sie den Erlöser und Mittler nicht nur Mensch, Menschensohn, Davids Sohn, Mariä Sohn 2c. nennt, sondern ihn auch in allen Eigenarten und Betätigungen der mensch

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76) Apollinaristen und Monotheleten. Apollinaris (nach Gregor von Nyssa): EI μετά τον θεόν, ψηοί, νον δντος και ανθρώπινος νους ήν εν Χριστώ, ούκ άρα έπιτελεΐται εν αντφ τό τής σαρκώσεως εργον. — Εί άνθρώπφ τελείω συνήφθη θεός τέλειος, δυο αν ήσαν, εις μεν φύσει νιος θεόν, εις δε θετός. (Antirrheticus adv. Apollinarem, c. 38. 39. Bei Schmid-Hauck, Dogmengesch., S. 81.) Die Monotheleten argumentierten so: Αδύνατον ενι και τφ αντφ νποκειμένω δύο άμα και κατά ταυτόν νψεστάναι θελήματα. (Vgl. Sergii ep. ad Honorium, Mansi Xi, 529 ff.)

77) Die moralisch ernsteren Gnostiker wollten dies auf dem Wege der Askese bewirken.

78) Ies. 53, 11: מֵעֲמַ֤ל נַפְשֹׁו֙ יִרְאֶ֣ה יִשְׂבָּ֔ע [HEBREW].  Vgl. zu diesen Worten L. u. W. 56, 246 f.: „Der Ausdruck עֲמַ֤ל נַפְשֹׁו֙ [HEBREW] weist auf das Leiden und Sterben Christi zurück. עֲמַ֤ל [HEBREW] vereinigt in sich die Begriffe Arbeit und Mühe. Christi Leiden war eine mühevolle Arbeit. Und seine Seele hat gearbeitet. Christus hat mit allen Kräften Leibes und der Seele gearbeitet” 2c.

79) Gal. 4, 4. 5; 3, 13.


71  >        Die wahre Menschheit Christi.  [English ed. ~ 68]

lichen Natur uns vor Augen führt und ihn alle Kräfte Leibes und der Seele in den Dienst der Erlösung.stellen läßt. Seine Seele (נַפְשׁ [HEBREW]) hat gearbeitet: 80) er kniet nieder und betet;81) er trauert und zagt; 82) seine Seele ist betrübt bis an den Tod; 83) sein Schweiß ist wie Blutstropfen; 84) seinen menschlichen Willen (τό ϑέλημά μου) untergibt er dem Willen des Vaters; 85) ihn dürstet; 86) an seinem Leibe (εν τφ σώματι αυτού) hat er unsere Sünden auf dem Holz geopfert.87) Zu diesem Erlösungsgeschäft taugt entschieden nicht ein sogenanntes „himmlisches", dem unsern nicht gleichwesentliches Fleisch und eine menschliche Natur ohne eine vernünftige Seele und ohne einen menschlichen Willen. Die alten Lehrer gehen daher nicht über die Schrift hinaus, wenn sie in mannigfacher Weise zum Ausdruck brachten, daß mit der Leugnung der wahren und vollkommenen Menschheit Christi auch das Erlösungswerk Christi dahinfalle. 88) Gegen die Verkürzung der menschlichen Natur Christi ist auch der bekannte Satz Gregors von Nazianz gerichtet: Τό άπρόαληπτον άϑεράπευτον. Die lutherischen Lehrer nehmen den Satz auf und weisen nach, daß es Schriftverkehrung ist, wenn man aus Schriftstellen wie Röm. 8, 3 (εν όμοιώματι σαρκός αμαρτίας), Phil. 2, 7 (σχήματι εϋρεϑεις ώς ανϑρωπος), Joh. 6, 41 (ό άρτος δ καταβάς έκ τον ουρανού) 2c. erweisen wollte, daß Christi menschliche Natur der unsern nicht gleichwesentlich sei.89) Zur Wahrheit der mensch

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80) Ies. 53, 11.        81) Luk. 22, 41.        82) Matth. 26, 37.

83) Matth. 26, 37.        84) Luk. 22, 44.        85) Luk. 22, 42.

86) Joh. 19, 28.        87) 1 Petr. 2, 24.

88) Tertullian (Adv. Mare. III, 8): Iam nunc, cum mendacium deprehenditur Christi caro, sequitur ut et omnia, quae per carnem Christi gesta sunt, mendacio gesta sint . — Kyrill von Jerusalem (Catech. 4): Ei φαντασία ήν ή ενανϑρώπησις, φαντασία και ή σωτηρία.

89) Gerhard, De persona et off. Christi, § 86 sq. Gerhard teilt auch mit, wie die Kirchenväter die angeführten Stellen richtig verstanden haben. Er selbst sagt zu Röm. 8, 3: Non dicit apostolus simpliciter, quod miserit Deus Filium in similitudine camis, sed quod miserit eum in similitudine carnis peccati, id est, peccato obnoxiae. Sensus igitur est, quod caro Christi similis quidem fuerit carni peccatrici, non tamen peccatrix fuerit; vox enim ομοιώματος non ad carnem, sed ad determinationem adjectam τής αμαρτίας pertinet, nec excludit naturae humanae veritatem, sed peccati foeditatem, unde in fine versiculi pro εν όμοιώματι σαρκός ponitur εν σαρκί.. — Philippi zu Röm. 8, 3: „Christus erschien nicht εν σαρκί αμαρτίας, welches die ebionitische, noch εν όμοιώματι σαρκός, welches die doketische, sondern εν όμοιώματι σαρκός αμαρτίας, welches die biblisch-paulinische Anschauungsweise ist. Σάρξ ist hier offenbar die ganze Menschennatur, wie Joh. 1, 14 2c. nach Leib und Seele. . . . Christus nun konnte wohl εν σαρκί, aber nicht εν σαρκί


72  >  [English ed. ~ 69]

lichen Natur Christi gehört auch, daß sie Kreatur ist. Als Schwenkfeld dies leugnete, setzte man ihm beim Konvent zu Schmalkalden 1537 die Erklärung entgegen: Improbamus Svencfeldii delirium et dicimus, humanam naturam in Christo et manere et esse creaturam, ut Johannes inquit: „Verbum caro factum est.” 90) Kurz,

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αμαρτίας  erscheinen, denn er mußte  χωρίς άμαρτίας, Hebr. 4, 15 2c., sein, um eben zum κατακρίνειν την αμαρτίαν εν τη σαρκί befähigt zu sein.” Gerhard zu Phil. 2, 7: Illud σχήμα non opponitur veritati sive substantiae carnis, sed subsecutae glorificationi. . . . Apostolo enim non fuit propositum docere, qualis fuerit humana natura Christi ratione essentiae, sed qualem se Christus in externa conversatione durante exinanitionis statu gesserit. Joh. 6, 41 bezieht sich nach dem Kontext aus Christum nicht nach der menschlichen, sondern nach der göttlichen Najur. Gerhard: Descriptiones divinae naturae non sunt opponendae veritati humanae naturae. Ergo ex eo, quod Christus dicitur descendisse de coelo, Ioh. 3, 13, Filius hominis de coelo, Ioh. 6, 62, non probatur, quod corpus sidereum ac coeleste in uterum virginis intulerit, sed quod δ λόγος carnem assumserit. (1. c., § 90.)  Trefflich legt negativ und positiv Äg. Hunnius dar, wie das vom Himmel Kommen Christi nach der Schrift aufzufassen sei: Primo, non ita descendit Filius Dei de coelo, ut naturam suam humanam sive carnem de coelo detulerit, sicut Valentiniani somniarunt. Deinde neque sic intelligitur is descensus, quasi λόγος, juxta suam divinitatem, instante jam tempore illo incarnationis, de summo aliquo coelo motu locali vel descenderit vel devolarit et in uterum virginis se immiserit, ut ibi carnem assumeret. Etenim λόγος, ratione Suae essentiae infinitus et cum Patre et Spiritu Sancto essentialiter coelum et terram implens, de loco in locum moveri et transferri nulla ratione potest. Quemadmodum etiam, ut homo fieret, tali descensu e supremo aliquo coeli loco in infimum non indiguit, cum et ante incarnationem essentialiter in Maria, sicut et in caeteris creaturis omnibus, fuerit et, ubicunque λόγος est, ibidem coelum suum regnumque coeleste secum habeat, sed hoc tantum ad illam ένσάρκωσιν opus ei fuit, ut qui ante et extra incarnationem praesentissimus erat Mariae virgini, nunc in incarnatione humanam ex ea naturam assumeret sibique in personae unitatem inseparabiliter copularet. Tertio igitur, Filius eodem plane modo de coelo descendit, quo Joh. 16 a Patre exiisse scribitur, non certe, quod λόγος ratione divinitatis unquam vel Patrem deseruerit, in cujus sinu perpetuo residet, sicut inquit Philippo: „Non credis, quod Pater in me est et ego in Patre“; nec quod λόγος divinitate sua coelum unquam deseruerit aut ab administratione coeli ad tempus recesserit, sed quemadmodum Deus ipse Gen. 11, 5; Exod. 19 et aliis in locis Scripturae descendere dicitur de coelo non deserendo locum, a quo nunquam essentia sua recedit, sed visibili aliquo et conspicuo signo seu revelatione in terris sese manifestando: sic Dei Filius de coelo in terras descendit, eum in terris humanam naturam assumit et in ea se manifestat, 1 Tim. 3. (Libelli quatuor de pers. Christi, 1590, p. 24 sq.. Bei Baier, ed. W., III, 23.)

90) Bei Gerhard, l. c., § 98. [Günther, Populäre Symbolik, p. 174; Pop. Symbolics, p. 322].


73  >        Die wahre Menschheit Christi.  [English ed. ~ 69–70]

die christliche Kirche hat auf Grund der Schrift von allem Anfang und zu allen Zeiten, wie die wahre Gottheit, so auch die wahre, vollkommene Menschheit Christi festgehalten.91) Der Satz des Chalcedonense, daß Christus nach seiner göttlichen Natur dem Vater όμοούσιος und nach der menschlichen Natur uns Menschen όμοούσιος sei, gibt nur die klare Schriftlehre wieder. Daß bei dieser Bestimmung όμοούσιος im Verhältnis zum Vater die Wesenseinheit der Zahl nach (secundum numerum) und im Verhältnis zu den Menschen die Wesenseinheit nur der Art nach (secundum speciem) bezeichnet, liegt in der Natur der Sache. Das göttliche Wesen ist nur einmal vorhanden, während das menschliche Wesen in so viel Exemplaren vorhanden ist, als es Personen gibt.92)

Um auf die praktische Wichtigkeit der wahren Gottheit und der wahren Menschheit Christi für das Werk der Erlösung hinzuweisen, fügen hier die kirchlichen Lehrer oft noch die besondere Frage an: „Warum mußte Christus zugleich wahrer Gott und wahrer Mensch sein?" Die Antwort lautet bei unwesentlicher Verschiedenheit

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91) Schmid-Hauck, Dogmengesch., S. 74: „Von Anfang an bildete der Glaube, daß Christus beides sei, Gott und Mensch, einen Bestandteil der kirchlichen Gemeinüberzeugung, und zwar betrachtete man seine wahre Gottheit und seine wahre Menschheit als gleich notwendig für den Vollzug des Erlösungswerkes.” beides, die wahre Gottheit und die wahre Menschheit, ist im zweiten Artikel des Apostolischen und des Nicänischen Symbolums durch die Christo beigelegten Prädikate ausgesprochen. Das Chalcedonense bekennt unter besonderer Berücksichtigung der vorangegangenen Streitigkeiten Christum als τέλειον τον αυτόν έν ϑεότητι και τέλειον τον αυτόν έν άνϑρωπότητι, ϑεόν άληϋώς καί άνϑρωπον άληϋ’ώς τον αυτόν εκ ψυχής λογικής καί σώματος, όμοούσιον τφ πατρί κατά την ϑεότητα, καί όμοούσιον τον αυτόν ήμΐν κατά την άνϑρωπότητα, κατά πάντα δμοιον ήμΐν χωρίς αμαρτίας. Im Athanasianum heißt es: Est ergo fides recta, ut credamus et confiteamur, quod Dominus noster Iesus Christus Dei Filius, Deus et homo est: Deus ex substantia Patris ante saecula genitus, et homo ex substantia matris in saeculo natus; perfectus Deus, perfectus homo ex anima rationali et humana carne subsistens. Luther in der Erklärung zum zweiten Artikel: „Ich glaube, daß JEsus Christus, wahrhaftiger Gott, vom Vater in Ewigkeit geboren, und auch wahrhaftiger Mensch, von der Jungfrau Maria geboren, sei mein HErr, der mich verlorenen und verdammten Menschen erlöset hat” 2c.

92) Quenstedt: Distinguendum inter όμοουσίαν, quatenus notat unitatem essentiae tantum secundum speciem, et hoc sensu Christus secundum humanam naturam nobis est όμοούσιος, — et όμοουσίαν, quatenus notat unitatem essentiae secundum numerum, et hoc sensu secundum divinam naturam Patri est όμοούσιος, nobis vero secundum humanam naturam non est όμοούσιος. (Syst. I, 178.)


74  >        Die Lehre von Christo.  [English ed. ~ 70–71]

im Wortlaut wie bei Dietrich: „Ein Mensch mußte er sein, damit er leiden und sterben könnte; weil aber kein bloßer Mensch die Sünde des menschlichen Geschlechts samt dem Zorn Gottes und Fluch des Gesetzes tragen, noch der unendlichen göttlichen Gerechtigkeit genugtun, auch nicht den Tod, Teufel und Hölle überwinden konnte, mußte er auch zugleich wahrer Gott sein.” 93) Daß diese Antwort nicht eine „dogmatische Konstruktion", nicht eine zu „juridische" menschliche Auffassung 2c. sei, sondern nur die Schriftlehre wiedergibt, ging uns schon daraus hervor, daß die Schrift die Erlösung sowohl auf die wahre Gottheit als auch auf die wahre Menschheit Christi gründet 94) und die Möglichkeit der Erlösung durch einen bloßen Menschen ausdrücklich leugnet.95) Näheres hierüber ist bei der Lehre von der Mitteilung der Eigenschaften und vom Werke Christi zu sagen. Im voraus sei hier noch an ein Wort Luthers erinnert: „Wir Christen müssen das wissen: Wo Gott nicht mit in der Wage ist und das Gewichte gibt, so sinken wir mit unserer Schüssel zugrunde. Das meine ich also: Wo es nicht sollte heißen: Gott ist für uns gestorben, sondern allein ein Mensch, so sind wir verloren. Aber wenn Gottes Tod und Gott gestorben in der Wageschüssel liegt, so sinkt er (Christus) unter, und wir (wir Menschen) fahren empor als eine leichte, ledige Schüssel. Aber er kann Wohl auch wieder emporfahren oder aus seiner Schüssel springen. Er könnte aber nicht in die Schüssel sitzen, er müßte uns gleich ein Mensch werden.” 96) Wer freilich die Notwendigkeit einer satisfactio vicaria leugnet, dem ist sowohl die wahre Gottheit als auch die wahre Menschheit Christi im Grunde gleichgültig.

Der Menschensohn. ^  Der Ausdruck „Menschensohn” (6 νίός τον άνϑρώηον) hat eine große Literatur hervorgerufen, und die „theologischen Untersuchungen" darüber haben sehr verschiedene Resultate gezeitigt. Dies hätte nicht der Fall sein sollen, da wir gerade über diesen Ausdruck eine ausdrückliche Erklärung Christi selbst haben,

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93) Kleiner Katechismus. St. Louis, Mo. 1904, S. 133. Institutiones Catecheticae ed. Dieckhoff, Berolini 1864, S. 289. Gerhard, L. de pers, § 41. Synodalkatechismus, engl. Ausgabe (St. L. 1906, S. 81 f.): “Why was it necessary that our Redeemer should be true man? That He might be capable of fulfilling the Law, of suffering and dying, as all men’s Substitute, Hebr. £, 14. Why was it necessary that He should be true God? That He might be sufficient to appease the wrath of God and to overcome sin, death, and the devil.”

94) Gal. 4, 4. 5; Röm. 5, 10; 1 Joh. 1, 7; 3, 8; 1 Mos. 3, 15; Luk. 9, 56.

95) Ps. 49, 8. 9; Röm. 8, 3. 4.        96) St. L. XVI, 2231.


75  >  [English ed. ~ 71]

Matth. 16, 13—17. An dieser Stelle hält Christus, wie bereits oben bemerkt wurde, mit seinen Jüngern eine Katechese über den Begriff ό νίός τον άνϑρώπον und stellt unter Abweisungder falschen Begriffe (Johannes der Täufer, Elias, Jeremias oder der Propheten einer) den rechten Begriff dahin fest, daß der νίός τον άνϑρώπον der νίός τον ϑεον τον ζώντος sei (V.  16).  Der Menschensohn ist also der wunderbare Sproß des Menschengeschlechts, in welchem der Sohn Gottes Mensch geworden ist. Auf denselben Begriff führen die Prädikate, welche die Schrift sonst dem Menschensohn als Subjekt beilegt. Wir finden nämlich, daß die Schrift von dem Menschensohn als Subjekt einerseits die ganze Reihe der menschlichen, andererseits die ganze Reihe der göttlichen Prädikate aussagt. Der Menschensohn ist arm,97) ißt und trinkt,98) wird geschmäht, leidet und stirbt.99) Andererseits: Der Menschensohn sieht die Gedanken des Herzens,100) vergibt die Sünden,101) ist der.HErr des Sabbats,102) sitzt zur Rechten Gottes als Herrscher des Universums,103) kommt wieder in göttlicher Herrlichkeit, zu richten,die Lebendigen und die Toten.104) Hiernach ist der Menschensohn weder der „Idealmensch", noch „die Blüte der Menschheit", noch ein ähnlicher bloßer Mensch, sondern der einzigartige, wunderbare Mensch, in dem der Sohn Gottes im Fleische erschienen ist, damit er die Werke des Teufels zerstöre.105) Ausdruck und Sache sind bereits im Alten Testament gegeben.106)

Besonderheiten der menschlichen Natur Christi. ^  Trotz der Wesensgleichheit mit den Menschen kommen Christi menschlicher Natur Besonderheiten zu, auf die die Schrift sehr nachdrücklich hinweist.

1. Entstehung der menschlichen Natur Christi durch Wirkung des Heiligen Geistes. Während alle Menschen seit Adam und Eva ihre menschliche Natur durch natürliche Abstammung von einem Elternpaar, von Vater und Mutter, emp

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97) Matth. 8, 20.        98) Matth. 11, 19.

99) Matth. 17, 12. 22. 23; 20, 18. 19.

100) Matth. 9, 2. 4.        101) Matth.   9, 6.        102) Matth. 12, 8.

103) Matth. 26, 63. 64; Dan. 7, 13. 14.

104) Matth. 25, 31 ff.        105) 1 Joh. 3, 8.

106) Dan. 7, 13. 14. Gerhard: Christus dicitur Filius hommis  1. propter propheticam denominationem, Dan. 7, 13. Ut ex Daniele sumta fuit usitata tunc appellatio Messiae, ita ex eodem propheta vulgari consuetudine Messias dictus fuit Filius hominis, ille scilicet, quem Daniel in visione prophetica describit. (De pers., § 80.)


76  >  [English ed. ~ 72]

fangen, stammt Christus nicht von einem Elternpaar, nämlich nicht von Joseph und Maria, ab, sondern nur von Maria, und zwar von Maria, der Jungfrau. Die Heilige Schrift schreibt die Wirkung, nach welcher Maria, die Jungfrau, den Sohn Gottes nach der menschlichen Natur empfing, ausdrücklich dem Heiligen Geist zu, Matth. 1, 18: ενρέάη (Maria) εν γαστρι εχουσα εκ πνεύματος άγιον; V. 20: τό εν αυτή γεννηϋεν εκ πνεύματός έστιν άγιου. Während das εκ in V. 16, nämlich in den Worten: εξ ής (Μαρίας) έγενετό Ιησούς, die materia bezeichnet, bezeichnet es in den Worten εκ πνεύματος άγιον die cansa efficiens.107) Hiernach wirkte der Heilige Geist auf wunderbare Weise so auf die Jungfrau Maria ein, daß sie, die Jungfrau, Die Mutter des Sohnes Gottes nach der menschlichen Natur wurde. Conceptio miraculosa. Luk. 1, 35 beschreibt den wunderbaren Vorgang so: Πνεύμα άγιον έπελεύσεται επί σε και δύναμις νηηστον επισκιάσει σοι. Daher heißt Christus 1 Mos. 3, 15 זַרְעָ֑הּ  [HEBREW],ihr, des Weibes, Same, und von Maria heißt es Ies. 7, 14: הָעַלְמָ֗ה הָרָה֙ [HEBREW], und im Zitat im Neuen Testament, Matth. 1, 23: ή παρϑένος εν γαστρι εξει.  Die christliche Kirche hat von allem Anfang an (Gegensatz: die Ebioniten) die Empfängnis vom Heiligen Geist und die Geburt aus Maria, der Jungfrau, geglaubt und bekannt. Apostolisches Symbolum: Conceptns est de Spiritu Sancto, natus ex Maria virgine.108)  An diesem Bekenntnis hält die Christenheit auch dem modernen Gegensatz gegenüber (Harnack, Crapsey 2c.) fest. Ruft man dagegen die „Naturgesetze" an, so ist darauf Luk. 1, 34—37 ein für allemal geantwortet: ούκ άδννατήσει παρά ϑεω παν ρήμα, womit

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107) Meyer zu Matth. 1, 18: „Hier ist das πνεύμα άγιον das Wirkende der menschlichen Existenz Christi, durch dessen nur in diesem einzigartigen Falle so eingetretene Tätigkeit die Entstehung des Embryo im Schöße der Maria ursächlich hergestellt ist im Gegensatz menschlicher Erzeugung, so daß diese dabei ausgeschlossen ist.” Auch die gesperrte Stellung in V. 20: εκ πνεύματός έστιν άγιον legt auf πνεύματος im Gegensatz zu einer natürlich-menschlichen Entstehung den Ton. Gerhard: Cum dicimus de Maria, est de materiale; cum dicimus de Spiritu Sancto, est de potentiale. (De pers., § 107.)

108) Nicänisches Symbolum: Incarnatus est de Spiritu Sancto ex Maria virgine. Im Chalcedonense: εκ Μαρίας τής πσρϑένον. (Mansi

VII, 116.) Ebenso in den frühesten Schriften aus der nachapostolischen Zeit; vgl. Schmid-Hauck, Dogmengesch., S. 14 ff. Leo (Serm. 2. de nativ. Salv.): Origo in Salvatore nostro dissimilis, sed natura consimilis. Si veritatem quaeris humanae naturae, cognosce materiam. Si rationem scrutaris originis, virtutem confidere divinam. (Bei Gerhard, l. c., § 90.)


77  >        Besonderheiten der menschlichen Natur Christi.  [English ed. ~ 72–73]

sich jeder Christ tatsächlich zufrieden gibt, wie Maria (V. 38), und jeder vernünftige Mensch, der einen allmächtigen Gott glaubt und richtige Begriffe von „Naturgesetzen" hat, zufrieden geben sollte.109)

2. Die Sündlosigkeit der menschlichen Natur Christi ^  (άναμαρτησία). Während alle Menschen seit Adams Fall Sünder sind, ονκ έ'στιν δίκαιος ον δε εις, Röm. 3, 10; πάντες ήμαρτον, Röm. 3, 23, so ist Christus nach seiner menschlichen Natur ohne Sünde: αμαρτίαν ονκ έποίησεν ουδέ ενρέϑη δόλος εν τω οτόματι αντον, 1 Petr. 2, 22. Die Tatsache der Sündlosigkeit lehrt die Schrift Alten und Neuen Testaments aufs klarste: Ies. 53, 9: לֹא־חָמָ֣ס עָשָׂ֔ה וְלֹ֥א מִרְמָ֖ה בְּפִֽיו [HEBREW]; Dan. 9, 24: קֹ֥דֶשׁ קָֽדָשִֽׁים [HEBREW]; Luk. 1, 35 το άγιον;  Joh. 8, 46: Τις εξ υμών ελέγχει με περί αμαρτίας; 2 Kor. 5, 21: ό μη γνονς αμαρτίαν; 1 Petr. 1, 19: αμνός αμωμος και άσπιλος; 1 Petr. 2, 22: αμαρτίαν ονκ έποίησεν κτλ.; Hebr. 7, 26: δσιος, ακακος, αμίαντος, κεγωρισμένος από των αμαρτωλών; Hebr. 4, 15: πεπειρασμένος κατά πάντα καϑ’ ομοιότητα χωρίς άμαρτίας.

Aber nicht nur die Tatsache, sondern auch die Notwendigkeit der Sündlosigkeit Christi zur Ausrichtung des Erlösungswerkes lehrt die Schrift. Hebr. 7, 26. 27: τοιοντος ήμΐν έπρεπεν άρχιερενς δσιος, ακακος κτλ. Darauf beruht die Loskaufung, die durch Christum geschehen ist, 1 Petr. 1, 19: έλνϑρώτητε . . . αΐματι ώς άμνον άμώμον καί άσπιλον Χρίστον.  Wenn Christus Ps. 69, 6 Sünde und Schuld bekennt 110) und im Gewissen fühlt, Matth. 27, 46; 26, 37. 38, so ist das nicht eigene, sondern die ihm zugerechnete Sünde der Welt (peccatum imputatum), wie die Schrift wiederum ausdrücklich erklärt, Ies. 53, 6: „Der HErr warf unser aller Sünde auf ihn", und 2 Kor. 5, 21: τον μη γνόντα αμαρτίαν νπερ

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109) Baier zu Luk. 1, 34 ff.: Maria angelum, conceptionis Messiae in se virgine jamjam futurae nuncium interrogat: quomodo erit istud? agnoscens, naturaliter impossibile esse hoc, ut ipsa, virum non cognoscens, concipiat tamen et pariat; angelus autem Mariae in eo consentit et simpliciter ad Dei omnipotentiam respiciendum esse docet. (Comp. III, 29.) Was die „Naturgesetze” betrifft, so ist nicht Gott an sie gebunden, sondern die Naturgesetze find an Gott gebunden, weil die Naturgesetze nichts anderes find als Gottes Wirken in den Kreaturen und durch die Kreaturen. Vgl. 1 Mos. 1, 11. 12; Ps. 104, 13. 14.

110) Gegen die Beziehung von Ps. 69, 6 („Gott, du weißt um meine Torheit, und meine Schulden find vor dir nicht verborgen") auf Christum kann man nur so lange etwas haben, als man mit dem schriftgemäßen Begriff der Stellvertretung nicht Ernst macht. Das Nähere bei der Lehre von Christi Werk.


78  >  [English ed. ~ 73–74]

ήμων αμαρτίαν έποίησεν. Ursache der Sündlosigkeit ist nicht die Bewahrung einer massa sancta in Israel,111) auch nicht eine Evolution vom Unheiligen zum Heiligen, als ob auf dem Wege natürlichen oder geistlichen Strebens aus sündlichen Vorfahren sich allmählich und schließlich ein sündloses Individuum des Menschengeschlechts entwickelt habe,112) auch nicht die Sündlosigkeit (immaculata conceptio) der Maria, die Pius IX. am 8. Dezember 1854 dekretiert hat, sondern die Tatsache, daß Maria εκ πνεύματος αγίου Christi Mutter nach der menschlichen Natur wurde, Luk. 1, 35: „Der Heilige Geist wird über dich kommen” 2c.; διό καί το γεννώμένον άγιον κληϑήσεται υιός ϑεοϋ. Freilich gehört die Sünde nicht zum Wesen der menschlichen Natur. Luther: Sunt peccatnm et mors mala separabilia.113) Aber die Trennung der Sünde von der Menschennatur steht auch nicht zum tausendsten Teil in der Menschen Macht, sondern ist lediglich ein Werk der Gnade und Allmacht Gottes. So ist auch die Aussonderung der heiligen Menschennatur Christi aus der sündigen Menschennatur der Jungfrau Maria ein Werk Gottes des Heiligen Geistes. Gewaltig führt dies Luther aus. Er weist den Menschengedanken von der Fortpflanzung einer massa sancta in Israel zurück. Alle Vorfahren Christi, die Jungfrau Maria eingeschlossen, gehörten zum sanguis corruptus. Erst im Moment der Empfängnis sonderte der Heilige Geist ex sanguis corrupto eine heilige Menschennatur ab. Zugleich weist Luther auf den Trost hin, der für erschrockene Sünder darin liegt, daß Christus assumsit carnem sive naturam humanam ex carne contaminata et horribiliter polluta,  und daß die Schrift unter den menschlichen Vorfahren Christi auch solche Personen nennt, die sich mit groben Sünden befleckt haben.114) — An die Erörterung der Sündlosigkeit

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111) Scholastiker 2c.

112) Selbst Olshausen, obwohl er an dem εκ πνεύματος άγιον festhält, meint: „Die Jungfrau, welche zur Mutter des Messias erkoren ward, konnte nicht plötzlich geboren werden in dem sündigen Geschlecht; sie war, obwohl nicht ohne Sünde, doch die reinste des damaligen Geschlechts. . . . Wie wir nämlich in der Entwicklung der Menschheit einzelne Geschlechter in wachsender Sünde und Bosheit gewahren, so finden wir auch Stämme, in denen die edelsten Keime des Lebens von Geschlecht zu. Geschlecht gehegt und gepflegt werden.” (Kommentar I, 42.) Ganz anders Luther. (Vgl. unten.)

113) Opp. ex. IX, 174.

114) St. L. II, 1170 ff.; Opp. ex. IX, 173 sqq: Respexit Spiritus Sanctus (in dem Bericht über die Sünde Judas, 1 Mos. 38) ad Messiam et nativitatem Filii Dei, quae est principalior causa. Nam hunc lapsum oportuit fieri


79  >  [English ed. ~ 75]

Christi haben sich noch zwei Fragen geschlossen: 1. War Christus nach seiner menschlichen Natur auch frei von der Erbschuld? 2. War Christus nach seiner menschlichen Natur auch der Möglichkeit des Sündigens entnommen? Man hat es schwierig gefunden, klarzustellen, wie Christus, wenn er wahrer Mensch war, von der Erbschuld (reatus peccati Adamitici) frei blieb; die nach Röm. 5, 12 ff. auf allen Menschen lastet: δι ενός παραπτώματος εις πάντας άν’ϑρώπους εις κατάκριμα . . . διά της παρακοής τον ενός ανϑρώπου αμαρτωλοί κατεστάϑησαν οι πολλοί, V. 18. 19. Darauf ist zunächst zu sagen: Wenn wir auch das Wie nicht klarstellen könnten, so ist doch die Tatsache, daß Christus für seine Person auch von der Erbschuld frei war, in der Schrift klar bezeugt. Sie ist

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in illa ipsa linea, in qua nasciturus erat Filius Dei. Summus patriarcha Iuda, pater Christi, hunc infandum incestum commisit, ut nasceretur Christus de carne excellenter peccaiite et turpissimo peccato contaminata. Nam ex scorto incestuoso, nuru sua, generat geminos, unde postea ducitur linea Salvatoris, ©a ntufi (£i)riftu§ in siia carne peccator toerben, fo fcpttbiid), al§ cr intnter toerben ϊαηη. Caro Christi oritur ex incestuoso concubitu, similiter et caro Virginis, matris eius, et totius posteritatis Iudae, ideo, ut significaretur ineffabile illud consilium misericordiae Dei, quod assumsit carnem sive naturam humanam ex carne contaminata et horribiliter polluta. Disputant enim doctores scholastici, utrum natus sit ex carne peccatrice, an munda, an servaverit Deus a condito mundo aliquam puram guttulam carnis, ex qua Christus nasceretur. Respondeo, ergo, Christum vere natum esse ex vera et naturali carne et sanguine humano, qui corruptus fuit originali peccato ‘in Adam, sed sic, ut posset sanari. Sicut nos credimus et speramus, qui sumus circumdati carne peccati, futurum, ut in die redemptionis nostrae ea purgetur et separetur ab omnibus infirmitatibus, morte et ignominia. Sunt enim peccatum et mors mala separabilia. Itaque cum ventum fuit ad virginem vel guttam illam sanguinis virginalis, impletum est, quod dixit angelus: „Spiritus Sanctus veniet super te et obumbrabit tibi.” Non quidem natus est Messias virtute carnis et sanguinis, sicut Ioh. 1, 13 dicitur: „Non ex sanguinibus, neque ex voluntate viri“ etc., sed tamen ex massa carnis et ex isto sanguine corrupto voluit nasci. In illo autem puncto conceptionis virginalis Spiritus Sanctus purgavit et sanctificavit massam peccati, et extersit venenum Diaboli et mortis, quod est peccatum. Etsi mansit mors in ea carne propter nos, tamen fermentum peccati expurga tum est, et facta est purissima caro per Spiritum Sanctum purificata, et imita cum divina natura in una persona. Est igitur vere natura humana non alia quam in nobis. Et Christus est filfus Adae et de semine et carne eius, sed, ut dictum est, Spiritu Sancto obumbrante, operante et purgante, ut apta esset ad hanc conceptionem innocentissimam, et mundam ac sanctam nativitatem, qua nos purgaremur et liberaremur a peccato..


80  >  [English ed. ~ 75–76]

schon in den Schriftaussagen enthalten, die Christum ausdrücklich aus der Zahl der Sünder herausnehmen, Hebr. 7, 26: κεχωρισμένος από των αμαρτωλών.  Aber auch gerade Röm. 5, 18. 19, wo Adam durch seinen Fall (παράπτωμα) als der Urheber des über alle Menschen ergangenen Verdammungsurteils (κατάκριμα) dargestellt wird, erscheint Christus nicht als mit dieser Schuld und mit diesem Verdammungsurteil belastet, sondern im Gegenteil als der Urheber des allgemeinen, über alle Menschen ergehenden Rechtfertigungsurteils. Auf das Wie des Freiseins des Menschen Christus von der Erbschuld wirft aber zunächst schon etwas Licht der Umstand, daß Christus nicht natürlicherweise von Adam abstammte, sondern durch übernatürlichen, göttlichen Eingriff, nämlich durch Wirkung des Heiligen Geistes, empfangen wurde. Vor allen Dingen aber ist darauf hinzuweisen, daß die menschliche Natur Christi nie als eigene Person existierte, sondern vom ersten Augenblick der Existenz an zur Person des Sohnes Gottes gehörte. Die Person des Sohnes Gottes aber ist über Gesetz und Schuld erhaben, Matth. 12, 8: κύριός έστι και τον σαββάτον ό νϊός τον άνϑρώπον.115)   Auch die Möglichkeit des Sündigens Christi ist entschieden zu verneinen. Nicht zwar wegen der Sündlosigkeit der menschlichen Natur Christi an sich, denn Adam, wiewohl sündlos erschaffen, fiel doch in der" Versuchung, sondern weil Christi menschliche Natur nicht für sich, als eigene Person, existierte, sondern mit dem Sohne Gottes eine Person bildete. Wenn wir die Möglichkeit des Sündigens für den Menschen Christus zugeben wollten, so müßten wir auch die Möglichkeit des Sündigens für den Sohn Gottes zugestehen, mit dem der Mensch Christus eine Person bildet. Diejenigen, welche die Möglichkeit des Sündigens bei dem Menschen Christus annehmen, geben eo ipso, bewußt oder unbewußt, die Menschwerdung des Sohnes Gottes, die unio personalis von Gott und Mensch, preis.116)

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115) Kromayer faßt Christi Freisein von dem Erbverderben und von der Erbschuld so zusammen: Massam illam sanguinis Mariae, ex qua λόγος sibi templum constructurus erat, Spiritus Sanctus ab omni peccati labe ac tabe purgavit. Nec reatus peccati Adamitici Christum involvere potuit, quia non fuit in lumbis Adami ex sequela naturae, sed ex promissione, non ut ψιλάνϑρωπος, sed ut ϑεάνϑρωπος et per consequens dominus legis, quem nulla lex obligare potuit. (Theol. pos.-pol., pars altera, p. 165.)

116) Richtig sagt Philippi: „Wollten wir die Möglichkeit des Sündigens in Christo setzen, so würden wir ganz abstrakt ihn nur als Menschen betrachten, und der Gottmensch würde uns verloren gehen; denn dächten wir, daß diese Möglichkeit zur Wirklichkeit geworden wäre, so wäre damit das Band persönlicher


81  >        Besonderheiten der menschlichen Natur Christi.  [English ed. ~ 76–77]

Sie setzen an die Stelle der unio personalis eine unio mystica. Man hat eingewendet, daß bei der Unmöglichkeit des Sündigens die Versuchung Christi zu einem bloßen Schein herabsinke. Allein, Matth. 4, 1 ff. schildert uns nicht einen Scheinkampf, sondern einen wirklichen Kampf. Sodann hält der Einwand auch schon unter rein menschlichen Verhältnissen nicht Stich. In einem Kampfe kann der Sieg des einen Teils gewiß sein, ohne daß dadurch der Kampf für den Sieger zu einem bloßen Scheinkampf herabsinkt. So war auch die Versuchung Christi, obwohl der Ausgang nicht zweifelhaft war, ein wirklicher Kampf, in dem der Teufel nicht bloß scheinbar, sondern wirklich auf die Seele Christi mit Lockung und Reizung eindrang, und Christus nicht bloß scheinbar, sondern wirklich kämpfte, nämlich durch gläubige Ergreifung und Handhabung des Wortes Gottes (γέγραπται) die Lockung und Reizung, die von außen 117) an ihn herantrat, nicht seiner Seele eigen werden ließ. Gegen die Behauptung, daß der Begriff der „Freiheit" stets die Möglichkeit des Sündigens in sich schließe, ist zu sagen, daß damit ein irriger Begriff von Freiheit aufgestellt wird. Die Seligen im Himmel können nicht sündigen. Trotzdem sind sie nicht unfrei, sondern im Zustande der vollkommenen Freiheit. Wenn der Arminianer Episcopius bemerkt hat: Nisi fuisset in Christo potentia peccandi, diabolus foret absurdissimus, so ist zu sagen, daß jemand in unsinniger Wut auch gegen einen Felsen anrennen kann, und daß das vergebliche Anrennen gegen Christum in der Wüste nicht der einzige Beweis für des Teufels Torheit ist.118) Wir halten also auf Grund der Schrift fest, daß Christus weder gesündigt hat, noch auch sündigen konnte (Christus sacerdos impeccabilis). — Die Folgen der Sündlosigkeit Christi. Eine unmittelbare Folge der Sündlosigkeit der menschlichen Natur Christi ist ihre Unsterblichkeit, weil nach der Schrift der Tod lediglich eine Folge der Sünde ist.119) Christus starb, weil er sterben wollte. Joh. 10, 18: „Niemand nimmt es (das Leben) von mir, sondern ich lasse

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Einheit zwischen dem Sohne Gottes und dem Menschen JEsus durchschnitten. ... Das potuit non peccare gilt vom ersten, das non potuit peccare von dem zweiten Adam, weil eben der zweite Mensch der HErr vom Himmel ist, 1 Kor. 15, 47. (Glaubenslehre IV, 1, S. 150 f.)

117) Gegen Irving, Menken 2c.

118) Vgl. Luther, St. L. III, 659 f. H. E. G. Paulus (Kommentar I, 353) und Meyer (Matthäusev., 6. Aufl., S. 123) argumentieren mit der Klugheit des Teufels gegen die Geschichtlichkeit des Versuchungsberichts.

119) 1 Mos. 2,17; 3, 17—19; Röm. 5, 12; 6, 23.


82  >        Besonderheiten der menschlichen Natur Christi.  [English ed. ~ 77]

es von mir selber", nämlich als Erlöser der Menschen zur Bezahlung ihrer, der Menschen, Sünde. 1 Kor. 15, 3: Χριστός απέϑανεν νπερ των αμαρτιών ημών.120) Das Sterben dessen, der für seine Person unsterblich war, ist das Lösegeld (λύτρον, Matth. 20, 28; άντίλντρον, 1 Tim. 2, 6), womit allen Sterblichen das Leben erkauft ist. — Infolge der persönlichen Sündlosigkeit (άναμαρτηοία inhaesiva) kamen der menschlichen Natur Christi ohne Zweifel auch größere natürliche Gaben zu, z. B. größere natürliche Weisheit, Luk. 2, 52, weil die störende und zerstörende Wirkung der Sünde nicht in ihm war. Die herrlichen natürlichen Gaben in einer fündlosen menschlichen Natur gewahren wir in Adam vor dem Fall.121) Luther bemerkt mit Recht, daß nur der erste Mensch vor dem Fall den Namen eines Philosophen in Wahrheit verdiente.122) — Über das äußere Aussehen Christi ist viel spekuliert worden. Man hat Christo teils eine ausnehmende körperliche Schönheit auf Grund von Ps. 45, 3 („Du bist der schönste unter den Menschenkindern"), teils eine ausnehmende körperliche Häßlichkeit auf Grund von Ies. 53, 2 („Er hatte keine Gestalt noch Schöne") zugeschrieben. Aber keine Stelle sagt das aus, was man in ihr gefunden hat. Ps. 45, 3 beschreibt Christum in seiner Erlöserschönheit (Luther: Gnadenschönheit), Ies. 63, 2 in seiner Leidensgestalt. Die Evangelien berichten uns wohl die Holdseligkeit der Worte Christi,123) aber keine besondere Schönheit der äußeren Gestalt. Ohne Zweifel würde Christus als der Sündlose von außerordentlicher körperlicher Schönheit gewesen sein, da alle Mißgestalt Folge der Sünde ist, wenn er nicht in den Stand der Erniedrigung und damit unter die Folgen der Sünden der Menschen getreten wäre. Der Stand der Erniedrigung brachte es mit sich, daß er des Gebrauches sowohl seiner göttlichen Herrlichkeit als auch der Privilegien seiner

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120) Quenstedt (II, 113): Mortuus ergo Christus est non aliqua necessitate, sed libera voluntate, seu, quia natura immortalis erat, voluntate se mortalem constituit, Ioh. 10, 17. 18. . . . Mortale corpus Christi fuit ab extrinseco et secundum voluntariam οικονομίαν, ita tamen, ut in libere suscepta morte incorruptibile fuerit.

121) 1 Mos. 2, 19. 20. 23.

122) Opp. ex. I, 83: Quis potest cogitare istam quasi portionem divinae naturae, quod Adam et Heva omnes omnium animalium affectus, sensus et vires omnes intellexerunt ? . . . Si igitur volumus praedicare insignem philosophum, praedicemus primos nostros parentes, cum adhuc essent a peccato puri.

123) Luk. 7, 22: oι λόγοι τής χάριτος.


83  >          [English ed. ~ 78]

sündlosen menschlichen Natur sich begab. In diesem Stande war die äußere Erscheinung Christi wie die anderer Menschen, wie die Schrift ausdrücklich berichtet Phil. 2, 7: έν όμοιώματι άνϑρώπων γενόμενος και σχήματι ενρεϑεις ώς άνϑρωπος, und noch deutlicher Röm. 8, 3: έν όμοιώματι σαρκός αμαρτίας. Christus war für  seine Person ohne Sünde, aber sein äußeres Aussehen war nicht das des Menschen vor dem Fall, sondern das des Menschen nach dem Fall. Kromayer: Verba textus (Rom. 8, 3) habent, quod missus fuerit in similitudine carnis peccatricis, propter infirmitates scilicet assumtas, quae fluunt in nobis ex peccato, a Christo autem, qui segregatus fuit a peccatoribus, libere κατ' οικονομίαν  (zur  Ausrichtung des Erlösungswerks) fuerunt assumtae. Similitudo itaque non ad ipsam carnem, sed ad hoc accidens, quod propter assumtas infirmitates peccatrix visa fuerit.124) Man hat darüber verhandelt, welches Quantum und welche Arten von menschlichen Schwachheiten und Gebrechen Christus angenommen habe. Es muß natürlich festgehalten werden, daß Christus mit der ganzen Sünden schuld auch alle Strafen der Sünden auf sich genommen und abgetragen hat. Es heißt deshalb auch Matth. 8, 17 inbezug auf leibliche Leiden, die Christus heilte:αυτός τάς άοϑενείας ημών ελαβε και τάς νόσους έβάστασεν.125) Um dem Wortlaut dieser Stelle auszuweichen, hat man eingewendet, daß Christus dann zu unserer Erlösung auch extensiv alle Gebrechen und alle Krankheiten, die es unter den Menschen gibt, an sich nehmen mußte. Das folgt nicht. Wie Christus in einem zeitlich begrenzten Leiden die ewigen Höllenqualen, die den Menschen gebührten, auf sich genommen hat, weil das zeitlich begrenzte Leiden des Sohnes Gottes unendlichen Wert hatte,126) so hat Christus auch in den der Zahl und Beschaffenheit nach begrenz

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124) Theol. posit.–pol. 1696, II, 68 sq.

125) Die Stelle Ies. 53, 4, die Matth. 8, 17 zitiert wird, begreift das Tragen der Schuld und der Folgen der Sünde in sich, weshalb sie auch im Neuen Testament in dieser doppelten Beziehung verwendet wird: vom Tragen der Schuld 1 Petr. 2, 24, vom Tragen der Folgen der Sünde Matth. 8, 17. Meyer versteht Ies. 53, 4 nur vom Tragen der Sünden schuld und sagt daher, daß die Stelle Matth. 8, 17 „nicht im historischen Sinne des Grundtextes" zitiert werde. Die Erörterung des Verhältnisses von Matth. 8, 17 zu Ies. 53, 4 hat eine ganze Literatur bei den älteren Auslegern hervorgerusen, die von Köcher, Analecta in 4 evangelia, p. 188 sq., angeführt wird.

126) Dorscheus: Adjunctum temporis, quod apud homines aeternum fuisset, ipsa majestate et excellentia personae compensatum est. (Synopsis theol. Zach., P. I, c. 8, § 168.)


84  >          [English ed. ~ 79]

ten Schwachheiten, die wir tatsächlich an seiner Person gewahren, alle Gebrechen und Krankheiten der Menschen getragen. Welches Quantum und welche Arten von Schwachheiten zu einem vollgültigen λντρον nach Gottes Rechnung nötig waren, können wir nicht bestimmen, sondern müssen wir den Schriftaussagen entnehmen. Die alten Lehrer haben ungefähr das Richtige getroffen, wenn sie ausführen, daß wir an Christo die Schwachheiten wahrnehmen, die allen Menschen nach dem Sündenfall gemeinsam sind (infirmitates communes), wie Hunger, Durst, Müdigkeit, Weinen w., nicht aber persönliche Gebrechen und Defekte (infirmitates personales), wie Blindheit und einzelne Krankheiten.127)

3. Die Unpersönlichkeit der menschlichen Natur Christi ^  (ανντίοσταοία sive εννποστασίά).  Eine Besonderheit der menschlichen Natur Christi ist, daß sie nicht eine eigene Person bildet. Sonst bildet jede menschliche Natur auch eine eigene Person. Die menschliche Natur Christi aber war vom ersten Augenblick ihrer Existenz an in die Person des Sohnes Gottes ausgenommen und hat somit keinen Augenblick als eigene Person existiert. Dies ergibt sich aus der Art und Weise der Menschwerdung (modus incarnationis) des Sohnes Gottes. Die Schrift lehrt nicht nur im allgemeinen die Tatsache der Menschwerdung, ὁ λόγος σάρξ έγένετo,128) durch Annahme des Fleisches und Blutes der Menschenkinder, μετέσχε των αυτών, scil.  σαρκός καί αίματος,129) sondern berichtet auch den besonderen Umstand, daß der Sohn Gottes durch Empfängnis und Geburt von

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127) Hollaz: Christus assumpsit infirmitates naturales omnibus hominibus in statu naturali constitutis communes, non autem personales e causis particularibus provenientes, multo minus moraliter vitiosos defectus adscivit. Infirmitates hominum naturales communes sunt, quae omnibus hominibus post lapsum insunt, v. gr. esurire, sitire, defatigari, algere, aestuare, dolere, indignari, turbari, lacrymari: quas cum sint inculpabiles, Christus, teste sacra Scriptura, assumpsit non coacte, sed libere, non propter se, sed propter nos, rion in perpetuum, sed ad tempus, scilicet in statu exinanitionis, non autem retinuit easdem in statu exaltationis. Infirmitates personales sunt, quae a causis particularibus proficiscuntur, et vel a vitio δυνάμεως πλαστικής, sive virtutis efformativae in generante, ut phthisis, arthritis etc., vel a culpa particulari, nimirum ab ingurgitatione nimia, venere, aut aliis excessibus, ut febris, podagra, hydrops etc., vel a peculiari nemesi aut judicio divino, ut morbi familiae Ioabi, 2 Sam. 3, 29 etc., ortum trahunt, a sanctissima Christi humanitate longissime absunt, quippe quas assumi nec generi humano expediebat et dignitati naturae derogasset. (Exam., P. III, s. 1, c. 3, qu. 11.)

128) Joh. 1, 14.        129) Hebr. 2, 14.


85  >        Besonderheiten der menschlichen Natur Christi.  [English ed. ~ 79–80]

einem Weibe, γενόμενος εκ γνναικός,130) also als ein Kindlein in seiner Mutter Leibe, Mensch geworden sei. Nicht nur der Mann 131) und der Knabe 132) und das Kind in der Krippe,133) sondern schon das Kind in seiner Mutter Leibe ist ό Κύριος Gott der HErr,134) weil bereits in die Person des Sohnes Gottes ausgenommen.135) Bei dieser Sachlage kommt der menschlichen Natur Christi im Unterschiede von allen anderen menschlichen Naturen, negativ ausgedrückt, die Anhypostasie (άννποστασία), positiv ausgedrückt, die Enhypostasie (εννποσταοία) zu. Dorner bemerkt, daß die Lehre von der Unpersönlichkeit der menschlichen Natur Christi in der neueren Dogmatik ziemlich allgemein aufgegeben sei,136) und zwar im Interesse der Menschheit Christi. Man findet es schwierig, sich vorzustellen, wie Gott und Mensch eine Person bilden können, ohne daß dabei die menschliche Natur und ihre Entwicklung Zu kurz kommt. So läßt man die menschliche Natur Christi eine eigene Person bilden, um auf diese Weise ihre Menschheit zu retten und ihr für eine „echt menschliche Entwicklung" Raum zu schaffen. Man kann diese Weise, die hier vorliegende Schwierigkeit zu beseitigen, nur naiv nennen. Es muß allerdings zugegeben werden, daß man einen „echt menschlichen" Christus gewinnt, wenn man die menschliche Natur Christi eine eigene Person bilden läßt. Aber damit hört dann auch alles auf, das heißt, damit ist die Menschwerdung des Sohnes Gottes aufgegeben. Es kann doch von einer Menschwerdung des Sohnes Gottes so lange nicht die Rede sein, als der Mensch Christus noch eine eigene Person bildet, das heißt, noch persönlich vom Sohne Gottes geschieden ist. Kein Aufwand von Rhetorik kann an dieser Sachlage etwas andern, auch nicht die Versicherung, daß Gott in dem Menschen Christus in ganz einzigartiger Weise zur Wirksamkeit gekommen sei, daß der Mensch Christus, weil in ihm das Hemmnis der Sünde nicht vorhanden war, den Wil

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130) Gal. 4, 4; Luk. 1, 35.        131) Matth. 16, 13—17; 26, 63 f.

132) Luk. 2, 49.        133) Luk. 2, 11.

134) Luk. 1, 43: Elisabeth, des Heiligen Geistes voll, spricht: πόϑεν μοι τοντο, ΐνα ελϋτ; ή μήτηρ τον Κυρίου μου πρός με;

135) A. C., Art. 3: Docent, quod Filius Dei assumserit humanam naturam in utero beatae Mariae virginis. F. C., epit., 546, 15: Homo ille in Deum assumtus fuit, quam primum in utero matris a Spiritu Sancto est conceptus ejusque humanitas jam tum cum Filio Dei altissimi personaliter fuit unita.

136) Geschichte der Prot. Theol., S. 875.


86  >        Die Lehre von Christo.  [English ed. ~ 80–81]

len Gottes ganz vollkommen zur Ausprägung gebracht habe 2c. Die Menschwerdung Gottes besteht nach der Schrift nicht darin, daß Gott in einer für sich bestehenden menschlichen Person einzigartig gewirkt, seinen göttlichen Willen vollkommen ausgeprägt hat 2c., sondern darin, daß die Person des Sohnes Gottes — der Sohn Gottes im Unterschiede vom Vater und vom Heiligen Geist eine menschliche Natur in seine Person ausgenommen hat, Hebr. 2, 14: έπε'ι ovv τά παιδία κεκοινώνηκε σαρκός και αίματος, και αυτός (der Sohn Gottes) παραπληοίως μετέσχε των αυτών, scii. ααρκός και αίματος.  Die Anhypostasie oder vielmehr Enhypostasie der menschlichen Natur Christi gehört somit zum Wesen der Menschwerdung des Sohnes Gottes.137) Solange man den Menschen Christus noch eine eigene Person bilden läßt, lshrt man eo ipso, daß der Sohn Gottes nicht Mensch geworden, sondern noch ασαρκος ist, daß der Sohn Gottes nicht ins Fleisch gekommen, sondern außerhalb des Fleisches geblieben ist, daß der Sohn Gottes nicht vom Weibe geboren ist, sondern daß Maria einen bloßen Menschen (nudum et merum hominem) geboren habe. Man leugnet also inbezug auf den Sohn Gottes die sämtlichen einschlägigen Schriftaussagen: ο λόγος αάρξ έγένετο Joh.  1,  14;  εν σαρκ'ι ηλϑεν, 1 Joh. 4, 2. 3;  γενόμενος εκ γυναικός, Gal. 4, 4; μετέσχε σαρκός και αίματος, Hebr. 2, 14. Man ist mit der Annahme, daß die menschliche Natur Christi eine eigene Person gebildet habe, speziell auch mit der Begründung, daß dies zur Wahrung der Menschheit Christi notwendig sei, voll und ganz auf unitarisches Gebiet übergetreten. Die Unitarier haben je und je behauptet, daß die Bildung einer eigenen Persönlichkeit zum Wesen der menschlichen Natur gehöre. Sie stellen uns vor die Wahl, entweder der menschlichen Natur Christi eine eigene Persönlichkeit zuzuschreiben, oder die wahre Menschheit Christi zu leugnen. Sie werden hier ganz beredt. Sie fragen, ob es seit Anfang der Welt je eine menschliche Natur gegeben habe, die nicht auch eine eigene Person bildete.138) Darauf

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137) Gerhard: Formale unionis consistit in eo, quod νπόστασις τον λόγον sit facta carnis νπόατασις. (1. c., § 115.) Von der menschlichen Natur Christi ist daher auszusagen: Neque est ανϋνπόστατος και Ιδιοσύστατος, propriam habens subsistentiam, neque άννπόστατος, prorsus nullam habens subsistentiam; utique ergo est ανυπόστατος, εν αντω τω λόγω subsistens. (1. c., § 121.)

138) Der Socinianer Schmalz: Hominem eum appellari, qui idem non sit persona humana, nec ratio nec sacrae literae permittunt. . . . Monstrum id hominis dicendum, quod persona humana non sit. In omni


87  >        Befonderheiten der menschlichen Natur Christi.  [English ed. ~ 81–82]

antworten wir: Gewißlich haben alle menschlichen Naturen von Anfang der Welt an eigene Personen gebildet. Quot naturae humanae, tot personae humanae. Aber dabei ist nun der Umstand nicht zu vergessen, daß in keiner von den Millionen menschlicher Naturen, die von Anfang an existiert haben, der Sohn Gottes Mensch geworden ist. Das ist nur in der einen Menschennatur Christi geschehen. So ist es, wenn die Menschwerdung des Sohnes Gottes in dieser Natur auf das Zeugnis der Schrift hin als Tatsache angenommen wird, ganz natürlich, daß die menschliche Natur Christi nicht für sich besteht, sondern in die Person des Sohnes Gottes ausgenommen ist. Die menschliche Natur Christi ist nach der Schrift der Leib des Sohnes Gottes, Kol. 2, 9: έν αντφ κατοικεί παν το πλήρωμα τής ΰεότψος σωματικώς.   Der Leib aber bildet keine eigene Person. Deshalb sagt das Athanasianum, indem es auf das Kol. 2, 9 gebrauchte Bild sieht: „Gleichwie Leib und Seele ein Mensch ist, also ist Gott und Mensch ein Christus.” Die Sorge, daß durch die Enhypostasie die Menschheit Christi zu kurz komme, unvollständig werde, zu einer scheinbaren Existenz herabsinke, nicht Raum für eine echt menschliche Entwicklung behalte 2c., ist eine ganz unnötige. Die höchste Autorität, die es gibt, überhebt uns dieser Sorge. Wir haben in der Schrift Gottes Wort dafür, daß die menschliche Natur Christi durch die Aufnahme in die Person des Sohnes Gottes in ihrem menschlichen Wesen durchaus nicht verkürzt worden ist, weil die Schrift Christum wie als wahren Gott, so auch durchweg als wahren, vollkommenen Menschen beschreibt, wie in dem Abschnitt „Die wahre Menschheit Christi" dargelegt worden ist. Was insonderheit die „echt menschliche Entwicklung" Christi betrifft, so ist diese nach der Schrift dadurch vermittelt, daß Christus im Stande der Erniedrigung die göttliche Herrlichkeit, die durch die persönliche Vereinigung seiner menschlichen Natur gegeben war, nicht gebrauchte, wie bei der Lehre vom Stande der Erniedrigung näher darzulegen ist.139) Wir bleiben daher bei dem alten Satz: In Christo

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bus hominum individuis ab ipso orbis initio hoc verum esse apparuit, in solo Christi individuo veritas illa fefellerit? Ergo Christus saltem non erit homo, ut alii homines fuerunt, sunt et futuri erunt? Cur igitur toties homo, filius hominis et vir appellatur? (Examinatio 157 errorum, p. 5. 38. Gerh., 1. c., § 92.) 

139) F. C. 546, 16: „Welche (göttliche) Majestät er nach der persönlichen Vereinigung (ratione unionis personalis) allwegen gehabt und sich doch derselben im Stande seiner Erniedrigung geäußert und der Ursach' (qua de causa) wahrhaftig an aller Weisheit und Gnade bei Gott und Menschen zugenommen."


88  >        Die Lehre von Christo.  [English ed. ~ 82]

ist zwar άλλο και άλλο, aber nicht άλλος καί άλλος.140)  Hiermit hat die alte Kirche nicht bloß eine „Hypothese" aufgestellt, wie es neuerdings ausgedrückt worden ist, sondern damit wollte sie und hat sie an der Menschwerdung des Sohnes Gottes festgehalten.141) Und was die Kirche der Reformation betrifft, so wird die Anhypostasie der menschlichen Natur Christi nicht bloß von den Dogmatikern gelehrt, wie wunderlicherweise behauptet worden ist,142) sondern so entschieden wie möglich auch im lutherischen Bekenntnis vorgetragen.143) Daß man dem lutherischen Bekenntnis auch nur zutraut, es lasse den Menschen Christus eine eigene Person bilden, zeigt einen fast unbe

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140) Gerhard: In ipso (Christo) άλλο και αλλο, quia aliud est essentia sive natura divina, aliud essentia sive natura humana; non autem άλλος και άλλος, quia non alius Deus, alius homo, sed unus est ϑεάνϑροιπος, Deus et homo, ac proinde persona una. (1. c., § 34.)

141) Athanasianum: Necessarium est ad aeternam salutem, ut incarnationem, quoque Domini nostri Iesu Christi fideliter credat (seil. qui vult salvus esse). Est ergo fides recta, ut credamus et confiteamur, quod Dominus noster Iesus Christus Dei Eilius, Deus et homo est. . . . Qui licet Deus sit et homo, non duo tantum, sed unus est Christus. Unus autem, non conversione divinitatis in carnem, sed assumtione humanitatis im Deum. Unus omnino, non confusione substantiae, sed unitate personae.

142) Dorner, Gesch. d. Protest., S. 875; Bretschneider, Systemat. Entwicklg. 2c., 3. Aufl., S. 563.

143) F. C.. 675, 6: „Wir glauben, lehren und bekennen, obwohl der Sohn Gottes eine sonderliche, unterschiedene, ganze göttliche Person und also wahrer, wesentlicher, völliger Gott mit Vater und dem Heiligen Geist von Ewigkeit gewesen, daß er gleichwohl, da die Zeit erfüllet, auch menschliche Natur in Einigkeit seiner Person angenommen, nicht also, daß nun zwo Personen oder zween Christus wären, sondern daß Christus JEsus nunmehr in einer Person zumal wahrhaftiger, ewiger Gott sei, vom Vater von Ewigkeit geboren, und ein wahrhaftiger Mensch, von der Jungfrau Maria geboren, wie geschrieben stehet Röm. 9: ,Aus welchen Christus herkommt nach dem Fleisch, der da ist Gott über alles, gelobet in Ewigkeit.’” — Ferner F. C.. 676, 11: „Wir glauben, lehren und bekennen auch, daß nunmehr nach der Menschwerdung nicht ein' jede Natur in Christo für sich selbst also bestehe, daß ein' jede eine sonderbare Person (persona separata) sei oder mache, sondern daß sie also vereinbaret sei'n, daß sie ein' einige Person machen, in welcher zugleich (simul) persönlich ist und bestehet beide die göttliche und die angenommene menschliche Natur, also daß nunmehr nach der Menschwerdung zu der ganzen Person Christi gehöre nicht allein seine göttliche, sondern auch seine angenommene menschliche Natur, und daß, wie ohne seine Gottheit, also auch ohne seine Menschheit die Person Christi oder Filii Dei incamati, das ist, des Sohnes Gottes, der Fleisch an sich genommen und Mensch worden, nicht ganz sei; daher Christus nicht zwo unterschiedene, sondern ein' einige Person ist, unangesehen, daß zwo unterschiedliche Naturen, in ihrem natürlichen Wesen und Eigenschaften unvermischet, an ihm erfunden werden.


89  >        Besonderheiten der menschlichen Natur Christi.  [English ed. ~ 83]

greislichen Mangel an Verständnis für die lutherische und überhaupt christliche Lehre. — Es ist auch entschieden abzulehnen, daß die göttliche und die menschliche Natur Christi erst allmählich zu einer Person zusammengewachsen seien.144) Vielmehr war die Vereinigung sofort eine vollständige, das heißt, die menschliche Natur war vom ersten Augenblick ihrer Existenz an zur Person des Sohnes Gottes gezogen. Die Hervorbringung .(productio) der menschlichen Natur und ihre Vereinigung (unitio) mit dem Sohne Gottes werden nur begrifflich geschieden, fallen aber zeitlich und sachlich zusammen. Αμα αάρξ, άμα λόγον αάρξ,145)  Daher ist der Ausdruck; Deus assumpsit naturam humanam ober humanitatem genauer, als wenn man sagt: Deus assumpsit hominem, insofern die letztere Redeweise auf den irrigen Gedanken führen kann, als ob die menschliche Natur Christi vor ihrer Verbindung mit dem Sohne Gottes schon eigenpersönlich existiert habe.146) Mit Recht erklären die alten Lehrer die Annahme, daß die menschliche Natur Christi längere oder kürzere Zeit für sich bestanden habe, für eine nestorianische Tren

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144) Dorner.

145) Damascenus, De fid. orth. III, 2. Dazu Gerhard 1. c., § 112. Kromayer: Sensus huius aphorismi est, massam illam vel sanguinis guttam, ex quibus ό λόγος templum sibi construxit, ne ad momentum quidem per se substitisse, vel suam hypostasin peculiarem habuisse . . ., quod esset ipsissimus Nestorianismus, humanam naturam vel ad tempus αυθυπόστατον faciens. Sed potius uno actu, cum Spiritus Sanctus separaret istam massam in utero Mariae virginis, a peccati labe et tabe purgaret, defectum seminis virilis suppleret, uno, inquam, actu fuisse a Dei Filio assumtum. (Theol. did.-pol. II, 70.)  Den einen Akt der productio und unitio bezeichnen auch die Ausdrücke: Menschwerdung, Joh. 1, 14; Annahme der menschlichen Natur, Hebr. 2, 14; Sendung in die Welt, Gal. 4, 4; Kommen vom Himmel, Joh. 6, 38; Kommen in die Welt, Joh. 16, 28; Kommen in das Fleisch, 1 Joh. 4, 2; Erscheinung im Fleisch, 1 Joh. 3, 8; 1 Tim. 3, 16 2c.

146) Luther, Opp. v. a. IV, 462; St. L. X, 1141: Symbolum (das Te Deum ist gemeint) canit: Tu ad liberandum suscepturus hominem, idem saepe facit Augustinus, cum regula, ut videtur, dicendum dictet: Tu ad liberandum suscepturus humanitatem seu humanam naturam. Luther bemerkt aber dazu, daß auch die Rechtgläubigen so geredet haben und noch so reden. Vgl. darüber Gerhard gegen Bellarmin, der Brenz des Nestorianismus beschuldigte, weil Brenz den Ausdruck gebraucht: Filius Dei assumpsit filium hominis. (1. c., § 96.) Chemnitz (De duabus nat., c. 14, f. 70): Quia persona Verbi non assumpsit personam hominis, sed naturam hominis, item, quia natura divina est assumens, humana vero natura non est assumens, sed assumpta, inde recte quidem dicitur: Deus factus est homo, non autem ita proprie dicitur: homo factus est Deus, Deus assumpsit hominem, licet veteres aliquando ita loquantur


90  >        Die Lehre von Christo.  [English ed. ~ 84]

nung der Naturen. Man hat eingewendet, daß die persönliche Vereinigung des Sohnes Gottes mit einem Embryo nicht möglich und nicht schicklich sei. Doch selbst nach natürlich vernünftigem Urteil muß man zugeben, daß diese Vereinigung im Grunde nicht anstößiger ist als die mit einem Kinde und einer menschlichen Natur überhaupt. Zudem sind auch inbezug auf diese Frage die Akten durch die Schrift bereits geschloffen. Die Schrift sagt, wie schon früher erwähnt wurde, nicht nur von dem erwachsenen Manne, dem zwölfjährigen Knaben und dem bereits geborenen Kinde, sondern auch schon von dem Kinde in seiner Mutter Leibe, daß es ὁ Κύριος Gott der HErr, sei,147) und lehrt somit, daß schon der Embryo in die Person des Sohnes Gottes ausgenommen war. Zudem setzt die Schrift die Tatsache, daß der Sohn Gottes auch ein Embryo und ein kleines Kind geworden ist, also in alle Entwicklungsstufen der menschlichen Natur einging, in ursächliche Beziehung zu unserer Erlösung. Als die Zeit erfüllt war, sandte Gott seinen Sohn, nicht als eigen erwachsenen Mann, sondern γενόμενον εκγνναικός (also als Embryo und kleines Kind), γενόμενον υπό νόμον, ΐνα τους νπό νόμον εξαγοράσωή. Christus per omnes aetatis nostrae gradus venit, ut immundam nostram conceptionem et nativitatem radicitus curaret.148) 

Endlich ist noch darauf hinzuweisen, daß die Bekämpfung der in der Schrift gelehrten Enhypostasie der menschlichen Natur Christi mit sogenannten wissenschaftlichen Gründen durchaus unwissenschaftlich ist. Die „wissenschaftlichen" Gründe reduzieren sich schließlich auf die Undenkbarkeit der Tatsache, daß Gott und Mensch ein Ich oder eine Person bilden, ohne daß dabei der Mensch zu einer Scheinexistenz herabgedrückt wird. Bei diesem Argument ist stillschweigend als feststehende Wahrheit vorausgesetzt, daß Tatsachen von ihrer Denkbarkeit oder Begreiflichkeit abhängig seien. Daß dies aber eine feststehende Wahrheit sei, wollen die modernen Bekämpfer der Enhypostasie nicht im Ernst behaupten. Zugestandenermaßen sind die Tatsachen z. B. auf dem Gebiet der Natur und der Geschichte von ihrer Denkbarkeit oder Begreiflichkeit völlig unabhängig. Warum soll denn die von Gott in seinem Wort bezeugte Tatsache, daß Gottes Sohn Mensch geworden ist und somit Gott und Mensch eine Person bilden, von ihrer Denkbarkeit abhängig sein? Es liegt demnach bei allen, die die Enhypostasie der menschlichen Natur Christi mit ihrer „Undenkbarkeit” bestreiten, eine

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147) Luk. 1, 43.        148) Kromayer, Theol. did.-pol. II, 70.


91  >        Besonderheiten der menschlichen Natur Christi.  [English ed. ~ 84–85]

ganz unwissenschaftliche Inkonsequenz vor.149) Diese Inkonsequenz tritt noch an einem andern Punkt hervor. Die Bestreiter der Enhypostasie wollen lehren, daß der Mensch Christus zwar eine eigene Person bildete, daß aber seine menschliche Person ganz und gar von der ihr einwohnenden Wirkung Gottes getragen und bestimmt wurde.150) Wie aber bei dieser alles tragenden und bestimmenden Wirkung Gottes die menschliche Person Christi nicht zu kurz kam, ist ebenfalls „undenkbar", völlig unbegreiflich. Man nimmt also auch in diesem Falle als Tatsache an, was man für das menschliche Denken nicht erklären kann. Überhaupt ist ja das Bestehen einer Verantwortlichen menschlichen Persönlichkeit bei der Allwirksamkeit Gottes (εν αντώ ζώμεν καί κινούμεϑα καί έσμεν, Apost. 17, 28) ein unbegreifliches Geheimnis.151) Dennoch halten wir dem heidnischen Pantheismus und Determinis-

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149) Luthardt spricht bei der Behandlung des Geheimnisses der Menschwerdung des Sohnes Gottes den richtigen Grundsatz aus (freilich ohne ihn selbst konsequent zu befolgen): „Die Realität hängt nicht von unsern Gedanken und unserer Denkmöglichkeit ab, sondern nach jener (der Realität) haben sich unsere Gedanken zu bestimmen. Nicht unsere Vorstellungen sind maßgebend für die Sachen, wie die alten Sophisten lehrten, sondern diese sind maßgebend für jene. (Christi. Glaubenslehre 1898, S. 350 f.) Die „alten Sophisten haben leider viele Nachfolger. Alle Abweichungen von der christlichen Lehre haben schließlich ihren Grund darin, daß Menschen ihre eigenen Gedanken zum Maß der Dinge machen und danach die Tatsache des Wortes Gottes korrigieren. Das ist der „Enthusiasmus, der vom alten Drachen in Adams Kinder gestiftet und gegiftet ist und der sie immerfort von Gottes Wort auf „Eigendünkel führt. (Schmalk. Art., 321, § 3 ff.) Nachdem der Mensch durch den Fall Gott als das Zentrum seines Lebens und Denkens verloren hat, macht er in lächerlicher Selbstüberhebung sich selbst und seine Gedanken zum Zentrum und Maß der Dinge. Dieses Unwesen macht sich zu unserer Zeit sonderlich auf dem Gebiet der sogenannten wissenschaftlichen Theologie breit.

150) Seeberg: „Der Wille Gottes . . . schuf den Menschen JEsus wie einst den ersten Menschen zu seinem Organ — das ist der letzte und tiefste Sinn (?!) „der uralten geschichtlichen Überlieferung, daß JEsus von der Jungfrau Maria geboren ist — und er verband sich vom ersten Moment der Existenz des Menschen JEsus an mit ihm, er wirkte aus ihn ein und durchdrang sein Empfinden und Wollen. ... Es gab daher keinen Gedanken und keine Regung, kein Streben und kein Wollen in der Seele JEsu, was nicht Bejahung und Ausführung gewesen wäre des ihm einwohnenden und ihn bestimmenden Gotteswillens. . . . Sein Leben und Wirken war Gottes Leben und Wirken” 2c. (Grundwahrheiten 1902, S. 114 ff.) Kirn redet von „Gottes absoluter Immanenz in dem Menschen JEsus”. (Grundriß 1910, S. 106.)

151) Das Nähere bei der Lehre von der Erhaltung und Regierung der Welt (de providentia Dei).


92  >        Die Lehre von Christo.  [English ed. ~ 85–86]

mus gegenüber an der Tatsache der menschlichen Persönlichkeit fest. Es liegt also, wir wiederholen es, jedesmal eine unwissenschaftliche Inkonsequenz vor, wenn man gegen die Enhypostasie der menschlichen Natur Christi mit der „Undenkbarkeit" operiert.

3. Die persönliche Vereinigung. ^

(De unione personali.)

In Christo sind Gott und Mensch zu einer Person vereinigt, und zwar — wie eben dargelegt wurde — in der Weise, daß die vorher nicht bestehende menschliche Natur zu der von Gott bestimmten Zeit und in der von Gott bewirkten wunderbaren Weise in die Person des Sohnes Gottes ausgenommen wurde (actus unitionis). Die so entstandene wunderbare und einzigartige Verbindung von Gott und Mensch zu einer Person (status unionis) nennt man die persönliche Vereinigung, unio personalis, ενωσις υποστατική,  Der Ausdruck ist in jeder Beziehung zutreffend. Er bringt klar und unmißverständlich zum Ausdruck, daß in Christo Gott und Mensch nicht irgendwie verbunden sind, sondern eine persönliche Einheit bilden. Es gilt nun aber, die mit dem Ausdruck bezeichnte Sache auf Grund der Schrift klar aufzufassen und gegen alle Verkehrungen festzuhallen. Alle Abirrungen in der Lehre von Christi Person haben darin ihren Grund, daß man die unio fahren läßt und dafür eine andere Art uuio substituiert.  

Es gibt eine Verbindung Gottes mit allen Kreaturen. Jer. 23, 24: „Bin ich's nicht, der Himmel und Erde füllet?" Man hat diese Aussage nicht auf Gottes Wesen, sondern nur aus Gottes Wirksamkeit beziehen wollen.152) Uber die Worte lauten auf Gott selbst, auf Gottes Wesen (אֲנִ֥י מָלֵ֖א [HEBREW]). Gott ist seinem Wesen nach (essentialiter) in allen und bei allen Kreaturen, also auch in jedem Menschen, gegenwärtig. Und durch diese Gegenwart Gottes bei und in allen Kreaturen haben die Kreaturen ihr Sein und ihre Tätigkeit, Apost. 17, 28: „In ihm leben, weben (κινούμεϑα) und sind wir"; Kol. 1, 17: τα πάντα (das All) εν αντφ σννέστηκεν. In besonderer Weise ist Gott mit der Kirche, den Gläubigen, verbunden, Joh. 14, 23: προς αυτόν έλευσόμεϑα και μονήν παρ’ αύτω ποιή–

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152) Einige Reformierte, die Socinianer 2c. Vgl. die ausführliche Abhandlung bei Gerhard, L. de natura Dei, § 176 ff. Der Gedankengang Jer. 23, 24 ist ganz klar. Daß Gott alles sieht, V. 24a, wird V. 24d damit begründet, daß Gott überall ist, Himmel und Erde füllt. מָלֵ֖א [HEBREW] füllend, aktivisch, wie Ies. 6,1: „seine Säume erfüllend (מְלֵאִ֥ים [HEBREW]) den Tempel.


93  >        Die persönliche Vereinigung.  [English ed. ~ 86–87]

οομεν.153) Man hat auch diese besondere Verbindung Gottes mit den Gläubigen auf eine bloße Einwohnung von göttlichen Kräften und Gaben reduzieren wollen. Aber die Schriftworte lauten auch hier auf die Einwohnung Gottes selbst. Die Konkordienformel hat die Schrift für sich, wenn sie als Irrtum verwirft, „daß nicht Gott, sondern allein die Gaben Gottes in den Gläubigen wohnen”.154) Wegen dieser Einwohnung Gottes heißen die Gläubigen ναός ϑεoύ ζώντος, 2 Kor. 6, 16; ναός τον αγίου πνεύματος, 1 Kor. 6, 19; τό σώμα Χρίστον, Eph. 1, 23. Diese besondere Verbindung Gottes mit den Gläubigen, die man unio mystica genannt hat, ist eine so innige, daß dadurch die Gläubigen ϑείας κοινωνοί φύσεωςheißen, 2 Petr. 1, 4. — Aber ganz anders und viel enger sind Gott und Mensch in Christo, nämlich zu einer Person, vereinigt. Diese Vereinigung zu einer Person lehrt aber die Schrift klar und unmißverständlich in allen Aussagen, in denen sie „Gott" „Mensch” und „Mensch" „Gott" nennt. Während wir nämlich nicht in bezug auf einen Baum sagen dürfen: „Dieser Baum ist Gott” und: „Gott ist Baum", wiewohl Gott in jedem Baum ist, auch nicht von einem Christen sagen dürfen: „Dieser Christ ist Gott” und: „Gott ist Christ", wiewohl der dreieinige Gott in jedem Christen wohnt, so können und müssen wir doch auf Grund der Schrift von dem Menschen Christus sagen: „Dieser Mensch ist Gott” und: „Gott ist Mensch", weil in Christo Gott und Mensch zu einer Person verbunden sind. Die Schrift sagt Matth. 16, 13—17: der Menschensohn ist des lebendigen Gottes Sohn; Luk. 1, 31. 32: der Sohn der Maria ist der Sohn des Höchsten; Jer. 23, 6. 6: der Davidssproß ist Jehovah; Röm. 9, 8: der aus den Vätern Kommende ist Gott, gelobet in Ewigkeit; Joh. 1, 14: das Wort ist Fleisch; Röm. 1, 3: Gottes Sohn ist Davids Sohn 2c. Man hat diese Schriftaussagen passend „persönliche Sätze", propositiones personales, genannt, weil in ihnen die einzigartige Vereinigung von Gott und Mensch in Christo, nämlich das Vereinigtsein zu einer Person, zum Ausdrück kommt.155)

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153) Sachlich dasselbe ist ausgesagt 2 Kor. 6, 16: ενοικήσω εν αντοΐς, scil εΐπεν ό ϑεός, Hesek. 37, 27. 1 Kor. 3, 16: το πνεύμα τοΰ ϑεοΰ οίκεΐ εν νμΐν.

154) S. 624, § 64.

155) Luther sagt darüber, daß der Sohn Gottes in allen Kreaturen wesentlich, aber mit dem Menschen Christus zu einer Person verbunden ist: „Die Gottheit ist unbeweglich in ihr selbst, kann nicht von einem Ort zum andern fahren, wie die Kreatur. Darum ist er hier (der Sohn Gottes in seiner


94  >        Die Lehre von Christo.  [English ed. ~ 87]

Es kommt nun bei der Darstellung der Lehre von der Person Christi alles darauf an, die unio personalis in ihrer Einzigartigkeit festzuhalten. Sie ist weder nach der Art der Verbindung Gottes mit allen Kreaturen noch nach der Art der Vereinigung Gottes mit den Gläubigen zu denken, sondern von diesen und allen andern Vereinigungen scharf zu scheiden. Die unio personalis kann zwar durch Beispiele von andern Vereinigungen einigermaßen veranschaulicht werden, z. B. durch die Vereinigung von Seele und Leib im Menschen und von Feuer und Eisen im glühenden Eisen.156) Das erstere Beispiel wird von der Schrift selbst Kol. 2, 9 verwendet.157) Doch auch diese Beispiele bieten nur gewisse Ähnlichkeiten dar, aber keineswegs eine völlige Gleichheit, wie später noch näher darzulegen ist. Welche Ungleichheit zwischen der unio personalis und den angeführten Beispielen statthat, tritt sofort darin zutage, daß wir nicht sagen können: Die Seele ist Leib und der Leib ist Seele, und: Das

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Menschwerdung) „nicht vom Himmel gestiegen als auf einer Leiter oder herabgefahren als an einem Seil, sondern war zuvor” (scil, vor der Menschwerdung) „da in dem jungfräulichen Leibe wesentlich und persönlich, wie an allen Orten überall, nach göttlicher Natur, Art und Macht. . . . Doch in Christo ist etwas anderes, Höheres und Größeres vor allen Kreaturen. Denn in ihm ist Gott nicht allein gegenwärtig und wesentlich, wie in allen andern (Kreaturen), sondern wohnt auch leibhaftig in ihm also, daß eine Person ist Mensch und Gott. Und wiewohl ich sagen kann von allen Kreaturen: Da ist Gott, oder Gott ist in dem, so kann ich doch nicht sagen: Das ist Gott selbst. Aber von Christo sagt der Glaube nicht allein, daß Gott in ihm ist, sondern also: Christus ist Gott selbst. Und wer einen Menschen erwürgt, mag wohl heißen ein Mörder des Dinges, das Gottes ist und da Gott innen ist. Aber wer Christum erwürgt, der hat Gottes Sohn, Gott und den HErrn der Herrlichkeit selbst erwürget.” (St. L. XX, 808 f.)

156) Athanasianum: Sicut anima rationalis et caro unus est homo, ita Deus et homo unus est Christus. F. C.. 545, 9: „Solche Vereinigung und Gemeinschaft der Naturen (in Christi Person) haben die alten Kirchenlehrer durch die Gleichnis eines feurigen Eisens, wie auch der Vereinigung Leibes und der Seelen im Menschen erkläret. (Vgl. F. C., 678, 18.)

157) Kol. 2, 9: Έν αντφ κατοικεί παν το πλήρωμα τής ϑεότητος σωματικώς. Σωματικως. das nur hier im Neuen Testament vorkommt, heißt „in körperlicher Weise. Richtig Wahl: corporaliter, ut in corpore; Luther: „leibhaftig”. Der ausgedrückte Gedanke ist der: Die ganze Fülle der Gottheit wohnt in Christo σωματικώς, so daß sie in Christo — natürlich in Christo nach der menschlichen Natur — mit einem Leibe (σώμα) angetan ist. Die Menschheit in Christo verhält sich zu der Fülle der Gottheit wie der Leib zur Seele. So richtig auch Meyer, wiewohl dieser manches Fremdartige, so die Beziehung auf Christum in dem Stande der Erhöhung, einmengt.


95  >        Die persönliche Vereinigung.  [English ed. ~ 88]

Feuer ist Eisen und Eisen ist Feuer, während wir doch bei der unio personalis von Christo sagen können und müssen: Gott ist Mensch und Mensch ist Gott. Passend hat man daher die „Persönlichen Sätze": „Gott ist Mensch” und: „Mensch ist Gott", die die persönliche Vereinigung zum Ausdruck bringen, propositiones inusitatae genannt, weil es für sie sonst in der ganzen Schöpfung kein Beispiel gibt. Sonst sind Gott und Mensch disparata, einander ausschließende Begriffe.158) Sonst ist Gott nicht ein Mensch, wie die Schrift ausdrücklich bezeugt.159) Sonst ist auch kein Mensch Gott. Wenn ein Mensch sich das anmaßt, so ist das Gotteslästerung.160) Aber in dieser einzigartigen Person, in Christo, ist Gott wirklich und wahrhaftig Mensch und Mensch ist wirklich und wahrhaftig Gott, weil in Christo Gott und Mensch eine Person, ein Ich, bilden. Daher sagen die alten Lehrer weiterhin richtig: Die propositiones personales sind wohl inusitatae, aber nichtsdestoweniger (Gegensatz: verbales) und  (Gegensatz:  impropriae et tropicae), weil sie einen wirklichen Sachverhalt ausdrücken, nämlich den Sachverhalt, daß in Christo Gott Mensch und Mensch Gott ist, und weil dabei die beiden Ausdrücke „Gott” und „Mensch" nicht in einem uneigentlichen Sinne (sogenannter Gott, sogenannter Mensch), sondern im eigentlichen und wesentlichen Sinne gebraucht werden.161) Beruft man sich hier wieder auf die „Undenkbarkeit", das

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158) Luther sagt bekanntlich in einer theologischen Disputation über Joh. 1, 14 (Opp. v. a.. IV, 458; St. L. X, 1168), daß in der Aussage „Deus est homo" disparata voneinander ausgesagt werden. Thesis 3: Nec minus, imo magis disparata est praedicatio: Deus est liomo, quam si dicas: Homo est asinus. Auch die späteren Dogmatiker behandeln die Frage, ob in den propositiones personales disparata voneinander ausgesagt werden. So Gerhard, 1. c., § 170. Sie bejahen die Frage, indem sie disparatum (nach Johannes Damascenus) definieren als: quod διαφέρει τφ λόγω (hinsichtlich) τής ουσίας. Gott und Mensch aber sind ihrem Wesen nach opposita sive disparata.

159) 4 Mos. 23, 19; Hos. 11, 9; 1 Sam. 15, 29.

160) Apost. 12, 21 ff.; Hesek. 28, 2.

161) Baier sagt (III, 38 sq.) von den propositiones personales: In imitate et communione naturarum fundantur et eam declarant propositiones, quas vocant personales, quibus concretum unius naturae enuntiatur de concreto alterius naturae, v. g.: Deus est homo, homo est Deus, et similes. Et sunt propositiones illae non verbales tantum, sed maxime reales. Dicuntur alias praedicationes inusitatae, quia in universa natura nullum datur exemplum, in quo duo disparata in casu recto proprie de se invicem praedicentur aut citra manifestam falsitatem de se praedicari possint. Quenstedt (II, 210 scp): Praedicationes personales, in quibus concre


96  >        Die Lehre von Christo.  [English ed. ~ 89]

heißt, auf die Unbegreiflichkeit der Tatsache, daß Gott Mensch und Mensch Gott ist und also Gott und Mensch zu einem I ch verbunden sind, so gestehen wir nicht nur die Unbegreiflichkeit zu, sondern wir fordern auch auf Grund der Schrift die Anerkennung der Unbegreiflichkeit und weisen jeden rationalistischen Erklärungsversuch zurück, weil die Schrift die Tatsache, daß Gott Mensch geworden ist, ausdrücklich als όμολογονμένως μέγα μυστήριον bezeichnet.162) Wir erinnern abermals daran, daß alle Werke Gottes im Reiche der Natur anerkanntermaßen die Eigenschaft haben, daß sie sich nicht im mindesten nach dem menschlichen Denken richten, sondern unbekümmert um alles menschliche Denken ihr Sein nur durch Gottes Wort und Willen haben. Warum soll denn die Tatsache der Menschwerdung des Sohnes Gottes, die Gott in seinem. Wort als das Wunder κατ’ εξοχήν bezeichnet,163) von ihrer Denkbarkeit abhängig sein? Die Schrift aber läßt über die Einheit des Ich von Gott und Mensch in Christo keinen Zweifel aufkommen, wie aus den propositiones personales und idiomaticae hervorgeht. Nicht von zwei Subjekten, sondern von ein und demselben Subjekt sagt die Schrift, wie das Menschsein und die ganze Reihe der menschlichen Eigenschaften, so auch das Gottsein und die ganze Reihe der göttlichen Attribute aus. Es ist ein und dieselbe Person, welcher die Schrift das Prädikat der Ewigkeit 164) und ein Alter von acht Tagen 165) zc. zuschreibt. — Und wie steht es um das „ Selbstbewußtsein " Christi? Die Frage von dem Selbstbewußtsein Christi ist ja sonderlich zu unserer Zeit viel behandelt worden. Die Schrift gibt uns auch hierüber klaren Bescheid. Wie sie lehrt, daß Christus  Gott und Mensch, ϑεάνϑρωπος, ist, so bezeugt sie uns auch reichlich, daß Christus sich als Gott und Mensch gewußt hat. Christus hat auch ein gottmensch

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tum unius naturae praedicatur de concreto alterius naturae, v. g.: Deus est homo, homo est Deus; germen Davi dis est Jehova, Justitia nostra, Jer. 23, 35; cf. Luc. 1, 35, sunt 1. verae et reales, 2. singularissimae et inusitatae, ac nequaquam communi regulae conformes, 3. propriae, loquendo de proprietate rhetorica, non logica.

162) 1 Tim. 3, 16. Luther: „Daß Gott nicht allein in ihm (dem Menschen Christus) ist, sondern auch in ihm wohnet also, daß Gott und Mensch eine Person wird, das ist das hohe Werk und Wunder Gottes, das alle Vernunft zu Narren macht und der Glaube allein halten muß, sonst ist's verloren. . . . O HErrgott, wo sind sie, die dies alles glauben? Was will's werden, wenn Vernunft hieher kommt mit ihrem Schwärmen?” (St. L. XX, 809.)

163) 1 Tim. 3, 16; Ies. 9, 6; 7, 14 2c.

164) Joh. 1, 1. 2.        165) Luk. 2, 21.


97  >        Die persönliche Vereinigung.  [English ed. ~ 89–90]

liches Bewußtsein. Er weiß sowohl um sein ewiges, vorweltliches Sein, Joh. 8, 38: „Ehe denn Abraham ward, bin ich", als auch um sein zeitliches Kommen in die Welt, um durch Leiden, Sterben und Auferstehen wieder zum Vater zu gehen, Joh. 16, 28; 12, 23 ff. Er weiß sich nicht als eine von Gott nur beeinflußte und getragene menschliche Persönlichkeit, sondern er, der Menschensohn, weiß sich zugleich als ο νιος τον ϑεον τον ζώντος, Matth. 16, 13—17. Sofort in der ersten Äußerung Christi über sich selbst, die uns die Schrift berichtet, nämlich in der Äußerung des zwölfjährigen Knaben, tritt nicht bloß das menschliche, sondern klar und deutlich das gottmenschliche Bewußtsein zutage, Luk. 2, 49: „Wisset ihr nicht, daß ich sein muß in dem, das meines Vaters ist?” und V. 31: „Er ging mit ihnen hinab und kam gen Nazareth und war ihnen untertan”.166) Um zum Ausdruck zu bringen, daß in Christo ein Ich Gott und Mensch umfaßt, hat man nach dem Vorgang der griechischen Väter (vgl. Damascenus, De orth. fide III, 3) den Ausdruck persona σύνθετος, persona composita, gebraucht. Über den Ausdruck ist verhandelt worden.167) Einige der lutherischen Lehrer haben ihn ausdrücklich als unzutreffend bezeichnet.168) Doch lassen sie ihn zu, um ineffabile illud pietatis mysterium, daß in Christo Gott und Mensch zu einer persönlichen Einheit verbunden sind, und sonderlich den Gedanken auszudrücken, „daß nunmehr nach der Menschwerdung zu der ganzen Person Christi gehöre nicht allein seine göttliche, sondern auch seine angenommene menschliche Natur, und daß, wie ohne seine Gottheit, also auch ohne seine Menschheit die Person Christi oder Filii Dei incarnati nicht ganz sei, daher Christus nicht zwo unterschiedene, sondern eine einige Person ist”.169)

Blicken wir in die Geschichte, so tritt uns die merkwürdige Erscheinung entgegen, daß die Menschen — und zwar nicht bloß die ^

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166) Mit Recht erinnert Vilmar (Prakt. Erklärung d. N. T., S. 60) daran, daß uns hier nicht die Art eines „ungewöhnlichen", „frühreifen" Kindes entgegentrete. Durch die scharfe Betonung des τον πατρός μου im Gegensatz zu dem Vorwurf: „Mein Sohn, warum Haft du uns das getan? Siehe, dein Vater, und ich haben dich mit Schmerzen gesucht", kommt zum Ausdruck, daß er sich als einen Höheren als seine irdischen Eltern, als Gottes Sohn, weiß. Durch die dann folgende Bemerkung bei seiner Rückkehr:  και ήν νποταοσόμενος αύτοΐζ, scil, seinen irdischen Eltern, tritt zutage, daß er sich auch als Mensch wußte.

167) Gerhard, 1. e, Z 121; Quenstedt, 1. e. II,  124.

168) H. Müller, Theol. scholast., p. 280 sq. Bei Baier, ed. W. III, 48.

169) F. C., 676, § 11.


98  >        Die Lehre von Christo.  [English ed. ~ 90–91]

Menschen außerhalb der Grenzen der christlichen Kirche — eine große Abneigung gegen die von Gott zu ihrer Rettung veranstaltete persönliche Vereinigung von Gott und Mensch in Christo an den Tag gelegt haben. Zu allen Zeiten hat man nach Substituten für die persönliche Vereinigung gesucht. Eine ganze Skala von Verbindungen Gottes mit dem Menschen Christus will man zulassen, von einer bloßen Übereinstimmung des Willens an bis zur Vermischung von Gott und Mensch zu einem Wesen. Was man aber nicht will, ist der Zusammenschluß von Gott und Mensch zu einer Person. In unserer Zeit steht es so, daß selbst Positiv genannte Theologen die Persönliche Vereinigung als abgetan behandeln, indem sie zur angeblichen Rettung der wahren Menschheit Christi von Vorneherein die Eigenpersönlichkeit für den Menschen Christus fordern und die zwei Naturen in einer Person („Zweinaturenlehre") als einen überwundenen Standpunkt behandeln. Und alle Substitute für die unio personalis sind von denen, die sie auf den Markt brachten, für "just as good", ja für besser, weil den „eigentlichen” und „tieferen" Sinn der Menschwerdung Gottes ausdrückend, erklärt worden. Die christliche Kirche aber hat alle Substitute sehr entschieden abgewiesen und als den Grund des Heils umstoßend erkannt. Zu dem Zwecke hat sie eine Anzahl negativer Bestimmungen verwendet. Negativ sind schon die bekannten Bestimmungen des Chalcedonense. Mit dem άσνγχντως und άτρέπτως (gegen Eutyches) hat sie jede Vermischung und Verwandlung von Gott und Mensch (unio per mixtionem et conversionem) abgewiesen. Mit dem αδιαιρέτως unb άχωρίοτως und  (gegen Nestorius) ist jede Art von Vereinigung abgelehnt, die es nicht zu einem Zusammenschluß von Gott und Mensch zu einer Person kommen läßt, sondern die Vereinigung nach Art der Verbindung Gottes mit allen Kreaturen oder den Gläubigen faßt. Die Verbindungen, welche hinter der Persönlichen Vereinigung Zurückbleiben und darum abgewiesen werden, hat man näher bezeichnet als unio naturalis, nominalis, habitualis, accidentalis, sustentativa, per voluntatem et assensum, per operationem etc. Daß nicht alle diese Bestimmungen immer in demselben Sinne gebraucht worden sind, erklärt sich daraus, daß man sie zum Teil in verschiedenem Gegensatz verwendete. Auch ist es nicht als ungehörig zu bezeichnen, daß ein und dasselbe Substitut, das die Irrlehrer an die Stelle der unio personalis zu setzen suchten, unter mehreren Rubriken abgewiesen wird. Wir erkennen daraus das Bestreben, die unio personalis in ihrer


99  >        Die persönliche Vereinigung.  [English ed. ~ 91]

Einzigartigkeit scharf aufzufassen und die Substitute unter allen Verhüllungen abzuweisen.170) — Es verlohnt sich der Mühe, noch

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170) Eine ausführliche Zusammenstellung der Surrogate findet sich bei Cundisius, Notae zu Hutters Komp., 4. Aufl., S. 188. Nach Abweisung der Vermischung und Verwandlung fährt er fort: Sunt vero etiam alii unionis modi quam longissime hinc removendi, e. g., unio κατά παράστασιν, sicut lateri Petri assistebat angelus, Act. 12, 7; item unio κατά παράϋεσιν, vel σΰνϋ·εσιν, per appositionem aut attingentiam, quae fit, quando duo asseres compinguntur, aut duae massae metallicae extremitatibus suis conglutinantur, vel cum alterum attingit alterum, non tamen totum, sed exigua duntaxat sui parte, ut clavus rotam, planeta sphaeram, ut etiam gemma unitur annulo, qualia similia Calvinianis in illustranda doctrina de duarum in Christo naturarum unione personali arrident. Praeterea removenda est 1. unio κατά σχέσιν, quae habitus, gratiae, conditionis, dignitatis, honoris, eruditionis, prudentiae, fortitudinis etc. similitudinem, vel aequalitatem importat. 2. Unio καϑ' Αρμονίαν η ταυτοβουλίαν, iuxta consensum ao voluntatem, qualis tum apud credentes, Act. 4, 32, tum apud coniuges se offert, Sir. 25, 2, imo etiam apud eos, qui illegitimo miscentur toro, 1 Cor. 6, 16. 3. Unio κατ’ ουσίαν, unio essentialis, quae v. g. est inter materiam et formam: unio essentialis etiam tribus personis in divina essentia a quibusdam tribuitur, sed plane άκΰρως. ... 4. Unio κατά μετοχήν η χάριν, ubi Deus etiam samctis unitur, in quibus tanquam in templo suo habitat, 1 Cor. 3, 16; b, 19.        5. Unio κατ' ενέργειαν, id est, secundum operationem, quasi carnis assumtae operationes solummodo essent organicae, aut ipsa caro qualecunque instrumentum τοϋ λόγου fuerit, per quod operaretur, sicut sancti cum Deo dicuntur uniri, quando Deus per illos operatur, Rom. 15, 8; 1 Cor. 12, 6. Est enim unio personalis (quae etiam ab unione sacramentali nimium, quantum distat) plane μονότροπος και εξαίρετος, υπέρ ψΰσιν, υπέρ νοϋν και υπέρ πάσαν κατάληψιν, ut loquitur Justinus.  — Wir fügen noch eine Zusammenstellung Weinmanns bei: Utriusque naturae, divinae του λόγου, et humanae e virgine Maria assumtae, unio non est naturalis, quasi modo naturali facta sit, vel inde resultarit unum naturale; nec essentialis, quasi duae in Christo naturae sint unum ουσία, ut fit in tribus SS. Trinitatis personis; nec accidentalis, quasi alicuius sit subjecti et inhaerentis accidentis, vel quasi λόγος carni tantummodo adsistat, aut gratiose inhabitet, citra ύποστάσεως communicationem, qualis unio est inter Deum et sanctos; vel quasi eam tantum sustentet, ne redigatur in nihilum, qualis sustentatio active sumta omnibus tribus personis competit, et passive accepta ad omnes res creatas pertinet, quae certe abiturae essent in nihilum, nisi a conditore sustentarentur et portarentur, Sap. 11, 26; Act. 17, 28; Hebr. 1, 3; nec operationum duntaxat est, quasi camis assumtae operationes solum organicae essent, aut ipsa caro qualecunque instrumentum, per quod λόγος operaretur, sicut Bellarminus Nestorianizans lib. 3. de incarn. c. 10. eam cum instrumento separato et passivo confert: sed est plane μονότροπος . . ., ut Justinus Martyr loquitur, ubi Deus verbum caro factum unam habet divinitatis suae camisque personam,


100  >          [English ed. ~ 92]

etwas näher auf die negativen Bestimmungen einzugehen, da sie nicht nur dogmengeschichtlichen Wert haben, sondern auch dem modernen Gegensatz gegenüber wichtig sind.

Abzuweisen ist jede Vermischung und jede Verwandlung göttlicher und menschlicher Natur in Christo. Nimmt man nämlich eine Vermischung der Naturen, so daß ein tertium entsteht, oder eine Verwandlung der einen Natur in die andere an, so hat man nicht mehr die Person, die wahrhaftiger Gott ist, vom Vater in Ewigkeit geboren, und wahrhaftiger Mensch, von der Jungfrau Maria geboren. Man gibt also die persönliche Vereinigung von Gott und Mensch auf, und man hat nicht mehr einen Erlöser, der ϑεάνϑρωπος ist. Ist die Person aber nicht mehr Gottmensch, so hat man auch nicht mehr ein gottmenschliches Erlösnngswerk. Ist Christus nicht mehr wahrer Mensch, so geht, wie Luther erinnert, sein Erlösungswerk uns Menschen nichts mehr an,171) weil nach der Schrift die wahre Menschheit Christi für das Erlösungswerk unbedingt nötig ist; 1 Tim. 2, 4: μεσίτης ϑεον καί άνϑρώπων άνθρωπος Χρίστος ’Ιησούς. Ist Christus nicht mehr wahrer Gott, so ist seinem Erlösnngswerk der erlösende Wert entzogen, weil nach der Schrift die wahre Gottheit Christi für das Erlösungswerk unbedingt nötig ist; Röm. 5, 10: κατηλλάγημεν τω ϑεώ διά τον ϑανάτου τον νίον αντον.  Kurz, wir brauchen für die gottmenschliche Person Christi und das gottmenschliche Erlösnngswerk Christi sowohl die unveränderte Gottheit als auch die unveränderte Menschheit. Jede Vermischung und jede Verwandlung und Verkürzung der Naturen hebt die gottmenschliche Person und das gottmenschliche Erlösungswerk auf. Die alte Kirche hat daher nicht mit Unverstand geeifert, wenn sie Eutyches' Vermischungs- und Verwandlungslehre 172) ganz entschieden verworfen hat.173) Ebenso hat die Kirche der Reformation recht daran getan.

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secundum Augustini verba lib. de fide ad Pet. c. 17. Idcirco usitate unio non personarum, sed personalis dicitur, quia in persona τον λόγον facta est, unamque Christi personam constituit. (Institutiones, p. 213 sq.)

171) St. L. VII, 1557.

172) Eutyches (bei Mansi V, 744): 'Ομολογώ εκ δύο φύσεων γεγενήσθαι τον κύριον ημών προ της ενώσεως’ μετά δε την ενωσιν μίαν φύσιν ομολογώ. Er leugnete deshalb auch, daß Christi menschliche Natur der unsrigen wesensgleich (ιδμοονσιος) fei.

173) Das Konzil zu Chalcedon bekennt gegen Eutyches: ενα καί τον αντόν Χριστόν, νίόν, κύριον, μονογενή, εκ δύο φύσεων [εν δύο φύσεσιν] άσνγχύ-


101  >          [English ed. ~ 92–93]

wenn sie mitten in ihrem schweren Kampfe wider das Papsttum die Anabaptisten, Schwenkfeld 2c. mit der „himmlischen Menschheit" Christi 2c. abwies.174) Ebenso entschieden sollte die Kirche unserer Zeit die modernen Kenotiker abweisen, die eine Veränderung des Sohnes Gottes zum Zweck der Menschwerdung lehren. Die einen lassen den Sohn Gottes seine Allwissenheit, Allmacht und Allgegenwart ablegen (Thomasius 2c.); die andern lassen den Sohn Gottes sich geradezu in eine menschliche Seele oder in einen Menschensohn verwandeln (Gaß, v. Hofmann 2c.). Daß durch diese Lehre der Kenotiker sowohl die gottmenschliche Person als auch das gottmenschliche Erlösungswerk Christi aufgegeben wird, liegt auf der Hand.175) 

Ebenso ist jede Trennung der göttlichen und menschlichen Natur in Christo abzuweisen. Nachdem der Sohn Gottes Mensch geworden ist, ist er zu allen Zeiten und überall, wo er ist, Mensch (incarnatus, ενσαρκος), und es gehört ihm alles zu, was der Mensch ist, tut und leidet. Der Mensch Christus darf zu keiner Zeit und

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τως, άτρέπτως — γνωριζόμενον ’ ονδαμον τής των φναεων διαφοράς άνηρημένης διά την ί'νωσιν, οοιζομενης δε μάλλον τής ιδιότητος εκατέρας φνοεως. (Mansi VII, 115.)

174) Vgl. oben, S. 72, den Beschluß des Konvents zu Schmalkalden 1537 gegen Schwenkselds Leugnung, daß Christi menschliche Natur eine Kreatur zu nennen sei. Luther bekämpft Schwenkfeld auch in theologischen Disputationen: Patet Schwenkfeld in vacuum chaos latrare contra sua somnia propria de creatura in Christo. Et homo sui immemor concedit Deum esse carnem factum, cum carnem esse creaturam nondum audeat negare. Sed occultus Eutyches habitat in talibus haereticis, negare paratis aliquando, Verbum esse carnem factum. (Opp. v. a. IV, 463.)

175) Von Öttingen gegen die Kenotiker: „Der Gottessohn kann durch die Inkarnation nicht die seinem Wesen eignenden Bestimmtheiten (göttliche Idiome) ausgegeben haben. Eine Wesensänderung in der Sphäre des Göttlichen wäre ein geradezu monströser Gedanke. Die Menschwerdung erschiene dann als eine Umwandlung des Gottessohnes in einen Menschensohn, so daß er dadurch und damit — für die Zeit seines irdischen Daseins — ,aufhörte, Gott zu sein' (v. Hofmann)! Damit aber wäre auch der unendliche Wert und die weltüberwindende Macht seiner Heils- und Erlösungstat in Frage gestellt.” (Luth. Dogmatik II, 2, S. 47.) Derselbe speziell gegen Frank: „Frank redet von einer ,Umsetzung des ewigen Sohnesbewußtseins in die Form zeitlich werdenden endlichen Menschenbewußtseins' und weist darauf hin, daß dieses ,vermöge der Gottesebenbildlichkeit fähig war, Gesäß für den göttlichen Inhalt', das heißt, ,menschlicherweise Bewußtsein des ewigen Sohnes zu sein'.” (System d. Wahrh. 112, 104—123.) „Also das ,Ich' — das ,Subjekt des Werdens' — sollte dasselbe (identisch) sein, aber der Logos sei gewissermaßen zu einer menschlichen Geistseele geworden, was ziemlich aus die Gaßsche Idee herauskommt, die an die apollinaristische und theopaschitische Irrlehre erinnert.” (A. a. O., S. 131.)


102  >        Die Lehre von Christo.  [English ed. ~ 93–94]

unter keinen Umständen — weder bei seiner Geburt, noch in seinem Leben, noch bei seinem Leiden und Sterben — aus der Person des Sohnes Gottes herausgenommen werden. Geschieht dies, so ist eo ipso die persönliche Vereinigung und das gottmenschliche Erlösungswerk ausgegeben. Diese Trennung nahm der Nestorianismus vor. Freilich, Nestorius wollte die eine Person in Christo festhalten. Er beklagt sich bitter über die Behauptung Kyrills, daß er (Nestorius) Christum als bloßen Menschen denke.176)  Aber es ist durchaus klar, daß Nestorius tatsächlich die unio personalis auslöste. Wenn er behauptete, Maria habe nicht den Sohn Gottes geboren, und die Juden hätten nicht den Sohn Gottes gekreuzigt, sondern lehrte, daß nur der Menschensohn als Instrument der Gottheit von Maria geboren und am Kreuz gestorben sei, so gab er damit klar und deutlich zu erkennen, daß er weder bei der Geburt noch bei der Kreuzigung den Menschen Christus in die Person des Sohnes Gottes ausgenommen, sondern von der Person des Sohnes Gottes geschieden und abgetrennt dachte.177) Nestorius lehrt eine Verbindung (συνάφεια) zwischen Gott und Mensch in Christo, aber eine Verbindung, wobei das Ich des Menschen Christus von dem Ich des Sohnes Gottes geschieden bleibt und der Sohn Gottes durch den Menschen Christus nur als durch sein Instrument wirkt und in dem Menschen Christus nur als in seinem Tempel wohnt.178) Dieselbe Christologie vertritt Zwingli im 16. Jahr

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176) Mansi V, 763.

177) Peperit (Maria) hominem, deitatis instrumentum — (Spiritus Sanctus) Deo verbo templum fabricatus est, quod habitaret, ex virgine.. Nestorius will sich den Ausdruck ϑεοτόκος in bezug aus Maria gefallen lassen propter inseparabile templum Dei verbi ex ipsa, non quia ipsa mater sit verbi Dei.  (Mansi IV, 1023.) Schrnid-Hauck: „Bei Nestorius trat unverhüllt zutage, daß er sich Christum als eine menschliche Person dachte, mit welcher der λόγος in Verbindung getreten ist. Er hatte, um die Verschiedenheit der Naturen sestzuhalten, die Einheit der Person aufgegeben.” (Dogmengesch., S. 93.)

178) Nestorius in dem ersten und zehnten seiner zwölf Anathematismen gegen Kyrill: Si quis . . . matrem etiam Dei verbi et non potius ejus, qui Emmanuel est, sanctam virginem nuncupaverit — anathema sit. Si quis illud in principio verbum pontificem et apostolum confessionis nostrae factum esse seque ipsum obtulisse pro nobis dicat — anathema sit. Aus Nestorius' Predigten: Non est mortuus incarnatus Deus, sed illum, in quo incarnatus est, suscitavit. — Ego natum et mortuum Deum et sepultum adorare non queo. Er fragt entrüstet: Habet matrem Deus? und setzt überaus töricht hinzu: Ergo excusabilis gentilitas matres diis subintro


103  >          [English ed. ~ 94–95]

hundert. Auch Zwingli leugnete, daß der Sohn Gottes gestorben sei, und belehrte durch seine άλλοίωοις Luther und jedermann dahin, daß man bei dem Leiden und Sterben Christi für Christum und den Sohn Gottes stets die menschliche Natur Christi einzusetzen habe.179) Kurz, Nestorius und Zwingli mit ihren Anhängern geben in ihren Darlegungen die Einzigartigkeit der Verbindung von Gott und Mensch in Christo, die persönliche Vereinigung, auf und setzen an deren Stelle eine unio nach Art der Verbindung Gottes mit allen Gläubigen (unio mystica, unio κατά χάριν). Daß damit das gottmenschliche Erlösungswerk ausgegeben ist, liegt aus der Hand. Zwar ist die Verbindung, in der Gott, mit allen Gläubigen steht, eine überaus innige und sehr hoch anzuschlagen, Infolge der unio mystica eignet sich Gott die Leiden der Seinen zu. Ihr Blut ist teuer geachtet in Gottes Augen.180) Gott fragt danach.181) Aber trotzdem ist das Blut der Heiligen auch nicht zum tausendsten Teil das Lösegeld für die Sünden der Welt. Das ist allein das Blut Christi, weil in Christo Gott und Mensch nicht bloß mystisch verbunden sind, sondern eine Person bilden und somit Christi Blut das Blut des Sohnes Gottes selbst ist.182) Es kommt daher nicht bloß etwas, sondern alles daraus an, daß jede Trennung von Gott und Mensch in Christo abgewiesen werde. Die alte Kirche hat daher nicht mit Unverstand geeifert, wenn sie Nestorius' Trennungslehre ganz entschieden verworfen hat.183) Ebenso hat Luther recht daran

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ducens. Auszüge aus Nestorius' Reden, griechisch, bei Mansi IV, 1197 ff.; in lateinischer Übersetzung bei Marius Mercator, ed. Stephan Baluze, S. 53 ff. Vgl. L. u. W. 30, 86. Die Anathematismen Kyrills und Nestorius' bei Baumgarten, Theol. Streitigkeiten, II, 770 ff.; Schmid-Hauck, Dogmengesch., S. 94 ff.

179) Zwingli: „Da Christus spricht Luk. 24: Mußte nicht Christus also leiden und also in seine Ehre eingehend — hie wird Christus allein für die menschliche Natur genommen, die mochte leiden und sterben, aber die göttliche nicht. — Matth. 26: ,Und der Sohn des Menschen wird verraten' oder hingegeben, ,daß er gekreuziget werde.' Und Matth. 20: ,Und der Sohn des Menschen wird den Pfaffen und Schreibern hingegeben' 2c. Hie wird der Sohn des Menschen eigentlich für die menschliche Natur genommen, denn dieselbe mochte hingegeben werden und getötet, aber die göttliche keineswegs nicht.” (Zwinglis Antw. aus Luthers Schrift: Daß diese Worte 2c. Abgedruckt in L.s Werken, St. L. XX, 1195.)

180) Ps. 72, 14.  181)  Ps. 9,  13.         182) Röm. 5, 10.

183) Das Konzil zu Chalcedon bekennt gegen Nestorius: έ'να καί τόν αντόν Χριστόν, νίόν, κύριον, μονογενή εν δυο φνοεσιν . . . άδιαιρέτως, άχωρίστως γνωριζόμενον . . . ονκ εις δύο πρόσωπα μεριζόμενον ή διαιρούμενον, άλλ’ ένα και τον αντόν νίόν καί μονογενή, ϋ·εόν λόγον, κύριον Ίησονν Χριστόν. (Mansi VII, 116.)


104  >          [English ed. ~ 95–96]

getan, wenn er sofort auch gegen Zwinglis Allöosis Front machte, weil sie die unio personalis aufhebe und Christi Leben und Leiden den Erlösungswert nehme.185) Vollends sollte die Kirche unserer Zeit alle Theologen energisch desavouieren, die die unio personalis aus Gründen der „Undenkbarkeit" von vornherein verwerfen. Nestorius und Zwingli wollten doch noch an der unio personalis festhalten. Aber in unserer Zeit steht es so, daß Theologen, die noch für christliche Lehrer gehalten werden wollen, den Zusammenschluß von Gott und Mensch zu einer Person prinzipiell abweisen und für den Menschen Christus die Eigenpersönlichkeit fordern. Sie suchen das Defizit dadurch zu decken, daß sie dem Menschen Christus eine ganze Reihe von Komplimenten machen. Man redet von „absoluter Immanenz Gottes" in Christo, „absoluter Verwirklichung des Willens Gottes" durch Christum 2c. Bei allen diesen Redensarten aber faßt man, wie Luthardt richtig bemerkt,186) „die Person Christi anthropozentrisch statt theozentrisch”. Luthardt fügt auch richtig hinzu: „Dem gegenüber lehrt die kirchliche Theo

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184) Luthers Kritik der Allöosis Zwinglis enthält eine treffliche Darlegung darüber, was unio personalis sei und wodurch sie aufgehoben werde. Er schreibt: „Weil JEsus Christus wahrhaftiger Gott und Mensch ist in einer Person, so wird an keinem Ort der Schrift eine Natur für die andere genommen; denn das heißt er (Zwingli) Allöosin, wenn etwas von der Gottheit Christi gesagt wird, das doch der Menschheit znsteht, oder wiederum, als Luk. 24, 26: Mußte nicht Christus leiden und also zu seiner Ehre eingehen?' Hie gaukelt er, daß Christus für die menschliche Natur genommen werde. . . . Wo die Allöosis soll bestehen, wie sie Zwinget führet, so wird Christus zwo Personen müssen sein, eine göttliche und eine menschliche, weil er die Sprüche vom Leiden allein auf die menschliche Natur zeucht und allerdinge von der Gottheit wendet; denn wo die Werke zerteilet und gesondert werden, da muß auch die Person zertrennt werden, weil alle Werke oder Leiden nicht den Naturen, sondern den Personen zugeeignet werden; denn die Person ist's, die alles tut und leidet, eins nach dieser Natur, das andere nach jener Natur, wie das alles die Gelehrten wohl wissen. Darum halten wir unfern HErrn Christum also für Gott und Mensch in einer Person, non confundendo naturas nec dividendo personam, daß wir die Naturen nicht mengen und die Person auch nicht trennen.” (St. L. XX, 942 ff.)

185) Luther: „Hüte dich, hüte dich, sage ich, vor der Allöosi! Sie ist des Teufels Larve; denn sie richtet zuletzt einen solchen Christum zu, nach dem ich nicht gerne wollte ein Christ sein, nämlich daß Christus hinfort nicht mehr sei noch tue mit feinem Leiden und Leben denn ein anderer schlechter Heiliger. Denn wenn ich das glaube, daß allein die menschliche Natur für mich gelitten hat, so ist mir der Christus ein schlechter Heiland, so bedarf er wohl selbst eines Heilandes. Summa, es ist unsäglich, was der Teufel mit der Allöosi sucht.” (St. L. XX, 943.)

186) Die christliche Glaubenslehre, S. 357.


105  >        Die persönliche Vereinigung.  [English ed. ~ 96]

logie, daß es der ewige Sohn Gottes war, der menschliche Natur an sich genommen und in seine persönliche Einheit ausgenommen hat.” Mit andern Worten: Auch die Kirche unserer Zeit muß auf der unio personalis bestehen und darf sich kein Surrogat substituieren lassen. Es verlohnt sich daher, einige negative Bestimmungen der alten Lehrer hier noch kurz vorzuführen.

Die Verbindung zwischen Gott und Mensch in Christo ist:

a. nicht eine unio nominalis, wie jemand etwas genannt wird, was er entweder gar nicht oder doch nur in einem uneigentlichen (beschränkten) Sinne ist. So kann eine Person den Ehrentitel „Rat" führen, ohne wirklich ein Ratgeber zu sein. So werden in der Schrift Kreaturen wegen göttlicher Funktionen „Gott" genannt, ohne wesentlich Gott zu sein.187) So leugnen die Unitarier, daß Christus wesentlich Gott sei. Man könne ihn aber Gott nennen, weil er als der vorzüglichste Mensch, und vor seinem Amtsantritt in den Himmel entrückt, den Willen Gottes vollkommen geosfenbart und getan habe.188) So auch Ritschl, wenn er das Christo beigelegte Prädikat der Gottheit nicht als ein „Seinsurteil", sondern nur als ein Urteil der „Wertschätzung" aufgefaßt wissen will. Nach Harnack kommt dem Menschen Christus die Benennung „Sohn Gottes" zu, weil er den Menschen die Botschaft von der allgemeinen Vaterschaft Gottes gebracht hat.189) — Dagegen ist festzuhalten: Der Mensch Christus wird nicht wegen gewisser Funktionen Gott genannt (Deus nuncupativus), sondern er ist wesentlich (im metaphysischen Sinne des Worts) Gott, Joh. 10, 30: Έγώ και πατήρ εν εσμεν;

b. nicht eine unio habitualis, relativa, σχετική, die nur ein gewisses Verhältnis setzt, wobei aber die verbundenen Personen tatsächlich getrennt bleiben. So verbindet Freunde die freundschaftliche Gesinnung, wiewohl sie gesonderte Personen bleiben und örtlich weit voneinander getrennt sein können. In diese Kategorie gehört die Verbindung, in der Kinder zu den Eltern, die Bürger eines Staates, die Glieder der Kirche 2c. zueinander stehen. Bei allen diesen Verbindungen bleiben die Personen gesondert. So haben alle Antitrinitarier versucht, die Bereinigung von Gott und Mensch in Christo zu einer bloßen unio relativa zu degradieren, indem sie sagten, Christus sei Gottes Sohn zu nennen, weil Gottes besonderes Wohl

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187) Joh. 10, 35.        188) Catech. Racov., Fr. 166. 194.

189) Wesen des Christentums, S. 79 ff.


106  >          [English ed. ~ 97]

gefallen auf diesem einzigartigen Menschen geruht habe. Ähnlich auch der Vorläufer der Nestorianer, Theodor von Mopsvestia ( um 428).  Aber alle Arten der unio relativa sind abzuweisen. Nicht bloß Gottes Wohlgefallen ruhte auf Christo, sondern die ganze Fülle des göttlichen Wesens wohnte und wohnt in ihm leibhaftig, wie in ihrem eigenen Leibe, σωματικώς, Kol. 2, 9. Der Sohn Gottes hat die menschliche Natur zu seinem σώμα gemacht, so daß alles, was der menschlichen Natur widerfährt, dem Sohne Gottes widerfährt und alles Tun und Wirken des Sohnes Gottes sich durch die menschliche Natur vollzieht;

c. nicht eine unio accidentalis, eine äußerliche, zufällige Verbindung, wie z. B. zwei Bretter aneinandergefügt werden 190) oder ein Kleid den menschlichen Leib umhüllt. Bei diesen und ähnlichen Verbindungen fehlt der Zusammenschluß zu einer inneren, organischen Einheit. In Christo hingegen gehört die menschliche Natur zur Einheit der Person des Sohnes Gottes. Während daher ein Kleid, das den Leib umhüllt, verletzt werden kann, ohne daß der Leib getroffen wird, so konnte bei Christo niemand die menschliche Natur Christi anrühren und treffen, ohne zugleich den Sohn Gottes anzurühren und zu treffen, 1 Joh. 1,1; 1 Kor.        2, 8;191)

d. nicht eine unio sustentativa, die in einer bloßen Gegenwart und Unterstützung besteht (nuda παρουσία sive παράστασις). So ist Gott mit allen Kreaturen vereinigt, die dadurch ihren Bestand und ihre Tätigkeit haben, Kol. 1, 18; Apost. 17, 28. Diese Vereinigung ist in der persönlichen Vereinigung zwischen Gott und Mensch, die in Christo stattfand, eingeschlossen, insofern innerhalb der persönlichen Vereinigung die menschliche Natur Christi von der göttlichen allerdings auch getragen und unterstützt wurde. Ein bloßer   Mensch hätte die Wucht des Zornes Gottes, der auf Christo als dem Stellvertreter der ganzen Sünderwelt ruhte, nicht tragen können, wie Luther und die alten Lehrer oft erinnern.192) Aber in dieser Unterstützung und

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190) F. C., S. 677, § 14.

191) Luther sagt in bezug darauf, daß das Bild eines den Leib umhüllenden Kleides die persönliche Vereinigung ungenügend beschreibt: Non enim vestis et corpus constituunt unam personam, sicut Deus et homo constituunt unam personam. (Opp. v. a. IV, 464.)

192) Luther: „Der HErr spricht: Meine Seele ist bekümmert bis an den Tod', das ist, ich bin so ängstig, mir ist so bange, daß ich vor Angst möchte sterben. Bei solchen Gedanken müssen wir es hier bleiben lassen. Denn wir wissen von keiner höheren und größeren Angst, denn solche Todesangst ist. Aber doch ist solche Todesangst nicht eigentlich hierher zu vergleichen; denn sie viel heftiger und größer


107  >        Die persönliche Vereinigung.  [English ed. ~ 97–98]

Aufrechterhaltung besteht nicht das Wesen der persönlichen Vereinigung. Das Wesen der persönlichen Vereinigung besteht darin, daß in Christo Gott und Mensch zu einem Ich zusammengeschlossen sind; 193)

e. nicht eine unio naturalis.  Von natürlicher Vereinigung reden wir mit Recht bei Dingen, zwischen denen eine natürliche. Verwandtschaft besteht, so daß es natürlich ist, daß sie verbunden sind. So gehören Leib und Seele des Menschen zusammen, weil sie füreinander geschaffen sind, in ihrer Vereinigung ein natürliches Ganzes bilden und keins ohne das andere vollständig ist. Zwischen göttlicher und menschlicher Natur aber, die in Christo vereinigt sind, besteht keine natürliche Verwandtschaft, sondern der denkbar größte Gegensatz. Es ist der Gegensatz von Schöpfer und Geschöpf, ens increatum, et creatum.194) Der Gedanke, daß die Verbindung von Gott und Mensch in Christo auf natürlicher Verwandtschaft oder auf einer im Wesen Gottes begründeten Notwendigkeit beruhe, ist als schrift

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am HErrn Christo gewesen ist, denn es möglich ist, daß ein menschlich Herz ertragen sollte. Denn gleichwie solche Angst und Schrecken eine Anzeigung ist, daß Christus wahrer Mensch sei; denn sonst würde solche Angst nicht haben haften können: also wiederum ist es eine Anzeigung, daß er wahrer Gott sei, sintemal er solche Angst ausgestanden und überwunden hat. Denn solches ist unserm Fleisch und Blut nicht möglich; unsere Herzen find viel zu schwach dazu, daß sie in solcher Not könnten dauern. ... Es lagen ihm auf dem Hals der ganzen Welt Sünden, daß solcher Tod, den er leiden sollte, ein Sündentod war und ein Tod des Zornes Gottes. . . . Weil solcher Schrecken und Angst größer im HErrn Christo JEsu ist gewesen, denn es möglich ist, daß es sonst in einem Menschenherzen sein kann, der Ursach' halben, daß aller Menschen Sünden auf ihm liegen und er den Tod leiden soll, welchen alle Menschen mit all ihren Sünden verdient haben: aus solchem beweiset sich mächtiglich, weil er unter der Last nicht gesunken, sondern ohne Nachteil ihn getragen hat, daß er auch Gott und mehr denn ein Mensch sei.” (St. L. XIII, 348 f.)

193) J. Olearius: Praeter sustentationem requiritur communicatio hypostaseos, sine qua unio personalis non potest esse hypostatica aut unum dari hyphistamenon, sine qua etiam sanguis Filii hominis non potest esse sanguis Filii Dei, 1 Joh. 1, 7, et sanguis Dei proprius, Act. 20, 28. Sicut enim sanguis Pauli a Filio Dei sustentati non potest dici sanguis Filii Dei, quia sustentatio ejus est tantum accidentalis, aliena, a principio extraessentiali profecta, ita in unione personali datur actio carnis assumtae propria, a principio intrinseco ad hujus personae theanthropicae essentiam speotante, cami assumtae hypostatico. Confer Lutherum, T. 2. Witt., f. 228., ubi ait: Haec est haereticissima philosophia, qui negat Filium Dei esse hominem actu primo, sed fingit eum sustentare humanam naturam (velut actu secundo. (Theologia universalis, 1678, p. 503.)

194) Vgl. Note 158.


108  >          [English ed. ~ 98–99]

widrige, pantheisierende Spekulation zurückzuweisen, die sowohl die Begriffe von Gott und Mensch aufhebt, als auch die christlichen Begriffe von Sünde und Gnade zerstört.195) Nach der Schrift ist die Menschwerdung des Sohnes Gottes nicht in einer Art Naturprozeß oder in einer notwendigen Evolution des göttlichen oder menschlichen Wesens begründet, sondern in dem freien Erbarmen Gottes über die in Sünde gefallene und dadurch verlorne Menschenwelt. Der Ausgang aus der Höhe hat uns besucht διά σπλάγχνα ελέους ϑεον ημών, um als Retter zu erscheinen τοΐς εν σκότει και σκιά ϑανάτου καέλημένοις.196) Man hat die unio personalis von Gott und Mensch auch dadurch als eine Art natürliche Verbindung auszusassen und dem menschlichen Begreifen näher zu bringen gesucht, daß man den Sohn Gottes als „Urbild der Menschheit" auffaßte, dem es somit gewissermaßen natürlich war, daß er sich mit seinem menschlichen Abbild vereinigte.197) Allein, der Sohn Gottes als „Urbild der Menschheit" ist ebenfalls ein Menschengedanke. Nach der Schrift ist der Mensch nach dem Bilde des dreieinigen Gottes geschaffen.198) Ferner ist die Ansicht abzuweisen, daß der Sohn Gottes durch das Medium der Seele (mediante anima) die menschliche Natur mit sich verbunden habe. Man hat diese Ansicht ausgesprochen (Scholastiker nach dem Vorgang älterer Lehrer 199)), um das Geheimnis der Menschwerdung des Sohnes Gottes

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195) Vgl. Note 13 zum Begriff der seligmachenden Gnade als freier Gnade. Von Öttingen (II, II, S. 96): „Selbst positiv gerichtete Dogmatiker wie Dorner und Martensen haben sich dem bestrickenden Einfluß jener Spekulation nicht ganz zu entziehen vermocht. Wir sehen das z. B. an der von Dorner und Martensen vertretenen Idee von der Notwendigkeit der Menschwerdung, auch abgesehen von der Sünde', sowie in der steten Betonung der ,Einheit' zwischen Göttlichem und Menschlichem, wie sie in allen Christen sich verwirklichen und vollziehen solle."

196) Luk. 1, 78. 79. Derselbe Gedanke Joh. 3, 16; Luk. 19, 10; Gal. 4, 4. 5. Die Menschwerdung des Sohnes Gottes hat den Sündenfall und das damit gegebene Verlorensein der Menschen als causa προκαταρκτική zur Voraussetzung.

197) So nach dem Vorgang Älterer auch Kahnis: „Der Logos hätte nicht Mensch werden können, wenn er nicht als Logos das Urbild der Menschheit gewesen wäre.” (Dogmatik, 2. Aufl., II, 73.)

198) 1 Mos. 1, 26. Das Nähere bei der Lehre von der Schöpfung.

199) So schon Origenes: Substantia animae inter Deum camemque mediante (non enim possibile erat Dei naturam corpori sine mediatore misceri) nascitur . . . Deus homo. (De princ. II, 6. Bei Schmid, Dogmengesch., S. 79. Ausführlicher bei Gerhard, De pers., § 136.) Auch einige Re


109  >        Die persönliche Vereinigung.  [English ed. ~ 99–100]

begreiflicher zu gestalten. Aber erstlich erreicht man seinen Zweck nicht. Denn obwohl die menschliche Seele immateriell ist, so ist sie doch eine Kreatur, und zwischen ihr und dem unendlichen Schöpfer bleibt schließlich derselbe Abstand wie zwischen, dem menschlichen Leibe und dem unendlichen Gott. Sodann gestaltet sich diese Ansicht auch zu einer falschen Lehre, wenn wir an den Tod Christi denken. Christi Tod war nicht bloß ein Scheintod, sondern ein wirklicher Tod. Im Tode Christi schied seine menschliche Seele sich von seinem menschlichen Leibe, wie die Schrift ausdrücklich berichtet Matth. 27, 50: άφήκεν το πνεύμα; Mark. 15, 37:  Joh. 19, 30: ro Mit andern Worten: Die natürliche Verbindung (unio naturalis) zwischen der Seele und dem Leibe hörte, wie bei dem Tode anderer Menschen, so auch bei dem Tode Christi aus. War nun die menschliche Seele Christi das vermittelnde Glied für die persönliche Vereinigung von Gott und Mensch in Christo, so hätte die unio personalis im Tode Christi ausgehört, und der Tod Christi wäre nicht mehr der Tod des' Sohnes Gottes, wie doch die Schrift so nachdrücklich lehrt, ο θάνατος του υιoῦ αυτοῦ, scil. ϑεοῦ.200) Mit Recht weisen daher die lutherischen Lehrer die Ansicht, daß der Sohn Gottes mediante anima mit seiner menschlichen Natur verbunden sei, zurück;201)

f. nicht eine unio essentialis oder commixtiva in dem Sinne, als ob göttliche und menschliche Natur nach ihrer Vereinigung in der Person Christi nur eine Natur oder nur ein Wesen bildeten. Diese Art der Vereinigung ist schon oben (S. 100 f.) charakterisiert und abgewiesen worden. Hier sei noch daran erinnert, daß die

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formierte haben das mediante anima (Zanchi, De incarn. Filii Dei II, 6). Ebenso Klee (Kathol. Dogmatik II, 1, 441). Trefflich sagt Gerhard gegen den Rationalismus, der dieser Erdichtung eines „medium congruentiae“ zugrunde liegt: Venerari hoc mysterium et mirari, non autem extra Scripturae limites rimari debemus, jam vero de tali medio in Scriptura nihil revelatum. (L. c.)

200) Röm. 5, 10.

201) Kromayer: Monemus, nos illorum sententiam, qui corpus anima mediante cum Filio Dei unitum fuisse volunt, nostram non facere. Si enim res ita se haberet, in morte, soluto sc. hoc vinculo, corpus cum Filio Dei non fuisset unitum, quod nec Pontificii nec Calviniani . . . concedent. (Theol. pos.-pol. II, 96 sq.) Baier: Etiam in triduo mortis, cessante licet unione naturali corporis et animae, personalem tamen unionem illibatam mansisse credimus, ita ut corpus in sepulcro jacens Filii Dei corpus et anima a corpore separata Filii Dei anima revera fuerit. (III, 32.)


110  >          [English ed. ~ 100–101]

neuere amerikanisch-reformierte Theologie hin und wieder so redet, als ob der Ausdruck „Vermischung" zu den in der lutherischen Kirche rezipierten Ausdrücken gehöre, um die Verbindung der Naturen in Christo zu bezeichnen. So sagt Hodge: “They [die Lutheraner] insist upon a ‘communicatio naturarum.’ And by nature, in this connection, they mean essence. In their symbols and writings the formula ‘natura seu substantia seu essentia’ is of frequent occurrence.202) The divine essence is communicated to the human. The one interpenetrates the other. They 'are mixed’ (commiscentur). They do not become one essence, but remain two; yet where the one is the other is; what the one does the other does.” 203)  Dazu ist zu sagen: Freilich ist es lutherische Lehre, daß die Naturen reale Gemeinschaft miteinander haben, und zwar in der Weise, daß die göttliche die menschliche durchdringt und beide sowohl stets zusammen sind, als auch stets gemeinschaftlich handeln. Dies ist später noch ausführlicher darzulegen. Aber weder die lutherischen Symbole noch die lutherischen Dogmatiker erkennen den Ausdruck "They ‘are mixed,’ commiscentur" als einen adäquaten terminus für die von ihnen gelehrte Gemeinschaft der Naturen und der Amtswerke an. Die Konkordienformel macht Zwar die völlig richtige dogmengeschichtliche Bemerkung, „daß die alten Lehrer, der Kirche vielfältig, vor und nach dem Chalcedonischen Concilio, das Wort (mixtio) Vermischung in gutem Verstand und Unterscheid gebraucht" haben, nämlich zur Bezeichnung der unio personalis und der damit gesetzten nicht bloß nominellen, sondern realen Gemeinschaft der Naturen. Die Konkordienformel setzt aber sofort hinzu: „Und gleichwohl dadurch keine confusio oder exaequatio naturarum, das ist, einige Vermischung oder Vergleichung der Naturen eingeführet, als wenn aus Honig und Wasser ein Met gemacht, welcher kein unterscheiden Wasser oder Honig mehr, sondern ein gemengter Trank (mixtus quidam ex utroque potus) ist, da es sich dann mit der göttlichen und menschlichen Natur Vereinigung in der Person Christi viel anders hält. Denn es viel ein' andere, höhere und unaussprechlichere Gemeinschaft und Vereinigung ist zwischen der gött

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202) Dies ist natürlich auch in den reformierten Symbolen und Schriften der Fall, weil sie ja noch an der Zweinaturenlehre festhalten wollen. Dies erhellt aus Hodges eigenem Zitat aus der Confession of Faith (VIII, 2), wo die Ausdrücke substance und nature in bezug aus beide Naturen in Christo promiscue gebraucht werden.

203) Syst. Theology II, 407.


111  >        Die persönliche Vereinigung.  [English ed. ~ 101]

lichen und menschlichen Natur in der Person Christi, um welcher Vereinigung und Gemeinschaft willen Gott ist Mensch und Mensch ist Gott, dadurch doch weder die Naturen noch deren Eigenschaften miteinander vermischet werden, sondern es behält eine jede Natur ihr Wesen und Eigenschaften."204) Und weiterhin sagt die Konkordienformel: „Auf keinerlei Weise soll gehalten oder zugelassen werden Verkehrung, Vermischung oder Vergleichung (conversio aut confusio aut exaequatio) der Naturen in Christo oder derselben wesentlichen Eigenschaften. Wie wir denn auch die Worte realis communicatio . . . niemals von einer wesentlichen, natürlichen Gemeinschaft oder Ausgießung, dadurch die Naturen in ihrem Wesen und derselben wesentlichen Eigenschaften vermenget, verstanden, wie etliche solche Wort' und Reden arglistig und boshaftig, die reine Lehre damit verdächtig zu machen, verkehret haben.205) Unter den Antithesen verwirft die Konkordienformel an erster Stelle die Lehre: „da von jemand gegläubet oder gelehret werden sollte, daß die menschliche Natur um der persönlichen Vereinigung willen mit der göttlichen vermischet oder in dieselbige verwandelt worden sein sollte”.206) Diese Erklärungen befriedigen freilich die reformierten Theologen nicht. Wenn sie auch zugeben müssen, daß die lutherischen Symbole und die lutherischen Theologen die Vermischung der Naturen ausdrücklich abweisen, so halten sie doch die Beschuldigung der Vermischung der Naturen oder des Eutychianismus mit großer Übereinstimmung aufrecht. Der Grund hierfür liegt darin, daß sie das „Finitum non est capax infiniti" auf die Christologie anwenden. Nach reformierter Doktrin ist die endliche menschliche Natur Christi seiner unendlichen göttlichen Natur nicht fähig, und die Naturen müssen unter dieser Annahme sowohl in ihrem Sein als auch in ihrer Wirksamkeit stets getrennt bleiben. Wenn nun die lutherische Kirche mit großer Entschiedenheit das Gegenteil lehrt, nämlich daß nach der Erscheinung des Sohnes Gottes im Fleisch zur Zerstörung der Werke des Teufels die göttliche und die menschliche Natur nie getrennt sind und getrennt wirken, sondern stets zusammen sind und gemeinschaftlich wirken, so erheben deshalb die reformierten Theologen den Vorwurf der Vermischung der Naturen. So begründet auch Hodge den Vorwurf: "They are mixed” mit den Worten: "Where the one [nature] is the other is; what the one does the

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204) F. C. 677, 18. 19. Ebenso Quenstedt II. 124.

205) F. C. 688, 62 f.        206) F. C. 695, 89.


112  >          [English ed. ~ 101–102]

other does. The human is as truly divine as the eternal essence of the Godhead” (!), “except that it is not divine ex se, but by communication.” Die reformierten Theologen werden ihren Vorwurf der Vermischung der Naturen, den sie gegen die lutherische Kirche erheben, erst dann zurückziehen, wenn sie ihr πρώτον ψενδος, daß die menschliche Natur Christi seiner göttlichen Natur.nicht fähig sei, aufgegeben haben. Es sollte ihnen dies nicht schwerfallen, da sie ja eine reale Gemeinschaft der menschlichen Natur Christi mit der Person des Sohnes Gottes, die nicht weniger unendlich ist als seine göttliche Natur, zugeben wollen. Doch dies ist näher unter den Abschnitten Communio naturarum und Communicatio idiomatum darzulegen. Nur sei hier bei der Abweisung der menschlichen Substitute für die unio personalis noch darauf hingewiesen, daß die reformierte und die lutherische Theologie ganz verschiedene Begriffe von der unio personalis haben. Auch Frank hat aus diese Tatsache aufmerksam gemacht.207) Nach reformierter Theologie ist die unio personalis eine solche Verbindung, wodurch die Naturen und ihre Wirkungen auseinandergehalten werden. Nach lutherischer Lehre hingegen ist die unio personalis von Gott und Mensch eine solche Verbindung, wodurch die Naturen stets verbunden sind sowohl in ihrem Sein als in ihrem Wirken. Mit andern Worten: die reformierte Theologie löst die unio personalis auf, sobald sie zur Vermeidung der angeblichen „Vermischung" der Naturen gegen die reale Gemeinschaft der Naturen und ihrer Werke zu argumentieren anfängt. Wenn der Heidelberger Katechismus behauptet, daß Christus jetzt nur nach der Gottheit, nicht aber nach seiner menschlichen Natur auf Erden sei, so verteidigt er sich gegen den Vorwurf der Auflösung der unio personalis mit der Bemerkung, daß die Gottheit ja in allen Kreaturen gegenwärtig sei, also mit der Umsetzung der unio personalis in die Gegenwart Gottes bei allen Kreaturen.208) Es steht daher in bezug auf die Lehre von Christi Person zwischen den reformierten Theologen und der lutherischen Kirche noch immer so, wie Luther schreibt: „Sie schreien über uns, daß wir die zwo Naturen in ein Wesen mengen; das ist nicht wahr. Wir sagen nicht, daß Gottheit sei Menschheit oder göttliche Natur sei menschliche Natur, welches wäre die Naturen in ein Wesen gemenget, sondern wir

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207) Theologie der Konkordienformel III, 259.

208) Frage 47. 48.


113  >        Die persönliche Vereinigung.  [English ed. ~ 102–103]

mengen die zwo unterschiedlichen Naturen in eine einige Person und sagen: Gott ist Mensch, und Mensch ist Gott. Wir schreien aber wider sie, daß sie die Person Christi zertrennen, als wären's zwo Personen. Denn wo . . . die Werke zerteilt und gesondert werden, da muß auch die Person zertrennt werden."209)

g. Nicht eine unio per adoptionem. Die spanischen Bischöfe Felix von Urgel und Elipandus von Toledo im 8. Jahrhundert vertraten die Lehre, daß Christus nach der menschlichen Natur Gottes Adoptivsohn (Filius Dei adoptivus) sei. Diese Redeweise ist mit Recht als nestorianischen Irrtum ausdrückend unter dem Namen Adoptianismus verworfen worden. Sie führt auf den Gedanken, daß zwei Personen in Christo seien, weil der Adoptierte eine andere Person ist und bleibt als der Adoptierende, und daß daher Gott in Christo nur in derselben Weise wohne wie in allen Gläubigen, die nicht durch ihre leibliche Geburt Gottes Kinder sind, sondern erst durch den Glauben zu Gottes Kindern angenommen oder adoptiert werden.210) Der Mensch Christus hingegen ist Gottes Sohn nicht erst durch den Glauben, sondern von der Empfängnis an durch die Aufnahme in die Person des Sohnes Gottes. Die lutherischen Lehrer verwerfen daher mit Recht die Redeweise, daß Christus nach der menschlichen Natur Filius Dei adoptivus sei. Ferner haben im Gegensatz zum Adoptianismus lutherische Lehrer gesagt, Christus nach der menschlichen Natur sei Filius Dei naturalis in dem Sinne Filius Dei natus vel ab ipsa nativitate.211) Die Sache ist richtig. Doch haben andere lutherische Lehrer diesen Ausdruck als ungeeignet bezeichnet, weil er, um richtig verstanden zu werden, erst noch eine Erklärung fordere.212) Der Einwurf ist berechtigt. — Der Adoptianismus wurde schon Ende des 8. Jahrhunderts auf mehreren Synoden (Regensburg 792, Frankfurt 794, Aachen 799) verworfen. Der Hauptbekämpfer des Adoptianismus war Alcuin ( 804). Im 17. Jahrhundert hat Georg Calixt den Adoptianismus verteidigt.213)

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209) St. L. XX, 945 f.        210) Joh. 1, 12; Gal. 3, 26.

211) Gerhard, L. de persona., § 172; Quenstedt II, 214 8<z<z.

212) So sehr entschieden Calov, Syst. VII, 274 sqq. Calov urteilt, der Ausdruck sei gut gemeint, aber übel gewählt.

213) Die Dokumente über den adoptianischen Streit bei Gieseler II, 1, 83 ff.; Schmid, S. 222 ff.; Quenstedt II, 214 ff.; Calov, Syst. VII, 282 ff. Vgl. auch Baier III, 41. 42.


114  >        Die Lehre von Christo.  [English ed. ~ 103]

Die unio personalis und die christologischen Aufstellungen der Neuzeit. ^

Es mußte schon bei der vorstehenden Beschreibung der unio personalis und insonderheit bei der Abweisung der Substitute, die man an die Stelle der unio personalis zu setzen suchte, fortlaufend aus die christologischen Theorien der Neuzeit hingewiesen werden. Wir lassen hier noch eine summarische Zusammenstellung und eine Klarlegung der treibenden Motive der modernen christologischen Mißbildungen folgen.

Wollen wir die Christologie der Neuzeit, sofern sie sich im Gegensatz zur „orthodoxen" Christologie ausgebildet hat, verstehen, so müssen wir wiederum an die Tatsache erinnern, daß der Theologie der Neuzeit die Erkenntnis des Erkenntnisprinzips der Theologie abhanden gekommen ist. Wie sie die Heilige Schrift nicht als das unfehlbare, objektiv gewisse Wort Gottes erkennt, so will sie die Schrift auch nicht die einzige Quelle und Norm der christlichen Lehre sein lassen. Schleiermacher gilt ihr als der Erretter der Kirche vom Rationalismus. Man hat Schleiermacher „den Reformator der Kirche des 19. Jahrhunderts" genannt. Schleiermacher aber hat die Theologie von den dürren Stoppelfeldern des Rationalismus nicht auf die grüne Aue des objektiv gewissen Wortes Gottes, sondern in den Sumpf des menschlichen Subjektivismus geführt. Er will die christliche Lehre aus dem „frommen Gemüt" oder dem „christlichen Bewußtsein" entwickeln.214) Dieser Mißweisung ist die neuere Theologie in großer Übereinstimmung gefolgt. Man hat die Worte gewandelt. Man redet neben dem frommen Gefühl von dem wiedergebornen Ich, dem Glaubensbewußtsein, der Glaubenserfahrung, dem christlichen Erlebnis usw. Aber stets ist es so gemeint, daß die christliche Lehre in ihrer „erkenntnismäßigen Darstellung" nicht der Heiligen Schrift, sondern dem Innern des Theologen zu entnehmen sei.215) Das traurige Resultat dieser Methode legt Horst

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214) Der christl. Glaube I, §§ 1—35.

215) Die Verehrer Schleiermachers sollten nicht versäumen, von Zeit zu Zeit des Rationalisten Bretschneider „Charakteristik des Systems Schleiermachers zu lesen (Bretschneider, Handbuch der Dogmatik I, 93—115). Bretschneider weist nach, daß Schleiermachers System mit der Vernunft im allgemeinen und mit sich selbst im besonderen in Widerspruch stehe und auch die „evangelische Geschichte" vergewaltige. Auch Kirn hat RE.3 sub Schleiermacher (XVII, 614) wieder an Hegels Polemik gegen Schleiermacher (in der Vorrede zu Hinrichs' Religionsphilosophie) erinnert.


115  >          [English ed. ~ 104]

Stephan vor, wenn er ausführt: die weitgehende Gemeinsamkeit dogmatischer Grundsätze ist verbunden „mit einer schier endlosen Fülle von Verschiedenheiten in der Anwendung dieser Grundsätze, wie sie bald mehr durch die religiöse Individualität des Dogmatikers, bald mehr durch den Grad seiner wissenschaftlichen Konsequenz verursacht wird”.216)

Dies trifft insonderheit auch in bezug auf die Lehre von Christi Person zu. Um über diese „schier endlose Fülle von Verschiedenheiten" eine Art Übersicht zu gewinnen, teilen wir die Theologen des 19. Jahrhunderts in zwei Klassen: in solche, die die wesentliche Gottheit Christi ausdrücklich leugnen, und in solche, die die wesentliche Gottheit Christi noch festhalten wollen, wiewohl die Grenzlinie auch hier nicht immer sicher gezogen werden kann.

Es liegt auf der Hand, daß bei allen Leugnern der wesentlichen Gottheit Christi von einer unio personalis von Gott und Mensch in Christo nicht mehr die Rede sein kann, mag die Leugnung vom Pantheistischen oder vom deistischen (unitarischen) Standpunkt aus geschehen. Ob man Christum als moralisches Genie oder als Gefühlsgenie oder als Denkgenie oder als Offenbarungsgenie (als Offenbarer der „Vaterschaft" Gottes ohne satisfactio vicaria.) oder als eine Kombination von mehreren Genies 217) auffaßt: immer ist Christus als bloßer Mensch mit nur einer Natur, der menschlichen, gedacht. Die Komplimente, die man dem Menschen Christus macht durch „die Flucht ins Absolute, Schlechthinnige, Ideale, Einzigartige” usw., andern nichts an der Sache. De Wette z. B. will einerseits die wesentliche Gottheit Christi als störenden Faktor, der die Lehre von Christi Person „verwirre", eliminiert haben; andererseits mahnt er sehr dringend: „Man sei nicht zu karg in Christi Verherrlichung und dinge und markte nicht mit Ausdrücken.” Auch die Ausdrücke „Gottes Sohn", „Gottmensch", „Abglanz und Ebenbild Gottes" will de Wette beibehalten wissen; aber sie sollen nicht das Wesen und die Natur zum Ausdruck bringen, sondern „dem frommen Gefühl" angehören.218) So ist auch Ritschls „Werturteil" im Unterschied vom „Seinsurteil" gemeint. Bei dieser Klasse von

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216) Friedr. Nitzsch, Dogmatik, 3. Aufl. Bearbeitet von Stephan 1912, S. IX.

217) Kant — Schleiermacher — Schelling, Hegel — Ritschl, Harnack — Biedermann.

218) De Wette, Dogmatik der ev.-luth. K., S. 129 f. Über Religion u. Theologie, S. 216 f.


116  >        Die Lehre von Christo.  [English ed. ~ 104–105]

Theologen liegt ein offener Bruch mit der christlichen Lehre von Christi Person und infolgedessen auch von Christi Werk vor. Christus ist nicht der Heiland der Menschen durch Leistung der satisfactio vicaria, sondern Christus ist nur der „Erreger" von moralischen, frommen, intellektuellen usw. Zuständen und Stimmungen in den Menschen, und demgemäß besteht das Christentum nicht im Glauben an die von Christo erworbene Vergebung der Sünden, sondern in einer ethischen und intellektuellen Umbildung des Menschen.

Richten wir unsere Aufmerksamkeit auf die Theologen des 19. Jahrhunderts, die noch die wesentliche Gottheit Christi festhalten wollen, so ist ihnen die Ansicht gemeinsam, daß die Christologie, wie sie z. B. von Luther, der Konkordienformel und den alten lutherischen Lehrern dargestellt wird, für unsere Zeit nicht genüge. Männer wie Philippi, Guericke, C. F. W. Walther, die auch im 19. Jahrhundert an der „kirchlichen Orthodoxie" festhielten, bezeichnete man mit dem Gesamtnamen „Repristinationstheologen”.219) Im Unterschiede von diesen Repristinationstheologen bemüht man sich um eine Christologie, die eine „Ergänzung", „tiefere Erfassung” usw. der kirchlichen Lehre darstellen soll. Fragen wir, weshalb denn eine Fortbildung oder tiefere Erfassung des „christologischen Problems" nötig sei, so tritt uns die — historisch unrichtige 220) — Behauptung entgegen, daß bei der altkirchlichen Darstellung der Christologie die menschliche Natur Christi zu kurz kam, näher, daß der menschlichen Natur nicht genügend Raum zu einer „echt menschlichen Entwicklung" gelassen wurde. Man ist nicht zufrieden mit der Art und Weise, wie die Schrift und nach der Schrift die „orthodoxe" Christologie für die echte Menschlichkeit Christi Raum schafft, nämlich dadurch, daß sie Christum im Stande der Niedrigkeit auf den Gebrauch der göttlichen Herrlichkeit verzichten läßt. Diese biblische Weise der Sicherstellung der echt menschlichen Entwicklung und des echt menschlichen Lebens Christi entzieht sich freilich der „Denkmöglichkeit" oder der „erkenntnismäßigen Erfassung" im Sinne der modernen positiven Theologen. Sie liegt über das menschliche Begreifen hinaus und wird lediglich durch den Glauben an die in Gottes Wort bezeugte Tatsache erfaßt und erkannt. Weil aber auch die „konservativen", „positiven"” usw. Theologen des 19. Jahrhunderts in der wunderlichen Selbsttäuschung besangen sind, daß sie den Glauben

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219) Vgl. Loofs in RE.3 III, 56.

220) Das Nähere bei der Lehre von den Ständen.


117  >        Unio personalis und christologische Ausstellungen der Neuzeit.  [English ed. ~ 105–106]

zum „Wissen" erheben können und. müssen, so bemühen sie sich um eine solche Darstellung des „echt menschlichen Lebens" Christi, die der „Denkmöglichkeit" entspricht. Über dieser Bemühung gehen sie in zwei Richtungen auseinander, in Kenotiker und Autohypostatiker.

Die Kenotiker suchen die „Denkmöglichkeit" dadurch zu gewinnen, daß sie bei dem Sohn Gottes zum Zweck der Menschwerdung und in derselben eine Reduktion nach seiner göttlichen Natur eintreten lassen. Sie lassen den Sohn Gottes den Teil der göttlichen Eigenschaften ablegen, die nach ihrer Meinung ein echt menschliches Leben hoffnungslos stören würden, nämlich die Eigenschaften, welche eine nach außen, auf die Welt, gerichtete Tätigkeit bezeichnen, also vor allen Dingen die göttliche Allmacht, Allwissenheit und Allgegenwart. Die Kenotiker suchen den Sohn Gottes minus Allmacht- Allwissenheit und Allgegenwart in die Welt einzuführen.221) Potenzierte Kenotiker steigern diese Reduktion dahin, daß sie den Sohn Gottes auch das göttliche Selbstbewußtsein und das göttliche Ich ablegen lassen.222) Hierdurch scheinen die Kenotiker allerdings der menschlichen Natur mehr Raum für eine echt menschliche Entwicklung gesichert zu haben, aber um den Preis, daß ihnen bei der Sorge um die Menschheit die wahre Gottheit Christi und damit der Gottmensch und das gottmenschliche Werk Christi abhanden gekommen ist. Dies ist Thomasius, der als der Vater der modernen Kenose gilt, sehr nachdrücklich vorgehalten worden. Trotzdem besteht Thomasius auf seiner Kenosis im Interesse der „Denkmöglichkeit”. Er sagt: „Ich vermag beides zusammen, nämlich einerseits die volle Realität des göttlichen und menschlichen Wesens Christi, insbesondere die volle Wahrheit seiner natürlich-menschlichen Lebensentwicklung, andererseits die volle Einheit seiner gottmenschlichen Person, nicht festzuhalten, ohne die Annahme einer mit der Menschwerdung zusammenfallenden Selbstbeschränkung des göttlichen Logos; denn ohne die Annahme will mir die vorausgesetzte Einheit des Subjekts nicht vorhalten."223) Aber Thomasius' „Selbstbeschränkung des göttlichen Logos" fand doch lebhaften Widerspruch aus Gründen der Unveränderlichkeit Gottes — man redete von einer „Halbierung des Sohnes Gottes" — und wegen der offen

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221) Thomasius, Delitzsch, Kahnis, Luthardt, Zöckler usw.

222) Geß, v. Hofmann, Frank. Vgl. v. Öttingen II, II, 47. 131. 134.

223) Christi Person und Werk, 2. Aufl., II. 543.


118  >        Die Lehre von Christo.  [English ed. ~ 106]

baren Gefährdung der gottmenschlichen Person und des gottmenschlichen Erlösungswerkes. Auch was die „wissenschaftliche" Seite der Sachlage betrifft, so hat Kirn noch zuletzt richtig geurteilt, daß die moderne kenotische Theorie die „Denkschwierigkeiten" mehr offenbare als auflöse.224) Denn allerdings — ganz abgesehen von der Schrift, die die Unveränderlichkeit Gottes lehrt und Christum auch in den Tagen des Fleisches im Besitz der göttlichen Eigenschaften zeigt, die er nach der kenotischen Theorie abgelegt haben soll 225) — gelingt es weder vernünftigen Heiden noch denkenden Christen, sich den wesentlichen Gott ohne Allmacht, Allwissenheit und Allgegenwart oder gar ohne göttliches Ich vorzustellen.

Die Autohypostatiker suchen daher die vorliegende „Denkschwierigkeit" aus eine andere Weise zu heben. Sie wollen die „Enhypostasie" der menschlichen Natur Christi, das heißt, ihre Aufnahme in die Person des Sohnes Gottes, ganz ausgeben und den Menschen Christus eine eigene Person bilden lassen. Wir möchten daher diese Klasse von Theologen im Anschluß an die altkirchliche Terminologie (αύτοϋπόστατος und αυθυπόστατος, Ιδιοσύστατος) Autohypostatiker nennen. Dorner wollte die Person des Sohnes Gottes und die Person des Menschen Christus wenigstens für den Anfang auseinanderhalten, indem er ein allmähliches Ineinanderwachsen des Sohnes Gottes und des Menschen. Christus lehrte. Andere, wie Seeberg und Kirn, führen die Autohypostasie konsequent durch, Sie lehnen von Vorneherein die „Zweinaturenlehre" ab, das heißt, die Lehre, daß die göttliche und die menschliche Natur in einer Person zusammengeschlossen seien. Sie lassen den Menschen Christus nicht nur für den Anfang, sondern für immer eine gesonderte Person bilden, in welcher Gott aber auf einzigartige Weise wirksam ist. Damit scheint allerdings die Schwierigkeit in bezug auf die echt menschliche Entwicklung Christi wiederum gründlich beseitigt zu sein. Aber wir fragen auch wieder nach dem Preis, den wir für die Beseitigung der „Denkschwierigkeit" zahlen. Es ist der, daß die unio personalis von Gott und Mensch, die Menschwerdung des Sohnes Gottes, das ό λόγος σάρξ έγένετο, völlig aufgegeben ist. Denn es ist doch klar: bleibt die göttliche Person des Sohnes Gottes extra seiner menschlichen Natur, so

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224) Grundriß, 3. Aufl., S. 104.

225) Auch Ihmels wendet sich gegen die modernen Kenotiker, Zentralfragen, S. 98 f. Das Nähere bei der Lehre von den Ständen Christi.


119  >        Unio personalis und christologische Aufstellungen der Neuzeit.   [English ed. ~ 107]

kann Von einer Menschwerdung des Sohnes Gottes nicht mehr die Rede sein. Wie Dorner schlagend Thomasius' Kenosis widerlegt hat, so hat auch Thomasius schlagend Dorners anfängliche Eigenpersönlichkeit des Menschen Christus widerlegt. Hatte Dorner behauptet: „Solange die Menschheit noch unmündig ist, ist auch die Person des Logos noch nicht das diesem Menschen eigene Ich", und: „Für den Anfang teilt sich der Logos qua Person oder Selbstbewußtsein noch nicht mit, er bleibt insoweit noch für sich, als es der Menschheit noch am Empfangenkönnen fehlt", so bemerkt Thomasius dazu mit Recht: „Für den Anfang ist also dieser Mensch noch nicht Gottmensch, sondern der Logos wirkt nur in ihm und auf ihn; erst allmählich wächst und vollendet sich die unio personalis . . ., bis es endlich zur Vollendung der unio und damit zum vollen Gottmenschen kommt. Bis dahin — der Zeitpunkt dafür wird wohl die Auferstehung sein — decken sich beide Seiten noch nicht. . . . Gewiß, diese Theorie empfiehlt sich durch ihre Handlichkeit — aber sie bleibt eben auch unvereinbar mit der Schrift. Denn diese weiß . . . nur von einem (gottmenschlichen) Subjekt . . ., wenn anders das Wort des Apostels ό λόγος σαρξ        έγένετο Wahrheit ist, . . . Wahrheit, was der Engel des HErrn schon bei seiner Geburt von ihm bezeugt: Χριστός ό κύριος und was der Name Immanuel bedeutet. Mit dem allem ist die Ansicht Dorners unvereinbar.” Die Dornersche Lösung des Problems ist allerdings erkauft „mit nichts Geringerem als mit der Darangabe des genuinen Begriffs der Menschwerdung Gottes”.226) Thomasius' Polemik trifft in verstärktem Maße die konsequenten Autohypostatiker, die den von Dorner nur für den Anfang behaupteten Zustand auf die Person Christi überhaupt ausdehnen. So Seeberg, dessen Christologie namentlich durch die „Grundwahrheiten" in den Vereinigten Staaten bekannt geworden ist. Es ist sehr milde ausgedrückt, wenn Ihmels in bezug aus Seebergs Lehre bemerkt hat, daß sie an der kirchlichen Zweinaturenlehre „vorbeiführe”.227) Seeberg bekämpft die „Zweinaturenlehre", das heißt, die Verbindung von Gott und Mensch in einer Person, als veraltete „Formel" mit der sozinianischen Begründung, daß die eigenpersönliche Existenz zur Vollkommenheit des Menschen JEsus

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226) Christi Person und Werk, 2. Aufl., II, 194 f. Auch Ihmels verweist der Dornerschen Theorie gegenüber auf Joh. 1, 14: „Das Wort ward Fleisch", und fügt hinzu: „Wo wäre hier für die Annahme eines allmählichen Prozesses Raum?” (Zentralfragen, S. 99.)

227) Ihmels, Zentraldogmen, S. 185.


120  >          [English ed. ~ 107–108]

gehöre.228) Er meint: „Kaum jemand, der sich heute zu der alten Formel bekennt, will damit sagen, daß ... die Gottheit in Christus eine Substanz' oder Natur' war."229) Nicht die Person des Sohnes Gottes mit einer göttlichen „Natur", sondern „der die Geschichte der Menschheit zum Heil führende Gotteswille verband sich vom ersten Moment der Existenz des Menschen JEsus an mit ihm; er wirkte auf ihn ein und durchdrang sein Empfinden und Wollen. So wurde der Mensch JEsus Sohn Gottes'”. Die „ewige Liebesenergie" Gottes „erfüllte die menschliche Seele JEsu, so daß sie ihr Inhalt wurde. Das ist die Gottheit Christi"230) Diese Lehre will Seeberg an die Stelle der „altkirchlichen Hypothese von den zwei Naturen" setzen, und er mutet uns den Glauben zu, „daß die Gottheit Christi im Sinne des Neuen Testaments hier zur Aussage kommt”. Tatsächlich kommt in Seebergs Lehre wesentlich nicht mehr als die deistische Lehre von dem „absolut vollkommenen Menschen" zur Aussage. Seeberg sagt selbst: „Es ist das Maß der Menschheitsidee oder dessen, was der Mensch in Ewigkeit sein soll, wodurch das Maß des Menschen JEsus bezeichnet ist. Dieser Mensch war, was wir in jener Welt zu sein hoffen: Gottes Mittel und Gottes Organ, uneingeschränkt, wunderbar und grenzenlos.” So sinkt die zweite Klasse der positiven Theologen durch die Annahme der Eigenpersönlichkeit des Menschen Christus und durch die Ablehnung der „Zweinaturenlehre" völlig auf den Standpunkt der unitarischen Christologie zurück. Um den Mangel zu decken, flüchtet man auch hier ins Wunderbare, Grenzenlose, Absolute, Schlechthinnige, Einzigartige usw. Man redet von ganz einzigartiger, absoluter usw. Wirksamkeit und Offenbarung Gottes in dem Menschen JEsus. Man verwahrt sich auch gegen die Annahme, „als wenn man Christus den Christen gleichsetzen wollte”. Man versichert auch sehr angelegentlich, daß man den eigentlichen Kern der biblischen und kirchlichen Christologie festhalte. Aber trotz aller Rhetorik kommt immer nur diese Lehre von Christi Person heraus: Christus ist nicht Gott und Mensch, sondern ein bloßer Mensch, in dem Gott auf einzigartige Weise wohnt und wirkt. Die unio personalis ist in eine unio per operationem, revelationem usw. umgesetzt. Zwischen der Verbindung Gottes mit den Gläubigen und der Verbindung Gottes mit

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228) Grundwahrheiten, 5. Aufl., S. 114 f. Vgl. gegen das sozinianische Axiom in Anwendung auf Christi Person die Darlegung S. 86 f. und Note 138.

229) A. a. O., S. 115.        230) A. a. O., S. 117 f.


121  >        Unio personalis und christologische Aufstellungen der Neuzeit.   [English ed. ~ 108–109]

dem Menschen Christus ist nicht mehr ein spezifischer, sondern nur noch ein gradueller Unterschied. Während die an der Schrift orientierte „orthodoxe" Christologie je und je die Forderung aufstellte, daß man unio personalis und unio mystica als spezifisch verschieden denke,231) fordert dieser Zweig der modernen positiven Theologie ausdrücklich, daß die Verbindung von Gott und Mensch in Christo „nach der Analogie" der Verbindung Gottes mit allen Gläubigen zu denken sei.232) 

In neuester Zeit sind freilich Versuche bemerkbar, aus die unio personalis und die „Zweinaturenlehre" zurückzukommen. Ihmels ist weder mit den Kenotikern (auch nicht mit Frank) .noch mit den Leugnern der „Zweinaturenlehre” (auch nicht mit Seeberg) zufrieden. Er sagt in bezug auf Seeberg: „Sachlich führen auch die Ausführungen von Seeberg in seinen Grundwahrheiten von ganz andersartiger Orientierung aus an jener Lehrweise” (der Zweinaturenlehre) „vorüber, wenn er auch grundsätzlich den Zusammenhang mit ihr bestimmt festhalten will."233) Ihmels selbst aber nimmt in bezug auf die „Zweinaturenlehre” bis jetzt noch eine schwankende Stellung ein, wenn er sagt: „Nun unterliegt ja die ganze Lehrweise unzweifelhaft nicht geringen Schwierigkeiten, und unser Glaubensinteresse hängt an der Gottheit Christi selbst, nicht an einer bestimmten Lehrform. Aber die Versuche, die wir erhalten haben, scheinen mir doch zu bestätigen, daß das altkirchliche Interesse, das man auch dort festhalten will, konsequent verfolgt, immer wieder dazu zwingt, an jene Lehrweise anzuknüpfen, mag sie auch der Fortbildung noch so bedürftig sein und schon der Ausdruck einer Zweinaturenlehre selbst ernsten Bedenken unterliegen.” Die Sache liegt doch unzweifelhaft so: Wenn Christus nicht bloß sogenannter Gott und nicht bloß sogenannter Mensch, sondern im wesentlichen Sinne des Worts sowohl Gott als Mensch ist, μονογενής παρά πατρός und γενόμενος εκ γνναικός,  so leuchtet ein, daß der Ausdruck „Zweinaturenlehre" nicht „ernsten Bedenken unterliegt", sondern durchaus adäquat ist. Es ist daher auch an die „Zweinaturenlehre" nicht bloß „anzuknüpfen", sondern die „Zweinaturenlehre" ist voll und ganz tatsächlich zu lehren. Der „Fortbildung" ist diese Lehre weder bedürftig noch fähig, weil keine Gedankenoperationen der Gegenwart oder der Zukunft an der wesent

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231) Quenstedt: Forma        specifica unitionis plane singularis est, έξαίρετος καί μονότροπος, prae ceteris unionum formis eximia et ab omnibus aliis exempta. (II, 121.)

232) Kirn, Grundriß, S. 104 f.        233) Zentralfragen, S. 185.


122  >          [English ed. ~ 109–110]

lichen Gottheit und der wesentlichen Menschheit und ihrem Verbundensein in der einen Person Christi, wie beides durch die „Wirklichkeit” (die Schrift) so gewaltig bezeugt ist, auch nur das Geringste andern können. Seeberg beanstandet ja auch den Ausdruck „Natur" nur deshalb, weil er die damit bezeichnet Sache, die Homousie des Sohnes, nicht will. Er meint: '„Auch das göttliche Wesen Christi scheint irgendwie als ein anderes. Unterschiedenes, gedacht werden zu müssen neben dem Vater",234) während Christus diesen Gedanken ganz ausdrücklich abweist, wenn er sagt: Εγώ καί ό πατήρ εν εσμεν.235)  Energischer als Ihmels tritt von Öttingen für den Ausdruck „Natur" ein. Nachdem von Öttingen zunächst auch auf Bedenken hinsichtlich des Ausdrucks eingegangen ist, fährt er fort: „Aber streiten wir nicht um Worte! Es liegt doch auf der Hand, daß ,Natur' hier nichts anderes bedeuten soll als die Eigenart', wie sie sich durch die betreffenden Eigenschaften' (Idiome == Wesensbestimmtheiten) kennzeichnet. Was in dem alten weihnachtlichen Lutherliede mit dem Ausdruck Gott von Art' schlecht und recht jedem Christenmenschen verständlich von dem in die Welt gekommenen Sohn des Vaters' gesagt ist, entspricht genau jenem dogmatischen Terminus. Unter dieser Voraussetzung kann man, ja muß man — wenn der theanthropologische Grundgedanke festgehalten und mit dem Akt der Menschwerdung voller Ernst gemacht werden soll — sich auch so ausdrücken dürfen, daß in der einheitlichen Person, das heißt, in dem konkreten Ich des Gottmenschen, die zwei Naturen', das heißt, die Gesamtheit der Merkmale' (Idiome), lebensvoll geeint sein müssen, welche die Gottheit einer- und die Menschheit andererseits kennzeichnen."236) Und wie der Ausdruck „Natur", wenn man nicht um Worte streiten will, keinerlei Bedenken unterliegt, so auch nicht der Ausdruck „Person", wenn man diesen Terminus im Sinne der alten Kirche, der Augustana und der Dogmatiker gebraucht. Es hat sich in der Neuzeit gerade bei der Behandlung der Christologie ein wahrer Sturm gegen die Ausdrücke „Natur", „Person” usw. erhoben. Wir sind daher veranlaßt, hier bei der Lehre von Christi Person an das zu erinnern, was ausführlicher bei der Lehre von der Trinität dargelegt wurde. Wie Seeberg sich gegen den Ausdruck „Natur" wendet, so auch gegen den Ausdruck „Person”. Er meint: „Die Wissenschaft wandelte sich, ein

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234) A. a. O., S. 122.

235) Joh. 10, 30. Vgl. zu dieser Stelle S. 62 f. und Note 32.

236) Dogmatik II, II, 50.


123  >        Unio personalis und christologische Aufstellungen der Neuzeit.   [English ed. ~ 110]

neues, tieferes Verständnis der Persönlichkeit kam auf. Die Person bezeichnet einst — bei den Kirchenvätern — das Einzelwesen, jetzt meint das Wort das geistige Wesen des Einzelwesens."237) Das ist freilich bloße Rhetorik. Niemand hat jemals das „Einzelwesen" ohne „das geistige Wesen des Einzelwesens" gedacht, weil dies eine logische Unmöglichkeit ist. Aber diese Rhetorik hat auch auf solche neuere Theologen Eindruck gemacht, die zur kirchlichen Lehre zurückkehren möchten. Wie Ihmels dem Ausdruck „Zweinaturenlehre" noch Bedenken entgegenbringt, so nimmt er auch in bezug auf den Terminus „Person" noch eine schwankende Stellung ein. Er sagt, daß der christliche Glaube auf Grund der Offenbarung Gottes im Sohn diesen Sohn „mit dem Vater aufs engste zusammennehmen" müsse. Er will damit sagen, daß der christliche Glaube dem Vater und dem Sohn dieselbe wesentliche Gottheit zuschreibe. Daran schließt Ihmels aber die Bemerkung: „Dann ergibt sich freilich, daß der Begriff der Person, wenn er auf das innertrinitarische Leben Gottes angewandt werden soll, nicht im Sinne einer individuellen Persönlichkeit verstanden werden darf.” 238) Hiernach scheint Ihmels noch der Ansicht zu sein, daß die „individuelle Persönlichkeit" sich nicht mit der Einheit des göttlichen Wesens vertrage. Das ist aber prinzipiell der Standpunkt aller Gegner der christlichen Trinitätslehre. Diese haben je und je behauptet, daß die tres realiter distinctae personae und der unus Deus sich nicht zumal festhalten lassen. Ihmels will mit der Abweisung der „individuellen Persönlichkeit" nicht spotten, wie es offenbar Seeberg tut, wenn er von der Etablierung einer himmlischen Familie redet.239) Aber jeder, der die „individuelle Persönlichkeit" abweist, weist eo ipso die christliche Trinitätslehre ab. Und diesen Standpunkt wird man so lange einnehmen, als man die Trinitätslehre nicht einfach der Schrift entnehmen will, sondern „erkenntnismäßig" zu konstruieren sucht. Die moderne positive Theologie kommt erst dann wieder auf einen gesunden Fuß, wenn sie, wie bei der Darstellung der christlichen Lehre überhaupt, so insonderheit bei der Darstellung der Lehren von der Trinität und der Person Christi, zum Schriftprinzip zurückkehrt. Wir meinen, jeder Theolog müßte dem zustimmen, woran Luther immer wieder erinnert: Was Gott ist „inwendig der Gottheit", muß er uns in seinem Wort sagen, da Gott in einem Licht wohnt, da kein Mensch

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237) A. a. O., S. 114 f.        238) Zentralfragen, S. 184.

239) Grundwahrheiten, S. 122.


124  >        Die Lehre von Christo.  [English ed. ~ 110–111]

zukommen kann, φως οΐκών απρόσιτον.240) Wer sich in seinen Aussagen über „das innertrinitarische Leben Gottes" nicht ganz und gar „in Gottes Wort einwickelt", wie Luther es ausdrückt, der stellt die Lehre von der Trinität und von der Person Christi nicht „erkenntnismäßig", sondern einbildungsmäßig dar. Luther sagt: „Der Glaube muß sich am Worte halten; Vernunft kann hier nichts tun denn sprechen, es sei unmöglich und wider sich selbst, daß drei Personen, eine jegliche vollkommener Gott, und doch nicht mehr denn ein einiger Gott sei und allein der Sohn Mensch sei.” 241) Und abermal: „Es ist gewiß, daß Gott will von uns erkannt sein hier im Glauben, dort ewiglich im Schauen, wie er sei einiger Gott und doch drei Personen; das ist unser ewiges Leben, Joh. 17. Hierzu hat er uns sein Wort und die Heilige Schrift gegeben, mit großen Wunderzeichen und Werken bestätigt, daß wir darinnen lernen sollen. Denn sollten wir ihn also erkennen, mußte er es wahrlich uns lehren und sich gegen uns offenbaren und erscheinen; von uns selber würden wir nicht in Himmel steigen und finden, was Gott sei oder wie sein göttlich Wesen getan ist.” 242) Walther Pflegte in den Vorlesungen die Studenten zu erinnern: „Wenn Sie in der Lehre von Gott nicht alle Gedanken aus der Schrift nehmen, sondern auch eigenen Gedanken Raum geben, so wissen Sie nicht, ob Sie nicht Gott aufs erschrecklichste lästern.” Die Schrift nun lehrt klar und deutlich sowohl den einen Gott als auch den Vater, Sohn und Geist als άλλος και άλλος και άλλος oder als drei Ich.243) Weil aber Lehrer austraten, die drei Ich leugneten und dafür drei Wirkungsoder Offenbarungsweisen nur eines Ich einsetzten (dynamistischer und modalistischer Monarchianismus), so haben die kirchlichen Lehrer, um den Irrtum auszuschließen und bei der biblischen Wahrheit zu bleiben, zur Bezeichnung der drei Ich nach einigen Schwankungen in der Terminologie die Ausdrücke νπόστασις, πρόσωπον, persona gebraucht. Man kann noch immer mit Nutzen die dogmengeschichtliche Untersuchung von Chemnitz darüber Nachlesen, wie die Kirche dazu gekommen ist, jene „peregrinae appellationes" zur Darstellung der biblischen Wahrheit zu verwenden.244) Die Ausdrücke waren auch niemals und sind auch jetzt noch nicht „leer" oder „inhaltlos", wie Seeberg an die Hand geben möchte, sondern früher wie jetzt weiß

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240) 1 Tim. 6, 16.        241) St. L. III, 1928.

242) St. L. III, 1923.        243) Joh. 14, 16 u. a.

244) Loci 1599; De tribus personis, p. 86 sqq.


125  >        Unio personalis und christologische Ausstellungen der Neuzeit.   [English ed. ~ 111–112]

jedermann, was unter „Person" zu verstehen ist, wenn auch kein Mensch das eigentliche Wesen einer Person „erkenntnismäßig" erfassen kann. Auch die alten Monarchianer verstanden sehr wohl, was mit dem Ausdruck Person gemeint war. Das zeigt gerade ihre Polemik. Aber sie wollten den Ausdruck nicht, weil sie die drei biblischen Ich, das άλλος καί άλλος καί άλλος, nicht wollten. Dieselbe Sachlage haben wir heute. Man redet gegen die drei „Personen" der kirchlichen Lehre, weil man die drei biblischen Ich in drei Willen, Wirkungsweisen, Seiten, Potenzen, Existenzformen usw. umsetzen will. Daher genügt auch für unsere Zeit dem Irrtum gegenüber noch immer die Definition der Augustana: „Und wird durch das Wort persona verstanden nicht ein Stück, nicht eine Eigenschaft in einem andern, sondern das selbst bestehet (quod proprie subsistit), wie denn die Väter in dieser Sache dies Wort gebraucht haben. Derhalben werden verworfen alle Ketzereien, so diesem Artikel zuwider sind . . ., auch Samosateni, alt und neu, so nur eine Person setzen und von diesen zweien. Wort und Heiligem Geist, Sophisterei machen.” Dasselbe besagen die Ausdrücke der Dogmatiker, wenn sie „Person" als suppositum intelligens, substantia individua intelligens usw. beschreiben. Auch Ihmels muß seine Bedenken gegen die „Person" als „individuelle Persönlichkeit" ausgeben. Die Person ist stets „individuell", wenn man sie nicht als „Stück" oder „Eigenschaft in einem andern" auffassen, das heißt, aufgeben will. Die „orthodoxen" Lehrer haben diesen Artikel der christlichen Lehre sehr genau durchgearbeitet. Sie stellen auf Grund der Schrift auch sehr genau dar, wie die Personen in Gott sich von menschlichen Personen unterscheiden. Drei menschliche Personen sind stets auseinander; die drei Personen in Gott aber sind ineinander, wie Christus bezeugt: Έγώ εν τφ πατρϊ και ό πατήρ έν έμοί έστιν, Joh. 14, 10; 10, 38. Daher der dogmatische Terminus εννπαρξις, circumincessio. Aber bei dem Ineinandersein der Personen ist der Sohn Gottes zugleich so sehr eine „individuelle Persönlichkeit", daß nicht der Vater und der Heilige Geist, sondern nur der Sohn Mensch geworden ist.245) Das Inadäquate der Ausdrücke „Person", „Natur", „Wesen” usw., aus  Gott angewendet, war den Kirchenvätern und den späteren Lehrern keineswegs verborgen. So sagt Luther: „Wir haben das Wörtlein 

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245) Vgl. Luther, St. L. VII, 1540; ferner Note 45 und den Text zu dieser Note.


126  >        Die Lehre von Christo.  [English ed. ~ 112–113]

,Person’ müssen brauchen, wie es denn die Väter auch gebraucht haben. Denn wir haben kein anderes, und heißt nichts anderes denn eine νπόστασις, ein Wesen oder Substanz, das für sich ist und Gott ist. Daß da wohl sind drei unterschiedene Personen, aber nur ein Gott oder eine einige Gotthheit."246) Ebenso reden die lutherischen Dogmatiker. Sie erinnern einerseits daran, daß zwar die Ausdrücke Natur und Person nicht völlig adäquat seien, andererseits legen sie dar, daß das, was die Schrift von Vater, Sohn und Geist aussagt, in menschlicher Sprache nicht besser ausgedrückt werden kann als in der Redeweise: ein Gott und drei verschiedene Personen.247) Würde die moderne Theologie zum Schriftprinzip zurückkehren, so würde damit auch der Widerspruch gegen die Ausdrücke Natur und Person verstummen.

Mit der Rückkehr zum Schriftprinzip würde auch die wahrhaft heillose Verwirrung in der Beurteilung der christologischen Mißbildungen aufhören. Es ist Sitte geworden, von bedeutsamen „Wahrheitsmomenten" selbst bei den christologischen „Versuchen" zu reden, die die unveränderliche Gottheit Christi ausheben und an der „Zweinaturenlehre” und der unio personalis vorbeiführen. So haben wir neuerdings bei uns in den Vereinigten Staaten in bezug auf die moderne Kenosis das Urteil gelesen: A theory advocated by so many learned and pious theologians cannot be altogether false” und in bezug auf alle christologischen Theorien mit Einschluß derjenigen, die die wesentliche Gottheit Christi offen leugnen: "In reviewing these various theories, we can readily accept the elements of truth which they variously express.” 248) Aber alle diese Theorien sind doch im Gegensatz zu der klaren Schriftlehre von der Menschwerdung des Präexistenten, ewigen Sohnes Gottes in die Welt gesetzt worden und fallen unter das Schrifturteil: „Ein jeg

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246) St. L. VII, 1551 f.

247) Chemnitz: Si quis cavillari voluerit, vocabula essentiae et personae non esse satis propria ad designandum arcanum illud mysterium unitatis et trinitatis, is sibi hoc responsum habeat, quod Augustinus dicit lib. 5. De trinit.: „Magna prorsus inopia humanum laborat eloquium. Dictum est tamen tres personae, non ut illud diceretur, sed ne taceretur omnino. Non enim rei ineffabilis eminentia hoc vocabulo explicari valet.” (Loci; De tribus pers., p. 39.) — Quenstedt I, 493: Necessariae sunt ejusmodi loquendi formulae non absolute, sed ex hypothesi tum declarandae όρΰ·οδοξίας tum dignoscendae ετεροδοξίας.

248) The New Herzog-Schaff Religious Encyclopedia, Vol. III, 61. 63.


127  >        Unio personalis und christologische Ausstellungen der Neuzeit.   [English ed. ~ 113]

licher Geist, der da nicht bekennet, daß JEsus Christus ist in das Fleisch kommen, der ist nicht von Gott.” 249) Es steht doch nicht so, daß man aus der Lehre von Christi Person ein Stück herausnehmen und dabei das übrige recht lehren könnte, sondern die Lehre bildet eine unteilbare Einheit. Wer zwar die wahre Menschheit Christi lehrt, aber dabei die wesentliche Gottheit Christi leugnet, lehrt nicht die halbe Wahrheit oder auch nur „Elemente der Wahrheit", sondern nur Irrtum. Und wer zwar von wahrer Menschheit und wahrer Gottheit in Christo redet: von einem wahren Sein Gottes in dem Menschen JEsus und von einem wahren Sein des Menschen JEsus in Gott, aber dabei in Abrede stellt, daß der ewige Sohn Gottes und der Mensch JEsus zu einem Ich verbunden sind — der lehrt nur Irrtum, auch wenn er dabei ins Absolute flüchtet und von einem „absoluten", „ganz einzigartigen" Sein Gottes in dem Menschen JEsus redet. Wollen wir die studierende Jugend nicht verwirren, sondern ihr klare und schriftgemäße christologische Begriffe vermitteln, dann müssen wir in unserer Lehrmethode zu der von den alten kirchlichen Lehrern befolgten Zweiteilung zurückkehren: entweder lehrt man die unio personalis von Gott und Mensch, das heißt, die „Zweinaturenlehre", oder man lehrt sie nicht. [Ed. - see pg 113 in English edition] Alle Substitute aber, einerlei unter welcher Benennung sie dargeboten werden (unio naturalis, nominalis, per operationem, revelationem etc.), sind unter die Rubrik Irrtum zu bringen nach der Weisung des Apostels: Παν πνεύμα ο μη ομολογεί τον Ίησοϋν Χριστόν εν σαρκί εληλνϋότα εκ τον ϑεον ούκ εστtv.250)

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249) 1 Joh. 4, 3.

250) 1 Joh. 4, 3. Mit wie unklaren, schwankenden Begriffen neuere Einteilungen operieren, geht z. B. aus der Vierteilung Kirns hervor. Kirn schreibt, Grundriß, S. 104 s.: „Überblicken wir die christologische Arbeit in Vergangenheit und Gegenwart, so lassen sich ihre Hauptrichtungen in folgendem Schema gruppieren: 1. Trinitarische Christologie: JEsus ist unbeschadet der wahren Menschheit, in der er auf Erden erschien und lebte, zugleich seinem eigentlichsten Wesen nach unveränderlich der ewige, dem Vater wesensgleiche Sohn, die zweite Person der dreieinigen Gottheit. 2. Kenotische Christologie: JEsus verharrt während seiner irdischen Erscheinung in einer zum Zweck seines Heilswerks frei erwählten Selbstbeschränkung seiner göttlichen Macht und seines ewigen Selbstbewußtseins, ohne daß doch durch diese Veränderung seiner Zuständlichkeit seine wesentliche Gottheit und seine Identität mit sich selbst aufgehoben würde. 3. Messianische Christologie: JEsus gehört seinem Selbstbewußtsein wie seinen sonstigen Wesensmerkmalen nach der Menschheit an; er ist aber Gottes absolutes Organ für die Ausrichtung seines Heilsratschlusses und dazu ausgerüstet durch eine unumschränkte Mitteilung Heiligen Geistes, die ihn zu unbedingter Einheit mit Gott befähigt


128  >        Die Lehre von Christo.  [English ed. ~ 114]

Endlich würde mit der Rückkehr zum Schriftprinzip die Christologie ^ sich auch wieder echt „wissenschaftlich" gestalten, wenn wir unter Wissenschaft — wie es doch nach aller Zugeständnis sein sollte — ein gewisses Wissen oder die Erkenntnis der Wahrheit verstehen. Christus bindet ja ganz ausdrücklich die christliche Wahrheitserkenntnis an das Bleiben an seinem Wort: ’Εάν υμείς μείνητε εν τφ λόγφ τώ εμώ . . . γνώσεσϑε την άλήϋ·ειαν·251) Und Paulus sagt von jedem, der eine andere theologische Methode befolgt, das heißt, nicht an den Worten unsers HErrn JEsu Christi bleibt: Τετύφωται, μηδέν έπιστάμενος, άλλά νοσών περι ζητήσεις και λογομαχίας.252) Mit diesen Worten spricht der Apostel jedem Theologen, der sich in seinen Lehraussagen nicht lediglich an Christi Wort halt,

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und zum Haupt der Gottesgemeinde macht. 4. Prophetische Christologie: JEsus ist vermöge der religiösen Genialität, die er ursprünglich in sich trägt, zur höchsten Vollendung entwickelt und im Wirken auf seine Umgebung betätigt, das unerreichte Vorbild der Frömmigkeit und als solches der Führer der Menschheit in allen Angelegenheiten der Gotteserkenntnis und des religiösen Lebens.” uber diese vier „Hauptrichtungen urteilt Kirn: „Die unter 1. bezeichnen Position beschränkt sich im Grunde aus eine Glaubensaussage und ist, soweit sie dies tut, unanfechtbar; sie läßt aber das Bedürfnis nach einer gedankenmäßigen Erläuterung und Vermittlung unbefriedigt” (Kirn meint, sie sei nicht nach der „Denkmöglichkeit" konstruiert). „Die 2. versucht eine solche zu geben, offenbart aber damit die entgegenstehenden Denkschwierigkeiten mehr, als daß sie dieselben auslösen könnte” (das ist sehr richtig, wie oben bei der Besprechung der modernen Kenose dargelegt wurde). „Die 3. hat ohne Zweifel die breiteste biblische Basis; sie bleibt auch innerhalb der Grenzen der religiösen Erfahrung, indem sie Christi Gottessohnschaft nach Analogie der Gotteskindschaft der Gläubigen denkt” (dieser Ansicht fehlt jede biblische Basis, da Christus nach seinem „Selbstbewußtsein" nicht nur Menschensohn, sondern auch ό νίός τον ϑεον τον ζώντος ist, Matth. 16, 16. 17. Sie widerspricht auch der „religiösen Erfahrung", da der Christ die Gottessohnschast Christi eben nicht „nach' Analogie der Gotteskindschast der Gläubigen" denkt, wie klar aus Matth. 16, 16. 17 hervorgeht). „Fraglich kann nur sein, ob sie auch die Einzigartigkeit Christi, die ihn zum Erlöser und Haupt der Gemeinde macht, gegen alle Verkennung ficherstellt” (das ist gar nicht fraglich, weshalb Christus die Christologie der Άνθρωποι Matth.   16, 13 ff. zurückweist). „Die 4.   Ansicht enthält mehr eine        allgemein historische als die der Heilserfahrung der Gemeinde entsprechende religiöse Wertung der Person JEsu.” (Zu sagen ist: 3. und 4. lassen es nicht zu einer persönlichen Einheit von Gott und Mensch kommen und liegen ganz außerhalb des christlichen Glaubens.)

251) Joh. 8, 31. 32.

252) Nach der Lesart προσέχεται,  die Tischendorf nach Sin. [Ed.- Sinaiticus] festhält; προσέρχεται, accedere ad, to accede to, Beck: sich halten zu, würde denselben Sinn ergeben. Vgl. zur Stelle Huther, v. Soden, Beck, besonders Wolf in den „Curae Philologicae”. Was Wolf gegen Bentley sagt, ist zum Teil durch Sin. hinfällig.


129  >          [English ed. ~ 114–115]

den Wissenschaftlichen Charakter ab. Ein solcher Theolog ist nicht von Wissenschaft, sondern von Dünkel erfüllt, τετύφωται; er redet nicht aus dem Schatz seines Wissens, sondern als ein Ignorant, als ein μη έπιστάμενος; er ist nicht in gesunder Verfassung, sondern νοσών περί ζητήσεις καί λογομαχίας, krank an Streitfragen und Wortgezänken. Die „Streitfragen" derer, die sich nicht lediglich an Christi Worte halten, werden vom Apostel näher als „Wortgezänke", Logomachien, charakterisiert, weil alle Lehraussagen außer und neben dem Wort Christi mera verba, praeterea nihil, sind. Ihmels sagt gegen Ritschl, daß „die Absolutheit der Offenbarung Gottes in Christo" nur durch die Annahme der wesentlichen Gottheit Christi sichergestellt ist.253) Das ist sehr richtig. Ist Christus nicht Gott selbst, sondern nur ein einzigartiger Mensch, so muß man die Möglichkeit zugeben, daß ein Mensch auftritt, der noch einzigartiger ist als Christus und „die Offenbarung Gottes in Christo” uberbietet. Aber auch Ihmels muß seinerseits noch einen Schritt weitergehen. Die Offenbarung Gottes in Christo ist nur dann unüberbietbar sichergestellt, wenn Ihmels und alle Theologen, die dieselbe Methode befolgen, ihren „Erlebnisstandpunkt" ausgeben und sich wieder lediglich aus Christi Wort stellen, das er seiner Kirche gegeben hat. Die Sache liegt in der Theologie ganz anders als in der Naturwissenschaft. Im Reich der Natur sind nur die Tatsachen gegeben, und der Naturwissenschaft bleibt es überlassen, zu den Tatsachen den Kommentar zu liefern. Da wächst in gewissen Gegenden auf dieser Erde die Pflanze Arnica montana, ohne daß Gott einen Zettel daneben wachsen läßt, was es um diese Pflanze sei und wozu sie diene. Erst durch Beobachtung, „Erfahrung" oder „Erlebnis" stellt die „Wissenschaft" fest, wohin Arnica montana botanisch gehört, und daß sie medizinisch die Entzündung bei Wunden lindert. Anders in der Theologie. In der Theologie haben wir nicht bloß Tatsachen, die „Heilstatsachen" der Menschwerdung des Sohnes Gottes, seines geschichtlichen Lebens und seines Werkes auf Erden usw., sondern auch Gottes Kommentar, Gottes Zettel, daneben, wie diese Tatsachen aufzufassen und wozu sie gut sind. Diesen unfehlbaren göttlichen Kommentar hat die christliche Kirche in Christi Wort, das Christus ihr durch seine Apostel und Propheten gegeben hat. Auf diesen Kommentar verweisen daher Christus und seine Apostel als die einzige Quelle und Norm der Glaubenserkenntnis und der Lehraussagen innerhalb der christlichen

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253) Zentralfragen, S. 96 f.


130  >        Die Lehre von Christo.  [English ed. ~ 115]

Kirche. Wir müssen immer wieder an Christi Wort erinnern: „So ihr bleiben werdet an meinem Wort, so werdet ihr die Wahrheit erkennen” und an Pauli Wort: „So jemand nicht bleibet an den heilsamen Worten unsers HErrn JEsu Christi, der ist eingebildet und weiß nichts.” Wie für den Naturwissenschaftler die Tatsachen der Natur die „Wahrnehmungswelt” bilden, so sind für die Christen im allgemeinen und den Theologen insonderheit die Wahrnehmungswelt nicht die Heilstatsachen an sich, sondern Christi Wort über die Heilstatsachen. Hier ist nichts der menschlichen Deutung überlassen,' sondern alles ist von Gott selbst in seinem Wort gedeutet, und daher gilt für alles Lehren in der christlichen Kirche die Generalregel: Εΐ τις λαλεΐ, ώς λόγια ϑεοϋ.254) Solange man die christliche Lehre und insonderheit die Lehre von Christi Person nicht dem Wort Christi entnimmt, sondern aus dem menschlichen Erlebnis „herausarbeiten" will, ist und bleibt methodisch alles auf den Kopf gestellt, der mit Christo verbindende Glaube ist abgetan, weil nach der Schrift dieser Glaube stets Gottes Wort zum Korrelat hat,255) und die ganze christ

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254) 1 Petr. 4, 11.

255) Auch Eduard König hat gegen „die neue Art der Glaubensbegründung" durch „Erleben" von „Ereignissen" anstatt durch das Wort der Propheten und Apostel Protest eingelegt in seiner Schrift „Der Glaubensakt des Christen” (1891). Nur hätte König den weiteren Schritt tun und Nachweisen sollen, daß „die neue Art der Glaubensbegründung" eine notwendige Folge des Ausgebens der Inspiration der Schrift ist. Haben wir kein festes, über alle menschliche Kritik erhabenes Schriftwort, auf das der Glaube sich gründet, so bleibt nur eine subjektivmenschliche Glaubensbegründung übrig, einerlei ob man sie „Erlebnis", „Erfahrung", „Geist", „Vernunft", „Wissenschaft" oder sonstwie nennt. Darum ist mit dem Aufgeben der Inspiration der Schrift diese „neue Art der Glaubensbegründung” bei den modernen positiven Theologen allgemein zur Herrschaft gekommen. Auch Ihmels redet sehr energisch dagegen, daß der Glaube lediglich auf Christi Wort gegründet werde. Er sagt: „Der Glaube der ersten Jünger ist nicht so” (durch Christi „Selbstzeugnis" oder durch das Wort von Christo) „entstanden. Er ist vielmehr aus dem Eindruck der Wirklichkeit erwachsen, unter dem die Jünger täglich standen. Auch heute ist nur das wirklicher Glaube an JEsum Christum, der durch seine Erscheinung selbst dem Menschen aufgedrängt wird. (Zentralfragen, S. 89.) Es wird nicht ganz klar, was Ihmels unter „Wirklichkeit zur Zeit der ersten Jünger und unter der „Erscheinung Christi zu unserer Zeit versteht, wodurch der Glaube an Christum „aufgedrängt" wurde, beziehungsweise „aufgedrängt wird. Tatsache ist aber, daß der Glaube, der mit Christo verbindet, immer nur durch das Wort von Christo entsteht und erhalten wird. So war es bei den ersten Jüngern. Johannes der Täufer kam zum Zeugnis, daß er von Christo zeugete, auf daß alle durch ihn glaubten, Joh. 1, 7. Durch das Wort von Christo entstand der Glaube Josephs, Matth. 1, 20 ff., der Maria


131  >        Unio personalis und christologische Aufstellungen der Neuzeit.   [English ed. ~ 116]

liche Lehre und insonderheit die Christologie ist nicht „theozentrisch", sondern „anthropozentrisch", das heißt, völlig untheologisch orientiert. Aber auch mit der Wissenschaftlichkeit der Theo

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selbst, Luk. 1, 38. 45 ; 2, 19, der Hirten, Luk. 2, 10—20. Im Namen aller Jünger bekennt Petrus Joh. 6, 68: „HErr, wohin sollen wir gehen? Du hast Worte des ewigen Lebens", und Christus selbst bezeugt seinen Jüngern Joh. 15, 3: „Ihr seid jetzt rein um des Wortes willen, das ich zu euch geredet habe. So ganz war der Glaube der ersten Jünger auf das Wort gegründet. Denselben Entstehungsgrund hat der Glaube aller Christen bis an den Jüngsten Tag. Christus bezeugt, daß die, welche an seinem „Wort” bleiben, die Wahrheit erkennen, und daß alle Glieder der Kirche bis ans Ende der Lage „durch ihr (der Apostel) „Wort" an ihn glauben werden, Joh. 17, 20. Auch Paulus weiß von keinem andern Entstehungsgrund des Glaubens, wenn er sagt: „Wie sollen sie glauben, von dem sie nichts gehört haben? Wie sollen sie aber hören ohne Prediger? So kommt nun der Glaube aus der Predigt, die Predigt aber durch das Wort Gottes", Röm. 10, 14. 17. Ihmels will freilich, nachdem die „Wirklichkeit ihre Wirkung zur Erzeugung des Glaubens getan hat, auch das Wortzeugnis in Tätigkeit treten lassen. Aber selbst das nachträgliche Wortzeugnis bringt er dadurch um seine praktische Verwendbarkeit, daß er nicht sowohl auf die einzelnen Aussagen über Christi Person als auf „die Gesamthaltung des apostolischen Zeugnisses geachtet haben will. Er sagt: „Es handelt sich hier ganz und gar nicht nur darum, daß JEsu einzelne gottheitliche Prädikate bis zu dem Umfange beigelegt werden, daß er gelegentlich geradezu Gott genannt wird. Nicht Einzelheiten kommen nur oder auch nur in erster Linie in Betracht, sondern die Gesamt-Haltung des apostolischen Zeugnisses mit dem Bekenntnis des Glaubens an JEsum Christum als den HErrn. . . . Manche herkömmliche Darstellungen der Gottheit Christi machen allzusehr den Eindruck, als ob das Bekenntnis zu ihr lediglich auf einzelnen mehr oder weniger geschickt aneinandergereihten Aussagen beruhe. Das ... ist vor allem grundsätzlich falsch. (Zentralfragen, S. 88 f.) Wir kennen diese Weise, das angebliche „Ganze der Schrift" zum Vormund aller einzelnen Schriftaussagen einzusetzen und dadurch die Schrift selbst tatsächlich mundtot zu machen. Es ist dies das böse Schleiermachersche Erbe. Schleiermacher sagt: „Das Anfuhren einzelner Schriftsteller: in der Dogmatik ist etwas höchst Mißliches, ja an und für sich Unzureichendes. (Der christliche Glaube I, § 30.) Ebenso brachte von Hosmann „das Ganze der Schrift in Gegensatz zu den einzelnen Schriftaussagen. (Schriftbeweis 2 I, 671 f.) Mit Recht nannte Kliefoth in seiner Kritik des Hofmannschen Schriftbeweises diese Gegenüberstellung vom Ganzen der Schrift und den einzelnen Schriftaussagen eine „unvollziehbare Phrase. (Der Schriftbeweis des D. J. Chr. K. von Hofmann. Schwerin 1859, S. 32.) Das „Ganze der Schrift in bezug auf alle Teile der christlichen Lehre und insonderheit in bezug auf die Person Christi gewinnt man nur durch sorgfältige Zusammenstellung der einzelnen Schriftaussagen, natürlich in ihrem Zusammenhang angesehen. Insofern jemand anders zum „Ganzen gelangt als durch die einzelnen Teile, bietet er eigenes Fabrikat und beträgt sich nicht mehr als ein Schüler, sondern als ein Kritiker des Schriftwortes. Es ist bei den Erlebnistheologen Sitte geworden, so zu reden, als ob der Sinn der einzelnen Schriftaussagen


132  >        Die Lehre von Christo.  [English ed. ~ 116–117]

logie ist es aus. Einmal deshalb, weil es außer und neben dem Wort Christi kein Erkennen und Wissen von der christlichen Lehre, sondern nur Einbildung gibt, wie reichlich dargelegt wurde.256) Sodann auch deshalb, weil die Theologie, welche auf dem Erlebnisstandpunkt Stellung genommen hat, sich methodologisch fortwährend in einem Zirkel bewegt. Der Zirkel besteht darin, daß diese Methode die'„Erfahrung" durch die „geschichtliche Wirklichkeit” und die „geschichtliche Wirklichkeit" wiederum durch die „Erfahrung” bestimmt sein läßt. Das „Erlebnis" ist zugleich Produkt und Kritiker der „geschichtlichen Wirklichkeit”. Um ein grobes, aber zutreffendes Beispiel anzuführen: Die Wissenschaftlichkeit dieser Methode liegt genau auf dem gleichen Niveau mit der Methode des bekannten Barons, der sein Pferd und sich selbst an dem eigenen Kopfe aus dem Sumpfe herauszog. Insofern Schleiermacher diese Methode in die Theologie eingeführt hat, ist er nicht als der „Reformator", sondern als der größte Irrgeist der Theologie des 19. Jahrhunderts zu bezeichnen. Wollen wir an der studierenden Jugend unsere Pflicht

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eigentlich nur durch Spezialisten aus „der geschichtlichen Wirklichkeit herausgearbeitet werden könne. In Wirklichkeit liegt die Sache so, daß alle zum Verständnis der Schrift nötige „geschichtliche Wirklichkeit in der Schrift selbst durch den Kontext dargeboten und jedem mittelmäßig intelligenten Leser oder Hörer erkennbar ist. (Vgl. Luther, St. L. V, 335.) Schwer erkennbar ist der geschichtliche Hintergrund der Schriftaussagen nur den modernen professionellen Theologen, was daraus hervorgeht, daß sie bei der Feststellung desselben nach allen Windrichtungen auseinandergehen. Es kommt dies daher, daß es ihnen im Grunde weder um den geschichtlichen Hintergrund noch um den Schriftfinn, sondern darum zu tun ist, ihr „Erlebnis unter dem Namen der Schrift an den Mann zu bringen. Wir find mit dem Aufgeben der Inspiration der Schrift und der damit gesetzten „neuen Art der Glaubensbegründung wieder da angelangt, wo Luther anfangen mußte. Der Papst sagt, daß die Schrift ohne die Auslegung der „Kirche" dunkel sei. Die moderne, vom Schriftprinzip abgefallene protestantische Theologie aber redet so, als ob der Sinn der einzelnen Schriftaussagen nur aus dem von Spezialisten festzustellenden „Gesamtbild der geschichtlichen Wirklichkeit erkennbar sei. Beides kommt auf eins hinaus. Luther gibt das Resultat mit den Worten an: Sie sagen solch Ding nur darum, „daß sie uns mögen aus der Schrift führen, den Glauben verdunkeln, sich selbst über die Eier setzen und unser Abgott werden”. (A. a. O., S. 336.)

256) Hierher gehören Luthers Worte in den Schrnalkaldischen Artikeln: „Alles, was ohne solch Wort und Sakrament vom Geist gerühmet wird, das ist der Teufel.” (322,10.) Was die auf dem Erlebnisstandpunkt stehenden Theologen noch Richtiges an Lehre „erleben, haben sie tatsächlich nicht dem „Erlebnis entnommen, sondern hat sich ihnen im Gegensatz zur verkehrten Methode aus dem Wort Christi ausgedrängt. (Vgl. Eduard König a. a. O., S. 70.)


133  >        Die Gemeinschaft der Naturen.  [English ed. ~ 117–118]

tun, so müssen Wir, soviel an uns ist, nebenbei auch den Wahn zerstören, daß die theologische Methode wissenschaftlich sei, welche die christliche Lehre, und speziell auch die Christologie, anstatt aus Christi Wort aus dem christlichen Bewußtsein, der christlichen Erfahrung usw. schöpfen will. Wir haben vielmehr diese Methode auf das entschiedenste als eine κενή απάτη κατά την παράδοσιν των άνϑρώπων, κατά τά στοιχεία του κόσμου καί ου κατά Χριστόν 257) abzuweisen. Und endlich: Wozu alle Bemühung um die „Denkmöglichkeit" durch Aufgeben des Schriftprinzips und durch Substituierung der Erfahrungsmethode, da man schließlich doch bekennen muß: Non liquet. Schaff, der auf Dorners Pfaden wandelt, hat ganz recht, wenn er sagt: "Even the imperfect, finite personality of man has a mysterious background that escapes the speculative comprehension; how much more, then, the perfect personality of Christ, in which the tremendous antithesis of Creator and creature, infinite and finite, immutable eternal Being and changing temporal being are harmoniously conjoined.” 258) Auch Ritschl bekennt ja, daß die Entstehung einer Person wie Christus über alle theologische und wissenschaftliche Erforschung hinausliege. Selbst Seeberg, der Christo das göttliche Ich und die göttliche Natur entzieht, um die wahre Menschheit JEsu recht zur Anschauung zu bringen, streckt schließlich die Waffen, wenn er erklärt: „Bezüglich der besonderen psychischen und physischen Existenzweise der Menschheit JEsu müssen wir auf die Schranken unsers Wissens verweisen.” 259) Warum also nicht von vornherein die von Christo und seinen Aposteln 260) vorgeschriebene theologische Methode befolgen und das freilich, alles menschliche Denken übersteigende Geheimnis der unio personalis von Gott und Mensch im Glauben an Christi Wort erkennen und lehren und so einer Position entrinnen, die ebenso schriftwidrig als unwissenschaftlich ist?

4. Die Gemeinschaft der Naturen. ^

(De communione naturarum.)

Die Veranlassung zu einer besonderen Behandlung der Gemeinschaft der Naturen. Es sollte nicht nötig sein, nach Darlegung der persönlichen Vereinigung von Gott

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257) Kol. 2, 8.

258) McClintock Cyclopedia II, 278.

259) Grundwahrheiten, S. 124.

260) Joh. 8, 31. 32; 17, 14. 17. 20; 14, 23—26; 15, 3. 7; 1 Tim. 6, 3 ff.; 2 Tim. 1, 13; 2, 2; 1 Petr. 4, 11.


134  >        Die Lehre von Christo.  [English ed. ~ 118–119]

und Mensch in Christo noch besonders von der Gemeinschaft der Naturen (communio naturarum) zu handeln. Die Gemeinschaft der Naturen ist nichts außer und neben der persönlichen Vereinigung. Wenn wir bisher auf Grund der Schrift sagten, daß in Christo Gott und Mensch persönlich verbunden seien, so meinten wir nie etwas anderes, als daß die beiden Naturen, die göttliche Natur und die menschliche Natur, in Christo vereinigt seien. Von einer Naturengemeinschaft in Christo könnte nur dann nicht die Rede sein, wenn „Gott” und „Mensch", von Christo gebraucht, bloß Titel wären, das heißt, wenn Gott bloß einen sogenannten Gott und Mensch nur einen sogenannten Menschen bezeichnete. In diesem Falle wären in Christo nicht zwei Naturen, sondern nur zwei Titel oder Namen verbunden. So gewiß nun aber Gott und Mensch in diesem Handel nicht im uneigentlichen, sondern im eigentlichen oder wesentlichen Sinne zu nehmen sind, so gewiß ist in allen Schriftaussagen, in denen die Verbindung von Gott und Mensch in einer Person ausgesagt ist, also in den sogenannten „persönlichen Sätzen” (propositiones personales), direkt die Verbindung oder Gemeinschaft der beiden Naturen ausgesagt. Ganz richtig bemerken Lehrer der lutherischen Kirche, daß, genau geredet, die communio naturarum aus der unio personalis nicht erst folge, sondern mit dieser sachlich zusammenfalle und nur begrifflich von ihr unterschieden werden könne. So sagt Baier: Dicitur communicatio naturarum fluere ex unione personali nostro modo concipiendi. Quod enim realiter ab ea differat, non apparet.261)

Aber warum denn die christliche Glaubenslehre noch mit einer besonderen Abhandlung über die Gemeinschaft der Naturen ^ beschweren? Es kommt dies daher, daß sonderlich die reformierten Theologen zwar zugeben wollen, daß in Christo Gott und Mensch eine Person bilden, aber mit großer Entschiedenheit jede tatsächliche Gemeinschaft (realis communio) zwischen der göttlichen und menschlichen Natur verwerfen. Sie wollen eine Gemeinschaft der menschlichen Natur mit der Person des Sohnes Gottes zugeben, aber eine Gemeinschaft mit der göttlichen Natur des Sohnes Gottes erklären sie für unmöglich, weil die endliche menschliche Natur einer tatsächlichen Verbindung mit der unendlichen göttlichen Natur nicht fähig sei (Finitum non est capax infiniti). So sagt Heidegger: Assumptio haec (nämlich der mensch

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261) Compendium III, 38.


135  >        Die Gemeinschaft der Naturen.  [English ed. ~ 119–120]

lichen Natur) facta est non ad naturam, sed ad personam Filii.262) Sohn sagt zunächst ganz richtig: Filius solus factus est homo, non Pater aut Spiritus S.. Um aber nicht in die Lage zu kommen, eine Gemeinschaft der göttlichen Natur mit der menschlichen zugeben zu müssen, trennt er den Sohn Gottes von seiner göttlichen Natur, indem er hinzusetzt: atque iterum persona Filii, non natura divina (factus est homo), si proprie loqui volumus.263) Danäus schreibt gegen Chemnitz: Nihil quidquam, quod deitatis ipsius proprium et essentiale est, ulli omnino rei creatae, qualis est humana et assumta a Christo natura, realiter communicari potest.264) So ernst ist es den reformierten Theologen mit der Leugnung der Gemeinschaft der Naturen in Christo, daß sie die Lutheraner, die diese Gemeinschaft lehren, des Eutychianismus, das heißt, der Verwandlung der menschlichen Natur in die göttliche, beschuldigen. In dieser — man muß sagen fanatischen — Bekämpfung der realis communio naturarum sind die alten und die neueren reformierten Theologen einig. Auch Hodge sagt tadelnd von der lutherischen Lehre: "The capacity of human nature for divinity became the formative idea in the Lutheran doctrine of the person of Christ.” 265) Römische Theologen machen in diesem Punkt gemeinschaftliche Sache mit den reformierten.266) Die reformierten und römischen Theologen sind also dafür verantwortlich zu halten, daß in der Dogmatik die communio naturarum noch besonders nach der Lehre von der unio personalis behandelt wird. Es liegt in der Natur der Sache, daß hierbei lästige Wiederholungen Vorkommen. Tatsächlich steht es so, daß sowohl unter diesem Abschnitt von der Gemeinschaft der Naturen als auch unter dem folgenden Abschnitt von der Gemeinschaft der Eigenschaften nichts Neues, sondern ein und dieselbe Sache unter verschiedenen Gesichtspunkten dreimal behandelt wird. Die persönliche Vereinigung kann nicht ohne

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262) Bei Heppe, Ref. Dogm., S. 303.        263) Bei Heppe, a. a. O., S. 303.

264) Examen libri de duabus in Christo naturis, 1581, p. 104. Bei Frank, Theol. der b'. 0. III, 324.

265) Systematic Theology, II, 410 sq.

266) Busäus: Nec re nec nomine in persona Christi aut communicatas esse aut communicari potuisse naturas earumque proprietates. (Disp, de pers. Christi, th. 14; bei Quenstedt II, 206.) Auch Bellarmin will die unio personalis aus die Mitteilung der Persönlichkeit beschränkt wissen. (Lib. III de Christo, c. 8. 16.) Auch A. J. Maas leugnet die Gemeinschaft der Naturen in Catholic Encycl. III, 169.


136  >        Die Lehre von Christo.  [English ed. ~ 120]

die Gemeinschaft der Naturen und die Mitteilung der Eigenschaften beschrieben werden. Ebensowenig kann von der Gemeinschaft der Naturen und der Mitteilung der Eigenschaften ohne stetes Zurückgreifen auf die unio personalis geredet werden. Das ist, wie gesagt, lästig. Mit Recht klagen Lehrer und Lernende über die Stoffanhäufung bei der Lehre von Christi Person. Aber diese Sachlage läßt sich nicht andern, solange es Leute gibt, die zwar die unio personalis zugeben wollen, aber die communio naturarum und die eommunieatio iäiomatum als Irrlehre bekämpfen.

Beurteilung der Leugnung der Gemeinschaft der Naturen. ^

Durch die Leugnung der communio naturarum treten die reformierten Theologen in Widerspruch sowohl mit sich selbst als auch mit den Schriftaussagen.

Sie treten in Widerspruch mit sich selbst. Es steht wirklich so, wie Seeberg erinnert hat: Wer die persönliche Verbindung von Gott und Mensch in Christo zugibt und glaubt, hat das Recht verloren, gegen die Gemeinschaft der Naturen und die Mitteilung der Eigenschaften zu reden.267) Daß alle Unitarier die communio naturarum in Christo so entschieden ablehnen,268) ist von ihrem Standpunkt aus durchaus konsequent. Da sie Christum nur Gott nennen, ihm aber die göttliche Natur absprechen, so kann in ihrer Christologie von einer Gemeinschaft der göttlichen und menschlichen Natur nicht die Rede sein. Sie kennen nur eine Natur in Christo, die menschliche. Ebenso ist es nur konsequent, wenn alle neueren Theologen, die die menschliche Natur Christi als eigene Person existieren lassen, von der communio naturarum oder der „Zweinaturen-Lehre" nichts wissen wollen. Indem sie der menschlichen Natur Christi die Eigenpersönlichkeit zusprechen, haben sie, wie die Unitarier, einen Christus, dem nur eine Natur zukommt, die menschliche. Das Göttliche in ihrem Christus ist nicht die göttliche Natur, sondern nur 'eine einzigartig gesteigerte göttliche Wirksamkeit, Offenbarung usw. Anders aber steht es bei den reformierten Theologen. Sie wollen Christum nicht bloß Gott nennen, wie die Unitarier, sondern sie schreiben Christo die wesentliche Gottheit zu.269) Sie wollen auch nicht, wie die neueren Theologen, die menschliche

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267) Vgl. Note 22, S. 60 s.        268) Catech. Racov., qu. 97. 98.

269) Conf. Helvet. II, 11: Filius est Patri juxta divinitatem coaequalis et consubstantialis, Deus verus, non nuncupatione aut adoptione aut ulla dignatione, sed substantia atque natura.


137  >        Beurteilung der Leugnung der Gemeinschaft der Naturen.  [English ed. ~ 121]

Natur Christi eigenpersönlich existieren lassen, sondern an dem Zusammenschluß der göttlichen und der menschlichen Natur in einer Person, also an der Zweinaturenlehre, festhalten.270) Wenn sie nun trotzdem die reale Gemeinschaft der göttlichen und der menschlichen Natur leugnen und von einer bloß nominellen Gemeinschaft, soweit die Naturen in Betracht kommen, reden, so haben wir ein klares Beispiel eines Selbstwiderspruchs vor uns. Sie glauben freilich einen zureichenden Grund für die Ablehnung der Naturengemeinschaft zu haben, nämlich das Axiom: Finitum non est capax infiniti. Sie weisen darauf hin, daß die göttliche und die menschliche Natur inkommensurable Größen sind. Die Unendlichkeit der göttlichen Natur soll eine reale Gemeinschaft mit der endlichen menschlichen Natur unmöglich machen. Aber nun steht es doch so, daß auch die Person des Sohnes Gottes unendlich ist, nicht weniger unendlich als die göttliche Natur. Wenn die Unendlichkeit der göttlichen Natur ihre Gemeinschaft mit der menschlichen Natur unmöglich macht, so macht auch die gleiche Unendlichkeit der göttlichen Person des Sohnes Gottes ihre Verbindung mit der menschlichen Natur Christi unmöglich, und damit ist dann die Menschwerdung des Sohnes Gottes überhaupt für unmöglich erklärt. Die reformierten Theologen müssen entweder ihren Widerspruch gegen die lutherische Lehre von der Naturengemeinschaft aufgeben oder aber auch die reale Gemeinschaft der menschlichen Natur mit der Person des Sohnes Gottes für unmöglich erklären. Jedes Wort, das sie nach dem Grundsatz Finitum non est capax infiniti gegen die lutherische Lehre von der Naturengemeinschaft reden, reden sie zugleich wider sich selbst, nämlich wider die noch, von ihnen behauptete Gemeinschaft der menschlichen Natur mit der Person des Sohnes Gottes. Klar und scharf hat schon die Apologie der Konkordienformel den reformierten Selbstwiderspruch nachgewiesen, wenn sie gegen die Admonitio Neostadiensis ausführt: „Hat sie (die menschliche Natur) den Sohn Gottes der Herrlichkeit können fähig machen, daß sie von ihm in die Einigkeit seiner Person, ohne Zerstörung ihrer Natur, angenommen, weshalb sollte er sie nicht auch seiner Majestät, ohne ihre Abtilgung, haben können fähig oder teilhaftig machen? Ist sie nicht abgetilgt durch die Persönliche Vereinigung, wie sollte sie denn durch die Mitteilung der Majestät abgetilgt

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270) A. a. O.: Agnoscimus in uno atque eodem Domino nostro Jesu Christo duas naturas, divinam et humanam.


138  >          [English ed. ~ 121–122]

werden? Ja, so unglaublich ist die Persönliche Vereinigung als die Mitteilung der Majestät, wenn man auf das principium sehen will Finitum non est capax infiniti; und wenn man daraus die Mitteilung der Majestät verleugnen könnte, so könnte man ebenermaßen auch aus demselben principio die Menschwerdung selbst verneinen, denn es schleußt an einem Ort ja so stark wie am andern."271)  Dieses Argument der Apologie der Konkordienformel ist unwiderleglich. Dasselbe Argument macht mit Recht Frank gegen Danäus geltend. Wenn Danäus mit so großer Zuversicht gegen Chemnitz schrieb: Nihil quidquam, quod deitatis ipsius proprium et essentiale est, ulli omnino rei creatae, qualis est humana et assumta a Christo natura, realiter communicari potest, so bemerkt Frank dazu völlig richtig: „Also auch nicht die Persönlichkeit des Logos, die doch, wenn irgend etwas, deitatis ipsius propria est.” 272)

Aber vor allen Dingen setzen sich die reformierten Theologen mit ihrer Leugnung der Naturengemeinschaft in direkten Widerspruch zur Schrift. Die communio naturarum kommt in allen Schriftaussagen, die von der Menschwerdung handeln, direkt zum Ausdruck. Wenn nach Joh. 1, 14 der Logos so, wie er im vorhergehenden (V. Ist.) beschrieben wurde, nämlich als der ewige Gott und der allmächtige Schöpfer aller Dinge, also inklusive seiner göttlichen Natur, οάρξ εγένετo, nicht durch Verwandlung in die sondern durch Eingehen in die οάρξ, εν οαρκΐ έληλνϑώς;273) so ist eo ipso, durch diesen Akt des Eingehens in das Fleisch, die Gemeinschaft der göttlichen Natur des Sohnes Gottes mit der menschlichen Natur, in die er eingegangen ist, gelehrt. Ferner:Wenn der Hebräerbrief statt des johanneischen οάρξ εγένετ ο und εν οαρκι ηλϑεν vom Sohne Gottes sagt: μετέοχε των αυτών, scil, οαρκός καϊ αίματος,274) er ist des Fleisches und Blutes der Menschen teilhaftig geworden, so ist damit ebenfalls direkt die Naturengemeinschaft ausgesagt. . Nicht minder kommt die Natürengemeinschaft in den Worten zum Ausdruck, die bei Johannes auf die Worte δ λόγος οάρξ εγένετο unmittelbar folgen. Johannes sagt nämlich von dem fleisch gewordenen und unter den Menschen wohnenden Logos: και έϑεαοάμεϑα την δόξαν αντον ώς μονογενούς παρά πατρός. War die göttliche δόξα in und an dem Fleische

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271) Apologie der F. C., fol. 62 f.; bei Frank, a. a. O. III, 324.

272) Theol. d. Konkordienf. III, 324.        273) 1 Joh. 4, 2. 3.

274) Hebr. 2, 14.


139  >          [English ed. ~ 122–123]

sichtbar, durch das Fleisch hindurchleuchtend, so war die göttliche Natur in wahrer Gemeinschaft (realis communio) mit dem Fleische. Ferner: Das παν τό πλήρωμα τής ϑεότητος, Kol. 2, 9, ist sicherlich eine direkte und emphatische Bezeichnung der göttlichen Natur oder des göttlichen Wesens. Der Ausdruck bezeichnet nicht eine natur- und wesenlose Person, sondern die göttliche Person des Logos mit der ganzen Fülle der göttlichen Natur. Diese ganze Fülle der göttlichen Natur ist aber in die menschliche Natur Christi eingegangen, wenn der Apostel bezeugt: Έν αντω — nämlich in Christo nach der menschlichen Natur — κατοικεί παν το πλήρωμα τής $εότψος οωματικώς. „Wohnt" die göttliche Natur Christi in seiner menschlichen Natur wie in ihrem σώμα, so ist damit so klar wie möglich ausgesagt, daß die göttliche Natur mit der menschlichen nicht bloß nominelle, sondern reale Gemeinschaft hat. Die reformierte Entrüstung, wie sie in Danäus' Worten zum Ausdruck kommt: Quid obsecro plenitudinis Dei praeter Deum ipsum capax esse potest? ist eine Entrüstung, die sich gegen die Schrift richtet.

Die nähere Beschaffenheit der communio naturarum.  ^  Aber nicht nur die Tatsache, sondern auch die nähere Beschaffenheit der communio naturarum kommt in der Schrift reichlich zum Ausdruck. Die Schrift beschreibt die Naturengemeinschaft als ein Ineinander ohne Vermischung und Verwandlung.

Wenn die Schrift sagt, daß in Christi menschlicher Natur die ganze Fülle der Gottheit leiblich, οωματικώς, wohne, so gebraucht sie die Verbindung von Seele und Leib im Menschen als ein Bild, um die Verbindung der Fülle der Gottheit, das ist, der göttlichen Natur Christi, mit seiner menschlichen Natur zur Darstellung zu bringen. Wie Seele und Leib im Menschen nicht nebeneinander, sondern ineinander sind, und zwar so, daß die Seele den Leib durchdringt, so ist auch auf Grund der Schrift die Gemeinschaft der Naturen in Christo nicht als ein Nebeneinander (συνάφεια), sondern als ein Ineinander zu denken, und zwar so, daß die göttliche Natur die menschliche durchdringt (περιχώρησις). Die Durchdringung der. menschlichen Natur Christi seitens der göttlichen ist auf Grund der Schriftaussage Kol. 2, 9 von den Christen erkannt und geglaubt worden, ehe durch den Damascener der Ausdruck περιχώρησις als kirchlicher terminns in Aufnahme kam. Das Ineinander der Naturen und die περιχώρησις kommt auch zur Aussage, wenn Johannes sowohl in seinem Evangelium als auch in seinem


140  >          [English ed. ~ 123–124]

ersten Briefe berichtet, daß er und seine Genossen die göttliche Herrlichkeit (την δόξαν ώς μονογενούς παρά πατρός) an dem fleischgewordenen Wort, als es unter ihnen wohnte, also in und an der menschlichen Natur schauten (έΰεασάμεϋα), mit ihren Ohren hörten (άκηκόαμεν), mit ihren Augen sahen (έωράκαμεν) und mit ihren Händen betasteten (al χεΐρες ημών έψηλάφησαν).275) Dieses Schauen der göttlichen Herrlichkeit und dieses Hören, Sehen und Betasten des ewigen Gottes an der menschlichen Natur Christi schließt in sich, daß die menschliche Natur Christi von seiner göttlichen Natur durchdrungen war.

Aber so klar die Schrift das Ineinander der Naturen und die περιχώρησις lehrt, so klar lehrt sie andererseits auch, daß dabei beide Naturen intakt bleibm, also keine Vermischung oder Verwandlung der Naturen stattfindet. Wenn sie von der Fülle der Gottheit das „Wohnen” (κατοικεί) in der menschlichen Natur Christi aussagt, so belehrt sie uns dahin, daß bei dieser Verbindung weder die Fülle der Gottheit in die menschliche Natur verwandelt, noch auch die menschliche Natur von der Fülle der Gottheit absorbiert wurde, sondern beide Faktoren in dieser wunderbaren Vereinigung unverwandelt und ungeschmälert blieben, gerade wie die Seele des Menschen in ihrem wohnt, ohne daß eine Verwandlung der Seele in den Leib oder des Leibes in die Seele stattfindet. Die völlige Unversehrtheit beider Naturen in Christo trotz der innigsten Durchdringung kommt auch Joh. 1, 14 und 1 Joh. 1, 1—3 zur Aussage. Die Menschheit, in der der Logos auf Erden wohnte (έσκήνωσεν), war nicht ein Phantasma, sondern ein wirklicher Mensch, den die Jünger nicht nur sahen, sondern auch betasteten, der auch nach der Auferstehung noch Fleisch und Bein hatte.276) Die völlige Unversehrtheit der göttlichen Natur kommt dadurch zur Aussage, daß Johannes und Genossen an der menschlichen Natur des Logos nicht etwa bloß einen Ableger der göttlichen Doxa oder einzigartige endliche Gaben (dona finita extraordinaria) hervorleuchten sahen, sondern die echte, wahre, göttliche Herrlichkeit, δόξαν ώς μονογενούς παρά πατρός. Hiernach steht ein Doppeltes fest: 1. Die konstante Behauptung der reformierten Theologie, daß bei einer wirklichen Gemeinschaft der Naturen (realis communio naturarum) weder die göttliche noch die menschliche Natur unverwandelt bleiben könnte, ist nicht der Schrift, sondern Wider die Schrift den

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275) Joh. 1, 14; 1 Joh. 1, 1 ff.        276) Luk. 24, 39.


141  >        Die nähere Beschaffenheit der communio naturarum.  [English ed. ~ 124–15]

eigenen Menschlichen Gedanken entnommen; 2. die Darstellung des lutherischen Bekenntnisses hingegen, wonach eine reale Gemeinschaft der Naturen in Christo statthat und dennoch die Naturen in ihrem Wesen unverändert bleiben, gibt nur die Aussagen der Schrift wieder.

Zur Darstellung der Naturengemeinschaft gehört auch der Hinweis auf eine Frage, die später noch eingehender bei der Lehre von der Allgegenwart Christi nach der menschlichen Natur zu erörtern ist. Es ist dies die Frage, ob der Sohn Gottes nach seiner Menschwerdung überall, wo er ist, i n seiner menschlichen Natur sei oder seine menschliche Natur überall bei sich habe. Die Antwort auf diese Frage ist ja für die verschiedenen Christologien charakteristisch geworden. Die lutherische Kirche beantwortet diese Frage mit einem entschiedenen Ja. Sie lehrt, daß der Sohn Gottes nach der Menschwerdung überall, wo er ist, Mensch, ενσαρκος, incarnatus, sei. Dies kommt zum Ausdruck in dem Axiom: Neque caro extra λόγον neque λόγος extra carnem. Die reformierten Theologen beantworten diese Frage ebenso entschieden mit Nein. Sie lehren, daß der Sohn Gottes auch nach seiner Menschwerdung nicht , überall, sondern nur an einem Ort seine menschliche Natur bei sich habe. Der Sohn Gottes sei auch nach seiner Menschwerdung wie innerhalb, so auch ganz außerhalb seiner menschlichen Natur.277) Die lutherischen Theologen nennen diese Behauptung kurz das „extra Calvinisticum”. Was lehrt die Schrift? Wenn die Schrift von dem Sohn Gottes das οάρξ εγένετo aussagt, so haben wir kein Recht, uns den Sohn Gottes anders als ενσαρκος, incarnatus, als überall in seiner menschlichen Natur vorzustellen. Dieselbe Vorstellung erzwingt Kol. 2, 9. Wohnt (κατοικεί) die ganze Fülle der Gottheit in der menschlichen Natur wie in ihrem so ist die göttliche Natur nicht außer (extra), sondern in der menschlichen Natur zu denken, gerade wie die menschliche Seele nicht außer, sondern in dem menschlichen Leibe zu denken ist. Dagegen ist von reformierter Seite bemerkt worden, daß die Schrift auch von einem „Wohnen" Gottes in jedem gläubigen Menschen rede und doch dabei Gott ganz außerhalb (extra) der Gläubigen bleiben lasse. Freilich redet die Schrift oft so.278) Aber die Schrift sagt auch nicht von gläubigen Menschen, z. B. von Paulus oder Petrus, wie von Christo nach der menschlichen Natur,

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277) So auch die Neustädter Admonition, o. 8, p. 279.

278) 1 Kor. 3, 16; 6, 19; 2 Kor. 6,16; Ies. 57, 15; Jer. 23, 23. 24.


142  >        Die Lehre von Christo.  [English ed. ~ 125–126]

daß Gott in ihnen Mensch geworden sei, und daß die ganze Fülle der Gottheit in ihnen οωματικώς wohne. Es geht also nicht anders: die Schriftaussagen über die Menschwerdung des Sohnes Gottes lauten dahin, daß der Sohn Gottes überall, wo er ist, als ενοαρκος, in carne, zu denken sei. Sobald man sich mit den Reformierten das extra carnem erlaubt, läßt man die unio personalis fahren und setzt sie in die unio mystica und sustentativa um. Die reformierten Theologen alter und neuer Zeit nehmen diese Kritik sehr übel und bezeichnen sie als ungerecht. Aber gerade durch , ihre Verteidigung beweisen sie aufs schlagendste die Beschuldigung als vollkommen gerecht. Ihre Verteidigung verläuft nämlich so: Wenn auch der Sohn Gottes seine menschliche Natur nicht überall, wo er ist, bei sich hat, so erhält er doch seine menschliche Natur an dem einen Ort, wo sie ist, aufrecht. Die Verteidigung wahrt also die unio personalis in der Weise, daß sie die unio personalis mit dem Sein Gottes in allen Gläubigen und dem Sein Gottes in allen Kreaturen identisch setzt, das heißt, völlig abtut. So wurde schon oben darauf hingewiesen,279) daß gerade auch der Heidelberger Katechismus die unio personalis durch die Preisgebung derselben verteidigt. Alting sagt zwar, daß weder die menschliche Natur außerhalb des Logos noch der Logos irgendwo ohne die menschliche Natur sei. Aber zugleich reduziert er diese Verbindung auf die bloße sustentatio, wenn er schreibt: Unio ista personalis in Christo facta est άδιαιρέτως, indivise respectu loci, ut nuspiam natura humana sit non sustentata a λόγφ, nuspiam λόγος non sustentans humanam naturam, nec illa extra λόγον, nec λόγος absque illa.280) Dagegen hält das lutherische Bekenntnis fest, daß die unio personalis nicht bloß die Aufrechterhaltung der menschlichen Natur, sondern dies in sich schließe, daß der Sohn Gottes überall, wo er ist, die menschliche Natur tatsächlich bei sich habe. So heißt es in der Konkordienformel: „Wo du kannst sagen: Hie ist Gott, da mußt du auch sagen: So ist Christus der Mensch auch da. Und wo du einen Ort zeigen würdest, da Gott wäre und nicht der

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279) Note 208.

280) Bei Heppe, S. 313. So auch Bellarmin: Licet alicubi sit Verbum, ubi non sit humanitas, tamen etiam ibi Verbum est homo, quia Verbum ibi existens sustentat humanitatem uti suam et propriam, licet alibi existentem. (Lib. III; De incarnat., c. 17. Bei Quenstedt II, 192 ) Der Jesuit Busäus: Divinitas infinitis locis est, ubi non est humanitas. (Apolog., c. 7, p. 211; bei Quenstedt II, 200.)


143  >        Die nähere Beschaffenheit der communio naturarum.  [English ed. ~ 126–127]

Mensch, so wäre die Person schon zertrennt, weil ich alsdann mit der Wahrheit könnte sagen: Hie ist Gott, der nicht Mensch ist und noch nie Mensch worden."281)

Wendet man hiergegen ein, daß dann die menschliche Natur Christi als sehr groß und ausgedehnt zu denken sei, so ist zu antworten, daß die menschliche Natur Christi als σώμα der göttlichen Natur nicht um einen Zoll größer zu werden brauchte, da auch der göttlichen Natur keine räumliche Ausdehnung (moles) zukommt. Wohl aber lassen wir uns von der Schrift dahin belehren, daß die menschliche Natur Christi durch ihre Existenz in der Person des Sohnes Gottes neben ihrer natürlichen, räumlichen und sichtbaren Seinsweise eine den Schranken des Raums entnommene, göttliche, unsichtbare Seinsweise erlangt hat. Die Schrift lehrt diese verschiedene Seinsweise ganz klar. Wenn sie z. B. von Christo berichtet, daß er Judäa verließ, wieder nach Galiläa zog und durch Samaria reiste,282) so schreibt sie ihm die räumliche Seinsweise zu (localis subsistendi modus). Wenn sie aber von demselben Christus sagt, daß er zu den Jüngern kam αφαντος έγένετο απ’, αυτών,284) so schreibt sie Christo eine illokale, unsichtbare, über den Raum erhabene Seinsweise zu.285) Um die unsichtbare, über den Raum erhabene Seins

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281) M. 693, 82. Mentzer: Quicunque dicunt post factam incarnationem τον λόγον esse vel subsistere extra suam carnem, quocunque colore pingant, solvunt, quantum in ipsis est, unionem hypostaticam, quippe cujus definitionem (Wesensbestimmtheit) tollunt. Si enim unio hypostatica est ,inhabitatio’ totius plenitudinis divinitatis τον λόγον in assumta carne . . ., consequens est, solvi unionem personalem, quam primum statuitur ό λόγος extra suam carnem. (Disp, theol. de praecip. controv. in Academ. Giess. 1,36; bei Baier III, 37.)

282) Joh. 4, 3. 4.        283) Joh. 20, 19. 26.        284) Luk. 24, 31.

285) Ebenso schon im Stande der Erniedrigung Joh. 8, 59; Luk. 4, 30;

Matth. 14, 25. Die lutherischen Lehrer führen schriftgemäß aus: Der menschlichen Natur Christi kommen zweierlei Akte zu: solche, die ihr mit allen andern Menschen gemeinsam sind (actus naturales), wie das. örtlich- und Sichtbarsein, örtlich und sichtbar Sichbewegen usw., und solche Akte, die nur der menschlichen Natur Christi zukommen, weil nur sie mit dem Sohne Gottes persönlich vereinigt ist (actus personales), wie das über-den-Raum-Erhaben- und Unsichtbarsein usw. — Gerhard: Quia λόγον νπόοτααις facta est camis νπόοτααις, ideo caro per unionem modum subsistendi illocalem est sortita. Et quia λόγον νπόοτααις eo modo facta est camis νπόοτααις, ut non desierit esse quod erat, videlicet humana natura, inde jam oritur distinctio inter actum naturalem et personalem. Quaedam enim de Christo homine praedicantur


144  >        Die Lehre von Christo.  [English ed. ~ 127–128]

weise der menschlichen Natur Christi leugnen zu können, haben reformierte Theologen Joh. 20 bei den verschlossenen Türen nach einer Öffnung in den Türen oder im Fenster oder im Dach oder in den Wänden gesucht, um Christo das Kommen in den Raum, wo die Jünger versammelt waren, möglich zu machen.286) Es liegt aber auf der Hand, daß damit die Schriftaussage in ihr Gegenteil verkehrt wird, weil nach dem Kontext gerade auf dem Geschlossensein der Türen der Nachdruck liegt. Auch Meyer, wiewohl er Ungehöriges einmischt, bemerkt zur Stelle richtig: Der Text „weist auf ein wunderbares Erscheinen hin, welches der geöffneten Türen nicht bedurfte und während des Verschlossenseins derselben geschah”.287) Freilich versichern uns die reformierten Theologen mit großer Übereinstimmung, daß eine unsichtbare, über den Raum erhabene Seinsweise der menschlichen Natur Christi nicht möglich sei ohne Vernichtung der Realität der menschlichen Natur. Dagegen erinnern die lutherischen Theologen mit Recht, daß wir die Sorge um die Erhaltung der menschlichen Natur Christi Gott überlassen können, der in seinem Wort sowohl die illokale Seinsweise als auch die Realität der menschlichen Natur Christi aussagt. Zugunsten der reformierten Theologen ist zu sagen: Es ist allerdings nicht zu verwundern, wenn jemand momentan auf den Gedanken kommt, daß die unräumliche Seinsweise sich mit der Wahrheit der menschlichen Natur Christi nicht vertrage. Auch den Jüngern kamen die Ge

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secundum actum naturalem, quae sci. ex principiis naturae constitutivis oriuntur et quae cum omnibus hominibus habet communia; quaedam secundum actum personalem, quae sci. ratione unionis personalis ipsi competunt. (De pers., § 121.)

286) Calvin, Inst. IV, 17, 29 und öfter. Ein ausführliches Verzeichnis der reformierten Verlegenheitsdeutungen bei Quenstedt II, 634 ff. Vgl. auch Köcher, Analecta, p. 1281. Barnes (zu Joh. 20, 19) sagt schlechthin: "There is no evidence that Jesus came into their assembly in any miraculous manner", während Calvin noch von einem admirabilis modus des Eintretens insofern redet, als Christus divina virtute die solida materia, die seinem Eintreten entgegenstand, entfernte.

287) Während Meyer meint, daß das Eintreten durch verschlossene Türen nichts für die „lutherische Ubiquitätslehre”. beweise, so spricht Holtzmann die Ansicht aus: „Die lutherische Ubiquitiit kommt dem vorausgesetzten Tatbestand wohl noch näher als die calvinische Annahme einer wunderbaren Öffnung der Türen.” Indes handelt es sich hier nicht zunächst um die „Ubiquität", sondern um die illokale Seinsweise des menschlichen Leibes Christi, und die ist hier klar gelehrt, wenn man die geschloffenen Türen nicht in geöffnete Türen umdeuten will.


145  >        Die nähere Beschaffenheit der communio naturarum.  [English ed. ~ 128–129]

danken, als der HErr bei verschlossenen Türen Plötzlich in ihre Mitte trat. Sie meinten, sie sähen einen Geist (πνεύμα 288)). Aber der HErr korrigiert ihre Christologie mit den Worten: „Warum kommen solche Gedanken in eure Herzen?” und er überzeugt sie, daß er trotz seines Eintretens bei verschlossenen Türen σάρκα καί δστέα, also eine wahre menschliche Natur, habe. Die Jünger glaubten Christo. Ein Gleiches sollten alle Theologen, inklusive der reformierten, tun. Die Konkordienformel hält mit Recht den reformierten Theologen vor, „daß sie nach ihren Gedanken oder aus ihren eigenen argumentationibus oder Beweisungen abmessen und ausrechnen wollen, was die menschliche Natur in Christo ohne derselben Abtilgung fähig oder nicht fähig könne oder solle sein”. In positiver Darlegung fügt die Konkordienformel hinzu: „Der beste, gewisseste und sicherste Weg in diesem Streit ist dieser, nämlich was Christus nach seiner angenommenen menschlichen Natur durch die Persönliche Vereinigung, Glorifikation oder Erhöhung empfangen habe und was seine angenommene menschliche Natur über (praetor et supra) die natürlichen Eigenschaften ohne derselben Abtilgung fähig sei, daß solches niemand besser oder gründlicher wissen könne denn der HErr Christus selber; derselbige aber hat solches, soviel uns in diesem Leben davon zu wissen vonnöten, in seinem Wort offenbaret. Wovon wir nun in der Schrift in diesem Falle klare, gewisse Zeugniss' haben, das sollen wir glauben und in keinem Wege dawider disputieren, als könnte die menschliche Natur in Christo desselben nicht fähig sein."289) Die illokale Seinsweise der menschlichen Natur Christi ist noch weiter bei der Frage zu behandeln, ob die praesentia divina der menschlichen Natur Christi mitgeteilterweise zukomme.

Es ist aber billig, am Schluß dieses Abschnittes noch daran zu erinnern, daß die reformierten Theologen ihre Bekämpfung der realis communio naturarum selbst wieder zurücknehmen. Sie tun dies da, wo sie lehren, daß die göttliche Natur Christi dem Leiden seiner menschlichen Natur unendlichen, erlösenden Wert verleihe. So sagt selbst die Neustädter Admonition nicht bloß von der göttlichen Person, sondern von der göttlichen Natur des Sohnes Gottes: Addit hanc dignitatem suae victimae, quam offert Patri pro nobis, ut sit λντρον et pretium sufficiens pro totius

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288) Luk. 24, 37.        289) Müller, 685, 52. 53.


146  >        Die Lehre von Christo.  [English ed. ~ 129–130]

mundi peccatis, aequipollens poenis aeternis.290) Diese Wertverleihung seitens der göttlichen Natur hat natürlich die realis commuuio der göttlichen Natur mit der menschlichen zur Voraussetzung. So treibt die Praxis zur Zurücknahme der falschen Theorie. Die so heftige offizielle Bekämpfung der realen Naturengemeinschaft seitens der reformierten Theologen bei gleichzeitiger Annahme der unio personalis ist eine der sonderbarsten, aus dem Parteigeist hervorgegangenen Verirrungen des menschlichen Verstandes.

5. Die Mitteilung der Eigenschaften. ^

(De communicatione idiomatum.)

Über die Mitteilung der Eigenschaften beider Verbindung von Gott und Mensch zu einer Person ist innerhalb der christlichen Kirche sonderlich viel gestritten worden. Wenn Luther die Klage anstimmt, „daß uns die liebe und selige Freude” (an der Menschwerdung des Sohnes Gottes) „muß verhindert und verderbet werden", so denkt er vornehmlich an die Streitigkeiten über die Mitteilung der Eigenschaften.291) Einige Vorbemerkungen sind hier am Platze.

Zunächst ist daran zu erinnern, was man unter dem Ausdruck „Eigenschaften” (idiomata) verstanden, hat und noch versteht. Unter „Eigenschaften" werden hier nicht bloß Eigenschaften im engeren Sinne verstanden, was göttliche und menschliche Natur ihrem Wesen nach sind also: ewig — zeitlich, unendlich — endlich usw., sondern auch alles, was die Naturen ihrem Wesen nach tun und ihnen widerfährt (actiones et passiones), also: schaffen — geschaffen werden, Leben geben — das Leben lassen usw. Auch die Konkordienformel schickt ihrer Auseinandersetzung über die Mitteilung der Eigenschaften eine Erklärung darüber voraus, was sie unter „Eigenschaften" verstehe: „Wir glauben, lehren und bekennen, daß allmächtig sein, ewig, unendlich, allenthalben zumal, natürlich, das ist, nach Eigenschaft der Natur und ihres natürlichen Wesens für sich selbst gegenwärtig sein, alles wissen sind wesentliche Eigenschaften der göttlichen Natur, welche der menschlichen Natur wesentliche Eigenschaften in Ewigkeit nimmermehr werden. Hinwiederum: ein leiblich Geschöpf oder Kreatur sein, Fleisch und Blut sein, endlich und, umschrieben sein, leiden, sterben, auf und ab fahren, von einem

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290) Admon. Neos,, p. 75; bei Frank III, 326.

291) St. L. XVI, 2231.


147  >        Die Mitteilung der Eigenschaften.  [English ed. ~ 130–131]

Ort zu dem andern sich bewegen, Hunger, Durst, Frost, Hitze leiden und dergleichen sind Eigenschaften der menschlichen Natur, welche der göttlichen Natur Eigenschaften nimmermehr werden.” 292)

Vor allen Dingen aber ist hier wieder daran zu erinnern, daß die Mitteilung der Eigenschaften nicht einen gesonderten Lehrartikel bildet. Man hat ja von der Mitteilung der Eigenschaften als der „äußersten Spitze" der Lehre von Christi, Person geredet. Aber das ist sachlich nicht zutreffend. Wie die Lehre von der Gemeinschaft der Naturen, so geht auch die Lehre von der Gemeinschaft oder Mitteilung der Eigenschaften nicht um eine Linie über die Lehre von der unio personalis hinaus, und die sogenannten propositiones idiomaticae, das heißt, die Sätze, welche die Mitteilung der Eigenschaften zum Ausdruck bringen, decken sich sachlich vollständig mit den sogenannten propositiones idiomaticae, das heißt, mit den Sätzen, die die unio personalis beschreiben, zum Beispiel: „Gott ist Mensch” und: „Mensch ist Gott.” Mit Recht erinnert Luther immer wieder an diesen Punkt, wenn er auf die communicatio idiomatum eingeht. Die Sache steht ja so: Ist der Sohn Gottes Mensch, und zwar nicht ein bloßer Scheinmensch, ein Phantasma, sondern ein wirklicher, mit menschlichen Eigenschaften ausgestatteter Mensch, so kommt ihm mit dem Menschsein auch die ganze Reihe der menschlichen Eigenschaften zu, das heißt, alles das, was die menschliche Natur ist, tut und ihr widerfährt, also das Kreatursein, in der Zeit geboren werden, leiden, sterben, auferstehen, zur Rechten Gottes sitzen, sichtbar wiederkommen usw. Dahin lauten denn auch die klaren Schriftaussagen. Wie die Schrift von dem Sohn Gottes das Menschsein aussagt, σαρξ έγένετο,293) so auch die menschlichen Eigenschaften, die menschliche Geburt und die menschliche Unterstellung unter das Gesetz, γενόμενος εκ γνναικός, γενόμενος υπό νόμον, Leiden und Tod, τον κύριον τής όόξης έστανρωσαν, ο ϑάνατος τον νιον τον ϑεον.294) behauptet, daß diese menschlichen Eigenschaften dem Sohne Gottes

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292) M. 676, 9. 10; 545, 3. 4. Quenstedt: Sumitur vox Ιδιωμάτων vel stricte pro ipsis proprietatibus naturalibus vel late, quatenus ipsas etiam operationes, per quas proprietates proprie dictae sese exserunt, comprehendit. Hoc loco in latiori significatu accipiuntur propria sive idiomata, ita ut praeter proprietates stricte sic dictas etiam actiones et passiones, ενεργήματα και αποτελέσματα ambitu suo comprehendat, quia idiomata per ένεργείας et αποτελέσματα se exserunt.  (II, 134.)

293) Joh. 1,14.          294) Gal. 4, 4. 5; 1 Kor. 2, 8; Rom. 5, 10.


148  >        Die Lehre von Christo.  [English ed. ~ 131-132]

nicht wirklich und wahrhaftig zukommen, sondern hier eine bloße Redefigur (praedicatio verbalis) findet, der muß entweder aus dem Menschen Christus einen bloßen Scheinmenschen ohne menschliche Eigenschaften machen oder aber den Menschen Christus aus der persönlichen Verbindung mit dem Sohne Gottes herausnehmen, das heißt, die unio personalis auflösen. So decken sich die propositiones idiomaticae, welche menschliche Eigenschaften vom Sohne Gottes aussagen, sachlich mit der propositio personalis: „Gott ist Mensch.” Dieselbe Sachlage tritt uns vor Augen, wenn wir auf die Schriftaussagen achten, in denen von dem Menschen Christus göttliche Eigenschaften ausgesagt werden. Ist der Menschensohn nicht bloß Titulargott, sondern Gott von Art, Gott im wesentlichen, metaphysischen Sinne des Wortes, so kommt ihm — dem Menschensohn — mit der göttlichen Natur auch die ganze Reihe der göttlichen Eigenschaften zu, also die Ewigkeit, die göttliche Macht, das göttliche Wissen, die göttliche Gegenwart, die göttliche Ehre usw. Dahin lauten wiederum die klaren Schriftaussagen. Wie die Schrift von dem Menschensohn das Gottsein aussagt, δ υιός τον ζώντος ϑεον,295) und die göttliche Natur, δ ών επί πάντων ϑεός,296) so auch die göttlichen Eigenschaften wie die Ewigkeit, άναβαίνων δπον ήν το πρότερον,297) die Geburt vom Vater, μονογενής παρά πατρός,298) die göttliche Macht und Gegenwart,έδόϑη μοι πάσα εξουσία εν ονρανώ και επί γης . . . έγό) μεϑ υμών είμι πάσας τάς ημέρας εως τής συντέλειας τον αίώνος,299) Wer behaupten wollte, daß diese göttlichen Prädikate dem Menschensohn nicht wirklich und wahrhaftig zukommen, müßte entweder aus dem Sohne Gottes einen Titulargott machen, der gar kein göttliches Wesen und keine göttlichen Eigenschaften hat, oder aber den Sohn Gottes aus der unio personalis herausnehmen, das heißt, die unio personalis auflösen.

Doch, warum etwas so Selbstverständliches noch ausführlicher darlegen und sogar — wie dies die Konkordienformel tut 300) — hon drei Arten der Mitteilungen der Eigenschaften reden? Es kommt dies daher, daß innerhalb der christlichen Kirche die folgenden wunderlichen Dinge passiert sind: a. Man hat zwar zugegeben, daß Gottes Sohn Mensch geworden ist, also die unio personalis und die Zweinaturenlehre Zugestanden, aber trotzdem den Sohn

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295) Matth. 16, 16.        296) Röm. 9, 5.        297) Joh. 6, 62.

298) Joh. 1, 14.        299) Matth. 28, 18—20.

300) Konkordienformel, Art. VIII, § 36 ff., S. 681 ff.


149  >        Die drei Arten der Mitteilung der Eigenschaften.  [English ed. ~ 132–133]

Gottes von den Eigenschaften seiner menschlichen Natur, zum Beispiel von der Geburt aus der Maria und dem Leiden und Sterben, getrennt, mit der Behauptung, es sei unmöglich, ja gotteslästerlich, den Sohn Gottes an diesen menschlichen Eigenschaften wirklich (realiter) teilhaben zu lassen. So Nestorius, Zwingli usw. bd. Man hat zwar zugegeben, daß der Menschensohn der wesentliche Sohn Gottes sei, also die unio personalis von Gott und Mensch und auch die Gemeinschaft der menschlichen Natur mit der göttlichen Person des Sohnes Gottes zugestanden, aber dann doch den Sohn der Maria von den göttlichen Eigenschaften des Sohnes Gottes getrennt mit der Behauptung, daß die menschliche Natur dieser Teilhaberschaft, zum Beispiel an der göttlichen Macht oder gar an der göttlichen Gegenwart, durchaus nicht fähig sei. So die reformierten und römischen Theologen. Man hat daher c. auch geleugnet, daß die göttliche und die menschliche Natur das ihnen Eigentümliche gemeinschaftlich in einem gottmenschlichen Akt wirken. Man hat zum Beispiel behauptet, daß der Mensch Christus nicht anders Wunder getan habe als die Propheten und Apostel. Da von diesen widerspruchsvollen Positionen aus zugleich sehr heftige Angriffe auf die Lehre der Heiligen Schrift gemacht worden sind und noch gemacht werden,301) so liegt leider die Notwendigkeit vor, einem Lehrbuch der Dogmatik, eine eingehendere Abhandlung über die Mitteilung der Eigenschaften einzufügen. Es sollen ja alle, die das öffentliche Lehramt in der christlichen Kirche verwalten, imstande sein, nicht nur die rechte Lehre vorzutragen, sondern auch τους αντιλέγοντας έλέγχειν und έπιστομίζειν.302)

Die drei Arten der Mitteilung der Eigenschaften.

Die Konkordienformel und nach ihrem Vorgänge die Mehrzahl der lutherischen Dogmatiker unterscheiden drei Arten (tria genera) der Mitteilung der Eigenschaften. Diese Dreiteilung ist als unnötig und verwirrend, mindestens als schwerfällig, kritisiert worden.303) Wir haben auch immer bedauert, daß sie eingeführt werden mußte. Aber sie ist nicht willkürlich, sondern geschichtlich und daher sachlich veranlaßt, wie aus dem Vorhergehenden bereits erhellt und im folgenden noch klarer hervortreten wird. Übrigens haben sich die luthe

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301) Von der Neustädter Admonition an bis auf Hodge, Shedd und Böhl.

302) Tit. 1, 9—11.

303) De Wette, Dogm. d. luth. K., § 65. Luthardt, Die chriftl. Glaubensl., S. 362; Komp. d. Dogmatik, 10. Aufl., S. 209. Zöckler, Handbuch III, S. 129.


150  >        Die Lehre von Christo.  [English ed. ~ 133]

rischen Lehrer nicht so auf die Dreizahl versteift, wie es nach neueren dogmengeschichtlichen Darstellungen scheinen möchte, und es sollte Brochmand nicht als ein Beweis der Selbständigkeit angerechnet werden, daß er es gewagt habe, von einem vierten Genus zu reden.304) Quenstedt referiert nicht nur, daß die lutherischen Lehrer zwei, drei und vier Arten der Mitteilung der Eigenschaften gezählt haben, sondern erklärt auch, daß die verschiedene Zählung indifferent sei, und es sich dabei nur um eine verschiedene Lehrmethode handle.305) Ebenso weist Quenstedt darauf hin, daß bei den lutherischen Lehrern, die die Dreiteilung haben, ohne Differenz in der Lehre eine verschiedene äußere Ordnung der drei genera sich findet.306) Es kommt wahrlich nicht darauf an, in wieviel Klassen man die Schriftaussagen, die die Mitteilung der Eigenschaften zum Ausdruck bringen, äußerlich zusammenordnet. Wohl aber kommt alles darauf an, daß man die Schriftaussagen stehen läßt, wie sie lauten, und nicht unter dem Vorgeben, die Prädikate Paßten nicht zum Subjekt, auf menschliche Meinung deutet durch Umtauschung der Subjekte und durch Umstellung von Subjekt und Prädikat (Nestorius, Zwingli). Man könnte sich auch ein genus der Mitteilung der Eigenschaften gefallen lassen, indem man sagt: Die Schrift schreibt der wunderbaren.

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304) RE.3 III, 414.

305) II, 134 sq.: Communicationis idioinatum certi et distincti gradus dantur. Quia vero quaestio de numero graduum vel generum communicationis idiomatum non ad fidem eiusque constitutionem, sed ad τρόπον παιδείας et methodum docendi pertinet, hinc alii duo, alii tria, alii quatuor idiomatum genera constituunt. B. Menzero in Anti-Marcionio, p. 10 sq., placet bimembris divisio. Tubingenses, ut Hafenrefferus, Itemque Brochnmnnus et alii, idiomata ad quaternarium numerum redigunt, propositiones primi generis in duas classes distinguentes. . . . Plerisque tamen nostris theologis ternarius arridet numerus. . . .

306) Quenstedt II, 135: In recensendis et explicandis hisce tribus communicationis idiomatum generibus, theologi nostri variant; alii sequuntur ordinem doctrinae, alii ordinem naturae. Ordinem doctrinae sequuntur D. Chemnitius, Formula Concordiae, et D. Aeg. Hunnius. Hi enim communicationem actionum officii, utpote faciliorem et minus controversam, praeponunt communicationi maiestatis, quae maxime controversa et copiosius explicanda sit. Ordinem vero naturae sequitur B. Gerhardus, aliiqui plurimi, praeponuntque communicationem maiestatis communicationi actionum officii, quia illa hanc natura praecedit, quem ordinem et nos observabimus. In hoc autem naturae ordinfe primas tenet ίδιοποίησις, appropriatio, secundas μεταποίηοις sive communicatio maiestatis et tertias κοινοποίησις sive κοινωνία άπότελεαμάτων, communicatio actionum officii.


151  >        Die Lehre von Christo.  [English ed. ~ 134–135]

Person des Gottmenschen sowohl die ganze Reihe der göttlichen als auch die ganze Reihe der menschlichen Eigenschaften zu. Aber man wäre dann doch wieder gezwungen, Unterabteilungen zu machen, weil sich bei näherem Zusehen herausstellt, daß die göttlichen und die menschlichen Prädikate nicht in derselben Weise oder Hinsicht von der Person des Gottmerischen ausgesagt werden. Darauf macht auch die Konkordienformel aufmerksam, wenn sie sagt: „Denn die propositiones oder praedicationes, das ist, wie man von der Person Christi, von derselben Naturen redet, haben nicht alle einerlei Art und Weise, und wenn ohne gebührenden Unterschied davon geredet wird, so wird die Lehre verwirrt und der einfältige Leser reichlich irregemacht."307) Es kann nicht oft genüg daran erinnert werden, daß die Schriftlehre von der Mitteilung der Eigenschaften nur durch die rationalistischen Einwürfe sonderlich der reformierten Theologen schwierig und verwickelt gemacht worden ist. Widwohl die Schrift klar und deutlich von dem Sohne Gottes Leiden und Tod aussagt und Christo auch nach der menschlichen Natur in der Zeit gegebene göttliche Eigenschaften zuschreibt, so operieren dagegen die reformierten Theologen mit Gründen der Unmöglichkeit: der Sohn Gottes könne nicht leiden und sterben ohne Verwandlung der Gottheit in die Menschheit, und Christi menschlicher Natur könnten nicht göttliche Eigenschaften gegeben werden ohne Vernichtung der menschlichen Natur. Unter dem christlichen Schein, die Ehre Gottes und die Wahrheit der menschlichen Natur zu retten, kämpfen sie Wider die Schrift und verwirren die Christenheit. Der schlichte reformierte Christ und auch der reformierte Theolog, insofern er ein Christ ist, glaubt sämtliche drei genera communicationis idiomatum der Konkordienformel und der lutherischen Lehrer. Der reformierte Christ glaubt das Schriftwort: „Das Blut JEsu Christi, des Sohnes Gottes, macht uns rein von aller Sünde."308) Damit glaubt er dreierlei: 1. daß das Blut Christi, also das Blut der menschlichen Natur, das Blut des Sohnes Gottes sei, 2. daß dem Blut Christi, also Christo auch nach seiner menschlichen Natur, die Reinigung von Sünden, also göttliche Macht, zukomme, 3. daß daher beide Naturen in einem gottmenschlichen Akt zusammenwirken. Das sind aber genau die drei Arten der Mitteilung der Eigenschaften, die von der Konkordienformel und

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307) M. 681, 35.        308) 1 Joh. 1, 7.


152  >          [English ed. ~ 135–136]

den lutherischen Lehrern gelehrt werden (genas idiomaticum, genns maiestatieum, genus apotelcsmatieum). Gott hat auch die Lehre von der Mitteilung der Eigenschaften einfältig gemacht. Aber die Menschen suchen viele Künste. Und diesen Künsten verdanken wir die Beschwerung der Dogmatik mit den folgenden drei Abteilungen.

Erste Art der Mitteilung der Eigenschaften (genus idiomaticum). ^

Sehr entschieden trennte Nestorius den Sohn Gottes sowohl von der Geburt aus der Jungfrau Marin als auch von dem Leiden und Sterben, wenn er Maria das Prädikat ϑεοτόκος verweigerte und behauptete: „Ich kann einen gebornen, gestorbenen und begrabenen Gott nicht anbeten.” Ein solcher Ernst ist es Nestorius mit dieser Trennung, daß er alle, die die Geburt aus Maria und das Leiden und Sterben auf den Sohn Gottes beziehen, heidnischer Lehre beschuldigt und sie mit dem Anathema belegt, weil sie Gott in einen Menschen verwandelten. Um die Gottheit des Logos intakt zu erhalten, müsse man die Geburt aus der Jungfrau und Leiden und Tod nicht auf den Logos selbst, sondern nur auf die Menschheit, die der Logos als Wohnung gebraucht habe, beziehen.310) Zwingli ist Nestorius redivivus. Auch er trennt den Sohn Gottes von dem Leiden und Sterben und fordert, daß Leiden und Tod allein auf die menschliche Natur bezogen werden. Zwar rede die Schrift so, daß sie der ganzen Person (Christus, Menschensohn, Gottes Sohn) Leiden und Tod zuschreibe; aber diese Schriftaussagen müssen nach Zwingli durch Annahme der Redefigur „Allöosis" „in den rechten Sinn geschickt werden", und zwar in der Weise, daß man je nach den Prädikaten eine Vertauschung

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309) Vgl. die Belege Note 177. 178 und die Ausführung S. 102.

310) Anathematismen I.: Si quis eum, qui est Emmanuel, Deum, Verbum esse dixerit et non potius nobiscum Deum, li. e. inhabitasse eam quae secundum nos est naturam per id quod unitus est massae nostrae, quam de Maria' virgine suscepit; matrem etiam Dei Verbi et non potius ejus, qui Emmanuel est, sanctam virginem nuncupaverit ipsumque Dei verbum in carnem versum esse (dies ist Nestorius’ Folgerung), quam accepit ad ostentationem deitatis suae, ut habitu inveniretur ut homo, anathema sit. VII.: Si quis hominem, qui de virgine creatus est, hunc esse dixerit unigenitum, qui ex utero Patris ante luciferum natus est . . . a. s. X.: Si quis illud in principio .verbum pontificem et apostolum confessionis nostrae factum esse seque ipsum obtulisse pro nobis dicat et non Emmanuelis esse apostolatum potius dixerit . . . Deo (piae Dei sunt, et homini quae sunt hominis non deputans, a. s.


153  >        Erste Art der Mitteilung der Eigenschaften.  [English ed. ~ 136–137]

im Subjekt vornimmt. Lautet das Prädikat auf Leiden und Tod, so muß man im Subjekt für „Christus" oder „Menschensohn" oder „Gottes Sohn" nur die menschliche Natur einsetzen. Lautet das Prädikat auf „Leben geben", „rechte Speise” (wie in den Worten Joh. 6, 55: ή σάοξ μον άληϋ'ώς έοτι βρώσις), so muß man für die göttliche Natur einsetzen. Diese Vertauschung muß man nach Zwingli vornehmen, „oder aber wir kämen in die größten Ketzereien, die je gewesen sind”. Zwingli erteilt Luther, der diese Vertauschungen nicht gelten lassen wollte, den folgenden Privatunterricht: „Siehst du, lieber Luther, wie die allerteuersten Worte, die ewige Gottheit und die wahre Menschheit JEsu Christi betreffend, durch Figuren und Tropos müssen in den rechten Sinn, der dem Glauben unverletzlich ist, geschickt werden?” und sich an das große Publikum wendend, fährt Zwingli fort: „Frommer Christ, laß dich solche Toberei” (Luthers) „nicht verführen! Es sind Wortkämpfer, deren Vornehmen gar leichtlich gebrochen wird, so man auf den Grund der Wahrheit kommt und auf den rechten Sinn sieht und die Kunst der figürlichen Reden und Tropen wohl hält."311) Ebenso liegt bei Calvin eine völlige Absonderung

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311) Zwinglis Antwort ans Luthers Schrift: „Daß diese Worte” usw., abgedruckt in Luthers Werken, St. Louiser Ausg. XX, 1194 ff. Zwingli sagt hier über die Allöosis und deren Anwendung: „Wisse, daß die Figur, die alloeosis heißt (mag uns Gegenwechsel ziemlich verdeutscht werden), von Christo selbst unzählbarlich gebraucht wird; und ist die Figur, soviel hieher dient, ein Abtauschen oder Gegenwechseln zweier Naturen, die in einer Person sind, da man aber die eine nennt und die andere versteht, oder das nennt, was sie beide sind, und doch nur die eine versteht.” Als Beispiele führt Zwingli an: „Als da Christus spricht Luk. 24: .Mußte nicht Christus also leiden und also in seine Ehre eingehend Hie wird Christus allein für die menschliche Natur genommen, die mochte leiden und sterben, aber die göttliche nicht. . . . Und Matth. 20: .Und der Sohn des Menschen wird den Pfaffen und Schreibern hingegeben' usw. Hie wird der Sohn des Menschen eigentlich für die menschliche Natur genommen, denn dieselbe mochte hingegeben werden und getötet, aber die göttliche keinesweges nicht. . . . Joh. 1: ,Das Wort ist Mensch worden' oder ,Gott ist Mensch worden' soll durch den Gegenwechsel recht verstanden werden also: Sintemal Gott gar nichts werden mag, oder aber er wäre unvollkommen, so mag dies Wort nicht nach dem ersten Ansehen verstanden werden, sondern muß den Sinn haben: Der Mensch ist Gott worden, also daß jenes, das von der Gottheit gesagt wird, daß sie Mensch sei worden, durch den Abwechsel mutz von der Menschheit verstanden werden.” In seiner Amica exegesis spricht sich Zwingli über die Allöosis so aus: Est άλλοίωοις, quantum huc attinet, desultus vel transitus ille axxt si mavis permutatio, qua de altera in Christo natura loquentes alterius vocibus utimur. Ut cum Christus ait:


154  >          [English ed. ~ 137–138]

des Sohnes Gottes von dem Leiden und Sterben der menschlichen Natur vor, wenn er sagt, daß Christi Verdienst als das Verdienst eines Menschen in sich selbst keinen Wert habe, sondern seinen Wert dadurch erhalte, daß Christus zum Heiland prädestiniert war.312) Auch die späteren reformierten Theologen kommen, wie weiter unten zu belegen ist, bei ihren „Erklärungen" der Schriftaussagen, in denen dem Sohn Gottes Leiden und Tod zugeschrieben wird, der Sache nach immer wieder auf Zwinglis Allöosis zurück.

Gegen diese Absonderung des Sohnes Gottes von dem, was ihm nach seiner menschlichen Natur zukommt, also von der Geburt aus der Maria sowie von dem Leiden und Sterben, muß die christliche Kirche mit der größten Entschiedenheit Protest einlegen. Was Nestorius und Zwingli verwerfen, ist ja die Rede der Schrift. Nicht Menschen, sondern die Schrift sagt vom Sohne Gottes wie die menschliche Geburt (γενόμένος εκ γνναικός),313)  so Leiden und Tod aus (τον κύριον της δόξης έστανρωσαν, ο ϑάνατος τον vlov' ϑεοΰ).314) Die Schrift aber ist Gottes Wort. Sie redet stets und an allen Orten völlig korrekt. Sie kann auch nicht in einem einzigen Wort gebrochen werden.315) Die christliche Kirche muß sich daher a priori jede Kritik oder Zurechtstellung einer Redeweise der Schrift wie in allen andern Lehren, so auch in der Lehre von der Person Christi verbitten. Die Schriftaussagen sind dessen nicht bedürftig, daß sie erst von Menschen „in den rechten Sinn geschickt werden", wie Zwingli meint, sondern die Menschen müssen, ihren Sinn in die Schriftaussagen schicken. Wenn daher die Schrift die Geburt

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,Caro mea vere est cibiis‘, caro proprie est humanae in illo naturae, attamen per commutationem hoc loco pro divina ponitur natura. Qua ratione enim Filius Dei est, ea ratione est animae cilnis. . . , Rursus cum perhibet filium familias a colonis trucidandum, cum filius familias divinitatis ejus nomen sit, pro humana tamen natura accipit, secundum enim istam mori potuit, secundum divinam minime. (Opp. III, 525. Von Zwingli deutsch wiedergegeben in Antw. auf L.s Bekenntnis v. Abendmahl, St. L. XX, 1310.)

312) Inst. II, 17, 1: Equidem fateor, si quis simpliciter et per se Christum opponere vellet judicio Dei, non fore merito locum: quia non reperietur in homine dignitas, quae possit Deum promereri; imo ut verissime Augustinus scribit, clarissimum lumen praedestinationis et gratiae ipse est salvator' homo Christus lesus.

313) Gal. 4, 4;  Röm. 1, 3.

314) 1 Kor. 2, 8; Röm. 5, 10; Gal. 2, 20; Röm. 8, 32.

315) Joh. 10, 35.


155  >        Erste Art der Mitteilung der Eigenschaften.  [English ed. ~ 138–139]

aus Maria und Leiden und Tod unter Pontius Pilatus dem Sohne Gottes zuschreibt, so haben Nestorius, Zwingli und alle andern Menschen das stehen zu lassen. Wenn Menschen sich erlauben, für den „Sohn Gottes" die „menschliche Natur" einzusetzen, um einer vermeintlichen Irrlehre zu entgehen, so ist das ein tatsächlicher Abfall von der Wahrheit, daß das Schriftwort nicht Menschenwort, sondern das Wort des stets recht redenden Gottes ist. Das ist denn auch der Punkt, auf den Luther zunächst und vor allen Dingen in diesem Handel den Finger legt. Wenn Zwingli in den betreffenden Schriftaussagen vermöge seiner Allöosis für den Sohn Gottes die menschliche Natur einsetzen will, fo hält Luther ihm entgegen: „Als wären die Apostel toll und töricht gewesen, daß sie nicht hätten mögen reden von der Gottheit, sie müßten denn die Menschheit nennen und wiederum."316) Das hat Luther auch immerfort in seinen Predigten getrieben. So sagt er in seinen Predigten über das Evangelium Johannis: „Dieweil St. Paulus und die Heilige Schrift also reden, daß Gottes Sohn und der König der Ehren sei gekreuzigt, so sollen wir ohne Scheu, auch also reden und glauben, und wer diesem Buch der Heiligen Schrift glaubt, der wird'nichts dawider mucken."317) Ebenso betonen die lutherischen Dogmatiker den Absurditäten gegenüber, die Nestorius' und Zwinglis Klugheit in dem Leiden und Sterben des Sohnes Gottes findet, einfach das Schriftprinzip.318) 

Aber lehrt nicht die Schrift wirklich, daß Gott nicht leiden und sterben kann? Sicherlich! Die Schrift lehrt die Leidensunfähigkeit Gottes ganz gewaltig. Sie gibt ihm nicht nur die Prädikate ό μακάριος und ο μόνος εχων αθανασίαν,  sondern fügt auch ausdrücklich hinzu, daß Gott in einem den Menschen unzugänglichen Lichte wohnt, φώς οίκών απρόσιτον, so daß kein menschliches Auge ihn sehen, viel weniger eine menschliche Hand ihn fassen und dem Leiden unterwerfen kann.319) Der Himmel kann von Menschen nicht gestürmt werden. Weder die Juden noch Pontius Pilatus konnten an den Sohn Gottes in seiner Gottheit oder himmlischen Glorie heran. Also haben diejenigen recht, welche behaupten, daß die Prädikate „geboren aus Maria der Jungfrau", „gelitten unter

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316) St. L. XX, 945.        317) VII, 1952.

318) Quenstedt: Quidquid hic absurditatis fingunt Zwinglius et ejus sectatores, id ipsimet S. Scripturae impingunt. Ipsius enim Scripturae assertio est ac thesis: Deum et Filium Dei esse passum et mortuum. (II, 226.)

319) 1 Tim. 6, 15. 16.


156  >        Die Lehre von Christo.  [English ed. ~ 139–140]

Pontio Pilato, gekreuziget, gestorben und begraben" zu dem Subjekt „Sohn Gottes" nicht Passen, und daß man daher mit Nestorius und Zwingli darangehen müsse, die Schriftaussagen vom Leiden des Sohnes Gottes vermittelst der Allöosis „in den rechten Sinn, der dem Glauben unverletzlich ist, zu schicken"! Wir begegnen hier wieder dem menschlichen Unverstand, der Gottes Wort nicht ganz annimmt, sondern eine Reihe von Schriftaussagen benutzt, um damit eine andere Reihe zu bekämpfen und abzutun. Die Schrift sagt nicht bloß, daß Gott für die Menschen unnahbar, unsichtbar und unantastbar ist, sondern sie lehrt auch — und das ist ihr eigentlicher Skopus —, daß der Sohn Gottes ein Mensch wurde, und zwar in der Weise ein Mensch wurde, daß er aus einem Weibe eine menschliche Natur in seine Person ausnahm und gleich wurde wie ein anderer Mensch. Durch diese Menschwerdung ist der Sohn Gottes aus dem allen Menschen unzugänglichen Licht herausgetreten und den Menschen sichtbar und faßbar geworden. Und nach dieser in das göttliche Ich ausgenommenen menschlichen Natur, nicht nach der göttlichen Natur, sagt die Schrift von dem Sohne Gottes wie die Geburt aus Maria, so Leiden und Tod aus: γενόμενος έκ σπέρματος Δαυίδ κατά σάρκα,320) ϑανατωϑείς σαρκί.321) Diese näheren Erklärungen der Schrift, nicht eigene menschliche Gedanken, geben daher die Konkordienformel, Luther und die lutherischen Lehrer wieder, wenn sie in bezug auf die Schriftaussagen, in denen dem Sohne Gottes Leiden und Tod zugeschrieben wird, sagen: Der Sohn Gottes hat gelitten, nicht nominell, sondern wirklich und wahrhaftig gelitten, aber an der angenommenen menschlichen Natur. Dies Leiden an der angenommenen menschlichen Natur ist aber das Leiden des Sohnes Gottes, weil die menschliche Natur nicht eigenpersönlich existiert, sondern zur Person des Sohnes Gottes gehört, „propter hanc hypostaticam unionem", „um dieser persönlichen Vereinigung willen"322) Luther drückt dies der Allöosis Zwinglis gegenüber bekanntlich so aus: „Ob nun hie die alte Wettermacherin, Frau Vernunft, der Allöosis Großmutter, sagen würde: Ja, die Gottheit kann nicht leiden noch sterben, sollst du antworten: Das ist wahr; aber dennoch, weil Gottheit und Menschheit in Christo eine Person ist, so gibt die Schrift um solcher Persönlicher Einigkeit willen auch der Gottheit alles, was der Menschheit widerfährt, und wiederum. Und ist auch also in der

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320)        Röm. 1, 3.        321) 1 Petr. 3, 18.        322) F. C. 678, 20.


157  >        Erste Art der Mitteilung der Eigenschaften.  [English ed. ~ 140–141]

Wahrheit. Die Person (zeiget Christum) leidet, stirbt; nun ist die Person wahrhaftiger Gott; darum ist's recht geredet: Gottes Sohn leidet; denn ob wohl das eine Stück (daß ich so rede), als die Gottheit, nicht leidet, so leidet dennoch die Person, welche Gott ist, am andern Stück, als an der Menschheit.” 323)

Freilich bleibt hierbei für das menschliche Begreifen unerklärt, wie der in seiner göttlichen Persoü leidensunfähige Sohn Gottes wirklich und wahrhaftig in die Gemeinschaft des Leidens seiner menschlichen Natur kommen konnte. Es tritt klar zutage, wie die kirchlichen Lehrer hier mit dem Ausdruck ringen. Wir brauchen nur an Kyrills Paradoxon άπαϑως επαϑεν, „ohne zu leiden, hat der Sohn Gottes gelitten", zu erinnern.324) Das klingt wie Ja und Nein zugleich. Aber Kyrill will offenbar ein Dreifaches zum Ausdruck bringen: 1. Nach der Schrift ist der Sohn Gottes in sich leidensunsähig. 2. Nach der Schrift hat der Sohn Gottes wirklich gelitten in seiner menschlichen Natur. 3. Aus eine nähere Erklärung des Wie ist aber zu verzichten. Und wir brauchen uns darüber nicht groß zu wundern, daß hier jede nähere Erklärung des Wie versagt. Weil unerklärt bleibt und bleiben muß, wie der Sohn Gottes Mensch werden, das heißt, wie Gott und Mensch ein Ich oder eine Person bilden konnten, so bleibt auch unerklärt, wie der Sohn Gottes wirklich und wahrhaftig leiden konnte. Ein Geheimnis steht und fällt mit dem andern. Ja, beide Geheimnisse sind nur ein Geheimnis. Wie wir aber das Geheimnis der Persönlichen Einheit von Gott und Mensch als Tatsache anerkennen, ohne daß wir imstande wären, die Möglichkeit dieser persönlichen Einheit für das menschliche Begreifen nachzuweisen, so ist auch die reale Gemeinschaft des Sohnes Gottes mit dem Leiden seiner menschlichen Natur aus Grund der Schriftausfagen als Tatsache anzuerkennen, obwohl wir nicht imstande sind klarzustellen, wie der in sich leidensunfähige Sohn Gottes wirklich und wahrhaftig an dem Leiden seiner menschlichen Natur teilhaben konnte. Wir sagen daher mit den alten lutherischen Lehrern: So real trotz ihrer Unbegreiflichkeit die Tatsache ist, daß der Sohn Gottes Mensch wurde, so real ist auch trotz ihrer Unbegreiflichkeit die Tatsache, daß der Sohn Gottes gelitten hat und gestorben ist.325) Und die Heilige

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323) St. L. XX, 944.        324) Mansi IV, 857.

325) Die Erklärungsversuche in bezug auf das Wie sind vom übel. Entweder erklären sie nichts, oder sie enthalten Irriges. Man beruhige sich bei Kyrills άπαϑώς επαϑεν oder bei der sachlich gleichwertigen Bestimmung der


158  >        Die Lehre von Christo.  [English ed. ~ 141–142]

Schrift bezeugt nicht nur die Tatsache des Leidens des Sohnes Gottes, sondern sie führt auch        auf diese Tatsache, das heißt, auf den Umstand, daß nicht ein bloßer Mensch, sondern der Sohn Gottes

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Dogmatiker: Der Sohn Gottes hat gelitten, nicht ηίφί παΰητικώς καί άλλοιώτως, sondern νποστατικώς. Der adäquate Ausdruck ist und bleibt: Der Sohn Gottes hat persönlich gelitten, das heißt, durch die unio personalis mit einer menschlichen Natur, nach welcher er leiden konnte und tatsächlich litt. Man hat es mit andern Näherbestimmungen versucht. Man hat gesagt: weil der Sohn Gottes in sich leidensunfähig ist, so könne die Teilnahme am Leiden nur „von sittlicher Beschaffenheit" sein. (Baumgarten, Streitigk. II, 74.) Einen ähnlichen Anlauf Zur Erklärung des Wie nimmt Frank, wenn er aus dem Leiden Christi solche „Momente herauserkennen" will, welche „sich zu einer Anteilnahme der göttlichen Natur eignen”. Frank denkt dabei an die „ethischen Betätigungen" der Liebe, welche dies Opfer brachte usw. (Theol. d. IT 0. III, 252 ff.) Aber „ethisch" kann man auch die Teilnahme nennen, mit der Christus sich des Leidens aller seiner Gläubigen annimmt, obwohl diese mit ihm nicht eine Person bilden, Apost. 9, 5. Daher sollte aus die Frage, wie dem Sohne Gottes das Leiden zukomme, die alles deckende, wenn auch das Wie nicht näher erklärende Antwort gegeben werden: νποστατικώς, propter unionem personalem. So die Konkordienformel (678, 20): „Um dieser persönlichen Vereinigung willen . . . hat nicht bloß die menschliche Natur für der ganzen Welt Sünde gelitten, deren Eigenschaft ist leiden und sterben, sondern es hat der Sohn Gottes selbst wahrhaftig, doch nach der angenommenen menschlichen Natur, gelitten und ist — vermöge unsers einfältigen christlichen Glaubens — wahrhaftig gestorben, wiewohl die göttliche Natur weder leiden noch sterben kann.” Andere Näherbestimmungen, wie βουλητικόος, ένεργητικώς usw., sind dem „persönlich sachlich nicht koordiniert, sondern subordiniert. So Chemnitz, De duab. nat., p. 85: Quando Christus humana sua natura patitur, hoc fit cum communione alterius naturae, non ut divina natura etiam in sese patiatur, hoc enim naturae humanae proprium est, sed quia divina Christi natura adest personaliter naturae patienti, das Leiden will, kräftig   macht usw. Ebenso findet Quenstedt nur in dem „personaliter" den adäquaten Ausdruck für die Anteilnahme des Sohnes Gottes an dem Leiden. Er sagt (II, 226): Tribuitur passio Filio Dei non παϑητικώς και άλλοιώτως, quasi in ipsa essentia divina passus sit, neque solum ρηματικώς seu verbaliter et tropice, quasi nullo modo vere et realiter passus sit, neque solum λογιατικώς, quod suas reputet passiones carnis, quomodo fidelium perpessiones Christus pro suis reputat, Act. 9, 4, neque solum βονλητικώς, per divinam οννενδοκίαν, in passionem consentiendo, Ps. 49, 9, et σνγχωρητικώς, permittendo et ad passionem carnis quiescendo, ut de λόγψ loquitur Irenaeus 1. III. adv. haeres., c. 21, vel etiam σωστικώς, conservando et sustentando carnem in passionibus, itemque ενεργητικώς, pondus addendo passioni, ut esset ίσόρροπον λντρον et passiones salutares reddendo, ut loquitur Damascenus 1. III. O. F., c. 15, nec denique solum σχετικώς  objective, blasphemias et op; probria ferendo, quibus aeterna Deitas eius petita fuit, Joh. 10, 33;


159  >          [English ed. ~ 142–143]

gelitten habe, den erlösenden Wert des Leidens Christi zurück, wenn sie sagt, daß wir Gott durch den Tod seines Sohnes versöhnt sind usw.326) Luther warnt daher vor Zwinglis Absonderung des Sohnes Gottes von dem Leiden der menschlichen Natur mit den bekannten Worten: „Hüte dich, hüte dich, sage ich, vor der Allöosi! Sie ist des Teufels Larve; denn sie richtet zuletzt einen solchen Christum zu, nach dem ich nicht gerne wollte ein Christ sein, nämlich daß Christus hinfort nicht mehr sei noch tue mit seinem Leiden und Sterben denn ein anderer schlechter Heiliger. Denn wenn ich das glaube, daß allein die menschliche Natur für mich gelitten hat, so ist mir der Christus ein schlechter Heiland; so bedarf er wohl selbst eines Heilandes. Summa, es ist unsäglich, was der Teufel mit der Allöosi sucht.” 327)

So ergibt sich als Resultat der vorstehenden Darlegungen folgendes: Die christliche Kirche hält auf Grund der Schrift einerseits fest, daß der Sohn Gottes nicht bloß nominell, sondern wirklich und wahrhaftig von Maria geboren sei und gelitten habe; andererseits fügt sie — ebenfalls auf Grund der Schrift — die Näherbestimmung Hinzu, daß diese Prädikate dem Sohne Gottes nicht nach der göttlichen, sondern nach der menschlichen Natur zukommen. Damit über wehrt sie einen doppelten Irrtum ab, der sich in ihrer Mitte erhoben hat: einmal den Irrtum des Nestorius, der die Einheit der Person zerstört, sodann auch den Irrtum des Eutyches, der die wesentliche Verschiedenheit der Naturen aufhebt. Und der Abwehr dieses, doppelten Irrtums dient nun die Aufstellung des sogenannten ersten Genus der Mitteilung der Eigenschaften. Die Aufstellung dieses Genus ist nicht auf Langeweile oder theologische Spitzfindigkeit Zurückzuführen, sondern hat den durchaus praktischen Zweck, bei der Schrift zu bleiben, die nicht bloß der menschlichen Natur Christi, sondern dem Sohne Gottes Leiden und Tod zuschreibt, und damit — ebenfalls auf Grund der Schrift — den unendlichen Erlösungswert des Tuns und Leidens Christi zu wahren. Die erste

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Matth. 26, 63, sed passus insuper est Filius Dei, tum υποστατικούς, quod caro, in qua passus est, ipsa Filii Dei hypostasi subsistat eandemque cum ipsa personam constituat, tum ίδιοποιητικώς, qiiia Filius Dei, appropriando sibi carnem, appropriavit etiam sibi carnis passiones. Ut quam vere caro propria est Filio Dei per personalem unionem, tam vere etiam passiones carnis ipsi sunt propriae per communicationem.

326) Röm. 5, 10; 1 Joh. 1, 7; Apost. 20, 28; Röm. 8, 32.

327) St. L. XX, 943.


160  >          [English ed. ~ 143–144–145]

Art der Mitteilung der Eigenschaften kann so beschrieben werden:  ^  Weil die göttliche und die menschliche Natur in Christo eine Person bilden, so kommen die Eigenschaften, welche nur einer Natur wesentlich zugehören, stets der ganzen Person zu, aber die göttlichen Eigenschaften nach der göttlichen Natur, die menschlichen Eigenschaften nach der menschlichen Natur (genus idiomaticum) 328) Dabei ist

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328) Die ausführlichere Beschreibung der Konkordienformel lautet: „Erstlich, weil in Christo zwo unterschiedliche Naturen an ihrem natürlichen Wesen und Eigenschaften unverwandelt und unvermischet sein und bleiben, und aber der beiden Naturen nur eine einige Person ist, so wird dasselbige, was gleich nur einer Natur Eigenschaft ist, nicht der Natur allein, als abgesondert, sondern der ganzen Person, welche zugleich Gott und Mensch ist — sie werde genannt Gott oder Mensch —, zugeschrieben. Aber in hoc genere, das ist, in solcher Weise zu reden, folget nicht, was der Person zugeschrieben wird, daß dasselbe zugleich beider Naturen Eigenschaft sei, sondern wird unterschiedlich erklärt, nach welcher Natur ein jedes der Person zugeschrieben wird. Also ist Gottes Sohn geboren aus dem Samen Davids nach dem Fleisch, Röm. 1. Item, Christus ist getötet nach dem Fleisch und hat für uns gelitten im oder am Fleisch, 1 Petr. 3 und 4.” (M. 681, 3.4.) — Quenstedt: Est primum hoc communicationis genus, quando propria modo divinae.modo humanae naturae personae τον λόγον in concreto sive duabus naturis constanti et modo ab utraque modo ab alterutra denominatae per et propter personalem unionem, et personae τοντότητα vere realiterque sine tropo tribuuntur, ita tamen, ut propria per particulas διακριτικός, sive ρητώς additas sive intellectas, suis simul vindicentur naturis. (II, 140.) — Über die verschiedenen Benennungen des ersten genus sagt Hollaz: Vocatur hoc primum genus a Damasceno άντίδοσις, alternatio, τρόπος άντιδόσεως, modus alternationis, quia de persona Christi σννϋέτω alternatim divina et humana praedicari possunt, v. g.': Christus est ab aeterno genitus a Patre, Christus est in tempore a Maria virgine genitus. A Theodoreto appellatur εναλλαγή και κοινωνία ονομάτων, permutatio et communicatio nominum, non nude verbalis, sed realis, quia nomina sunt signa rerum. A Cyrillo nuncupatur ίδιοποιία και ίδιοποίησις, appropriatio, quia illud, quod uni naturae proprium est, tota persona, quae Deus et homo est, sibi vindicat et proprium facit. Vocatur etiam a Damasceno άλλοίωσις, qua de una eademque persona σννθέτω et divina et humana idiomata realiter praedicantur, κατ’ αλλο tamen και αλλο, quia particulae distinctivae ostendunt, secundum quam naturam unumquodque idioma de persona praedicetur. Sed accurate distinguendum est inter άλλοίωσιν determinativam et distinctivam, et inter άλλοίωσιν segregativam et exclusivam, v. g.: Deus passus est κατ' αλλο, i. e. Deus vere et realiter passus est secundum assumptam humanitatem, ibi particula κατ’ αλλο determinat humanam naturam, cui passio formaliter competit, eamque a natura divina distinguit, non autem segregat, quippe cui passio appropriatur. Sed si sic exponas: Deus passus est κατ' αλλο, i. e. sola humana


161  >          [English ed. ~ 146]

es einerlei, ob die Person benannt wird ^   a) nach der göttlichen Natur (Sohn Gottes, HErr der Herrlichkeit: concretum naturae divinae) oder b) nach der menschlichen Natur (Menschensohn, Davids Sohn: concretum naturae humanae) oder  c) nach beiden Naturen (Christus, Immanuel: concretum personae), da unter jeder Benennung die eine Person stets zwei mit allen ihren Eigenschäften bekleidete Naturen unter sich befaßt.329) So ist Christus

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natura est passa, particula κατ’ άλλο est separativa, non distinctiva, quia per illam expositionem Deus a communicatione passionis excluditur. (Examen, de pers. Christi, qu. 39.) — In bezug auf die Tatsache, daß die termini in der Lehre von der Mitteilung der Eigenschaften nicht immer in demselben Sinne gebraucht werden, sagt Chemnitz: Ego de vocabulis, si modo rebus ipsis non struantur insidiae, cum nemine litigabo. (De duab. nat., p. 65 sq.)

329) Es ist daher auch nicht nötig, die Schriftaussagen besonders zu klassifizieren, in denen vom Menschensohn Menschliches oder von dem menschgewordenen Gottessohn Göttliches oder von Christus Göttliches und Menschliches ausgesagt wird. (Vgl. Baier III, 50 ff.) Auch in diesen Aussagen kommt die Mitteilung der Eigenschaften zum Ausdruck, weil im Subjekt unter jeder Benennung stets die ganze Person steht, und unter jeder Benennung von dem Subjekt beide Reihen von Eigenschaften, die göttlichen und die menschlichen, ausgesagt werden. Man könnte einwenden, daß die Aussage: „Der Menschensohn leidet und stirbt" nichts Außergewöhnliches enthalte, das Prädikat vielmehr zum Subjekt ganz gut Passe, und daher keine Mitteilung der Eigenschaften indiziert sei. Leiden und Sterben sei das allgemeinmenschliche Los. Der Einwand würde zutreffen, wenn der Menschensohn nur der „Jdealmensch" oder „die Blüte der Menschheit" oder ein sonstiger bloßer Mensch wäre. Weil aber nach der Schrift der Menschensohn zugleich υιός τον ϑεοΰ τον ζώντος ist (Matth. 16), also eine Person, die nicht nur Mensch, sondern auch Gott ist, so ist eine Mitteilung der Eigenschaften ausgesagt, und das Prädikat kommt dem Subjekt nur nach einer Natur, der menschlichen, wesentlich zu. Ebenso steht es, wenn von dem im Fleische erschienenen Sohn Gottes oder dem λόγος ενσαρκος Göttliches, zum Beispiel die Geburt vom Vater (ο μονογενής παρά πατρός, Joh. 1, 14), ausgesagt wird.  Auch in diesem Falle steht die ganze, Gottheit und Menschheit umfassende Person im Subjekt, und das Prädikat kommt dem Subjekt nur nach der einen Natur, der göttlichen, zu. So steht es endlich auch, wenn von dem concretum personae, Christus, Menschliches oder Göttliches..ausgesagt wird, wie: „Christus kommt aus Israel” (Röm. 9, 5) und: „Christus hat die Welt geschaffen (Eph. 3, 9). „Christus" ist Bezeichnung der ganzen Person nach beiden Naturen, und der Person kommen die menschlichen Prädikate nur nach der menschlichen Natur und die göttlichen Prädikate nur nach der göttlichen Natur wesentlich zu. Daher gebraucht die Schrift bei den Sätzen, in welchen „Christus" im Subjekt steht, ebenfalls die particulae distinctivae. Wie es Röm. 1, 3 vom Sohne Gottes heißt: geboren aus dem Samen Davids  κατά σάρκα, so heißt es auch Röm. 9, 5 von Christo , daß er aus den israelitischen Vätern herkomme


162  >        Die Lehre von Christo.  [English ed. ~ 146–147]

nach der Schrift sowohl ewig als dreißig Jahre alt.330) Beide Eigenschaften kommen ihm gleich wirklich zu, erstere nach der göttlichen, letztere nach der menschlichen Natur. Ebenso ist Christus sowohl

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το κατά σάρκα. Wir haben also keine Ursache, diese Aussagen zu einem besonderen vierten genus zusammenzustellen. Als Grund für die besondere Klassifizierung ist geltend gemacht worden, daß Nestorius sich den Satz: „Christus hat gelitten" gefallen lassen wollte, während er den Satz: „Der Sohn Gottes (der Logos) hat gelitten" zurückwies. (Gerhard, De pers., § 184.) Allein Nestorius' Zustimmung zu dem ersteren Satz war nur Schein. Nestorius ließ auch nicht „Christus" als Bezeichnung der ganzen Person im Subjekt stehen, sondern setzte dafür die menschliche Natur ein, die der Sohn Gottes nur als Wohnung oder Instrument gebrauchte. Zwingli wird an diesem Punkt deutlicher. Er wirft in der Erklärung seiner Allöosis das Subjekt „Christus" ausdrücklich fort und setzt dafür die menschliche Natur ein, wenn er sagt: „Als da Christus spricht Luk. 24: Mußte nicht Christus also leiden?’  Hie wird Christus allein für die menschliche Natur genommen; die mochte leiden und sterben, aber die göttliche nicht.” (St. L. XX, 1195.) Ebenso hat Zwingli das sichere Gefühl, daß er bei seiner Allöosis das Subjekt auch in dem Fall nicht ungeändert lassen kann, wenn die Schrift von dem Menschensohn Leiden und Tod aussagt. Er schreibt: „Matth. 20: ,Und der Sohn des Menschen wird den Pfaffen und Schreibern hingegeben.’ Hie wird der Sohn des Menschen eigentlich für die menschliche Natur genommen, denn dieselbe mochte hingegeben werden und getötet, aber die göttliche keinesweges nicht.” (A. a. O.) Das ist konsequent. Wer die Mitteilung der Eigenschaften leugnet, insonderheit auch die sogenannte erste Art, wonach die Eigenschaften beider Naturen der ganzen Person gegeben werden, kann dies nur durch Auslösung der unio personalis zustande bringen. — Bei den Dogmatikern findet sich noch die folgende Einteilung des ersten genus: Quenstedt II, 140 sq.: Primum hoc genus communicationis idiomatum melioris doctrinae gratia subdividitur in tres species, scil, in άντίδοσιν, specialius acceptam, κοινωνίαν των {λείων et ίδιοποίησιν. Άντίδοσις, specialius accepta, est, qua tam divina quam humana de Christo ab utraque natura denominato, seu, quod idem est, de concreto personae proprie dicuntur. Κοινωνία των ϋείων est, quum de persona λόγον ενσάρκον ab humana natura denominata divina praedicata proprie enunciantur ob unionem personalem. Ίδιοποίησις est, quum humana de concreto naturae divinae enunciantur. Das hier Gesagte ist aber schon in der Beschreibung des ersten genus eingeschlossen. In bezug aus die  termini, die nicht immer in demselben Sinne gebraucht werden, gilt Chemnitz' Erinnerung: Ex patrum scriptis constat, vocabulum κοινωνίας de omnibus ac singulis tribus gradibus usurpari. Non displicet igitur, quod quidam eruditi vocabulo κοινωνίας addunt peculiares notationes ac gradus ita distinguunt, ut primum genus appelletur communicatio idiomatum, secundum communicatio operationum, tertium communicatio majestatis. Ego de vocabulis, si modo rebus ipsis non struantur insidiae, cum nemine litigabo. (De duab. nat., p. 65 sq.)

330)        Joh. 8, 58; 6, 62. — Luk. 3, 23.


163  >        Erste Art der Mitteilung der Eigenschaften.  [English ed. ~ 146–147]

Vom Vater in Ewigkeit geboren, als auch in der Zeit von der Jungfrau Maria geboren;331) beide Geburten kommen ihm gleich real zu, erstere nach der göttlichen, letztere nach der menschlichen Natur. So steht es in bezug auf die ganze Reihe der göttlichen und der menschlichen Eigenschaften. Christo kommen gleicherweise wirklich zu: Allmacht und beschränkte Macht,332) Allwissenheit und beschränktes Wissen,333) das wesentliche Leben und der Tod.334) Die ersteren Prädikate kommen ihm nach der göttlichen Natur zu, die letzteren nach der menschlichen, wie die bisweilen in der Schrift selbst hinzugefügten Näherbestimmungen (κατά σάρκα, σαρκί) anzeigen.335) Die Behauptung, daß irgendeins der genannten göttlichen oder menschlichen Prädikate der Person Christi nicht wirklich und wahrhaftig zukomme, sondern eine bloße Redeweise (praedicatio verbalis) sei, widerspricht der Schrift und gibt eo ipso die unio personalis von Gott und Mensch oder die Zweinaturenlehre Preis. Wer zum Beispiel das Prädikat der Ewigkeit oder der wesentlichen Allmacht von Christo trennt, leugnet damit die wesentliche Gottheit Christi und die in Christi Person stattfindende persönliche Verbindung von Gottheit und Menschheit. Und wer mit Nestorius die Geburt aus Maria und das Leiden und Sterben nur auf die menschliche Natur und nicht auf die Person des Sohnes Gottes beziehen will, muß, wenn er eine geordnete Gedankenwirtschaft befolgt, in seinen Gedanken erst die menschliche Natür aus der Persönlichen Einheit herausnehmen und damit die unio personalis auflösen. Die Entrüstung, welche Nestorius und Zwingli so reichlich darüber kundgeben, daß die menschlichen Prädikate „geboren aus Maria, der Jungfrau", „gelitten unter Pontio Pilato" auf den Sohn Gottes bezogen werden, sollte konsequenterweise früher beginnen, nämlich da, wo das Prädikat Mensch von dem Sohne Gottes ausgesagt wird.' Wer aber die Aussage: „Der Sohn Gottes ist Mensch geworden” unbeanstandet passieren läßt und damit die „Zweinaturenlehre" annimmt und hinterher eine Klage darüber anstimmt, daß die Geburt aus der Jungfrau sowie Leiden

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331) Joh. 1, 14. 1. 2. — Gal. 4, 4.

332) Joh. 5, 17. 19. — Joh. 18, 12.

333) Joh. 21, 17; 2, 24. 25; vgl. 1 Kön. 8, 39; Apost. 1, 24. — Luk. 2, 52; Mark. 13, 32.

334) 1 Joh. 1, 2; Joh. 10, 18; 5, 27. — Matth. 16, 21; 1 Kor. 2, 8; Apost. 3, 15..

335) Röm. 1, 3; 9, 5; 1 Petr. 3, 18; 4, 1. Particulae distinctivae, diacriticae, discretivae, nicht separativae.

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164  >        Die Lehre von Christo.  [English ed. ~ 147–148]

und Sterben nicht zum Sohne Gottes passen, der muß — mit Luther zu reden „ein ganz toller Heiliger und unverständiger Mann" sein.336) Luther: „Dünkt's Nestorium wunderlich sein, daß Gott stirbt, sollt' er denken, daß es ja so wunderlich ist, daß Gott Mensch wird. Denn damit wird der unsterbliche Gott dasjenige, so sterben, leiden und alle menschlichen iäiomata haben muß. Was wäre sonst derselbe Mensch, mit dem sich Gott persönlich Vereinigt, wenn er nicht rechte menschliche idiomata haben sollte? Es müßte ein Gespenst sein, wie die Manichäer zuvor hatten gelehrt. Wiederum, was man von Gott redet, muß auch dem Menschen zugemessen werden. Nämlich, Gott hat die Welt geschaffen und ist allmächtig; der Mensch Christus ist Gott, darum hat der Mensch Christus die Welt geschaffen und ist allmächtig. Ursach' ist, denn es ist eine Person worden aus Gott und Mensch, darum führet die Person beider Naturen idiomata.” 337)

Beurteilung der Leugner des ersten Genus. ^

Luther beurteilt Nestorius verhältnismäßig gelinde. Sein Urteil über Nestorius läßt sich so zusammenfassen: Nestorius wollte die unio personalis nicht auflösen, aber er redete so, daß die Christen, die ihn nach seinen Worten beurteilten, dafürhalten mußten, daß er Christum für einen bloßen Menschen halte. Nestorius sei daher auch mit Recht als ein Irrlehrer verurteilt worden. Nestorius gilt Luther als ein Typus der Leute, die in der Aufregung und Verbitterung des Kampfes Ja und Nein zu gleicher Zeit sagen, ohne es zu merken. Es mögen hier einige Aussprachen Luthers über Nestorius Platz finden. Diese Aussprachen sind zu gleicher Zeit ein Beleg dafür, mit welcher Energie Luther die Christologie behandelte. Luther schreibt: „Sage ich: Gott ist von den Juden gekreuzigt, so spricht er (Nestorius): Nein; denn Kreuz, Leiden und Sterben ist nicht göttlicher, sondern menschlicher Natur idioma oder Eigenschaft. Wenn nun solches die gemeinen Christen hören, so können sie nicht anders denken, denn daß er Christum für einen puren Menschen halte und trenne die Person. Welches er (Nestorius) doch nicht gedenkt zu tun, ohne daß die Worte geben, als tät' er's. Daraus stehet man, daß er ein ganz toller Heiliger und unverständiger Mann gewesen ist. Denn nachdem er zugibt, daß Gott und Mensch in einer Person vereinigt und vermischt ist, so kann er ja

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336) St. L. XVI, 2229.        337) St. L. XVI, 2230 f.


165  >        Beurteilung der Leugner des ersten Genus.  [English ed. ~ 148–149]

mit keiner Weise wehren, daß die idiomata der Naturen nicht auch sollten vereinigt und vermischt sein. Was wäre sonst Gott und Mensch in einer Person vereinigt?” und in demselben Zusammenhang: „Es dünkt ihn (Nestorius) schrecklich zu hören sein, daß Gott sollt' sterben. Und ist das seine Meinung gewest, Christus sei nach der Gottheit unsterblich, hat aber so viel Verstandes nicht gehabt, daß er's also hätte können aussprechen. . . . Der grobe, ungelehrte Mann sah das nicht, daß er unmögliche Dinge vorgab, daß er zugleich Christum ernstlich für Gott und Mensch in einer Person hielt und doch die idiomata der Naturen nicht wollte derselben Person zuschreiben. Das erste will er für wahr halten, aber das soll nicht wahr sein, das doch aus dem ersten folget. Damit er anzeigt, daß er selbst nicht verstehet, was er verneinet."338 — Ähnlich wird man über Zwingli urteilen müssen. Auch Zwingli wollte eigentlich nur abweisen, daß Christus nach seiner göttlichen Natur nicht sterben könne. Er sagt ja zur Begründung seiner Allöosis: „Secundum istam (humanam naturam) mori potuit, secundum divinam minime.” 339) Man wird daher auch von Zwingli sagen müssen: „Und ist das seine Meinung gewest, Christus sei nach der Gottheit unsterblich, hat aber so viel Verstandes nicht gehabt, daß er's also hätte können aussprechen.” Aber war nicht Zwingli sonst ein begabter und verständiger Mann? Sicherlich! Aber bei der Beurteilung Zwinglis will eins nicht übersehen sein, worauf Luther auch bei Nestorius hinweist. Luther nennt Nestorius einen „stolzen Mann”.340) So fand sich auch in Zwinglis Herzen das fremde Feuer des Stolzes. Zwingli fand es ungehörig, daß Luther eine Vordergrundstellung in der Reformation der Kirche eingeräumt wurde. Nach seiner Meinung war Luther „allein ein redlicher Ajax unter viel Nestoren, Ulyssen, Menelaen”. Diese Gemütsverfassung Zwinglis erhellt klar aus dem Anfang seiner Schrift „Ulrich Zwinglis Antwort, daß diese Worte: Das ist mein Leichnam' ewig den alten, einigen Sinn haben werden"341) Hier redet Zwingli so gegen Luther: „Du willst je gesehen sein, sam du die Bahn des Evangelii allein gereutet habest, darin ich dir fast viel zugebe. Aber ich will dir vor Augen stellen, daß du den weiten, herrlichen Schein des Evangelii nicht erkannt hast, du habest denn desselben wiederum vergessen.” und weiterhin: „Diese Ort'” (Stellen der Schrift) „hab' ich dir, hoch

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338) St. L. XVI, 2229 f.          339) Opp. III, 323.

340) St. L. XVI, 2229.        341) St. L. XX, 1122 ff. 1130. 1134.


166  >        Die Lehre von Christo.  [English ed. ~ 149]

geachteter Martine Luther, darum vor die Augen gestellt, daß du sähest, daß du nicht an einem Ort verschossen bist, sondern an vielen, und dich fürhin des hohen Rühmens unter den Christen mäßigest, sam du allein alles getan habest, welches wir dir gar wohl gönnen möchten, sofern ihm also wäre. Aber du bist allein ein redlicher Ajax oder Diomedes unter viel Nestoren, Ulyssen, Menelaen. Tu gemach, laß dich das kleine Glied, von dem Jakobi am dritten Kapitel geschrieben steht, nicht übereilen.” Eine persönliche Verstimmung, wie sie sich in diesen Worten ausspricht, bringt gar leicht eine Verwirrung des Geistes hervor, wobei man die Selbstwidersprüche, in denen man sich bewegt, nicht merkt. Zwinglis Geisteskräfte waren durch seine Mißstimmung Luther gegenüber so ungünstig beeinflußt, daß er in derselben Schrift, in der er gebieterisch die Umsetzung von „Sohn Gottes" in „menschliche Natur" fordert, nicht nur wiederholt den verpönten Ausdruck gebraucht, sondern seine Schrift mit demselben beginnt: „Martino Luthero wünscht Huldrich Zwingli Gnad' und Fried' durch JEsum Christum, den lebendigen Sohn Gottes, der um unsers Heils willen den Tod erlitten."342) — Ob Calvin gewußt hat, was er schrieb, wenn er Christi Verdienst das Verdienst eines bloßen Menschen nennt und also die unio personalis auflöst? Bei Calvin kommt in Betracht, daß ihm seine von Christi Verdienst und den Gnadenmitteln losgelöste Erwählungslehre das alles bestimmende Zentrum ist. So haben für ihn die Menschwerdung des Sohnes Gottes und des menschgewordenen Sohnes Gottes Werk auch nur nebensächliche Bedeutung. Luther hängt an das Leiden Christi das Gewicht der Gottheit, wenn er sagt: „Wo Gott nicht mit in der Wage ist und das Gewichte gibt, so sinken wir mit unserer Schüssel zugrunde. Das meine ich also: Wo es nicht sollte heißen: Gott ist für uns gestorben, sondern allein ein Mensch, so sind wir verloren."343) Calvin hängt an das Leiden Christi das Gewicht der Prädestination, wie aus den oben bereits angeführten Worten hervorgeht.344) Auch die späteren reformierten Theologen sind der Sache nach nicht von Zwinglis Allöosis losgekommen. Zwar ist das Bestreben erkennbar, sich selbst und andern die Überzeugung zu vermitteln, daß sie bei den Prädikaten

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342) Über die Propaganda, die Zwingli mit Mitteln zweifelhafter Qualität gegen Luther in Szene setzte, spricht sich auch Seeberg aus. (Dogmengesch. 11, 307.)

343) St. L. XVI, 2231.        344) Note 312.


167  >        Beurteilung der Leugner des ersten Genus. ^  [English ed. ~ 150]

„leiden” und „sterben" die Person Christi im Subjekt stehen lassen. Sobald sie aber darangehen, den Sinn darzulegen, in welchem sie dem Sohne Gottes das Leiden und Sterben zuschreiben, kommen sie sachlich vollständig auf Zwinglis Allöosis zurück, das heißt, sie setzen für den Sohn Gottes die bloße menschliche Natur ein. Wenn die Neustädter Admonition sagt, Gott habe wirklich (realiter) gelitten, insofern er Mensch ist, aber nur dem Namen nach (nominetenus), insofern er Gott ist,345) so ist damit geleugnet, daß der Sohn Gottes wirklich gelitten habe. Und wenn Danäus gegen Chemnitz schreibt,346) Christi Leiden werde dem Sohne Gottes nur vermöge einer Gedankenoperation zugeschrieben, ohne irgendwelche wirkliche Mitteilung (praedicatione dialectica absque ulla reali communicatione), so haben wir in dieser Aussprache die völlige sachliche Absonderung des Sohnes Gottes von dem Leiden seiner menschlichen Natur. Wenn ferner Beza bei dem Kolloquium zu Mömpelgard sagt: 347) Diesen Ausspruch, wodurch von Gott das Leiden ausgesagt wird, legen wir so aus: „Gott hat gelitten, das heißt, das Fleisch, welches mit der Gottheit vereinigt ist, hat gelitten", so erlaubt sich Beza gerade wie Zwingli und vor ihm Nestorius eine Vertauschung der Subjekte. Mit demselben Resultat behaupten andere reformierte Theologen, daß in dem Satz: „Der Sohn Gottes hat gelitten" eine Synekdoche vorliege: die ganze Person sei zwar im Subjekt genannt, aber nur ein Teil, nämlich die menschliche Natur, gemeint.348) Es liegt also klar zutage, daß die reformierten Theologen in ihren theologischen Darlegungen sachlich immer wieder auf die Allöosis Zwinglis zurückkommen.

Es gibt aber einen Punkt, an dem die reformierten Theologen selbst durch die Allöosis und durch alle ihre gewundenen Erklärungen über das Leiden des Sohnes Gottes einen Strich machen. Das ist der Punkt, wo sie erklären, daß der Sohn Gottes mit seiner göttlichen Natur dem Leiden seiner menschlichen Natur unendlichen Wert verliehen habe.349) Diese von der göttlichen Natur aus

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345) c. 8, p. 250. Bei Gerh., De pers. Chr., § 188. 195.

346) Examen libri Chemnitii, c. 16, p. 321. Bei Quenstedt II, 223.

347) Acta Colloquii Montis Belligartensis, Tub. 1587, p. 213.

348) So Joh. Piscator, Thes. theol. II, 574: Christus est passus intelligitur caro Christi est passa. Hic est synecdoche integri, quia integra pprsoma nominatur et sola altera illius pars videlicet caro seu humana natura assumta intelligitur. (Bei Quenstedt II, 224.)

349) Dies Zugeständnis findet sich auch in der Neustädter Admonition, p. 75.


168  >        Die Lehre von Christo.  [English ed. ~ 150–151]

gehende Wertverleihung schließt in sich, daß dem Sohne Gottes nicht bloß eine nominelle, sondern eine wirkliche Gemeinschaft mit dem Leiden der menschlichen Natur zukomme. So korrigieren ja in der christlichen Lehre die Forderungen des praktischen Christentums oftmals die falschen Theorien der Theologen. Das geschieht auch an diesem Punkte. Durch das Zugeständnis, daß die göttliche Natur dem Leiden der menschlichen Natur unendlichen Wert mitteile, machen die reformierten Theologen selbst einen Strich durch alle Tropen und Figuren, die sie im Schweiße des Angesichts beim ersten Genus der Mitteilung der Eigenschaften anzubringen sich bemühten. So rückt denn auch Hodge dort, wo er von dem inneren Wert (intrinsic worth) der Genugtuung Christi redet, nachdrücklich von Zwingli ab, wenn er schreibt: "Christ is but one person with two distinct natures, and therefore, whatever can be predicated of either nature, may be predicated of one person. An indignity offered to a man’s body is offered to himself. If this principle be not correct, there was no greater crime in the crucifixion of Christ than in unjustly inflicting death on an ordinary man. The principle in question, however, is clearly recognized in Scripture, and therefore the sacred writers do not hesitate to say that God purchased the Church with His blood; and that the Lord of glory was crucified. Hence such expressions as Dei mors, Dei sanguis, Dei passio have the sanction of Scriptural as well as of Church usage. It follows from this that the satisfaction of Christ has ali the value which belongs to the obedience and sufferings of ,the eternal Son of God, and His righteousness, as well active as passive, is infinitely meritorious. This is what the apostle clearly teaches in Hebrews 9, 13. 14: ‘For if the blood of bulls and of goats . . . sanctifieth to the purifying of the flesh, how much more shall the blood of Christ, who through (or with) an eternal Spirit offered Himself without spot to God, purge your conscience from dead works to serve the living God?’ The superior efficacy of the sacrifice of Christ is thus referred to the infinitely superior dignity of His person.” 350) Um so energischer freilich zieht Hodge gegen das genus maiestaticum, das heißt, gegen die Teilhaberschaft der menschlichen Natur an den Eigenschaften der göttlichen Natur, zu Felde. Aber bei seinem Zugeständnis, daß die göttliche Natur dem Tun und Leiden der menschlichen Natur unendlichen Wert verleihe,

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350) Syst. Theology II, 483 sq.


169  >        Zweite Art der Mitteilung der Eigenschaften.  [English ed. ~ 151–152]

wird auch sein Kampf gegen das genus maisttaticum sinn und gegenstandslos, wie später näher darzulegen ist.

Die abstrakten Redeweisen bei der ersten Art der Mitteilung der Eigenschaften.  ^  Die abstrakten Redeweisen wie: „Die Gottheit hat gelitten" statt: „Der Sohn Gottes hat gelitten" werden von den meisten lutherischen Theologen gemieden, um den Vorwurf abzuschneiden, daß sie das Leiden auf den Sohn Gottes nach seiner göttlichen Natur bezeichnen.351) Indes haben auch lutherische Lehrer hin und wieder die abstrakten Redeweisen gebraucht, aber bei gleichzeitiger Abweisung des Gedankens, daß die Gottheit an oder nach der Gottheit gelitten habe.352) So sagen Luther und die Konkordienformel einerseits: „Die Gottheit kann nicht leiden und sterben” und: „Gott in seiner Natur kann nicht sterben", andererseits: „Weil Gottheit und Menschheit in Christo eine Person ist,, so gibt die Schrift um solcher persönlichen Einigkeit willen auch der Gottheit alles, was der Menschheit widerführet, und wiederum", put der näheren Erklärung: „Obwohl das eine Stück, daß ich so rede, als die Gottheit, nicht leidet, so leidet dennoch die Person, welche Gott ist, am andern Stück, als an der Menschheit.” 353) Aus der beigefügten Erklärung geht hervor: wenn hier das Abstraktum „Gottheit" gebraucht wird, so ist nicht an die Gottheit an sich, sondern an die „Gottheit im Fleisch" oder nach der angenommenen menschlichen Natur gedacht. Darauf hat mit Recht auch Hase aufmerksam gemacht.354) Dasselbe ist von den Kirchenvätern zu sagen, wenn sie die Sätze: „Der Sohn Gottes hat gelitten” und: „Die Gottheit hat im angenommenen Fleische gelitten" prommouo gebrauchen. So Augustinus.355)  Es liegt also keine sachliche Differenz vor.

Die zweite Art der Mitteilung der Eigenschaften ^

(genus maiestaticum).

Wir sahen bei der Darlegung des sogenannten ersten genus der Mitteilung der Eigenschaften, wie entschieden von Nestorius, Zwingli und Anhängern gefordert wurde, daß die menschliche

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351) Gerhard, De pers., § 198. 199.

352) Frank, Theol. d. M 6. III, 251 ff.

353) Konkordienformel, S. 682, 41 ff.

354) Hutterus redivivus, p. 231, § 96, nota 2.

355) Gerhard, De pers., §199: Augustinus in medit. c. 6.: Deitas, quae carnem meam induit, crucis patibulum ascendit et in carne assumta triste tulit supplicium.


170  >        Die Lehre von Christo.  [English ed. ~ 152–153]

Eigenschaft des Leidens und Sterbens vom Söhne Gottes getrennt werde. Aber ganz besonders entschieden fordern nun sonderlich die reformierten Theologen, daß zwischen den göttlichen Eigenschaften des Sohnes Gottes und seiner menschlichen Natur eine unübersteigliche Kluft befestigt werde, weil die menschliche Natur Christi der göttlichen Macht, des göttlichen Wissens usw. nicht fähig sei, ohne vernichtet zu werden. In beiden Fällen tritt der Widerspruch gegen die Schriftwahrheit als Retter der Orthodoxie auf. Nestorius, Zwingli und Anhänger wollen mit ihrer Trennung des Leidens und Sterbens vom Sohne Gottes dem Unglück Vorbeugen, daß Gott in einen Menschen verwandelt werde. Die reformierten Theologen wollen mit ihrer Trennung der göttlichen Eigenschaften des Sohnes Gottes von seiner menschlichen Natur die Kalamität verhüten, daß die Menschheit in die Gottheit verwandelt werde.356) Sie wollen der menschlichen Natur Christi infolge ihrer Verbindung mit. dem Sohne Gottes außergewöhnliche endliche Eigenschaften (dona extraordinaria finita) zuschreiben, also große Macht, großes Wissen, aber nicht mitgeteilte göttliche Macht, göttliches Wissen usw. Im letzteren Falle würde die menschliche Natur sicherlich entweder in alle Winde zersprengt oder in die Gottheit verwandelt werden. Die reformierten Theologen gehen auch ins einzelne und überreichen der lutherischen Kirche ein ganzes Register von Unglücksfällen, die sich notwendig ergeben müßten, wenn die menschliche Natur nicht bloß dem Namen nach, sondern wirklich und wahrhaftig an der göttlichen Macht und den andern göttlichen Eigenschaften teilhaben würde, Das ganze Leben und Leiden Christi würde zum bloßen Schein herabsinken und damit den Charakter der Genugtuung verlieren. Und wie Nestorius behauptete, er könne einen vom Weibe gebornen, gekreuzigten, gestorbenen und begrabenen Gott nicht anbeten, so behaupten auch die reformierten Theologen, sie wüßten mit einem Heiland nichts anzufangen, der nach seiner

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356) Admon. Neost., p. 76: Quod certe dum faciunt (nämlich der menschlichen Natur mitgeteilte göttliche Eigenschaften zuschreiben), in naturam divinam eam transformant, eum Schwenkfeldio deificant, eum Eutyche abolent. Hierher gehören auch die schon angeführten Worte von Danäus: Nihil qhidquam quod Deitatis ipsius proprium et essentiale est, ulli Omnino rei creatae, qualis est humana et assumta a Christo natura, realiter communicari potest, nisi Deum quendam novum nasci et fieri posse concedamus. (Examen libri Chemnitii, p. 104.)


171  >        Zweite Art der Mitteilung der Eigenschaften. ^  [English ed. ~ 153–154]

menschlichen Natur an der göttlichen Macht usw. teilhabe.357) Überhaupt sei die ganze Sache nicht nur „undenkbar", sondern auch „kindisch", „lächerlich", intolerabilis absurditas et contradictio usw.358) Insonderheit meinen sie, die Teilhaberschaft an der göttlichen Allgegenwart als ein „Monstrum" verspotten zu dürfen. Den reformierten Theologen schließen sich prinzipiell die römischen Theologen an, obwohl sie den Gegenstand weniger ausführlich behandeln.359) Der ganzen Gegenstellung liegt das Dekret zugrunde, daß die menschliche Natur Christi der Teilnahme an seinen göttlichen Eigenschaften nicht fähig sei: Finitum non est capax infiniti.

Gegen diese reformierte Stellung ist wieder das Doppelte zu sagen: Die so entschiedene und fanatische Bestreitung der Mitteilung der göttlichen Eigenschaften des Sohnes Gottes an seine menschliche Natur ist a. Selbstmord, b. Verwerfung der klaren Schriftlehre.

A. Der Selbstmord liegt auf der Hand. Ist die menschliche Natur Christi wegen ihrer Endlichkeit der göttlichen Allmacht, des göttlichen Wissens usw. nicht fähig, so ist sie auch der göttlichen Person des Sohnes Gottes, die ebenso unendlich ist wie seine göttliche Allmacht usw., nicht fähig. Nun wollen aber

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357) Böhl faßt das ganze Elend, das sich nach seiner Meinung ergeben würde, so' zusammen: „Wir würden hier aus den barsten Schein, hinauskommen. Es würde alles Leiden des Erlösers, es würden alle seine Schwachheitsund Subordinationszustände nur noch der äußeren Erscheinung angehören, und der kongruente Faktor der Genugtuung gegenüber einem erzürnten Gott würde uns gänzlich abhanden kommen. Vor einer mit der göttlichen Natur von der Inkarnation an in eins zusammenfließenden menschlichen Natur des Erlösers, die nur mit Mühe innerhalb des Rahmens des status exinanitionis gehalten werden kann, erschrickt das Gesetz und flieht der Tod, vor ihr treten die Kinder Gottes scheu beiseite, denn das ist nicht mehr der Erlöser nach Hebr. 2, 14—18.” (Dogmatik, S. 344 s.)

358) Zitate bei Frank III, 355 ff. Auch Böhl meint (a. a. O., S. 344): „Man könnte sich unmöglich etwas denken bei einer menschlichen Natur des Erlösers, welcher Allmacht, Allgegenwart, Allwissenheit sowie auch lebendigmachende Kraft mitgeteilt worden wäre, und die zugleich unter göttlicher Schuldhaft von der Empfängnis an stünde.” Wobei Böhl freilich vergessen hat, was er einige Seiten vorher gesagt hat, nämlich daß es bei dem Wunder der Person Christi nicht nach dem menschlichen Begreifen gehe.

359) Klee, Dogmatik II, 448. 452 ff. So bezeichnet A. J. Maas den Irrtum der Lutheraner als bestehend "in predicating of the human nature or of humanity the properties of the divine nature" Cath. Encycl.. IV, 169), und Joseph Hughes findet an Brenz den Irrtum, "that the attributes of the divine nature had been communicated to the humanity of Christ, which thus was deified” (a. a. O. XV, 117).


172  >        Die Lehre von Christo.  [English ed. ~ 154–155]

die reformierten Theologen die reale Verbindung der Person des Sohnes Gottes mit der menschlichen Natur Christi festhalten. Daher reden sie jedes Wort, das sie gegen die Mitteilung der göttlichen Eigenschaften an die menschliche Natur Christi äußern, direkt gegen sich selbst, nämlich gegen die noch von ihnen gegen die Sozinianer behauptete Mitteilung der göttlichen Persönlichkeit (Hypostase) des Sohnes Gottes an die menschliche Natur. Es ist unwiderleglich, was die Apologie des Konkordienbuchs in bezug aus diesen Punkt gegen die Neustädter Admonition ausführt: „Ja, so unglaublich ist die persönliche Vereinigung als die Mitteilung der Majestät” (der göttlichen Eigenschaften), „wenn man auf das principium sehen will: Finitum non est capax infiniti; und wenn man daraus die Mitteilung der Majestät verleugnen könnte, so könnte man ebenermaßen auch aus demselben principio die Menschwerdung selbst verneinen, denn es schleußt an einem Ort so stark wie am andern.” 360) Wir haben es hier auf reformierter Seite mit einer der sonderbarsten Verwirrungen des menschlichen Geistes zu tun, mit einer Ja- und Nein-Theologie, die sich nur aus dem Parteigeist erklärt. Hase sagt ganz richtig: „Es ist inkonsequent, die höchste Einheit der Person zu behaupten, während man es nicht auf die geringere Gemeinsamkeit der Attribute wagen will.” 361) Ebenso ist hier wieder an Seebergs Bemerkung zu erinnern, daß die reformierte Theologie mit dem Zugeständnis der persönlichen Vereinigung oder der Zweinaturenlehre das Recht verloren habe, gegen die Mitteilung der Eigenschaften zu reden.362) Auch weisen wir darauf zurück, wie Frank den reformierten Theologen Danäus ad absurdum führt. Wenn Danäus dekretiert, daß nichts, was Gott selbst eigen und wesentlich ist, der menschlichen Natur Christi mitgeteilt werden könne, so entgegnet Frank: „Also auch nicht die Persönlichkeit des Logos, die doch, wenn irgend etwas, Gott selbst eigen ist.” 363) So ist Selbstwiderspruch die eigentliche Signatur der reformierten Bekämpfung des genus maiestaticum. Auch all die schrecklichen Folgen, die sich angeblich aus der Mitteilung der göttlichen Eigenschaften an die menschliche Natur ergeben sollen, reden sie wider sich selbst, solange sie an der Mitteilung der göttlichen Persönlichkeit an die menschliche Natur nicht bloß nominell, sondern

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360) Vgl. das ausführlichere Zitat bei der communio naturarum, Note 271.

361) Ev. Dogmatik, S. 226.         362) Note 22, S. 60 f.

363) Note 272 und Text.


173  >        Zweite Art der Mitteilung der Eigenschaften.  [English ed. ~ 155–156]

wirklich festhalten. Würde die menschliche Natur Christi durch die Mitteilung der göttlichen Allmacht zerstört, so auch durch die Mitteilung der göttlichen Persönlichkeit. Wäre es „undenkbar", „lächerlich” und „Nonsens", daß der menschlichen Natur göttliche Macht gegeben wird, so wäre genau dasselbe von der Mitteilung der göttlichen Persönlichkeit zu sagen. Würde das Leben und Leiden Christi dadurch zum „barsten Schein", daß seine menschliche Natur an der Allmacht und Allwissenheit teil hat, so hätten wir dasselbe Resultat durch die Teilhaberschaft der menschlichen Natur an der göttlichen Person des Sohnes Gottes. Ginge der genugtuende Charakter des Lebens und Leidens Christi dadurch verloren, daß die menschliche Natur Christi in realer Gemeinschaft mit den göttlichen Attributen ist, so würde dies vor allen Dingen auch dadurch der Fall sein, daß die menschliche Natur reale Gemeinschaft hat der göttlichen Person des Sohnes Gottes. Graut Böhl vor einem Heilande, dessen menschlicher Natur Allmacht und Allwissenheit gegeben ist, so müßte ihm erst recht grauen vor einem Heilande, dessen menschlicher Natur das göttliche Ich des Sohnes mitgeteilt ist. In dieser Finsternis der Ja- und Nein-Theologie auf seiten der reformierten Theologen erscheint nur ein Lichtpunkt. Es ist der, daß sie selbst nicht glauben, was sie im Parteigeist gegen die lutherische Lehre reden und schreiben. Sie gestehen hinterher zu (Admonit. Neost., Böhl, Hodge), daß die göttliche Natur in Christo in der Weise wirksam und tätig sei, daß sie dem Leiden Christi unendlichen, genugtuenden Wert verleihe. Damit gestehen sie selbst zu, daß eine reale Gemeinschaft der göttlichen Natur und der Eigenschaften der göttlichen Natur mit der menschlichen Natur stattfinde. Bei einer bloß nominellen Gemeinschaft der göttlichen Eigenschaften mit der menschlichen Natur könnte von einer unendlichen Wertmitteilung und Genugtuung nicht die Rede sein. Dies ist eine glückliche Inkonsequenz. Dies ist aber auch zugleich ein Beweis, an welchem handgreiflichen Selbstwiderspruch diss reformierte Theologie leidet, und wie unverantwortlich es ist, daß sie durch die fanatische Bekämpfung der Mitteilung der göttlichen Eigenschaften an die menschliche Natur Christi die Christenheit verwirrt.

Noch aus einen anderen Selbstwiderspruch mag hier sofort hingewiesen werden. Die reformierten Theologen wollen durch die Bekämpfung des genus maiestaticum die menschliche Natur Christi vor Zerstörung retten. In der Aufregung des Kampfes werden sie nicht gewahr, daß sie bei diesem Rettungsversuch die


174  >          [English ed. ~ 156–157]

göttliche Natur Christi zerstören. Die Schrift redet von solchen göttlichen Eigenschaften, die Christo erst in der Zeit gegeben sind, wie Matth. 28, 18: „Mir wurde gegeben (εδόϑη) alle Gewalt im Himmel und aus Erden.” Da die reformierten Theologen diese Aussage nicht auf Christum nach der menschlichen Natur beziehen wollen, so bleibt nur die Beziehung auf Christi göttliche Natur übrig. Damit aber heben sie — wie auch Hase in seinem „Huttems redivivus" erinnert 364) — die ewige, wesentliche Gottheit Christi auf, und es bleibt ihnen als „Gottheit" Christi nichts weiter übrig als ein arianisches Geschöpf oder ein mit göttlicher Würde ausstaffierter sozinianischer Weltregent. Doch dies bringt uns schon zu dem zweiten Punkt, der die reformierte Leugnung der Mitteilung der göttlichen Eigenschaften an die menschliche Natur charakterisiert. Es ist dieser: durch diese Leugnung treten die reformierten Theologen in Widerspruch nicht nur mit sich selbst, sondern auch mit der Schrift.

B. Die Mitteilung der göttlichen Eigenschaften an die menschliche Natur ist klare Schriftlehre. Sie ist, um an das eben Gesagte anzuknüpfen, überall dort gelehrt, wo in der Schrift von Christo die göttliche Herrlichkeit im allgemeinen und einzelne göttliche Eigenschaften im besonderen, zum Beispiel Allmacht und Weltherrschaft, als ihm in der Zeit gegeben ausgesagt werden. Wollte man diese Aussagen auf Christum nach seiner göttlichen Natur beziehen, so würde man damit Christi ewige, wesentliche Gottheit leugnen und aus Christo einen in der Zeit gemachten oder gewordenen Gott, ein arianisches Geschöpf, einen unitarischen Weltregenten machen. Wir erinnerten schon oben an Hases Aussprache im „Hutterus redivivus”. Hase selbst glaubt freilich nicht die zwei Naturen in Christo und demnach auch nicht, eine Mitteilung der Eigenschaften. Aber er will in seinem „Hutterus redivivus" die alte lutherische Lehre sowohl objektiv darstellen, als auch im Sinne der alten Lehrer gegen Einwürfe verteidigen. So sagt er auch zur Verteidigung des genus maiestaticum: „Unleugbar werden in der Heiligen Schrift der menschlichen Natur Christi Attribute zugeschrieben, welche ihr nur durch eine Teilnahme an göttlichen Attributen zukommen können. ... Es wird göttliche Macht und Herrlichkeit Christo beigelegt, teils als erst übertragen im Laufe seines irdischen Lebens, Matth. 11, 27;

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364) S. 236.


175  >        Zweite Art der Mitteilung der Eigenschaften.  [English ed. ~ 157–158]

28, 18; Luk. 10, 22, teils als erst empfangen in seinem überirdischen Leben zum Lohne” (als Folge) „seines auf Erden bewiesenen Gehorsams, Phil. 2, 8—10; Eph. 1, 20 ff.; Hebr. 2, 9; 5, 8 f. Da er nun als Gott nichts empfangen und in nichts erhöht werden kann, so ist hierdurch die Mitteilung göttlicher Attribute an die menschliche Natur klar ausgesprochen. Wofern diese Unterscheidung nicht stattfände, so wäre durch jene Stellen die Gottheit Christi selbst widerlegt, und nichts bliebe übrig als ein arianisches Geschöpf oder ein sozinianischer Weltregent.” 365) Was Hase sagt, ist unwiderleglich. Das Axiom der alten Kirche und der Konkordienformel: 366) „Was Christus in der Zeit empfangen hat, hat er nicht nach der göttlichen Natur, nach welcher er alles von Ewigkeit hat, sonderst nach der angenommenen menschlichen Natur empfangen" — dies Axiom ist nicht eine dogmatische Konstruktion, sondern Schriftlehre. Damit ist schon das genus maiestaticum hinreichend bewiesen.

Weil aber um diese Materie im Lause der Zeit sich ein ganzer Sagenkreis herumgelegt hat, und nicht nur gegen einzelne Schriftsteller:, sondern auch gegen einzelne Ausdrücke in den Schriftstellen Einsprache erhoben und die kläre Sache verwirrt worden ist, so ist es dienlich, die Schriftstellen noch etwas näher anzusehen, welche die Mitteilung sowohl der ganzen göttlichen Herrlichkeit als auch der einzelnen göttlichen Eigenschaften (Allmacht, Allwissenheit, Allgegenwart usw.) lehren.

Wenn die Schrift Kol. 2, 9 bezeugt, daß „die ganze Fülle der Gottheit" in Christi menschlicher Natur wie in ihrem σώμα wohne, so lehrt sie damit, daß nicht bloß eine wesenlose Person, sondern der Sohn Gottes in dem ganzen Reichtum des göttlichen Wesens und der göttlichen Eigenschaften ohne jeglichen Abzug (παν το πλήρωμα τής ϑεότψος) mit seiner menschlichen Natur vereinigt sei. Wenn ferner die Schrift Joh. 1, 14; 1 Joh. 1, 1 ff.; Joh. 2, 11 bezeugt, daß der λόγος so in das Fleisch eingegangen ist, daß die Jünger an seiner menschlichen Natur seine göttliche Herrlichkeit mit ihren Augen sahen und mit ihren Händen betasteten, so ist damit abermals klar gelehrt, daß das ganze göttliche Wesen mit allen göttlichen Eigenschaften mit der menschlichen Natur Christi nicht bloß nominell, sondern realiter verbunden war. Alle Schriftaussagen, welche Christo nach der menschlichen Natur göttliche

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365) Hutterus redivivus S. 235 f.        366) M. 686, 57.


176  >          [English ed. ~ 158–159]

Herrlichkeit zuschreiben (so namentlich auch Jah. 17, 6: δόξασόν με ... εν τῆ δόξΐῆ ῆ εϊχον προ τον τον κόσμον είναι), decken das ganze genus maiestaticum, weil die göttliche Herrlichkeit die göttlichen Eigenschaften in sich besaßt.

Dazu kommt nun eine zweite Reihe von Schriftzeugnissen, in denen die einzelnen göttlichen Eigenschaften von Christo nach seiner menschlichen Natur ausgesagt werden.

Die mitgeteilte Allmacht. ^

Der Hebräerbrief belehrt uns, indem er schon im Alten Testament vorliegendes Zeugnis anführt: „Alles (πάντα) hast du untertan zu seinen Füßen. In dem, daß er ihm alles (τά πάντα) hat untertan, hat er nichts gelassen, das ihm nicht untertan sei.” 367) In diesen Worten kommt zweierlei zum Ausdruck. Erstlich wird die Christo gegebene Macht nicht als eine beschränkte Macht, sondern als göttliche Allmacht, als Herrschaft über das All, beschrieben. Die auf das All gehende Aussage πάντα νπέταξας υποκάτω των ποδών αυτόν wird noch verstärkt durch den Zusat εν γάρ τω νποτάξαι αύτω τα πάντα ούδεν άφηκεν αύτφ ανυπότακτου.  Zum andern kommt hier, wenn wir V. 7 und 9 hinzunehmen, zum Ausdruck, daß diese göttliche Allmacht Christo nach seiner vorangegangenen Erniedrigung, also in der Zeit, nach seiner menschlichen Natur gegeben sei. Beide Gedanken sind auch schon in der Weissagung bei Daniel klar ausgesprochen: die Belehnung mit der Macht in der Zeit, also nach der menschlichen Natur, in den Worten: „Es kam einer in des Himmels Wolken wie eistes Menschen Sohn bis zu dem Alten und ward vor denselben gebracht"; die Qualität der gegebenen Macht als göttlicher Macht in den Worten: „Der gab ihm Gewalt, Ehre und Reich, daß ihm alle Völker, Leute und Zungen dienen sollten. Seine Gewalt ist ewig, die nicht vergehet.” 368) Es ist eine Gewalt ohne territoriale Begrenzung und zeitliche Einschränkung. Ferner: Als der auserstandene Heiland seiner Kirche den Auftrag erteilt, in die ganze Welt zu gehen und alle Völker zu lehren (Matth. 28, 19. 20), schickt er — zum Trost der Kirche — die Erinnerung voraus, daß ihm, dem Auferstandenen, eine Macht gegeben wurde (εδόϑη), vermöge welcher er nicht bloß in einem Lande, auch nicht bloß

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367) Hebr. 2, 8; Ps. 8, 7; 1 Kor. 15, 27; Eph. 1, 22.

368) Dan. 7, 13. 14.


177  >        Die mitgeteilte Allmacht.  [English ed. ~ 159–160]

auf Erden, sondern im Himmel und auf Erden (iv ονρανφ καί im γής) unumschränkte Gewalt (πάσα εξουσία) hat.369) Die Schrift läßt uns auch darüber nicht im Zweifel, daß die göttliche Allmacht schon vor der Erhöhung Christi seiner menschlichen Natur eigen war. Christus ist nach der menschlichen Natur allmächtig nicht erst nach der Erhöhung und durch dieselbe, sondern schon durch die unio personalis, also auch schon im Stande der Erniedrigung. Dies kommt in einer ganzen Reihe von Schriftstellen zum Ausdruck. Auf den Stand der Erniedrigung beziehen sich Matth. 11, 27: πάντα μοι παρεδόϑη υπό τον πατρός μου; Joh. 3, 36: πάντα δέδωκεν iv τη χειρί αϋτοϋ. Auch Ies. 9, 5 [or Isaiah 9:6] wird das וַתְּהִ֥י הַמִּשְׂרָ֖ה עַל־שִׁכְמֹ֑ו [HEBREW] schon von dem „Kinde" ausgesagt. Der von der Jungfrau Geborne ist von seiner Geburt an im Besitz der göttlichen Macht und Majestät. Doch die Schrift ist in bezug auf die Mitteilung der göttlichen Macht ast die menschliche Natur Christi noch viel ausführlicher. Die Macht, die Toten zu erwecken und das Weltgericht zu halten, sind sicherlich Betätigungen nicht eines donum finitum, sondern der göttlichen Allmacht. Diese Funktionen aber sind Christo gegeben, δη νίδς άνΰ'ρώπον ίστίν. Hierbei ist es einerlei, ob man übersetzt: „weil er ein Menschensohn ist" oder: „weil er der Menschensohn ist”. In jedem Falle ist von der göttlichen Allmacht die Rede, die Christo nach seiner menschlichen Natur in der Zeit gegeben ist.370) Auch Christi Wunder beweisen, daß die Allmacht seiner menschlichen Natur durch Mitteilung eigen war. Christus tut nämlich nicht Wunder wie die Propheten und Apostel,

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369) Matth. 28, 18. Wer, wie Danäus gegen Chemnitz (Examen libri Chemnitii, p. 398), behauptet, hier sei nicht göttliche Macht, sondern potestas longe inferior beschrieben, mit dem ist nicht weiter zu verhandeln.

370) Frank verfällt der modern-theologischen Phrase, wenn er (Theol. d. F. C. III, 294) sagt: „Wer möchte gegenwärtig noch jene Schriftaussage, daß Christo die Macht gegeben sei, auch Gericht zu halten, weil er der Menschensohn ist (Joh. 5, 27), unmittelbarerweise dahin deuten, daß Christo solche Macht übertragen worden (quia Filius hominis est, diese Worte der F. C. läßt Frank aus), „quatenus carnem et sanguinem habet?" Die Schriftworte Joh. 5, 27 brauchen gar nicht dahin gedeutet zu werden, sondern sie lauten dahin, wie Meyer z. St. richtig bemerkt: „Diese Macht (der Gerichtshaltung) hat ihm der Vater gegeben, weil er ein Menschensohn ist, das heißt, weil er Mensch ist, mithin die Gerichtsbefugnis nicht von selbst haben kann und sie nicht haben würde, wenn sie ihm nicht vom Vater gegeben wäre.


178  >          [English ed. ~ 160–161]

die bei ihrem Wundertun eine fremde Allmacht offenbarten (wie Petrus ausdrücklich Apost. 3, 12 bekennt: „Was sehet ihr auf uns, als hätten wir diesen wandeln gemacht durch unsere eigene Kraft?"), sondern Christus tut, wie auf der Hochzeit zu Kana, Wunder durch eigene Allmacht,        έφανέρωσε την δόξαν αυτού. Und das haben die Jünger auch erkannt. Sie bezeugen, daß sie an Christo, als er unter ihnen wohnte, also an seiner menschlichen Natur im Stande der Erniedrigung, göttliche Herrlichkeit schauten, την δόξαν ώς μονογενούς παρά πατρός.371) Ja, durch Mitteilung ist die göttliche Allmacht der menschlichen Natur Christi dermaßen eigen, daß die Schrift die Allmachtswirkung auch direkt von der menschlichen Natur Christi aussagt: ή σάρξ μου άληϑώς εστι βρώσις,372) und: το αίμα Ιησού Χρίστου του υίοΰ αυτού καθαρίζει ημάς από πάσης αμαρτίας.373) (Konkordienf., S. 686, 59.) Über die sogenannten abstrakten Redeweisen beim zweiten genus ist später noch mehr zu sagen. So klar und reichlich lehrt die Schrift die tatsächliche Mitteilung der göttlichen Allmacht an die menschliche Natur.

Aber hiermit haben wir die geschichtliche Wirklichkeit, wie sie uns in der Schrift entgegentritt, noch nicht vollständig gezeichnet. Neben der mitgeteilten Allmacht gewahren wir an Christo im Stande der Erniedrigung nach der menschlichen Natur auch beschränkte Macht. Diese beschränkte Macht lehrt die Schrift, wenn sie berichtet, daß Christus müde wurde, ein Engel vom Himmel ihn stärkte, die Diener der Juden ihn griffen und banden, und danach die Heiden ihn auf die Schädelstätte führten und ans Kreuz hefteten.374) Wie ist dies Nebeneinander von Allmacht und beschränkter Macht aufzufassen? Wir sind hier nicht aufs Raten und die theologische Spekulation angewiesen. Die Schrift selbst gibt uns klaren Aufschluß darüber, woher es kam, daß der müde und schwach wurde, ja, litt und starb, in dessen menschlicher Natur doch die ganze Fülle der Gottheit, und speziell auch die Allmacht, wohnte. Die Schrift erklärt diese Tatsache mit dem Hinweis auf das Amt, das Christus unter den Menschen und für die Menschen auf Erden auszurichten hatte. Dies Amt bestand nicht darin, daß er hier auf

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371) Joh. 2, 11; 1, 14. Hodge dagegen sagt: "The human nature of Christ is no more omniscient or almighty than the worker of a miracle is omnipotent.” (Syst. Theol. II, 417.)

372) Joh. 6, 55.        373) 1 Joh. 1, 7.

374) Joh. 4, 6; Luk. 22, 43;  Joh. 18, 12; Luk. 23, 33.


179  >        Die mitgeteilte Allwissenheit.  [English ed. ~ 161–162]

Erden unter den Menschen als Gott Paradiere, sondern darin, daß er an Stelle der Menschen leide und sterbe und durch seinen Tod He Macht nehme dem, der des Todes Gewalt über die Menschen hatte. Soweit es die Ausrichtung dieses Amtes erforderte, begab sich Christus des Gebrauchs der in ihm wohnenden göttlichen Allmacht. Er besaß die Allmacht, aber er gebrauchte sie nicht, sondern ließ sie in sich „ruhen”. Christus war arm, schwach, litt und ήσνχάζοντος τον λόγον (Irenaus). Und das ist wiederum nicht menschliche Spekulation, nicht kirchenväterliche und „lutherische Dogmatik", sondern diese Erklärung gibt Christus selbst, wenn er in bezug auf seinen Tod sagt: „Niemand nimmt es (das Leben) von mir, sondern ich lasse es von mir selber. Ich habe Macht, es zu lassen, und habe Macht, es wieder zu nehmen."375) Daß aber diese Macht, nach Belieben zu sterben und zu leben, auf Christum nach seiner menschlichen Natur zu beziehen ist, versteht sich von selbst, da Christo nach seiner göttlichen Natur Leiden, Sterben und Auferstehen nicht zugeschrieben werden darf, νασίαν, φώς οίκων απρόσιτον.376) Hierüber ist bei der Lehre von den Ständen Christi mehr zu sagen. Aber auch schon hier ist uns klar: die beschränkte Macht, die wir an Christo im Stande der Erniedrigung gewahren, besteht nicht in der Ablegung der Allmacht, sei es nach der göttlichen, sei es nach der menschlichen Natur, sondern im freiwilligen Verzicht auf den Gebrauch der Macht in der menschlichen Natur.

Die mitgeteilte Allwissenheit. ^

Die Heilige Schrift schreibt Christo nach seiner menschlichen Natur nicht bloß außerordentliches menschliches Wissen,377) sondern auch göttliches Wissen oder die Allwissenheit zu. Wie Christus ganz anders Wunder tut als die Propheten und Apostel, nämlich aus eigener Allmacht, so redet er auch in seinem prophetischen Amt τά ρήματα τον ϑεον ganz anders als die Propheten und Apostel. Während diese, wie Johannes der Täufer, εκ τής γής, von der Erde her, reden, das heißt, aus Offenbarung, die auf Erden geschieht (durch Inspiration), so redet Christus als δ εκ τον ονρανον ερχόμενος, was er „im Rate der heiligen Dreieinigkeit" gesehen und gehört hat und fortgehend und ununterbrochen bei seiner Verkündigung auf Erden sah und

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375) Joh. 10, 18.        376) 1 Tim. 6, 16.        377) Luk. 2, 52.


180  >        Die Lehre von Christo.  [English ed. ~ 162–163]

hörte als δ ών εις τον κόλπον τον πατρός und als δ ών εν τώ ούρανώ.378)  Mit andern Worten: Christus lehrte auf Erden nicht aus menschlichem, sondern aus seinem göttlichen Wissen, dessen Quelle das nicht unterbrochene trinitarische Verhältnis war. Da nun aber dies Lehren Christi sich in der menschlichen Natur und durch die menschliche Natur Christi vollzog, so war seine menschliche Natur des göttlichen Wissens teilhaftig. Dies kommt auch zum Ausdruck, wenn es in demselben Zusammenhang von Christo als dem Gesandten Gottes κατ’ εξοχήν heißt, daß Gott ihm den Geist ονκ εκ μέτρου 319) gibt, während die Gläubigen nur Gnadengaben κατά τό μέτρρν 380) Hatzen. Die Geistesgabe ούκ εκ μέτρου ist nach dem Kontext Bezeichnung des mitgeteilten göttlichen Wissens.381) — Ferner, wenn Christus bei seiner Lehrtätigkeit auf Erden Herzenskündiger war — er bedurfte ja nicht, daß ihm jemand Zeugnis gebe von einem Menschen, αυτός γάρ έγίνωσκε τί ήν εν τω άνϑρώπω 382) —, so hat er in seiner menschlichen Natur göttliches Wissen gebraucht, da nach der Schrift das Herzenskündigersein Gott allein zukommt, ό καρδιογνώστης ϑεός,383)

Daneben war in Christo im Stande der Erniedrigung nach der menschlichen Natur auch beschränktes Wissen. Luk. 2,

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378) Joh. 3, 31. 32; 1, 18; 3, 13. Es ist ausfallend, wie man hier dem klaren Wortsinn aus dem Wege gegangen ist. Christus hat auf Erden die „göttlichen Dinge bezeugt, weder weil er zuvor im Himmel war (Nösgen, Geschichte der ntl. Off. I, 218), noch weil er nachher in den Himmel gefahren ist (Meyer zu Joh. 1, 18), noch auch weil er jeden Tag zum Zweck des Lernens im Geist in den Himmel fuhr (Böhl, Dogmatik, S. 340), sondern weil seinem auf Erden das εις τον κόλπον τοϋ πατρός und gleichzeitig war. Das trinitarische Verhältnis wurde durch die Menschwerdung nicht unterbrochen. Die ganze Sinnlosigkeit der gegenteiligen Auffassung kommt in einer Bemerkung der englischen Ausgabe des Meyerschen Kommentars zum Ausdruck: "He, while on earth, was stili in heaven (3, 13), yet not de facto, but de jure.” Hiernach wäre  der Gedanke der: Weil Christus zwar ein Anrecht an den Himmel hatte, aber doch nicht tatsächlich im Himmel war, konnte er die himmlischen Dinge enthüllen, zu denen kein Mensch Zutritt hat. Richtig aber Dummelow zu "which is in heaven”: “Some important authorities” (א [HEBREW] B L) “omit these words, which, if genuine, affirm that our Lord was at the same time on earth and in heaven, in a state of humiliation and in a state of glory."

379) Joh. 3, 34.        380) Eph. 4, 7.

381) Das Richtige hat hier de Wette gegen Meyer. Vgl. auch Philippi IV, 1, 296. 442 sowie Hengstenberg und Keil z. St. Quenstedt II, 232 sq.

382) Joh. 2, 24. 25 usw. 383) Apost. 1, 24; 15, 8; 1 Kön. 8, 39.


181  >        Die mitgeteilte Allwissenheit.  [English ed. ~ 163–164]

52: προέκοπτε σοφία.; Mark. 13, 32: ουδέ ό υιός, scii, οΐδε περί τής ημέρας εκείνης. Wir müssen auf Grund der Schrift in Christo nach der menschlichen Natur ein doppeltes Wissen unterscheiden: das Wissen, das der menschlichen Natur von der göttlichen durch die persönliche Vereinigung mitgeteilt wird, und das Wissen, welches der menschlichen Natur, als natürliche, wesentliche Eigenschaft zukommt. Das erstere ist unendlich (omniscientia), das letztere ist endlich und des Wachstums fähig (scientia naturalis, habitualis, experimentalis). Wenn die Schrift berichtet, daß JEsus an Weisheit zugenommen habe, προέκοπτε σοφία, so ist das nicht von einem bloß scheinbaren, sondern von einem wirklichen Wachstum zu verstehen,384) aber nach dem natürlichen, der menschlichen Natur wesentlichen Wissen. Wie konnte aber in ein und derselben Person beschränktes Wissen neben dem göttlichen Wissen sich finden? In derselben Weise wie in ein und derselben Person neben der Allmacht beschränkte Macht, Ohnmacht und Tod Tatsache war. Wie die göttliche Allmacht, so betätigte sich auch das göttliche Wissen im Stande der Niedrigkeit nicht immer in der menschlichen Natur, sondern nur so weit, als es zur Ausrichtung des Amtes Christi nötig war. So betätigte sich das göttliche Wissen in der menschlichen Natur nicht in bezug auf den Tag und die Stunde des Endes der Welt,385) weil der Jüngste Tag nicht Gegenstand der Verkündigung auf Erden ist, sondern nach göttlicher Ordnung den Menschen verborgen bleiben soll. Wir haben daher zu sagen: Wie ήσνχάζοντος τον λόγου, das heißt, durch Nichtbetätigung der göttlichen Allmacht in der menschlichen Natur, in dieser Natur neben der Allmacht beschränkte Macht, Armut, Müdigkeit, Leiden und Sterben statthat, so ist auch ήσνχάζοντος του λόγου, durch Nichtbetätigung des göttlichen Wissens in der menschlichen Natur, in dieser Natur neben der göttlichen Allwissenheit beschränktes Wissen. Man hat freilich gesagt, es sei schwer, ja unmöglich, sich in bezug auf die mitgeteilte Allwissenheit einen actus primus (die Allwissenheit im ruhenden Zustand gedacht) und einen actus secundus (die Allwissenheit in Betätigung gedacht) vorzustellen. Die reformierten Theo

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384) Äg. Hunnius: Verissimum est, quod Lucas scribit, puerum Iesum sapientia crevisse, non simulate profecto, sed in rei veritate, ut Lucas scribit, coram Deo et hominibus. (Libelli quatuor de pers. Christi, p. 70.) Dazu Luther, St. L. XII, 155 f.

385) Mark. 13, 32. überaus gründlich behandelt diese Stelle exegetisch und dogmenhistorisch Quenstedt II, 255 f. und I, 6 f. Vgl. Luther XII, 155 f.


182  >        Die Lehre von Christo.  [English ed. ~ 164–165]

logen spotten hier. Auch die Princeton Review redete hier vor einigen Jahren von "nonsense”.386) Man muß die Schwierigkeit zugeben. Auch die alten lutherischen Theologen sind sich der Schwierigkeit bewußt gewesen. Aber, genau zugesehen, ist die begriffliche Schwierigkeit bei der Nichtbetätigung der Allwissenheit nicht größer als bei der Nichtbetätigung der Allmacht. Die Tatsache, daß der arm sein, leiden und sterben konnte, mit dem die göttliche Allmacht und das göttliche Leben persönlich vereinigt blieb, ist nicht begreiflicher als die Tatsache, daß der etwas nicht wissen konnte, mit dem die göttliche Allwissenheit Persönlich vereinigt war. Die „begriffsmäßige Schwierigkeit” beginnt nicht erst bei dem doppelten Wissen, das wir geschichtlich an Christo gewahren, sondern liegt weiter zurück. Sie liegt da, daß der unendliche Gott und der endliche Mensch ein Ich bilden. Wer diese Grundtatsache trotz ihrer „begriffsmäßigen Schwierigkeit" als Tatsache auf das Zeugnis der Schrift hin annimmt, auch Müdigkeit, Leiden und Sterben beim Verbundensein mit der Person, des Sohnes Gottes zugibt, der offenbart das Gegenteil von Weisheit und Wissenschaftlichkeit, wenn er nun hinterher bei den einzelnen von der Schrift bezeugten Tatsachen dieses wunderbaren gottmenschlichen Lebens sich so aufregt, daß er von "nonsense" redet, wenn es sich wie um "retracted omnipotence", so auch um "retracted omniscience" handelt. Um das Ruhen des göttlichen Wissens in der menschlichen Natur Christi in etwas zur Anschauung zu bringen, haben alte Theologen daran erinnert, daß beim Menschen im Schlafzustande das Wissen nicht abhanden komme, sondern nur ruhe oder sich auf den actus primus reduziere.387) Das ist richtig. Es gibt sicherlich ein ruhendes Wissen. Es war zu einer Zeit in der Psychologie nicht unrichtig von einem „unter die Schwelle des Bewußtseins gesunkenen" Wissen die Rede. Aber es ist gut, wenn die alten Lehrer erklären, daß sie mit dem Analogon des menschlichen Wissens nichts beweiset sondern aus der Schrift bereits Feststehendes nur in etwas veranschaulichen wollen. Bei Christo handelt es sich um in der menschlichen Natur ruhendes göttliches Wissen. Es ist zuzugeben, daß das göttliche Wissen, für sich genommen, nicht als ruhend,

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386) Jahrgang 1910, P. 692: "Retracted omniscience is, of course, not omniscience at all. To speak of potential omniscience is simply to talk nonsense."

387) Äg. Hunnius' Libelli quatuor de pers. Christi, p. 72 sq.; bei Baier III, 57.


183  >        Die mitgeteilte Allgegenwart.  [English ed. ~ 165–166]

sondern stets als tätig (als actus purissimus) zu denken sei. Aber es handelt sich hier nicht um das göttliche Wissen für sich genommen, sondern um das göttliche Wissen, insofern es in die menschliche Natur Christi eingegangen ist und in dieser menschlichen Natur sich betätigt oder nicht betätigt,388) gerade wie die göttliche Allmacht nach dem Bedürfnis des auszurichtenden Amtes sich in der menschlichen Natur betätigte oder nicht betätigte. Aber wo bleibt dabei die Einheit des Bewußtseins in Christo? Nun, wir stehen hier nicht einer Theorie, sondern einer Tatsache gegenüber. Die Schrift sagt von der einen Person Christi sowohl das unbeschränkte göttliche Wissen als auch das beschränkte menschliche Wissen aus, wie wir oben gesehen haben. Es kommt doch schließlich nicht darauf an, ob wir uns etwas „denken" können, sondern ob etwas Tatsache sei. Daran erinnert sogar Böhl, wenn er in bezug auf die göttliche Allwissenheit in Christo sagt: „JEsus Christus, die ewige Weisheit, wendete diese Weisheit nicht an. Rationell erklären läßt sich das nicht; wir können nicht angeben, wie er die Allweisheit verleugnen und sozusagen vergessen konnte. Aber daß er sie nicht anwandte, steht historisch fest."389)

Die mitgeteilte Allgegenwart. ^

Schon in den Vorbemerkungen zum genus maiestaticum wurde darauf hingewiesen, daß die Teilhaberschaft der menschlichen Natur des Sohnes Gottes an seiner göttlichen Allgegenwart ganz besonderen Widerspruch hervorgerufen habe. Die reformierten Theologen begnügen sich an diesem Punkte nicht mit einem emphatisch wiederholten Αδύνατον,390) sondern hier glauben sie ein Recht zu haben, von einer „ungeheuerlichen Erdichtung” (monstrosum figmentum), „gottlosen Ungeheuerlichkeit” (impium monstrum) zu reden und den Lutheranern den letzten Rest von Verstand abzusprechen.391) Eine Anzahl Ausdrücke, die reformierte Theologen Zur Charakterisierung der mitgeteilten göttlichen Gegenwart gebrauchen, gibt man nur mit Widerstreben im Druck wieder. Sie erklären sich nur aus

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388) Quenstedt II, 248.        389) Dogmatik, S. 338.

390) So z. B. Sadeel, De veritate hum. nat. Christi, p. 18 sqq.; bei Frank III, 356.

391) Admonit. Neostad., c. 8, p. 265; Beza, P. I, Respons. ad act., p. 144; Danäus, Examen libri Chemnitii, p. 441. Bei Quenstedt II, 268; bei Frank III, 394.


184  >        Die Lehre von Christo. ^  [English ed. ~ 166–167]

dem Fanatismus des Parteigeistes.392) Auch Loofs von Halle regt sich in diesem Punkt so auf, daß er in der dritten Auflage der Herzogschen Realenzyklopädie den Reformator der Kirche vor aller Welt als einen Mann darstellt, der „völligsten Nonsens” und „Absurditäten" geredet habe.393) Welches Defizit an geistlichem und natürlichem Verständnis der Sache bei Loofs dieser Kritik Luthers zugrunde liegt, wird bei der folgenden Darlegung zutage treten. Zunächst wenden wir uns der reformierten Bestreitung der mitgeteilten göttlichen Allgegenwart zu.

Die so überaus energische reformierte Bestreitung der Mitteilung der göttlichen Allgegenwart an die menschliche Natur Christi ist wiederum zunächst unter der Rubrik Selbstmord unterzubringen. Bei Loofs steht die Sache etwas anders. Loofs erhebt gegen Luther den Vorwurf, daß dieser die Christologie „in das Schema der Zweinaturenlehre gezwängt" habe. Loofs leugnet also die „Zweinaturenlehre", das Heißt, die Verbindung von Gott und Mensch zu einem Ich oder zu einer Person. So kann bei ihm auch von einer Mitteilung göttlicher Eigenschaften, speziell der göttlichen Allgegenwart, an die menschliche Natur nicht die Rede sein. Loofs ist Luthers Lehre von einer der menschlichen Natur Christi mitgeteilten göttlichen Allgegenwart deshalb „völligster Nonsens", weil ihm die ganze Sache, die unio personalis von Gott und Mensch, „völligster Nonsens" ist. Loofs hat wie alle Leugner der „Zweinaturenlehre" seinen Standort extra ecclesiam genommen. Aber anders steht es bei den reformierten Theologen. Diese wollen den Unitariern gegenüber mit Ernst an der Zweinaturenlehre, das heißt, an der Menschwerdung des Sohnes Gottes, festhalten. Sie wollen die Tatsache nicht bloß gelten lassen, sondern auch verteidigen, daß die menschliche Natur des Sohnes Gottes an seiner göttlichen Person nicht bloß nominellen, sondern wirklichen Anteil habe. Sie bestreiten jedoch aufs heftigste, daß die menschliche Natur des Sohnes Gottes an seiner göttlichen Allgegenwart teilhaben könne, weil die Endlichkeit des Unendlichen nicht fähig sei.

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392) Quenstedt II, 268: Uslsna. ubiquitaria (Danäus). In der Admonit. Neost. heißt es in der eben angeführten Stelle c. 8, p. 265: Sicut simia [Affe] semper est simia, etiam induta purpuram, ita ubiquitas corporis semper est monstrosum figmentum, quocunque nomine eam appellent, seu maiestatem, seu modum dextrae Dei, seu esse personale, seu omnipraesentiam, seu realem communicationem idiomatum etc.

393) RE.3 sub Christologie.


185  >        Die mitgeteilte Allgegenwart.  [English ed. ~ 167–168]

Hiermit haben sie, wie gesagt, die Waffe gegen die eigene Brust gekehrt. Die göttliche Person des Sohnes Gottes ist zugestandenermaßen nicht weniger unendlich als seine göttliche Allgegenwart. Daher reden sie jedes Wort, das sie gegen die Teilhaberschaft der menschlichen Natur an der göttlichen Allgegenwart Vorbringen, auch gegen die Teilhaberschaft an der göttlichen Person des Sohnes Gottes und somit Wider sich selbst. Die reformierten Theologen kommen über das ihnen von allem Anfang an entgegengehaltene aut — aut nicht hinweg, daß sie entweder die mitgeteilte göttliche Allgegenwart zügeben oder auch die mitgeteilte göttliche Person leugnen müssen, weil die göttliche Allgegenwart des Sohnes Gottes nicht größer ist als die göttliche Person des Sohnes Gottes. Auch die einzelnen Gegenreden, zum Beispiel, daß sonderlich infolge der mitgeteilten göttlichen Allgegenwart Christus aufhöre, ein wahrer Mensch und ein wahrer Hoherpriester zu sein, und in eine gespenstige Erscheinung verwandelt werde,394) treffen, wenn sie treffen, mit gleichem Gewicht die mitgeteilte göttliche Persönlichkeit. Wenn Hodge meint: "Omnipresence and omniscience are not attributes of which a creature can be made the organ", so vergißt er hinzuzusetzen: „Also kann die menschliche Natur Christi auch nicht das Organ der göttlichen Person des Sohnes Gottes sein, und deshalb haben offenbar die Unitarier wider uns recht, und wir reformierten Theologen bestreiten den Lutheranern gegenüber, was wir doch den Unitariern gegenüber mit allem Ernst zu behaupten bestrebt sind.” Das ist der Selbstmord, den die reformierten Theologen durch die Bestreitung der mitgeteilten göttlichen Allgegenwart begehen. Leugnung der Teilnahme an der göttlichen Allgegenwart ist sachlich Leugnung der Teilnahme an der göttlichen Person.

Aber der reformierte Protest gegen die Mitteilung der göttlichen Allgegenwart an die menschliche Natur Christi ist auch ein Protest gegen die Schriftaussagen, welche diese Allgegenwart ausdrücklich lehren. Die Schrift belehrt uns Eph. 4, 10 dahin, daß Christus über alle Himmel aufgefahren sei, um das All zu erfüllen, άναβάς ΰπεράνω πάντων των ουρανών, ΐνα πληρώοῃ τά πάντα. Man hat ΐνα πληρώοῃ τα πάντα auf die Erfüllung der Weissagungen und die Vollendung des Erlösungswerkes beziehen, wollen. Aber diese Deutung von τα πάντα ent

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394) Hodge II, 416 f.; Böhl, S. 344 s.


186  >        Die Lehre von Christo.  [English ed. ~ 168–169]

spricht nicht dem Wortlaut und dem Zusammenhang. Die Worte: vom Himmel hinabsahren und dann wieder: über alle Himmel, das heißt, über alles Geschaffene, auffahren zu dem Zweck, τα πάντα zu erfüllen, weist prima facie aus ein Verhältnis zum Weltall hin und Nicht aus ein Verhältnis zur Weissagung oder zum Erlösungswerk. Meyer lehnt daher ganz richtig, gerade wie die alten lutherischen Theologen, die Beziehung aus die Erfüllung der Weissagungen und die Vollbringung des Erlösungswerkes ab und setzt hinzu: „Nein, Christus, zur Gemeinschaft des Weltregiments erhoben, erfüllt die ganze Welt, τά πάντα.” Aber man hat der Aussage des Textes dann wieder durch die Erklärung Gewalt angetan, daß hier an eine Erfüllung mit der bloßen Wirksamkeit zu denken sei. So auch Meyer, wenn er zu den Worten: „Christus, zur Gemeinschaft des Weltregiments erhoben, .erfüllt die ganze Welt" hinzusetzt: „durch seine erhaltende und regierende Wirksamkeit”. Meyer glaubt, sagen zu dürfen, daß „hier so wenig wie Eph. 1, 23 oder sonstwo" von der von Faber Stapulensis und den lutherischen Theologen verfochtenen „Ubiquität des Leibes Christi" die Rede sei. Aber Meyer gerät mit seiner Meinung in Widerspruch zu dem Kontext. Der im Text vorliegende Gegensatz zwischen „hinabfahren” und „auffahren", δ καταβάς αυτός ίση και δ άναβάς, bringt nicht bloß eine ausgeübte Wirkung, sondern eine persönliche Gegenwart zum Ausdruck. Wie nicht bloß eine Wirksamkeit, sondern eine Person hinabgestiegen ist, so ist auch nicht bloß eine Wirksamkeit, sondern eine Person hinaufgestiegen über alle Himmel. Und sie, diese Person, δ άναβάς, erfüllt das All. Es kann nur noch gefragt werden, ob hier von der Person Christi nach der göttlichen oder nach der menschlichen Natur die Rede sei. Die Beziehung auf Christum nach der göttlichen Natur würde den Gedanken ergeben, daß der ewige Sohn Gottes nicht von Anfang an, sondern erst nach seiner Menschwerdung und der darauffolgenden Erhöhung das Universum erfülle. Diesen Gedanken weist man aber allerseits ab. So bleibt uns, wenn wir den Schriftworten nicht Gewalt untun wollen, wahrhaftig nichts anderes übrig, als hier — in Anlehnung an Meyers Worte — die Lehre ausgedrückt: zu finden: „Christus, zur Gemeinschaft des Weltregiments erhoben", also nach der menschlichen Natur, „erfüllt die ganze Welt, τά πάντα"395)

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395) Streng textgemäß paräphrasiert Eph. 4, 10 Balduin: Adscendit Christus νπεράνω πάντων ουρανών, longe super omnes coelos. Ergo nui


187  >          [English ed. ~ 169–170]

Was Meyer und auch die meisten neueren Schriftausleger veranlaßt, hier und an parallelen Stellen dem klaren Wortsinn aus dem Wege zu gehen, ist offenbar der Schreck vor der „Ubiquität" der menschlichen Natur Christi. Und dieser Schreck kommt daher, daß man die irrige Vorstellung von einer lokalen Ausdehnung des Leibes Christi nicht los werden kann. Doch dies bezieht sich schon auf die bald näher zu erörternde Art und Weise der Allgegenwart Christi nach seiner menschlichen Natur. Hier handelt es sich zunächst nur darum, ob in der Schrift die Tatsache der Allgegenwart nach der menschlichen Natur bezeugt sei. Und dieses Zeugnis liegt vor in den Worten: 'O καταβάς αυτός έστι και ό άναβάς ύπεράνω πάντων των ουρανών, ΐνα πληρώσω τά πάντα.396) Auch Eph.

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lum prorsus coelum ex creatis illis potest esse locus Christi, ad quem ista sua adscensione pervenit. Ideo mox additur, Christum ita longe supra omnes coelos adscendisse, ut impleret omnia, ce‘rte non ecclesiam suam, sed omnia; non donis suis, ut Beza in Glossa marginali interpretatur, sed corpore suo, quo in coelos adscendit, ut jam potentissime et praesentissime dominetur omnibus creaturis. Et sic Theophylactus hunc locum exponit: ob hanc causam, inquit, haec omnia efficit, ut omnia impleat dominatu operationeque sua, idque in carne, quandoquidem divinitate jam ante cuncta compleret. Fructus hujus exaltationis in exemplo evidentissimo ostenditur, nimirum in largissima donorum suorum communicatione in ecclesia, de qua ita loquitur: „Et ipse dedit quosdam quidem apostolos“ etc.

396) Die viel zitierten Worte von Ökumenius und Theophylakt geben die Lehre der Schrift wieder: Kαι γάρ και γνμνρ τη ϑότητι πάλαι τά πάντα επ λήρον και σαρκωθείς ΐνα τά πάντα μετά σαρκός πληρώση κατέβη καί άνέβη. Daß Meyer auch in diesen Worten die Allgegenwart Christi nach der menschlichen Natur nicht ausgedrückt findet, ist einBeweis für die Macht des dogmatischen Vorurteils, von dem er sich beherrschen läßt. Was den Kontext von Eph. 4,10 betrifft, so steht die Sache so: der Apostel leitet aus dem Umstande, daß der über alle Himmel erhöhte Christus das All erfüllt oder durchdringt, V. 10, die Spendung der Gaben an die Kirche ab, V. 11: Kαι αυτός εδωκε τους μεν αποστόλους κτλ, und kehrt damit zum Ausgangspunkt seiner Darlegung V. 7 zurück: „Einem jeden unter uns wurde die Gnade nach dem Maß der Gabe Christi gegeben.” — Wie Meyer, so ergeht es auch Salmond in The Expositores Bible zu Eph. 4, 10. Salmond ist bestrebt, die Worte, wie sie dastehen, zu ihrem Recht kommen zu lasten. Aber durch das Gespenst der räumlichen Ausdehnung erschreckt, die er sich vormalt und den Lutheranern andichtet, geht er dann der Schriftwahrheit aus dem Wege. Er sagt zunächst ganz richtig: “As in 1, 23 the verb” (πληρούν) "has the sense of filling, and τά πάντα is to be taken again in its widest application", nämlich als die ganze Welt oder das Universum bezeichnend. "The thought is the larger one that the object of Christ’s ascension was that He might enter into regal


188  >          [English ed. ~ 170–171]

1, 20—23 ist ausgesagt, daß Christus nach seiner menschlichen Natur sowohl dem All als der christlichen Kirche gegenwärtig ist. Daß hier von Christo nach der menschlichen Natur die Rede sei, geht hervor aus den Worten: Gott „hat ihn von den Toten auferweckt und gesetzt zu seiner Rechten im Himmel”. Daß Christus nach der menschlichen. Natur dem All (Universum) gegenwärtig sei, kommt zum Ausdruck in den Worten: Gott „hat ihn gesetzt zu seiner Rechten im Himmel über (υπεράνω) alle Obrigkeit und Gewalt und Macht und Herrschaft und jeden Namen, der genannt wird, nicht allein in dieser Welt, sondern auch in der zukünftigen, und hat alles (πάντα) unter seine Füße getan”. Und daß Christus nach seiner menschlichen Natur wie dem All, so auch der Kirche gegenwärtig sei, ist ausgesagt in den Worten: „und hat ihn gegeben als Haupt über alles der Gemeinde (τη εκκλησία), die ja (ψις) sein Leib ist, die Fülle dessen, der alles in allem erfüllt”. Trefflich

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relation with the whole world, and in that position and prerogative bestow His gifts as He willed and as they were needed. He was exalted in order that He might take kingly sway, fili the universe with His activity as its Sovereign and Governor, and His Church with His presence as its Head, and provide His people with all needful grace and gifts. In Old Testament prophecy to ‘fill heaven and earth’ is the note of Deity (Jer. 23, 24).” Aber durch alles, was Salmond über des erhöhten Christus Beziehung zur ganzen Welt und zur Kirche, über Christi Gegenwart in der Welt als ihr Herrscher und über Christi Gegenwart in der Kirche als ihr Haupt aussagt — durch alles macht er einen Strich, indem er die Beziehung der im Text genannten großen Dinge auf die menschliche Natur leugnet. Und das tut er deshalb, weil er die Vorstellung von einer räumlichen Ausdehnung der menschlichen Natur Christi in sich erzeugt und dann auch den Lutheranern unterschiebt. In seine Ausführung nämlich verflicht er die folgende Bemerkung: "Nor is there anything to suggest that the ubiquity of Christ's body is in view, as some Lutherans have argued (Hunnius, Calov, etc.). The idea that is in the paragraph is not that of a ‘diffused and ubiquitous corporelity,’ as Ellicot well expresses it, but that of a ‘pervading and energizing omnipresence.'" Was Ellicot „gut ausdrückt", die "diffused and ubiquitous corporelity", ist allerdings nicht im Text. Sie findet sich aber auch nicht bei den Lutheranern, sondern nur in der Phantasie der reformierten Theologen. Deshalb, leugnen sie gegen den Wortlaut der Schrift die Christo nach der menschlichen Natur mitgeteilte wirksame Allgegenwart, und ihre Gedanken über Eph. 4, 10 verlaufen in dem folgenden ,,abortus", wie Dannhauer es ausdrückt: Christus humana sua natura ascendit in coelos hoc fine, ut Deitate omnia impleat, tanquam ascensione ideo opus habuisset, ut ea natura, qua jam ante aspensionem omnia implesset, omnia impleret. (Hodos. VIII, 396.)


189  >        Die mitgeteilte Allgegenwart.  [English ed. ~ 171]

stellt Chemnitz heraus, was an dieser Stelle über Christi Herrschaft im All ausgesagt wird, indem er Christi Herrschaft mit der Herrschaft weltlicher Könige vergleicht. Weltliche Herrscher herrschen über ihr Gebiet in absentia; Christus nach seiner erhöhten menschlichen Natur ist überall.in dem beherrschten Gebiet gegenwärtig. „Die Menschheit (humanitas) Christi" — sagt er — „herrscht im Logos und mit demselben über alle Dinge nicht aus der Ferne, oder durch einen unermeßlichen Zwischenraum getrennt, ... wie es die Art der Könige ist, wenn ihre Herrschaft sich weithin über viele und entfernte Provinzen erstreckt, sondern wie sie” (die humanitas) „im Logos ihre Existenz hat, so hat sie auch, insofern sie am Logos persönlich hängt, im Logos alle Dinge vor sich gegenwärtig.” Man muß hier, fügt Chemnitz hinzu, nicht an die wesentlichen und natürlichen Eigenschaften der menschlichen Natur denken, sondern an die Eigenschaften, welche ihr durch die persönliche Vereinigung und durch die Erhöhung über alle Namen und über alle Dinge zukommen.397) Und daß Christus durch die Erhöhung der Kirche zum Haupt gegeben wurde, ist nach unserer Stelle nicht so zu denken, als ob das erhöhte Haupt von der Kirche auf Erden geschieden wäre, sondern das Gegenteil kommt zum Ausdruck. Die Kirche steht zu ihrem erhöhten Haupt in dem Verhältnis, daß sie sein Leib, το σώμα αυτόν, ist, und als Leib ist sie die Fülle, das heißt, das Erfüllte, dessen, der alles in allem erfüllt, τό πλήρωμα τον τά πάντα εν πασι πληρονμένον. Mit dem Genus, daß Christus nach seiner erhöhten Menschheit das All (τα πάντα) erfüllt, begründet der Apostel die Spezies, daß er auch die Kirche, die ja sein Leib ist, erfülle. So kommt Eph. 1, 20—23 allerdings klar zum Ausdruck, daß Christus nach seiner Menschheit Welt und Kirche mit seiner wirksamen Allgegenwart erfüllt.398) Auch

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397) De duabus naturis, c. 30, p. m. 205.

398) In der Auffassung von πλήρωμα an unserer Stelle gehen bekanntlich die Ausleger in allen Windrichtungen auseinander. Harleß z. B. meint, Spezialuntersuchungen hätten ergeben, „daß πλήρωμα im Neuen Testament nur im aktiven Sinne gebraucht werde, so daß der damit verbundene Genitiv das erfüllte Objekt bezeichne”. Diese Fassung würde, auf unsere Stelle angewandt, nicht den Sinn ergeben, daß Christus die Kirche erfüllt, sondern den entgegengesetzten, daß die Kirche Christum erfülle. Dagegen sind andere (z. B. Fritzsche zu Röm. 11, 12) der Meinung, daß die passive Bedeutung von die gewöhnlichste im Neuen Testament sei. Philippi hält sogar dafür, „daß wir für das Neue Testament mit der passiven Bedeutung vollkommen ausreichen. Mit Recht hat man daran erinnert, daß mit πλήρρομα viel unnötige Künstelei


190  >        Die Lehre von Christo.  [English ed. ~ 172]

alle Schriftstellen, die den Menschen Christus als zur Rechten Gottes erhöht und sitzend beschreiben, lehren eo ipso, daß dem Menschen Christus wie die Allmacht, so auch die Allgegenwart

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getrieben worden ist. Πλήρωμα kann, wie das deutsche „Fülle", aktiv und passiv gebraucht werden. Der Zusammenhang muß jedesmal entscheiden. Wenn wir hier πληρονσΰαι als Deponens zu nehmen haben ==  „erfüllen, wie fast allgemein zugegeben wird, so müssen wir passivisch als das von Christo Erfüllte fassen. Das ergibt den trefflich in den Zusammenhang passenden Gedanken: „Christus, der das All erfüllt, erfüllt speziell auch die Kirche, die ja sein Leib ist, und die wegen des von ihm ausgehenden μληροναϑαι als sein πλήρωμα das von ihm Erfüllte, bezeichnet wird. Auch die Fassungen: πλήρωμα == das „Vollmaß" Christi und die andere == „Ergänzung, supplementum, Christi (als des Hauptes der Kirche) sind hier ausgeschlossen, weil und nicht nur nebeneinander stehen, sondern sich auch aufeinander beziehen: das  ist das Resultat von Daher müssen wir bei beiden denselben Begriff festhalten. Auf diese „paronomasia" weist Fritzsche mit Recht hin und setzt hinzu: eadem substantivo, quae verbo notio insit neces se est. Wäre πλήρωμα == „Vollmaß", so müßte πληροναϑαι gefaßt werden: „das Vollmaß Herstellen, und wir hätten den Gedanken: Die Kirche ist „das Vollmaß dessen, der das All in allem auf das Vollmaß bringt”. Und wäre πλήρωμα ==  „Ergänzung oder Supplement Christi, so hätten wir den Sinn: Die Kirche ist „das Supplement dessen, der das All in allem zum Supplement macht. Kurz, πληρονσϑαι wer — „erfüllen faßt, muß darauf verzichten, anders als „das Erfüllte zu fassen. Christus füllt, und die Gemeinde wird erfüllt. So richtig. Meyer, ehe er mit Wegdeutung der „Ubiquität einsetzt: „Die Gemeinde ist das Erfüllte Christi, das heißt, dasjenige, was von ihm erfüllt ist. Natürlich kann auch die Bedeutungen „Vollmaß, „Ergänzung oder implementum, „Vollzahl usw. haben. Aber diese Bedeutungen müssen durch den Zusammenhang indiziert sein, was hier nicht der Fall ist. Das εν πασι, neben τά πάντα gestellt, vervollständigt und verstärkt das letztere — „alles in allem”. Der Gedanke hat auch denen vorgeschwebt, die εν πασι übersetzen wollen: „in allen Stücken" oder „in allen Erscheinungen oder gar „überall. Gut sagt Philippi zu unserer Stelle: „Wenn die Gemeinde als der Leib Christi το πλήρωμα τον τά πάντα εν πασι πληρονμένον genannt Wird, so ist sie als das Angefüllte dargestellt oder als angefüllt von dem, der das All in allen Stücken erfüllt. Allerdings wird hier mit Calov, Bibi, illustr., p. 669 sq., ein dictum probans für die Ubiquität des Leibes Christi zu finden sein. Denn mit Meyer εν πασ instrumental zu fassen (==  mit allem) und dabei nur an die das All durchdringende Wirksamkeit zu denken, geht schon wegen der Parallelstelle Eph. 4, 10 nicht an.” Freilich erklärt Meyer auch hier das ΐνα πληρώση τά πάντα etc. von der bloßen Wirksamkeit. „Doch fordert der Gedankenzusammenhang und der Gegensatz von ο καταβάς und αυτός έστι και ό άναβάς νπεράνω πάντων των ουρανών und dann von ό άναβάς υπεράνω πάντων των ουρανών und ΐνα πληρώσΐ] τά πάντα die Beziehung des letzteren auf die nicht wirksame, sondern persönliche Gegenwart des Erhöhten in dem Universum. Er ist


191  >        Die mitgeteilte Allgegenwart.  [English ed. ~ 172–173]

zukonime. Die „rechte Hand Gottes", zu der Christus nach Leiden und Tod erhöht ist, ist keine disputable Größe. Die Schrift selbst deutet uns den Ausdruck. Wenn der Apostel zu den Worten: „und hat ihn gesetzt zu seiner Rechten im Himmel" hinzusetzt: „über alle Obrigkeit ... und hat alles unter seine Füße getan", so haben wir in diesem Zusatz des Apostels eigene Erklärung des Begriffes „Rechte Gottes", zu der Christus nach der Auferweckung von den Toten gesetzt ist. So ist allerdings die Rechte Gottes nicht als ein beschränkter Ort zu denken, an dem Christus nach seiner menschlichen Natur vom Weltall und der Kirche abgeschlossen ist, sondern im Gegenteil Gottes allgegenwärtige Kraft und Wirkung, und Luther und die alten lutherischen Theologen tragen nicht eigene Gedanken, sondern Schriftlehre vor, wenn sie, wie die Allmacht, so auch die Allgegenwart des Menschen Christus aus dessen Sitzen zur Rechten Gottes erweisen.399)

Endlich ist auch das Verheißungswort Matth. 28, 20: Έγώ μεϋ’ υμών ειμι πάσας τάς ημέρας εως της συντέλειας του αΐώνος auf Christum nicht exklusive, sondern inklusive seiner menschlichen Natur zu beziehen. Es wäre doch willkürlich, wenn wir der Aussage: „Ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende" eine andere Beziehung geben wollten als der unmittelbar vorhergehenden: „Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden.” Nun ist Christo alle Gewalt im Himmel und auf Erden in der Zeit nicht nach der göttlichen, sondern nach der menschlichen Natur gegeben. So ist auch die Verheißung der Allgegenwart auf Christum nach der menschlichen Natur zu beziehen.400)

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deshalb den Schranken des Raumes entnommen, άναβάς υπεράνω πάντων των ουρανών, um sich frei persönlich innerhalb des Universums gegenwärtig zu setzen. ... Und eben als der Allgegenwärtige, also auch in seiner Gemeinde Gegenwärtige, hat er derselben Gaben gegeben. (Glaubensl. IV, 1, 462.)

399) Luther, St. L. XX. 802 ff.; Hollaz, Examen, P. III, 8. I, cap. III, qu. 58; Dunnhauer, Hodos. VIII, 397.

400) Chemnitz bemerkt (De duabus naturis, p. 197) zur Stelle: Extra controversiam ad assumtam Christi naturam pertinere manifestum est. Er fügt noch hinzu: Ac sane causam nullam habemus, cur in dulcissima illa promissione praesentiae Christi in ecclesia assumtam eius naturam, qua cognatus et Frater noster est, nos membra corporis eius, de carne eius et de ossibus eius, separemus, disjungamus et excludamus, cum ipse in tradenda illa promissione multis circumstantiis assumtam suam naturam notet ac describat, sicut ex textu ostendimus. — Baier III, 60: Omnipraesentiam humanae Christi naturae communicatam credimus iuxta illud,


192  >        Die Lehre von Christo.  [English ed. ~ 173]

Die Art und Weise der Allgegenwart Christi nach der menschlichen Natur (modus omnipraesentiae). ^

Will man den Widerspruch gegen die Teilhaberschaft der menschlichen Natur Christi an der göttlichen Allgegenwart beseitigen, so gilt es, den Grund des Widerspruchs aufzudecken. Es ist dieser: Sobald die Bekämpfer der lutherischen Christologie die Schriftstellen, welche aus die Allgegenwart Christi nach der menschlichen Natur lauten, vor sich sehen, malen sie sich ein Gespenst vor Augen, vor dem sie entsetzt die Flucht ergreifen. Das Gespenst ist die Vorstellung von einem räumlichen Ausgedehntsein des Leibes Christi. Sie meinen: Wären Eph. 4, 10; 1, 20—23 (ΐνα πληρώσή τά πάντα — το πλήρωμα τον τά πάντα εν πασι πληρονμένον) zu nehmen, wie sie lauten, und wäre nach Kol. 2, 9 (ev αντφ κατοικεί παν το πλήρωμα τής ϋ’εότητος σωματικώς), Joh. 1, 14 (ο λόγος σάρξ βένετο) usw. der Sohn Gottes nicht extra carnem zu denken, und erfüllte demnach Christus auch nach seiner menschlichen Natur die Kirche und das All, so müßten wir uns Christi Leib als räumlich ausgedehnt, über Himmel und Erde hinausragend und also als ein Monstrum vorstellen. Dies ist der Grund des Widerspruchs. Und diese ihre eigene Vorstellung, die Luther mit Recht als „kindisch” bezeichnet, schieben reformierte, römische und neuere Theologen beharrlich der lutherischen Kirche unter, wenn sie die lutherische Lehre von der Allgegenwart Christi nach der menschlichen Natur als „Ubiquitätslehre” und ihre Vertreter als „Ubiquitisten” bezeichnen. Brenz klagt in einem Schreiben an den Kurfürsten von der Pfalz vom 19. Oktober 1560: „Man will uns die Schuld austragen, als sollten wir den Leib Christi räumlicherweise an allen Ort ausspannen und ausdehnen und eine Ubiquität halten. Aber daß uns hierin Unrecht geschehe, das hat Eure Kurfürstliche Gnaden sich aus den unsern und sonderlich D. Luthers seligen hiervon in Druck ausgegangenen Schriften zu berichten. So sind auch zweierlei Ubiquität. Eine heißt localis, räumlich; auf diese Weise saget unser keiner meines Wissens, quod humanitas Christi sit ubique, ist auch nicht recht gered't, es rede

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quod Christus ipse Matth. 28, 20 dicit: Ecce, ego (cui data est omnis potestas in coelo et in terra, v. 18, quique nunc misi ministros ad docendum et baptizandum, v. 19) sum (secundum eandem naturam, secundum quam mihi data est omnis potestas) vobiscum (ubicunque in hoc mundo futuri estis) omnibus diebus.


193  >        Art und Weise der Allgegenwart.  [English ed. ~ 174]

auch solches, wer da wolle. Die ander' ist personalis et supernaturalis, quam veteres ex illo loco: ‘Coelum et terram ego repleo, dicit Dominus’ vocarunt repletivam.” 401) Und anderswo sagt Brenz: Finxerunt novum et prodigiosum ubiquitatis vocabulum, ut eo facilius rudibus et rerum nesciis imponant et persuadeant, nos etiam novum et prodigiosum dogma excogitasse, corpus Christi tanquam alutam in omnia loca geometrice se extendere et diffundere.402) Weniger wissenschaftlich, aber noch etwas verständlicher beschreibt Luther die reformierte Wahnvorstellung von einer räumlichen Ausdehnung der menschlichen Natur durch die mit ihr verbundene göttliche Natur so: „wie ein Bauer in Wams und Hosen steckt, da Wams und Hosen ausgedehnt werden, daß sie den Leib und die Schenkel umgeben”. Christi Leib präsentiert sich der reformiertrömischen Phantasie „als ein großer Strohsack, da Gott mit Himmel und Erden innen wäre”.403) Mit diesem Wahngebilde wird von alters her bis auf unsere Zeit die lutherische Christologie bekämpft. Auf dieser Vorstellung beruht auch der für unwiderleglich gehaltene Einwurf gegen die lutherische Lehre: Wenn Christi Leib allgegenwärtig ist, warum sieht man ihn nicht, sobald man die Augen aufmacht; warum fühlt man ihn nicht, sobald man die Hände ausstreckt; warum ißt und trinkt man ihn nicht, sooft man über Tische ißt und trinkt?404) Von derselben Vorstellung ist auch in neuerer Zeit Loofs' Geist bedrückt, wenn er über Luther das folgende vernichtende Urteil ausspricht: „Kann man es ernst nehmen, daß ,das Fleisch und Blut Mariä ist Schöpfer Himmels und der Erden (E. A. 252, 378)? Ist das wirklich mehr als Redeweise? Und wenn Luther   im Gegensatz zu den vergänglichen idiomatis menschlicher Natur, die Christus jetzt nicht mehr hat, als Essen, Trinken, Schlafen usw., zu den natürlichen, die bleiben, rechnet, daß er Leib und Seele, Haut und Haar, Fleisch und Blut, Mark und Bein und alle Glieder menschlicher Natur habe (E. A. 252, 378), ist's dann nicht völligster Nonsens, von einer Ubiquität der so verstandenen menschlichen Natur Christi zu reden? Ist wirklich Christi Leib mit Haut und Haar in jedem Brot (E. A. 30, 69 f.)?

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401) Anecdota Brentiana von Pressel, S. 478.

402) De personali unione duarum nat. in Christo. Witeb. 1578. (Praef.) Cf. Baier III, 63.

403) St. L. XX, 953. 961.

404) So auch Klee, Kathol. Dogmatik II, 453.


194  >        Die Lehre von Christo.  [English ed. ~ 174–175]

Ist er's — weshalb ertappt man ihn da nicht (a. a. O.) ? Und was ist das noch für eine Menschheit, die überall ist und der Sonne Glanz verglichen werden kann (a. a. O., 69)! — Luthers Gedanken haben, schon bei ihm selbst, zu Absurditäten geführt, weil sie, wiederum schon bei ihm selbst, in das Schema der Naturenlehre gezwängt wurden. Der neue Wein ist durch die alten Schläuche verdorben.” 405) So Looss. Auf diese wahrlich nicht höfliche Kritik Luthers wird auch Luthers Antwort kaum zu derb erscheinen. Luther schreibt: „Heb' dich, du grober Schwärmergeist, mit solchen faulen Gedanken! Kannst du hie nicht höher noch anders denken” (nämlich daß Christi Menschheit durch die Gottheit auCalvinsgedehnt werde, wie ein Bauer in Wams und Hosen steckt), „so bleib hinter dem Ofen und brat dieweil Birnen und Äpfel, laß diese Sache mit Frieden! Ging doch Christus durch verschlossene Tür mit seinem Leibe, und die Tür ward dennoch nicht ausgedehnt, noch sein Leib eingezogen; wie sollte denn hie” (wo das Sein der Menschheit Christi in der Person des Sohnes Gottes in Betracht kommt) „die Menschheit ausgedehnt oder die Gottheit eingezäunt werden, da viel ein' ander' und höher' Weise ist?" 406) Es ist kein Zweifel: der Widerspruch gegen die Teilnahme der menschlichen Natur des Sohnes Gottes an seiner göttlichen Allgegenwart würde kaum eine so fanatische Gestalt annehmen, wenn man die irrige Vorstellung von einer räumlichen Ausdehnung des Leibes Christi aus den Köpfen entfernen könnte.

Und das sollte nicht gar zu schwer halten, weil dieser Vorstellung schon vom Standpunkt der natürlichen Vernunft aus jede Berechtigung abgesprochen werden muß. Wie sollte die menschliche Natur durch ihre Verbindung mit der göttlichen Natur zu einer lokalen Ausdehnung kommen, da Gott selber gar keine lokale Ausdehnung zuzuschreiben ist! Jedermann gibt doch Luther recht, wenn er schreibt: „Gott ist nicht ein solch ausgereckt, lang, breit, dick, hoch, tief Wesen. . . . Nichts ist so klein, Gott ist noch kleiner; nichts ist so groß, Gott ist noch größer; nichts so kurz, Gott ist noch kürzer; nichts ist so lang, Gott ist noch länger; nichts ist so breit, Gott ist noch breiter; nichts ist so schmal, Gott ist noch schmäler.” 407) Ist Gott aber nicht räumlich ausgedehnt, wie man zugibt, wie sollte die menschliche Natur Christi durch ihre persönliche Verbindung mit der göttlichen Natur zu einer räumlichen

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405) RE.3 IV, 55.   406) St. L. XX, 953; E. A. 30, 213.

407) St. L. XX, 961.


195  >        Art und Weise der Allgegenwart.  [English ed. ~ 175–176]

Ausdehnung kommen! Mit Recht heißt es daher in der Konkordienformel: Wir verwerfen und verdammen, „daß die Menschheit Christi in alle Ort' des Himmels und der Erden räumlich ausgespannt (localiter extensa) sei, welches auch der Gottheit nicht soll zugemessen werden”.408) So kann es sich in der ganzen Angelegenheit nur um die eine Frage handeln: ob die Schrift der menschlichen Natur Christi neben der räumlichen auch eine unräumliche Seinsweise (illocalem subsistendi modum) zuschreibe.

Die reformierten Theologen leugnen dies. In der einen oder andern Form stellen sie, von Zwingli an 409) bis auf die Neuzeit, mit Heidegger den Kanon auf: „Dem menschlichen Leibe kommt keine andere als die sichtbare, örtliche, umschriebene Gegenwart zu; die entgegengesetzte unsichtbare, definitive und nichtlokale Gegenwart gehört den Geistern an."410) Hieraus erklärt sich auch die wunderliche Polemik der reformierten Theologen, daß sie die lutherische Lehre schon genugsam widerlegt zu haben meinen, wenn sie Schriftstellen anführen, in denen von Christi lokaler und sichtbarer Gegenwart, zum Beispiel in der Krippe, in Jerusalem, in Galiläa usw., die Rede ist?"411)

Aber diese nur lokale, sichtbare Seinsweise Christi nach der menschlichen Natur ist eine menschliche Fiktion gegen das klare Zeugnis der Schrift. Nach der Schrift kommen Christo mindestens drei verschiedene Seinsweisen nach der menschlichen Natur zu. Bei der folgenden zusammenhängenden Darstellung wiederholen wir der Übersicht wegen manches, was schon früher in anderer Verbindung gesagt war.

Nach dem Bericht der Schrift war Christi Leib erstlich in der Krippe zu Bethlehem (Luk. 2, 7), im Tempel zu Jerusalem (Luk. 2, 46), in seinem Kleide, dessen Saum das Weib anrührte (Matth. 9, 20), im Schiff, das über den See fuhr (Matth. 8, 23), im Richthause, am Kreuz und im Grabe (Joh. 18. 19). Das ist die Seinsweise (modus subsistendi), nach welcher der Leib Christi Raum gab und nahm, mit Augen gesehen, mit Händen betastet und gegriffen werden konnte. Dieser Seinsweise bediente sich Christus —

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408) M. 695, 92.

409) Berichte über das Kolloquium zu Marburg. St. L. XVII, 1943 ff.

410) Heidegger, Corpus theol. christ., cap. 17, § 61: Corporis humani non alia quam visibilis, localis, circumscriptiva praesentia est, et opposita illi invisibilis, definitiva et illocalis spirituum est.

411) So Heidegger, l. c..


196  >        Die Lehre von Christo.  [English ed. ~ 176–177]

einige Ausnahmen abgerechnet 412) — in seinem Leben auf Erden, weil der Zweck seines Erdenlebens der war, von den Menschen  εv μορφῆ δούλου gesehen, gehört, verfolgt, gegriffen, verspottet, verspeit, ans Kreuz geschlagen und ins Grab gelegt zu werden. Dies ist die praesentia localis oder circumscriptiva.413) Niemand bezweifelt, daß die Schrift diese Seinsweise des Leibes Christi lehre. Nur ist im Vorbeigehen noch daran zu erinnern, daß auch diese Seinsweise dem menschlichen Verstand unbegreiflich ist. Wenn wir nämlich bedenken, daß in der menschlichen Natur Christi auch im Stande der Erniedrigung die ganze Fülle der Gottheit wie in ihrem Leibe wohnte, so bleibt unverstanden, daß der Leib Christi gesehen, betastet werden, überhaupt in Existenz bleiben konnte und nicht vielmehr, noch schneller als Stroh vom Feuer, von der Fülle der Gottheit verzehrt wurde. Aber die Tatsache dieser Seinsweise εv όμοιώματι άνϑρώπων ist in der Schrift bezeugt.

Aber wir können, wenn wir uns weiterer Belehrung durch die Schrift nicht entziehen wollen, nicht umhin, dem Leibe Christi noch eine andere Seinsweise zuzuschreiben. Da die Schrift Joh. 20 von keiner Öffnung berichtet, sondern im Gegenteil sagt, daß Christus bei verschlossenen Türen, τών ϑνρών κεκλειομένων zu den Jüngern kam, so war sein Leib allerdings „in der verschlossenen Tür" oder da, wo schon ein anderer Körper (solida materia) war. Calvin behauptet zwar, Christus habe die „solida materia” durch eine Wirkung seiner Allmacht erst entfernt, um durch die so entstandene Öffnung sein Eintreten möglich zu machen?"414) Aber davon steht nichts im Text. Der Text weist vielmehr, wie Meyer richtig bemerkt, „auf ein wunderbares Erscheinen hin, welches der geöffneten Türen nicht bedurfte und während des Verschlossenseins derselben geschah”. Text und Kontext sind so klar, daß sich neuerdings auch Marcus Dods von Calvins Auslegung losgesagt hat. Er schreibt: "Calvin supposes Jesus opened the doors miraculously; but that is not suggested in the words. Rather it is

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412) Joh. 8, 59; Luk. 4, 30.

413) Luther beschreibt die praesentia localis oder circumscriptiva so: „Erstlich ist ein Ding an einem Ort circumscriptive oder localiter, begreiflich, das ist, wenn die Stätte und der Körper drinnen sich miteinander eben reimen, treffen und messen, gleichwie im Faß der Wein oder das Wasser ist, da der Wein nicht mehr Raumes nimmt, noch das Faß mehr Raumes gibt, denn soviel des Weines ist.” (St. L. XX, 947 f.)

414) Institut. IV, 17, 28.


197  >          [English ed. ~ 177–178]

indicated that His glorified body was not subject to the conditions of the earthly body, but passed where it would.”415) So können wir nicht umhin, aus Joh. 20 zu lernen, daß Christi Leib eine Seinsweise zukommt, nach welcher er weder Raum gab noch Raum nahm. Dieselbe Seinsweise ist angezeigt, wenn es Luk. 24, 31 von Christo heißt, daß er vor den Emmausjüngern verschwand, Άφαντος έγένετο άπ’ αυτών. Dies ist die unräumliche Seinsweise, die man als praesentia illocalis und definitiva bezeichnet hat.416) Hier setzt nun mit aller Macht der reformierte Widerspruch ein. Und das erklärt sich aus der Sachlage. Die reformierte Christologie, insofern sie zur lutherischen in Gegensatz tritt, kämpft hier um ihr Leben. Sie ist nach These und Antithese auf den Kanon gegründet, daß dem Leibe Christi nur eine räumliche und sichtbare Seinsweise zukomme. Die unräumliche und unsichtbare Seinsweise — so versichert sie uns — gehöre der Geisterwelt an und könne von der menschlichen Natur Christi ohne

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415) The Expositor's Greek Testament zu Joh. 20, 19. Das “glorified” ist nicht zu Pressen, da Christus auch schon vor der Auferstehung diese Seinsweise gebrauchen konnte und tatsächlich gebraucht hat, Joh. 8, 59; Luk. 4, 30. Von neueren Theologen hat wieder Philippi darauf hingewiesen, daß Christi Leib auch schon im Stande der Erniedrigung den Schranken des Raumes entnommen war. Philippi bemerkt: „Wie er [der Menschensohn] nach seiner Auferstehung durch verschlossene Türen eintritt, so verschwindet er auch schon vor seiner Auferstehung vor seinen Feinden, Joh. 8, 59; vgl. Luk. 4, 30; und wir sehen demnach, daß auch damals schon seine Leiblichkeit nicht in gleicher Weise den Bedingungen und Schranken des Raumes und der Materie untertänig war wie die unsrige.” (Glaubenslehre IV, 444. Vgl. Luther, St. L. XX, 912.)

416) Luther beschreibt die praesentia definitiva so: „Zum andern ist ein Ding an einem Ort definitive, unbegreiflich, wenn das Ding oder Körper nicht greislich an einem Ort ist und sich nicht abmißt nach dem Raum des Orts, da es ist, sondern kann etwa viel Raums, etwa wenig Raums einnehmen. Also, sagen sie, find die Engel und Geister an Stätten oder Orten; denn also kann ein Engel oder Teufel in einem ganzen Hause oder Stadt sein; wiederum kann er in einer Kammer, Lade oder Büchse, ja in einer Nußschale sein. Der Ort ist wohl leiblich und begreiflich und hat seine Maße nach der Länge, Breite und Dicke, aber das, so darinnen ist, hat nicht gleiche Länge, Breite oder Dicke mit der Stätte, darin es ist; ja, es hat gar keine Länge oder Breite. ... Das heiße ich unbegreiflich an einem Orte sein; denn wir können's nicht begreifen noch abmeffessn, wie wir die Körper abmessen, und es ist doch gleichwohl an dem Ort. Aus solche Weise war der Leichnam Christi, da er aus dem verschlossenen Grabe fuhr und zu den Jüngern durch die verschlossene Tür kam, wie die Evangelia zeugen. (St. L. XX, 948.)


198  >          [English ed. ~ 178–179]

Zerstörung derselben nicht ausgesagt werden. Muß die reformierte Theölogie diesen Kanon aufgeben, so paßt das ganze Vokabular nicht, womit sie die lutherische Lehre bekämpft. Wenn z. B. Calvin die lutherische Lehre als „stultum commentum” bezeichnet, wodurch „Marcion von den Toten erweckt", und Christi Leib in ein „Phantasma" oder in einen „Geist" verwandelt werde.417) so gründet sich diese lebhafte Polemik lediglich auf den reformierten Kanon, daß der menschlichen Natur Christi nur eine räumliche und sichtbare Seinsweise zukomme. Aber dieser Kanon läßt sich der Schrift gegenüber nicht halten. Das zeigt gerade auch Calvin durch die offenbaren Vergewaltigungen, die er sich mit den einschlägigen Schriftstellen erlauben muß. Joh. 20 beseitigt er, wie wir bereits sahen, die geschlossenen Türen durch die Einfügung einer Öffnung, die dem Text und Kontext widerspricht. Dann steigert er noch die Schriftverkehrung durch Anführung eines angeblichen Analogons, das nach ausdrücklicher Schriftaussage kein Analogon ist. Er sagt nämlich im Kommentar zu Joh. 20, 19: „Wir wissen, daß Petrus aus dem verschlossenen Gefängnis herausgegangen sei: muß man deshalb sagen, daß er mitten durch Eisen und Steine gedrungen sei? Man lasse deshalb jene kindischen Spitzfindigkeiten (pueriles argutiae), hinter denen nichts ist, und die viele Unsinnigkeiten (deliria) in sich schließen.” Calvin bezieht sich auf Petrus' wunderbare Errettung aus dem Gefängnis Apost. 12. Er vergißt aber, auf den Unterschied zwischen Joh. 20 und Apost. 12 hinzuweisen. So ausdrücklich Joh. 20 berichtet wird, daß Christus bei verschlossenen Türen zu den Jüngern gekommen sei, so ausdrücklich wird Apost. 12, 10 erwähnt, daß Petrus durch die geöffnete Tür auf die Straße gelangte, ήτις (πύλη) αύτομάτη ήνοίγη αύτόϊς. Auch die Worte Luk. 24, 31: Christus „verschwand vor ihnen" vergewaltigt Calvin. Er erlaubt sich, diese Worte dahin zu deuten, daß Christus nicht unsichtbar geworden fei (non factus est invisibilis), sondern so auf die Augen der Jünger eingewirkt habe, daß sie ihn nicht sehen konnten (tenuit eorum oculos).418) Durch diese

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417) Institut. IV, 17, 29. 17.

418) Institut. IV, 17, 29: Quod citant ex Luca (24, 31), Christum subito evanuisse ex discipulorum oculis, quibuseum Emaunta profectus erat, nihil illis prodest et nos adjuvat. Nam ut sui conspectum illis auferret, non factus est invisibilis, sed tantum disparuit. Sicuti, eodem Luca teste, cum simul iter faceret, non induit novam faciem, ne agnosceretur, sed tenuit eorum oculos.


199  >          [English ed. ~ 179–180]

offenbaren Mißhandlungen des Textes der Schrift tritt uns nur um so klarer entgegen, daß aus den Schriftaussagen Joh. 20 und Luk. 24 die illokale Seinsweise des Leibes Christi sich nicht wegdeuten läßt. Auch der Behauptung Calvins, daß durch die illokale Seinsweise Christi Leib in einen Geist verwandelt werde,419) tritt Christus selbst Luk. 24 noch ausdrücklich entgegen, wenn er die Geistgedanken, die momentan auch den Jüngern gekommen waren, als irrig bezeichnet und handgreiflich widerlegt: „Warum kommen solche Gedanken in euer Herz? Sehet meine Hände und meine Füße; ich bin's selber. Fühlet mich und sehet; denn ein Geist hat nicht Fleisch und Bein, wie ihr sehet, daß ich habe. Und da er das sagte, zeigte er ihnen Hände und Füße; . . . und er aß vor ihnen.” Dieser Punkt wurde schon ausführlicher bei der communio naturarum (S. 143 ff.) behandelt. So erlebt die reformierte Christologie an dem klaren Schriftzeugnis von der auch illokalen Seinsweise des Leibes Christi ihr Waterloo. Die reformierte Christologie setzt alles auf die eine Karte, daß Christi Leib nur räumlich und sichtbar gegenwärtig sein könne, und mit Verlust dieser Karte verliert sie alles. Es steht so, wie Luther die Sachlage kennzeichnet: „Weil wir aus der Schrift beweisen, daß Christus' Leib kann auf mehr Weise denn auf solche leibliche Weise” (nämlich locali et visibili modo) „etwo sein, so haben wir damit genugsam erstritten, daß man den Worten solle glauben, wie sie lauten: ,Das ist mein Leib, weil es wider keinen Artikel des Glaubens ist und dazu der Schrift gemäß ist, als da sie Christus' Leib durch versiegelten Stein und verschlossene Tür führte. Denn weil wir eine Weise können anzeigen über die leibliche, begreifliche Weise, Wer will so kühn sein, daß er Gottes Gewalt wollte messen und umspannen, als der nicht auch wohl andere, mehr Weise wisse? Und kann doch der Schwärmer Ding nicht bestehen, sie beweisen denn, daß Gottes Gewalt also zu messen und zu umspannen sei, weil all ihr Grund darauf steht, daß Christus' Leib müsse allein an Einem Ort sein leiblicher- und begreiflicherweise."420)

Doch die Schrift lehrt noch eine weitere Seinsweise der menschlichen Natur Christi. Die Schrift berichtet nicht nur, daß Christus

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419) Instit. IV, 17, 29: Ita nugando (Calvin meint die Lutheraner) non uno quidem’ verbo, sed periphrasi ex carae Christi spiritum faciunt..

420) St. L. XX, 950.


200  >        Die Lehre von Christo. .  [English ed. ~ 180–181]

nach seiner menschlichen Natur localiter in der Krippe zu Bethlehem, in seinem Kleide, im Tempel zu Jerusalem usw. und ferner illocaliter in der verschlossenen Tür war, sondern die Schrift lehrt vor allen Dingen auch dies, daß der menschlichen Natur gleichzeitig und neben den genannten Seinsweisen das Sein in der Person des Sohnes Gottes zukomme. Diese Seinsweise, die nur der menschlichen Natur Christi und keiner andern menschlichen Natur zukommt, ist überall dort in der Schrift berichtet, wo sie den Menschen Christus „Gott", „Gottes Sohn", „HErr der Herrlichkeit” usw. nennt. Jedermann muß zugeben, daß dies eine ganz andere und viel höhere Seinsweise ist als das Sein in der Krippe usw. Mit der Krippe zu Bethlehem und mit der verschlossenen Tür ist der Mensch Christus nicht eine Person, aber mit Gott ist er eine Person. Hier sind wir mit der menschlichen Natur Christi, wie Luther es ausdrückt, „in einem andern Lande", in einem Lande, das über die Krippe zu Bethlehem, über Jerusalem, Judäa, Galiläa und Samaria, über alle Geographie, kurz, über alle Kreaturen hinaus liegt.421) Dies nennen wir die übernatürliche, göttliche Seinsweise der menschlichen Natur Christi (praesentia supernatnralis et divina), von Luther 422) und dem lutherischen Bekenntnis 423) die „dritte" Weise genannt. Nach dieser Seinsweise — und nur nach dieser Seinsweise — hat die menschliche Natur Christi an der göttlichen Allgegenwart teil. Und wie der Leib Christi beim unräumlichen Sein in der verschlossenen

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421) Luther, St. L. XX, 962 f.: „Hie kommen wir mit Christo außer allen Kreaturen, beide nach der Menschheit und Gottheit; da sind wir in einem andern Lande mit der Menschheit, denn da er aus Erden ging, nämlich außer und über allen Kreaturen, bloß in der Gottheit.

422) Luther beschreibt die praesentia repletiva oder äivina so: „Zum dritten ist ein Ding an Orten repletive, übernatürlich, das ist, wenn etwas zugleich ganz und gar an allen Orten ist und alle Orte füllt und doch von keinem Ort abgemessen und begriffen wird nach dem Raum des Orts, da es ist. Diese Weise wird allein Gotte zugeeignet, wie er sagt im Propheten Jeremia. 23, 23: ,Ich bin ein Gott von nahe und nicht von ferne; denn Himmel und Erden fülle ich? . . . Nun aber ein solcher Mensch ist, der übernatürlich mit Gott eine Person ist, und außer diesem Menschen kein Gott ist,,so muß folgen, daß er auch nach der dritten, übernatürlichen Weise fei und sein möge allenthalben, wo Gott ist, und alles durch und durch voll Christus sei auch nach der Menschheit; nicht nach der ersten, leiblichen, begreiflichen Weise, sondern nach der übernatürlichen göttlichen Weise. (XX, 949. 951.)

423) M. 693, 81.


201  >        Art und Weise der Allgegenwart.  [English ed. ~ 181–182]

Tür und beim Unsichtbarwerden sich weder ausdehnt noch verflüchtigt noch zusammenzieht, so ist noch viel weniger bei dem unräumlichen Sein in der Person des Sohnes Gottes an eine Ausdehnung, Verflüchtigung oder Zusammenziehung des Leibes Christi zu denken, da Gott nicht „ein solch ausgereckt, lang, breit, dick, hoch, tief Wesen, sondern ein übernatürlich, unerforschlich Wesen ist, das zugleich in einem jeglichen Körnlein ganz und gar und dennoch in allen und über allen und außer allen Kreaturen ist; darum darf's keines Umzäunens hie, wie der Geist träumt”.424) Wenn man hiergegen einwendet: Wie kann eine menschliche Natur ohne Zerstörung dieser Seinsweise teilhaftig werden und sein? so lautet die Antwort: Wenn wir das begreifen — modern ausgedrückt: „erkenntnismäßig" erfassen — könnten, dann müßten wir begreifen können, wie Gott Mensch werden, oder, was dasselbe ist, wie Gott und Mensch ohne alle Verwandlung ein Ich bilden können. Aber die Schrift offenbart die Tatsache. Und wer die Tatsache glaubt, daß die menschliche Natur in die Person des Sohnes Gottes ausgenommen ist, wie die reformierten Theologen mit uns zu glauben bekennen, der hat jedes Recht verloren, gegen die Allgegenwart Christi nach der menschlichen Natur zu reden; denn er setzt eo ipso — nämlich durch das Aufgenommensein der menschlichen Natur in die Person des Sohnes Gottes — die menschliche Natur Christi überall dort hin, wo die Person des Sohnes Gottes ist. Hases Spott über die Inkonsequenz der reformierten Christologie ist nicht unverdient: „Es ist inkonsequent, die höchste Einheit der Person zu behaupten, während man es nicht aus die geringere Gemeinsamkeit der Attribute wagen will. Auch wird nach der reformierten Ansicht der ganze traditionelle Schriftbeweis für das Zusammentreffen zweier Naturen in Christo” (das heißt, daß Christus wahrer Gott und wahrer Mensch in einer Person ist) „wankend.” 425) Luther, welcher auf Grund der Schrift die „Zweinaturenlehre" festhält, geht daher nicht über die Schrift hinaus, wenn er sagt: „Wo du mir Gott hinsetzest, da mußt du mir die Menschheit auch mit hinsetzen; sie lassen sich nicht sondern und voneinander trennen, es ist eine Person worden; und scheidet die Menschheit nicht so von sich, wie Meister Hans seinen Rock auszeucht und von sich legt, wenn er schlafen geht. Denn daß ich den Einfältigen ein grob Gleichnis gebe: die Menschheit ist näher ver

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424) St. L. XX, 961.        425) Ev. Dogmatik, S. 226.


202  >        Die Lehre von Christo.  [English ed. ~ 182–183]

einigt mit Gott denn unsere Haut mit unserm Fleische, ja näher denn Leib und Seele. . . . Also kannst du auch nicht die Gottheit von der Menschheit abschälen und sie etwa hinsetzen, da die Menschheit nicht sei; denn damit würdest du die Person zertrennen und die Menschheit zur Hülse machen, ja zum Rock, den die Gottheit ( aus- und anzöge, danach die Stätte oder Raum wäre, und sollte also der leibliche Raum hie so viel vermögen, daß er die göttliche Person zertrennte, welche doch weder Engel noch alle Kreatur mögen zertrennen.” 426) Und noch ein Wort Luthers möge hier beherzigt werden: „Du mußt dies Wesen Christi, so er mit Gott eine Person ist, gar weit, weit außer den Kreaturen setzen, so weit, als Gott draußen ist; wiederum so tief und nahe in alle Kreatur fetzen, als Gott drinnen ist; denn er ist eine unzertrennte Person mit Gott. Wo Gott ist, da muß er auch sein, oder unser Glaube ist falsch. Wer will aber sagen oder denken, wie solches zugehe? Wir wissen wohl, daß es also sei, daß er in Gott außer allen Kreaturen und mit Gott eine Person ist; aber wie es zugehe, wissen wir nicht, es ist über Natur und Vernunft, auch aller Engel im Himmel, allein Gott bewußt und bekannt."427)

So kommen nicht bloß nach der lutherischen Dogmatik, sondern nach der Schrift Christo nach der menschlichen Natur mindestens drei verschiedene Seinsweisen zu. Wir sagen „mindestens”. Daß es sich empfiehlt, noch eine vierte Weise der Gegenwart des Leibes Christi, nämlich die praesentia sacramentalis im Abendmahl, zu unterscheiden, wird später dargelegt werden, wo vom Verhältnis der Allgegenwart des Leibes Christi zur Gegenwart im Abendmahl die Rede ist. Suchen wir eine Verständigung mit der reformierten Christologie, so muß sie an diesem Punkte einsetzen. Die reformierte Kirche muß die schriftwidrige Behauptung fahren lassen, daß der menschlichen Natur Christi nur die räumliche und sichtbare Seinsweise zukomme. Diese auf Rationalismus beruhende Behauptung ist mit Recht die radikale Unwahrheit der reformierten Christologie genannt worden. Auf dieser radikalen Unwahrheit beruhen die eklatanten Mißhandlungen der Schriftstellen, die wir vorhin bei Calvin feststellten. Diese radikale Unwahrheit ist die fruchtbare Mutter der vielen Spottreden über die mitgeteilte Allgegenwart („Monstrum", „Delirium” usw.), mit denen die reformierten Theologen von Zwingli und Calvin an bis auf die neueste

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426) St. L. XX, 951 f.        427) St. L. XX, 956.


203  >        Art und Weise der Allgegenwart.  [English ed. ~ 183–184]

Zeit ihre Schriften verunziert haben. Auf dieser radikalen Unwahrheit beruhen alle die Einwürfe, die die reformierten Theologen seit nun beinahe vierhundert Jahren aus dem zweiten Artikel des Apostolischen Symbolums gegen die mitgeteilte Allgegenwart ins Feld geführt haben, indem sie allen Ernstes — im Verein mit den Römischen — behaupteten, die mitgeteilte Allgegenwart widerspreche der Empfängnis und Geburt, dem sichtbaren Wandel, Leiden, Tod und Begräbnis, der Höllenfahrt, Auferstehung, Himmelfahrt und Wiederkunft zum Gericht.428) Alle diese „Widersprüche" verschwinden sofort, sobald sie — wie die Schrift fordert — neben der lokalen auch eine illokale Seinsweise Christi nach der menschlichen Natur anerkennen.429) Um nur den reditus ad iudicium als Beispiel an

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428) So ausführlich Heidegger, Corpus theol. christ., de persona Christi, § 61. Ebenso römische Theologen. Cundisius: Solent Calvinistae et Iesuitae non sine insigni oppositionis elencho . . . nos insimulare tanti facinoris, quasi per nostram doctrinam de omnipraesentia carnis Christi dogmata quaedam fidei everteremus. Calviniani pridem urserunt verba ultima Articuli Secundi: Inde venturus est iudicare vivos et mortuos. . . . Ex Iesuitis jam instar omnium sit Robertus Bellarminus, qui libr. 3. de incarn., c. 12., scribere haud veretur, quod pugnet ubiquitas cum articulis symboli de Christi conceptione, nativitate, morte, sepultura, descensu ad inferos, resurrectione, ascensione et descensu ad iudicium. (Notae ad Hutteri Comp., p. 343.)

429) Kromayer, Theol. pos.-pol. I, 248 sq.: Contra omnipraesentiam opponunt: 1. Ascensionem in coelum. Sed respondemus, Christum per ascensionem suam non omnem praesentiam, sed visibilem duntaxat conversationem nobis subtraxisse, prout in coelum iamiam ascensurus promittit, se nobiscum futurum usque ad consummationem saeculi. . . . 2. Sessionem, ad dextram Patris opponunt. Verum cum Luthero statim hoc argumentum invertimus: Imo quia Christus secundum humanam naturam consedit ad dextram Patris, ideo praesens est nobis in terris. Per sessionem enim ad dextram Dei non situatio vel collocatio Christi ad certum locum, sed totius huius universi omnipotens et omnipraesens gubernatio intelligitur. … 3. Reditum ad iudicium obvertunt. Sed respondemus, Christum rediturum ad iudicium, quoad praesentiam visibilem. „Videbit eum omnis oculus et qui pupugerunt eum“, Apoc. 1, 7. Unde reditus iste per επιφάνειαν vel apparitionem exponitur Tit. 2, 13. 4. Humanam Christi naturam finitam suisque dimensionibus circumscriptam obiiciunt. Sed respondemus, hoc argumentum cum larvis pugnare, quia humanam Christi naturam nullatenus infinitam, sed finitam, interim tamen propter unionem personalem cum λόγω et sessionem ad dextram Dei omnipraesentem statuimus. Crassam istam, diffusam, et expansam praesentiam, quam nobis affingunt Calviniani, toto pectore execramur; interim humanam Christi naturam praesentia divina praesentem esse creaturis omnibus, ductum Scripturae secuti, credimus. Praesentia ista


204  >          [English ed. ~ 184–185]

zuführen: Obwohl Christus auch nach seiner menschlichen Natur während der ganzen Periode zwischen Himmelfahrt und dem Jüngsten Tage bereits bei der Kirche auf Erden ist kraft seiner Verheißung: „Ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende", so kann er doch, ohne in Widerspruch mit sich selbst zu treten, am Jüngsten Tage wiederkommen, da sein gegenwärtiges Sein bei der Kirche nach der unsichtbaren, das Wiederkommen„ aber nach der sichtbaren Seinsweise stattfindet. Es gilt nur, das Dekret, fahren zu lassen: „Corporis humani non alia quam visibilis, localis, circumscriptiva praesentia est.” Insonderheit wären sie auch der Notwendigkeit überhoben, die „Rechte Gottes", zu der Christus nach der menschlichen Natur erhoben ist, als einen abgeschlossenen Ort im Himmel zu deuten, obwohl die Schrift selbst ausdrücklich die Rechte Gottes als allgegenwärtige Herrschaft über das Universum beschreibt, Eph. 1, 20 ff. usw. Das πρώτον ψευδός von der nur lokalen Seinsweise der menschlichen Natur Christi hat endlich noch zwei reformierte Argumente gegen die mitgeteilte Allgegenwart gezeitigt, die auch jeder natürlichen Vernünftigkeit entbehren, aber trotzdem im Katalog der reformierten Einwürfe bis auf unsere Zeit fortgeführt werden. Dies ist erstlich der Einwurf, daß durch die mitgeteilte Allgegenwart die menschliche Natur unendlich (infinita) gemacht werde. Ganz richtig führt dagegen Luther aus: Da der Welt nicht Unendlichkeit, sondern nur Endlichkeit zukommt, so bedarf es auch von seiten der menschlichen Natur keiner Unendlichkeit, um allgegenwärtig zu sein.430) Daß trotzdem das Argument auch von neueren reformierten Theologen, auch von Hodge,431) 

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divina Es, 40, 15. sqq. describitur, quod omnes creaturae instar puncti eidem sunt obiectae et expositae, ... 6. Locum Matth. 26, 11.: „Me non semper habetis“, obtendunt. Sed respondemus distinguendo inter rem et modum rei. Licet Christus neget, eo modo, quo sc. beneficiis affici possit, ut tum temporis factum fuerat, se in posterum praesentem futurum apostolis; praesentiam tamen ipsam non negat, sed potius promittit Matth. 28, v. ult.

430) Luther XX, 965: „Daß er (Zwingli) schleußt und folgert daher: Wo meine Lehre sollte bestehen, daß Christus' Leib sei allenthalben, wo Gott ist, so wäre Christus' Leib alterum infinitum, ein unendlich Ding, gleichwie Gott selber usw.: das könnte er selber wohl sehen, wo der Zorn ihn nicht blendete, daß solche Folge nichts sei. Ist doch die Welt an ihr selbst nicht infinitum oder unendlich; wie sollt's denn folgen, daß Christus' Leib unendlich sei, wo er allenthalben wäre?"

431) System. Theol. II, 417: A body which fills immensity is not a human body.


205  >        Art und Weise der Allgegenwart.  [English ed. ~ 185–186]

beharrlich verwendet Wird, ist ein Beweis für die Tatsache, daß die Argumente ohne alle Prüfung von einer Generation auf die andere vererbt werden. — Von derselben Beschaffenheit ist ferner die Behauptung, daß jeder wirkliche Körper notwendig im Raum sein müsse. Schon Zwingli gebrauchte zu Marburg dieses Argument gegen Luther, um zu erweisen, daß Luther eine räumliche und sichtbare Gegenwart des Leibes Christi im Abendmahl annehmen müsse, wenn er eine Gegenwart des wahren Leibes Christi im Abendmahl lehre. Luther brachte Zwingli zum Schweigen durch den Nachweis, daß Zwinglis Behauptung auch auf natürlichem Gebiet nicht zutreffe. Das Universum oder der Weltkörper ist ein wirklicher Körper und doch nicht ein Raum. Wollten wir um das Äußerste des Weltkörpers (corpus extimum) noch einen Raum herumlegen, so müßten wir uns um diesen ersten Raum noch einen zweiten, um den zweiten einen dritten usw. denken. Es würde sich ein progressus in infinitum ergeben, und der Welt Unendlichkeit zugeschrieben werden. Walther Pflegte zu sagen: „Wir müßten bei der Annahme, daß die Welt im Raum sei, die Unendlichkeit der Welt lehren.” Um bei der Wahrheit zu bleiben, ist festzuhalten: Wo alles Erschaffene aufhört, da ist nicht noch wieder ein Raum und hinter dem ersten Raum ein weiterer Raum usw., sondern das Weltall ist in dem unräumlichen Gott. Wie die Schrift ausdrücklich lehrt: Τά πάντα εν αυτφ αυνέατηκεν, Kοl. 1, 17, und: Εν αντφ ζώμεν και κινούμεϑα καί έσμέν, Apost. 17, 28.432)

Wir schließen den Abschnitt über den modus omnipraesentiae Christi secundum humanam naturam mit einigen Ausführungen Luthers und lutherischer Theologen. Wir glauben, damit der Sache nicht zu viel zu tun. Die so überaus beklagenswerte Spaltung der protestantischen Kirche zur Zeit der Reformation hatte ja wie alle Trennungen in der Kirche ihren ursprünglichen Grund nicht in Lehrdifferenzen, sondern in Neid und Ehrgeiz, wie bereits dargelegt

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432) Kromayer: Locabile quidem concedimus omne corpus physicum, sed non actu in loco, quia corpus extimum, quodcunque tandem sit, non est in' loco, cum non circumfundatur alio corpore, nisi progressum statuere velimus in infinitum. (Theol. pos.-pol. I, 249.) Köstkin (Martin Luther II, 135) berichtet über das Gespräch zu Marburg: Luther „überraschte die Gegner mit dem eigentümlichen Einwand, daß nach der Ansicht der aristotelischen Naturphilosophen ja auch die Welt, da es keinen Raum außer ihr gebe, nicht an einem Orte und der sie umgebende Himmel außer Ort und Raum sei”. Weshalb der Einwand „eigentümlich sein soll, ist nicht ersichtlich.


206  >          [English ed. ~ 186–187]

wurde. Aber als dieses eigentliche Motiv der Trennung Deckung hinter Lehrdifferenzen suchte, und Zwingli und Gefährten die Abendmahlslehre als den Punkt bezeichneten, an dem sie nicht mit Luther gehen könnten, da haben sie ihre Differenz in der Abendmahlslehre und ihre Absonderung von Luther mit dem Kanon begründet, daß Christi menschlicher Natur nur die räumliche und sichtbare Seinsweise zuerkannt werden dürfe. So steht es bis auf diesen Tag. Daher kommt dem irrigen Satz von der nur räumlichen Seinsweise und dem richtigen Satz von der mehrfachen Seinsweise der menschlichen Natur Christi eine weitreichende Bedeutung zu. Dieser Sachlage gemäß lassen wir hier noch einige Aussprachen Luthers und lutherischer Theologen über die' mehrfache Seinsweise der menschlichen Natur Christi folgen. Eine auch in das Bekenntnis aufgenommene 433) Ausführung Luthers über die dreifache Seinsweise der menschlichen Natur Christi lautet so: „Christus' einiger Leib (Christi unicum corpus) hat dreierlei Weise oder alle drei Weisen, etwo zu sein. Erstlich die begreifliche, leibliche Weise, wie er auf Erden leiblich ging, da er Raum gab und nahm nach feiner Größe. Solche Weise kann er noch brauchen, wenn er will, wie er nach der Auferstehung tat und am Jüngsten Tage brauchen wird, wie Paulus sagt 1 Tim. 6: ,welchen wird zeigen zu seiner Zeit der selige Gott’.. Und Kol. 3: ,wenn Christus, euer Leben, sich offenbaren wirkü. Auf solche Weise ist er nicht in Gott oder bei dem Vater noch im Himmel, wie der tolle Geist träumt; denn Gott ist nicht ein leiblicher Raum oder Stätte. Und hierauf gehen die Sprüche, so die Geistler führen, wie Christus die Welt verlasse und zum Vater gehe. — Zum andern die unbegreifliche, geistliche Weise, da er keinen Raum nimmt noch gibt, sondern durch alle Kreatur führet, wo er will, wie mein Gesicht (daß ich grobe Gleichnis gebe) durch die Luft, Licht oder Wasser führet und ist und nicht Raum nimmt noch gibt, wie Klang oder Ton durch Luft oder Wasser oder Brett und Wand führet und ist und auch nicht Raum nimmt noch gibt; item, wie Licht und Hitze durch Luft, Wasser, Glas, Kristall und dergleichen führet und ist und auch nicht Raum nimmt noch gibt, und dergleichen viel mehr. Solcher Weise hat er gebraucht, da er aus verschlossenem Grabe fuhr und durch verschlossene Tür kam, und im Brot und Wein im Abendmahl, und, wie man glaubet, da er von seiner Mutter geboren ward. — Zum

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433) Konkordienf., Art. VII. Müller, S. 667 ff.


207  >        Art und Weise der Allgegenwart.  [English ed. ~ 187–188]

dritten die göttliche, himmlische Weise, da er mit Gott eine Person ist, nach welcher freilich alle Kreaturen ihm gar viel durchläuftiger und gegenwärtiger sein müssen, denn sie sind nach der andern Weise. Denn so er nach derselben andern Weise kann also sein in und bei den Kreaturen, daß sie ihn nicht fühlen, rühren, messen noch begreifen, wieviel mehr wird er nach dieser hohen dritten Weise in allen Kreaturen wunderlich sein, daß sie ihn nicht messen noch begreifen, sondern vielmehr, daß er sie für sich hat gegenwärtig, misset und begreifet. Denn du mußt dies Wesen Christi, so er mit Gott eine Person ist, gar weit, weit außer den Kreaturen setzen, so weit, als Gott draußen ist, wiederum so tief und nahe in allen Kreaturen setzen, als Gott darinnen ist. Denn er ist eine unzertrennte Person mit Gott; wo Gott ist, da muß er auch sein, oder unser Glaube ist falsch. Wer will aber sagen oder denken, wie solches zugehe? Wir wissen wohl, daß es also sei, daß er in Gott, außer allen Kreaturen, und mit Gott eine Person ist, aber wie es zugehe, wissen wir nicht; es ist über Natur und Vernunft, auch aller Engel im Himmel, allein Gott bewußt und bekannt. Weil es denn uns unbekannt und doch wahr ist, so sollen wir seine Worte nicht eher leugnen, wir wissen denn zu beweisen gewiß, daß Christus' Leib allerdings nicht möge sein, wo Gott ist, und daß solche Weise zu sein falsch sei; welches die Schwärmer sollen beweisen, aber sie werden's lassen. — Ob nun Gott noch mehr Weise habe und wisse, wie Christus' Leib etwa sei, will ich hiemit nicht verleugnet, sondern angezeigt haben, wie grobe Hempel unsere Schwärmer sind, daß sie Christus' Leib nicht mehr denn die erste, begreifliche Weise zugeben, wiewohl sie auch dieselbige nicht können beweisen, daß sie wider unfern Verstand sei. Denn ich's in keinem Weg leugnen will, daß Gottes Gewalt nicht sollte so viel vermögen, daß ein Leib zugleich an vielen Orten sein möge, auch leiblicher-, begreiflicherweise. Denn wer will's beweisen, daß Gott solches nicht vermag? Wer hat seiner Gewalt ein Ende gesehen? Die Schwärmer denken wohl also, Gott vermöge es nicht; aber wer will ihrem Denken glauben? Womit machen sie solches Denken gewiß?"

Wie Luther, so lehren auch die lutherischen Theologen die mehrfache Seinsweise der menschlichen Natur Christi. Trefflich legt Brenz die Sache dar, indem er zugleich die Vervielfachung und Ausdehnung der menschlichen Natur abweist. Brenz schreibt: Itaque non habuit vel duo vel tria vel qua tuor corpora, aliud quidem in Hierusalem, cum in templo concionaretur aut in cruce penderet,


208  >          [English ed. ~ 188–189]

aliud in urbe Roma, aliud Athenis, aliud in coelo : sed unum idemque corpus, quod erat in Hierusalem visibiliter et localiter, erat cum Deitate, ubicunque ea esset, extra omnia loca invisibiliter et illocaliter. Neque enim ea loca, quae sunt in nostris humanis oculis diversa et a se invicem distantia, sunt tot, tanta et talia in oculo divinae maiestatis, sed sicut omnia tempora sunt ei momentum (nur ein Augenblick), ita et omnia loca sunt ei unus locus, imo ne punctus quidem loci, aut si quid minutius dici potest., Quare cum coniungimus Deitati Christi humanitatem eius, non extendimus nec diffundimus corpus eius corporali et locali modo, sed tribuimus ei illam maiestatem, quam quidem humana ratio comprehendere non potest, sed quae ipsi propter hypostaticam unionem debetur.434)

Chemnitz antwortet auf den Einwurf, daß eine mehrfache Seinsweise der menschlichen Natur Christi einen Widerspruch in sich schließe: Nec fit implicatio contradictionis, si idem corpus dicatur esse in uno loco iuxta proprietates essentiales naturali modo, et si supra physica idiomata per Dei voluntatem ac potentiam supernaturali, coelesti et divino modo ponatur non in uno, sed in pluribus locis. Non enim contradicentia sunt, si alio atque alio respectu et modo contraria eidem tribuuntur. Diese übernatürliche, göttliche Seinsweise aber kommt der menschlichen Natur Christi zu, insofern sie personaliter subsistit in hypostasi Filii Dei, quae et in omnibus locis et supra et extra omnia loca existens assumptam naturam arctissima, intima et individua praesentia unitam sibi habet.435) Quenstedt schreibt: Pessime (Calviniani) confundunt diversos praesentiae modos et sibi opponunt atque a praesentia camis naturali concludunt ad exclusionem praesentiae του λόγον et camis personalis. ... Auf den Einwurf, die Menschheit Christi fuisse non ubique, cum esset in utero, in sepulcro etc., antwortet Quenstedt: Confunditur praesentia naturalis cum personali. . . . Locorum διαστήματα in describenda unione (personali) non attendenda. Non enim personalis unio est inter matris uterum, sepulcrum, crucem et divinam naturam. Aliud est, extra carnem propriam esse, et aliud, extra uterum esse, in quo caro assumitur; λόγος non cum utero Mariae aut sepulcro, sed cum carne sua unam constituit personam. (Syst. II, 202 sq.)

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434) De unione duarum natt., p. 20.

435) De duabus naturis, p. 191. 197.


209  >        Art und Weise der Allgegenwart.          [English ed. ~ 189–190]

Chemnitz behandelt den umstrittenen Punkt mit großem Ernst und weist zugleich darauf hin, daß der reformierte Widerspruch in fleischlichen Gedanken seinen Grund habe. Er sagt:Quomodo possumus illaesa conscientia dicere, locorum intervalla obstare aut impedire, quominus Filius Dei, sicut verba testamenti ipsius sonant, corpore suo in coena sua adesse possit, cum et loca et tempora et omnia potenter in manibus et sub pedibus suis habeat, etiam secundum humanam naturam. Adest autem non quidem localiter, sed ratione potentiae divinae, hypostaticae unionis et dexterae Dei. Assumpta enim Christi natura, sicut antea diximus, intima praesentia personaliter subsistit in hypostasi Filii Dei, quae et in omnibus locis et supra atque extra omnia loca existens assumptam naturam arctissima, intima et individua praesentia unitam sibi habet. . . . Aliter in terra conversatus fuit, aliter in coelo apparet in gloria, aliter adest in coena cum pane et vino, aliter in tota ecclesia, aliter omnes creaturas εν λόγω sibi praesentes habet. . . . Nihil obstat, nisi quod ratio nostra turbatur cogitationibus de localitatibus ac de ratione (Art und Weise) praesentiae corporum iuxta conditiones huius seculi per positum et contactum physicum. Kemoveantur itaque omnes cogitationes carnales et terrenae de localitatibus!436)

Während Heidegger behauptet, die räumliche und sichtbare Gegenwart der menschlichen Natur Christi sei ein Ding der Notwendigkeit und hänge nicht vom Willen Christi ab (loealitas ex naturae neeessitate, non ex voluntatis lidertate pendet 437)), so sagt Chemnitz das Gegenteil. Er führt aus, daß der ganze sichtbare Wandel Christi auf Erden non necessitate aliqua inevitabili, sondern von der divina Verbi voluntas abhing. Und dies bezieht Chemnitz gerade auch auf die lokale Seinsweise: Voluit, ut tempore exinanitionis seu in diebus carnis ita se gereret sicut alius quispiam homo, sicut in reliquis visibilis et externae conversationis partibus, ita etiam in physica locatione et circumscripto seu locali praesentiae modo iuxta conditionem huius seculi.438) Chemnitz hat recht: Christus hat nach Belieben die lokale und sichtbare Seinsweise gebraucht und aufgehoben, wie oben reichlich nachgewiesen wurde. Es ist hier wieder daran zu erinnern, daß dem

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436) De duabus naturis, p. 197.

437) Corpus theol. chr., loc. 17, § 61.

438) De duabus naturis, p. 185.


210  >          [English ed. ~ 190–191]

πρώτον ψευδός von der nur lokalen Seinsweise der menschlichen Natur Christi der weitere allgemeine Schade des Rationalismus zugrunde liegt. Die reformierte Theologie will a priori bestimmen, was die menschliche Natur Christi aushalten könne, ohne zerstört oder zersprengt zu werden, während wir doch wahrhaftig nur aus der „geschichtlichen Wirklichkeit", nämlich aus der Offenbarung der Heiligen Schrift, lernen können, was bei dem kündlich großen Geheimnis der Menschwerdung des Sohnes Gottes ohne Schädigung der Naturen möglich oder nicht möglich sei.439)

Im Anschluß an die Schriftlehre von der mitgeteilten Allgegenwart sind noch mehrere Einzelfragen zu behandeln. Dies bringt der vielumstrittene Charakter dieses Lehrstücks mit sich.

Die mitgeteilte Allgegenwart und das heilige Abendmahl. ^

Es ist eine von den reformierten Theologen aufgebrachte Sage, daß Luther die Lehre von der Teilhaberschaft der menschlichen Natur Christi an der göttlichen Allgegenwart konstruiert habe, um damit seine Lehre von der realen Gegenwart des Leibes und Blutes Christi im Abendmahl zu begründen. Diese Sage wiederholen auch die neueren reformierten Lehrer. So sagt Hodge: “second objection” (gegen die lutherische Lehre von der Mitteilung der Eigenschaften) "is that the character of the explanation was determined by the peculiar views of Luther as to the Lord’s Supper. He believed that the body and blood of Christ are really and locally 440) present. And when asked, How can the body of Christ, which is in heaven, be in many different places at the same time? he answered that the body of Christ is everywhere. And when asked, How can that be? his only answer was that in virtue of the incarnation the attributes of the divine nature were communicated to the human, so that, wherever the Logos is, there the soul and body of Christ must be.”441) Auch Böhl begründet seine Verwerfung des Zenus maiesiatieum also: „Dasselbe handelt von der realen Mitteilung der Eigenschaften der göttlichen Natur an die menschliche und wurde im Gegensatz zu Zwingli ausgebildet, welcher die Anwesenheit des Leibes Christi auf Erden, besonders im heiligen Abendmahl, bestritt.” 442) Leider findet sich diese un

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439) Konkordienf., S. 685, § 52. 53.

440) Dies "locally" ist nur ein Beispiel aus vielen, wie historisch unrichtig Hodge die lutherische Lehre darstellt.

441) Syst. Theol. II, 414.        442) Dogmatik, S. 344.


211  >        Die mitgeteilte Allgegenwart und das heilige Abendmahl.  [English ed. ~ 191–192]

geschichtliche Darstellungsweise auch vielfach in der neueren Dogmengeschichte. Tatsache ist folgendes: Luthers Beweis für die Anwesenheit des Leibes Christi im Abendmahl sind ihm die Abendmahlsworte selbst. Luther sagt, was den Beweis für seine Abendmahlslehre betrifft: „So ist das die Summa davon, daß wir die Helle, dürre Schrift für uns haben, die also lautet: Nehmet, esset; das ist mein Leib', und uns nicht not ist noch soll aufgedrungen werden, über solchen Text” (das heißt, darüber hinaus) „Schrift zu führen.” Luther „bittet" deshalb die Schwärmer, „sie wollten nicht von ihm begehren, zu beweisen diesen Text: Das ist mein Leib.'" Es ist genug: „Weil Christus hier sagt: ,Das ist mein Leib', so kann er's wahrlich tun und tut's."443) Ja, Luther erklärt, daß die Lehre von Christi Person, speziell von der Mitteilung der Eigenschaften, eigentlich nicht in die Lehre vom Abendmahl gehöre, wenn es sich um den Schriftbeweis für die Real-Präsenz des Leibes Christi im Abendmahl handele.444) Aber trägt nicht Luther gerade in der Abendmahlskontroverse die Lehre von Christi Allgegenwart nach der menschlichen Natur mit aller Energie vor? Allerdings! Aber nicht, um damit seine Abendmahlslehre zu beweisen, sondern um die Nichtigkeit der gegnerischen Einwürfe gegen die Möglichkeit der Gegenwart des Leibes Christi im Abendmahl ins Licht zu stellen. Zwingli und Verbündete griffen die Abendmahlsworte „Nehmet, esset; das ist mein Leib" mit der Behauptung an, daß die Realpräsenz des Leibes Christi im Abendmahl eine Unmöglichkeit in sich schließe, weil Christus gen Himmel gefahren sei, zur Rechten Gottes sitze, und Christi Leib doch nur eine lokale, sicht- und greifbare Existenzweise zukommen könne. Die Unmöglichkeit der Realpräsenz ist ja der immer wiederkehrende Einwand gegen die eigentliche Fassung der Abendmahls-Worte. Diesem versuchten Unmöglichkeitsbeweise gegenüber deckt Luther auf, daß seine Gegner unbiblische, „kindische" Gedanken vom Himmel und der Rechten Gottes haben, und legt er insonderheit dar, daß nach der Schrift dem Leibe Christi mindestens eine dreifache Seinsweise zukomme, nämlich neben der räumlichen Seinsweise in der Krippe zu Bethlehem (praesentia circumscriptiva) und der unräumlichen Seinsweise in der verschlossenen Tür (praesentia definitiva) auch die unräumliche, göttliche Seinsweise in der Person des Sohnes Gottes (praesentia divina et reple

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443) St, L. XX, 782. 795.        444) St.        L. XX, 943.


212  >          [English ed. ~ 192–193]

tiva), nach welcher letzteren Weise Christi Leib auch die Allgegenwart nicht abzusprechen sei. Luther sagt ausdrücklich: „Daß ich beweisete, wie Christus' Leib allenthalben sei, weil Gottes rechte Hand allenthalben ist, das tat ich darum, wie ich gar öffentlich daselbst 445) bedinget, daß ich doch eine einige Weise anzeigte, damit Gott vermöchte, daß Christus zugleich im Himmel und sein Leib im Abendmahl sei, und vorbehielt seiner göttlichen Weisheit und Macht wohl mehr Weise, dadurch er dasselbige vermöchte, weil wir seiner Gewalt Ende noch Maß nicht wissen."446) Luther sieht die Sache so an, daß er ein übriges tue, wenn er bei der Lehre vom Abendmahl auf die Lehre von Christi Person und speziell auf die Lehre von der Mitteilung der Eigenschaften sich einlasse. „Um der Unfern willen" — sagt Luther — „ [sie] zu stärken, will ich weiter handeln, wie der Schwärmer Grund und Ursachen nichts sind, und zum Überfluß beweisen, daß nicht wider die Schrift noch Artikel des Glaubens sei, daß Christi Leib , zugleich im Himmel und im Abendmahl sei, wiewohl ich's den Schwärmern nicht schuldig bin zu tun."447) Das ist der geschichtliche Hergang, wie Luther dazu kam, im Zusammenhang mit der Abendmahlslehre auch die Omnipräsenzlehre zu behandeln. Weil die falschen Darstellungen über diesen prinzipiell und praktisch wichtigen Punkt nicht aufhörten, so sah man sich veranlaßt, fünfzig Jahre später in der Vorrede zum Konkordienbuch noch einmal nachdrücklich auf den wahren historischen Sachverhalt hinzuweisen. Es heißt dort: „Obwohl etliche Theologi wie auch Lutherus selbsten vom heiligen Abendmahl in die Disputation von der persönlichen Vereinigung beider Naturen in Christo, doch wider ihren Willen, von den Widersachern gezogen, so erklären sich unsere Theologen inhalts des Konkordienbuches und der darin begriffenen Norma lauter (diserte), daß unserer und des Buchs beständiger Meinung nach die Christen im Handel von des HErrn Abendmahl auf keinen andern, sondern auf diesen einigen Grund und Fundament, nämlich auf die Worte und Stiftung des Testaments Christi, gewiesen werden sollen, welcher allmächtig und wahrhaftig und demnach zu verschaffen vermag, was er verordnet und in seinem Wort verheißen hat, und da sie bei diesem Grund unangefochten bleiben, von andern

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445) Luther bezieht sich auf seine frühere Schrift: „Daß diese Worte usw. noch fest stehend St. L. XX, 752 ff.

446) St. L. XX, 940.         447) St. L. XX, 802.


213  >          [English ed. ~ 193–194]

Gründen nicht disputieren, sondern mit einfältigem Glauben bei den einfältigen Worten Christi” (vom Abendmahl) „verharren, welches am sichersten und bei dem gemeinen Laien auch erbaulich, der diese Disputation nicht ergreifen kann. Wenn aber die Widersacher solchen unfern einfältigen Glauben und Verstand der Worte des Testaments Christi anfechten und als einen Unglauben schelten und uns vorwerfen, als sei unser einfältiger Verstand und Glaube wider die Artikel unsers christlichen Glaubens, besonders von der Menschwerdung des Sohnes Gottes, von seiner Himmelfahrt und Sitzen zur Rechten der allmächtigen Kraft und Majestät Gottes, und demnach falsch und unrecht, so solle durch, wahrhaftige Erklärung der Artikel unsers christlichen Glaubens angezeigt und erwiesen werden, daß obgemeldeter unser einfältiger Verstand der Worte Christi” (vom Abendmahl) „denselben Artikeln nicht zuwider sei."448) So bestimmt weist die lutherische Kirche die Behauptung ab, daß sie die Gegenwart des Leibes Christi im Abendmahl auf die der menschlichen Natur Christi mitgeteilte göttliche Allgegenwart gründe. Wenn sie bei der Abendmahlslehre auch die reale Teilhaberschaft der menschlichen Natur Christi an der göttlichen Gegenwart unter der Rubrik „Gründe" anführt,449) so befaßt sie unter „Gründen" auch alles das, womit die Nichtigkeit der reformierten Einwürfe dargetan, und so der Gegner mit seinen eigenen Waffen geschlagen wird. Die Allgegenwart Christi nach der menschlichen Natur kann schon deshalb nicht als ausschlaggebende Begründung für die Abendmahlslehre dienen, weil nach lutherischer Lehre die Gegenwart im All eine andere ist als die Gegenwart im Abendmahl. Im Abendmahl ist Christi Leib, wiewohl nicht localiter, doch so gegenwärtig, daß er „gefaßt", das heißt, mit dem Brot empfangen wird. Die Gegenwart bei allen Dingen aber ist so beschaffen, daß sie von keinem Menschen „erfaßt" oder „ergriffen" werden kann. Mit andern Worten: Die lutherische Kirche unterscheidet zwischen der durch die unio personalis gesetzten und von der Schrift ausdrücklich bezeugten Allgegenwart Christi im Universum und der durch die Abendmahlsworte gesetzten Gegenwart des Leibes Christi im Abendmahl. Für die letztere Weise der Gegenwart hat sie daher auch den besonderen Namen der unio sacramentalis. Die Konkordienformel sagt: „Propter sacramentalem unionem panis et vinum vere sunt corpus et sanguis

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448) Müller, S. 14 f.        449) Konkordienf., S. 540.


214  >        Die Lehre von Christo.  [English ed. ~ 194–195]

Christi."450) Es beruht daher auf einer Entstellung der lutherischen Lehre, wenn gegen die Allgegenwart Christi nach der menschlichen Natur von reformierter Seite geltend gemacht wird, daß dann Christi Leib bei jeder Mahlzeit empfangen werde, oder wenn der Katholik Klee meint, daß dann die ganze Welt „Eucharistie" wäre,451) oder wenn der neuere Dogmengeschichtler Loofs befremdet fragt: „Ist er's” (nämlich auch in jedem Brot gegenwärtig) — „weshalb ,ertappt' man ihn da nicht?"452) ober wenn Hunzinger die Gedanken kommen, daß Luther durch seine Omnipräsenzlehre das Ziel überschieße und seine Abendmahlslehre gefährde.453) Luthers Lehre ist die: Bei aller Omnipräsenz der menschlichen Natur Christi würde Christi Leib und Blut nicht im Abendmahl sein, wenn Christus sich nicht durch die Abendmahlsworte „Das ist mein Leib", „Das ist mein Blut" im Abendmahl für uns Menschen „angebunden" hätte. „Ein anderes ist", sagt Luther, „wenn Gott da ist, und wenn er dir da ist. Dann aber ist er dir da, wenn er sein Wort dazutut und bindet sich damit an und spricht: Hier sollst du mich finden. . . . Also auch, weil Christus' Menschheit zur Rechten Gottes ist und nun auch in allen und über allen Dingen ist nach Art göttlicher Hand, so wirst du ihn nicht" — wie zu Luthers Zeit das durch die Schwärmer fanatisierte Volk redete 454) — „so fressen noch saufen als den Kohl und Suppe auf deinem Tisch, er wolle denn. Er ist nun auch unbegreiflich worden, und wirst ihn nicht ertappen, ob er gleich in deinem Brot ist, es sei denn, daß er sich dir anbinde und bescheide dich zu einem sonderlichen Tisch durch sein Wort und deute dir selbst das Brot durch sein Wort, da du ihn essen sollst, welches er denn tut im Abendmahl und spricht: ,Das ist mein Leib.' Als sollt' er sagen: Daheim magst du auch Brot essen, da ich auch freilich nahe genug bei bin; aber dies ist das rechte Tuto, das, das ist mein Leib. Wenn du dies issest, so issest du meinen Leib, und sonst nicht.” 455) Gerade auch an diesem Punkte beweist die lutherische Kirche, daß sie am Schriftprinzip festhält. Sie erklärt, daß die Gegenwart des Leibes und Blutes Christi im Abendmahl sich auf Christi Worte vom Abendmahl gründe und nicht aus andern Lehren, speziell auch nicht aus der Lehre von Christi Person, zu erschließen sei.

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450) M. 539, 7.        451) Dogmatik II, 453.

452) RE.3 sub Christologie, S. 55. 453) RE.3 sub Ubiquität, S. 188.

454) St. L. XX, 813.        455) St. L. XX. 814 f.


215  >          [English ed. ~ 195–196]

Übereinstimmung der Lutheraner in bezug auf die mitgeteilte Allgegenwart. ^

Die reformierten Theologen alter und neuer Zeit haben die mitgeteilte Allgegenwart mit dem Hinweis auf die Uneinigkeit bekämpft, die sich in bezug auf diesen Punkt bei den Lutheranern selbst finde. Insonderheit hat man Chemnitz in Gegensatz zu Luther, Brenz und den süddeutschen. Theologen, gebracht. So in alter Zeit zum Beispiel der Schweizer Hospinian.456) Zu unserer Zeit schreibt Hodge: "It was a principle with the Wittenberg school of the Lutheran theologians that human nature is not capable of divinity.457) This is true also of Chemnitz, the greatest of the divines of the age after the Reformation.” Nach Hodge soll daher Chemnitz auch speziell die Allgegenwart Christi nach der menschlichen Natur als ein „monstrum” und „portentum" verworfen haben.458) Hodge ist insofern zu entschuldigen, als er sein historisches Wissen über diesen Punkt aus Dorner schöpft, dessen geschichtliche Fiktionen schon Frank aufgezeigt hat.459) Ein Urteil, das der geschichtlichen Wahrheit näher kommt, findet sich in der neuesten Ausgabe der Enzyklopädie von Schaff-Herzog. Hier wird verneint, "that an essential difference existed between the Saxon and Swabian doctrine with reference to the suppositione and foundations themselves. For Chemnitz himself expressly denied that the hypostatic union, or the personal indwelling of the entire fulness of the Deity in the assumed human nature, had become “in the course of years progressively greater, closer, fuller, and more perfect,’ and rather asserted this indwelling ‘from the first moment of the hypostatic union’ (De duabus nat., p. 216), and most decidedly declared against the assumption that God can be placed somewhere without placing there also the humanity assumed by Him.” 460) Dies Urteil entspricht dem historischen Tatbestand. Wir

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456) In der gegen die F. C. gerichteten Streitschrift Concordia Discors, 1607.

457) Hodge gibt nicht näher an, welche Klasse von lutherischen Theologen er sich unter "the Wittenberg school of the Lutheran theologians" vorstellt, die behauptet hätten, "that human nature is not capable of divinity”. Es würde auf die Wittenberger Kryptocalvinisten passen.

458) System. Theol, II, 410.

459) Theol. der Konkordienf. III, 215 ff. Vgl. auch Kübel, RE.2 XVI, 130 f.

460) Vol. III, 180. Diese Worte sind der Ausführung F. Franks in RE.2 III, 329 entnommen.


216  >          [English ed. ~ 196–197]

können die christologische Sachlage dahin zusammenfassen: Es fehlt sowohl bei den Reformierten als bei den Lutheranern an der nötigen Basis für eine wesentliche Uneinigkeit. Solange die reformierten Theologen ihr christologisches Axiom festhalten, daß das Endliche des Unendlichen nicht fähig sei, und infolgedessen den Sohn Gottes , nach seiner Menschwerdung nicht weniger extra carnem als in carne sein lassen und der menschlichen Natur Christi nur die lokale Seinsweise zugestehen, so lange kann unter ihnen weder in der These noch in der Antithese eine wesentliche Uneinigkeit aufkommen. Thetisch ist den Reformierten wegen ihres „Extra Calvinisticum" die unio personalis immer nur eine gesteigerte unio mystica und sustentativa. Antithetisch erklären sie wegen ihres Axioms „corporis humani non alia quam visibilis, localis, circumscriptiva praesentia est" jede Teilnahme der menschlichen Natur Christi an der illokalen göttlichen Gegenwart für eine Vernichtung der menschlichen Natur. Die Lutheraner gelten ihnen als Eutychianer. Die alten reformierten Theologen wußten wohl, wofür sie kämpften, wenn sie bei den geschlossenen Türen Joh. 20 nach einer Öffnung suchten. Sie brauchen diese Öffnung, um ihre non alia quam localis praesentia und damit die Basis der reformierten Christologie festhalten zu können. Wenn einzelne Reformierte und neuerdings Marcus Dods auf Grund von Joh. 20 dem Leibe Christi eine unräumliche Seinsweise zugestehen, so geben sie damit das reformierte christologische Einheitsband Preis. Solange sie an dem reformierten Fundamentalsatz festhalten, daß für die menschliche Natur Christi nur die lokale Seinsweise möglich sei, kann von wesentlichen christologischen Differenzen unter den Reformierten nicht die Rede sein.

Die gleiche Sachlage tritt uns aber auch bei den lutherischen Theologen entgegen. Solange diese festhalten: in Christo finitum capax est infiniti und: seit der Menschwerdung ist der Sohn Gottes überall, wo er ist, ενσαρκος, neque λόγος extra carnem, neque caro extra λόγον, so lange fehlt bei ihnen die nötige Basis für eine wesentliche Differenz. Dies trifft nun auch speziell auf Chemnitz zu. Es ist eine völlige Umkehrung der geschichtlichen Tatsache, wenn Hodge diesem "greatest of the divines of the age after the Reformation" die Lehre zuschreibt, die menschliche Natur Christi sei der Gottheit nicht fähig. Gerade gegen dieses reformierte πρώτον ψευδός, das bekanntlich von den Kryptocalvinisten Eber, Major und Krell vertreten wurde, hat Chemnitz seine berühmte christologische Schrift De duabus naturis in Christo geschrieben. Wer diese Schrift


217  >        Übereinstimmung der Lutheraner in bezug auf diese Lehre.  [English ed. ~ 197]

gelesen hat, steht unter dem Eindruck, daß Chemnitz darin beinahe bis zum Überdruß das neque λόγος extra carnem, neque caro extra λόγον einschärft. Chemnitz sagt, die unio personalis sei nicht so zu denken, als ob die angenommene menschliche Natur der ganzen Fülle der Gottheit nur irgendwo angeklebt (alicubi agglutinata) wäre, wie ein Finger mit dem Körper verbunden ist, eine Stadt am Meere liegt, oder eine Linie den Kreis nur an einem Punkte berührt, sondern die unio personalis begreife in sich „die allergegenwärtigste Gegenwart der vereinigten Naturen (praesentissimam praesentiam unitarum naturarum)”. Über die gegenteilige Ansicht urteilt er: es lasse sich weder mit der Frömmigkeit noch mit der Wahrheit in Einklang bringen, wenn man nach der incarnatio die Person des Logos außerhalb der angenommenen menschlichen Natur und diese außerhalb des Logos denken oder glauben wollte.461) Und was die Kapazität der menschlichen Natur Christi für die Teilhaberschaft an den göttlichen Eigenschaften betrifft, so lehrt Chemnitz: In der menschlichen Natur Christi sind durch die persönliche Vereinigung nicht bloß natürliche Eigenschaften, die zum Wesen der menschlichen. Natur natürlicherweise gehören, auch nicht bloß außerordentliche, aber endliche geistliche Gaben, die die Gaben in den Heiligen weit übertreffen, „sondern aus dieser [persönlichen] Vereinigung hat die menschliche Natur in Christo zugleich nach der Schrift gegeben und mitgeteilt erhalten göttliche Majestät, Macht, Leben usw., weil sie die ganze Fülle in sich persönlich wohnend hat”.462) Den Schriftbeweis für die Mitteilung

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461) De duabus naturis, e. V, p. m. 24 sq.: Assumpta natura toti plenitudini, non tantum particulae alicui Deitatis λόγον alicubi agglutinata est, sicut clavus adhaeret rotae, planeta circulo, digitus corpori, civitas mari, vel sicut linea circulum tangit in uno tantum puncto. Sed facta est unio personalis et ad unum υφιστάμενον. Hypostatica vero unio non admittit separationem vel absentiam alterius naturae ab altera quasi alicubi seorsim positae, sed complectitur praesentissimam praesentiam unitarum naturarum inter se. . . . Ad hypostaticae unionis rationem [Wesen] pertinet, quod jam post incarnationem persona τον λόγον extra assumptam naturam et sine ea seorsim et separatim nec pie nec recte vel cogitari vel credi potest aut debet, nec vicissim caro assumpta extra λόγον aut sine verbo.

462) L. c., p. 27: Sed ex hac unione natura humana in Christo sicut totam plenitudinem Deitatis habet in se personaliter inhabitantem, ita simul iuxta Scripturam accepit donatam et communicatam sibi divinam maiestatem, potestatem, sapientiam, vitam etc. …


218  >        Die Lehre von Christo.  [English ed. ~ 197–198]

göttlicher Majestät an die menschliche Nätur fügt Chemnitz sofort hinzu mit den Worten: „Denn der Geist ist Christo nicht nach dem Maß gegeben, Joh. 3; alles ist ihm in die Hände gegeben, Joh. 13; alle Macht ist ihm gegeben, Matth. 28; die ganze Fülle der Gottheit wohnt in ihm leibhaftig, Kol. 2; mit Herrlichkeit und Ehre hat er ihn gekrönt und ihn über alle Werke seiner Hände gesetzt. Hebr. 2; er hat ihn über alle Namen gesetzt, Eph. 1; Christi Fleisch ist lebendigmachend, Joh. 5 und 6; sein Blut reinigt das Gewissen, Hebr. 7.” Noch mehr: Chemnitz weist auch ausdrücklich die reformierte Umdeutung dieser Schriftstellen ab, wonach jene göttlichen Eigenschaften Christo Wohl nach der göttlichen Person des Logos, aber nicht nach der angenommenen menschlichen Natur zukommen sollen.. Er sagt: „Gewisse Leute behaupten, jene der Gottheit eigenen Attribute, die nach Aussage der Schrift Christo in der Zeit gegeben, übergeben oder geschenkt sind, gingen gar nicht die angenommene menschliche Natur an, sondern würden nur der Person beigelegt. . . . Aber die Schrift, wenn sie von den Dingen redet, die Christo in der Zeit gegeben , sind, nennt nicht bloß im allgemeinen die Person, sondern ausdrücklich Christum nach der angenommenen menschlichen Natur, und zwar das Fleisch und Blut desselben, um auf diese Weise anzuzeigen, nach welcher Natur Christus als Empfänger jener Dinge zu verstehen sei, wie Joh. 5: Er gab ihm das Leben und die Macht, das Gericht zu halten, weil oder insofern er (wie Cyrillus es auslegt) des Menschen Sohn ist; so ist auch sein Fleisch lebendigmachend, und macht sein Blut die Gewissen rein von allen Sünden.” So lehrt, fügt Chemnitz noch hinzu, einstimmig das ganze rechtgläubige Altertum, und es hat „jene Leute als Häretiker verworfen, welche behaupteten, daß das, was nach der Lehre der Schrift Christo in der Zeit gegeben sei, nicht von der angenommenen menschlichen Natur, sondern von seiner andern Natur, welche vor der Menschwerdung war, zu verstehen sei”.463) So lehrt Chemnitz von der Kapazität der menschlichen Natur Christi für die göttlichen Eigenschaften.

Insonderheit ist nun aber behauptet worden, daß Chemnitz im Unterschiede von Luther und Brenz, die sogenannte omnipraesentia generalis Christi nach der menschlichen Natur, das heißt, die Gegenwart bei allen Kreaturen, ablehne. Daran hat sich die weitere Behauptung geschlossen, daß" die Konkordienformel in ihrem

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463) V. s., p. 114 sq.


219  >        Übereinstimmung der Lutheraner in bezug auf diese Lehre.  [English ed. ~ 198–199]

achten Artikel, De persona Christi, einen Kompromiß zwischen Chemnitz einerseits und Luther und Brenz andererseits darstelle. In den Zitaten, die aus Luther der Konkordienformel eingefügt sind,464) sei zwar gelehrt, daß seit der Menschwerdung des Sohnes Gottes „alles durch und durch voll Christus sei, auch nach der Menschheit", und werde allerdings die Gegenwart in und bei allen Kreaturen vorgetragen. Aber die eigentliche Lehrdarstellung der Konkordienformel beschränke sich auf die Chemnitzsche „Ubivolipräsenz" oder „Multivolipräsenz", das heißt, auf die Lehre, daß Christus nach seiner Menschheit überall dort gegenwärtig sei, wo er nach seiner Verheißung gegenwärtig sein wolle, also sonderlich im Abendmahl und in der Kirche. So im wesentlichen neuerdings auch Hunzinger in der letzten, in den Vereinigten Staaten weitverbreiteten Ausgabe der Protestantischen Realenzyklopädie.465) Hunzinger meint ,  daher auch, daß die Lehre der Konkordienformel „als eine schwerlich genau fixierbare und eindeutige Kombination Lutherisch-Brenzscher und Chemnitzscher Auffassung" sich erweise. Dieses Urteil beruht auf der irrigen Annahme, daß Chemnitz die Lehre von der praesentia generalis abweise. Die historische Unrichtigkeit dieser Annahme hat schon Hospinian gegenüber Hutter in seiner Concordia Concors nachgewiesen. Insonderheit beruft sich. Hutter auf einen „nach Hessen geschriebenen” brief von Chemnitz.466) Aber Chemnitz lehrt die omnipraesentia generalis auch schon in seiner Schrift De duabus naturis in Christo. Wir setzen die Stelle in extenso hierher, weil auch Frank in seiner „Theologie der Konkordienformel" die ausschlaggebenden Worte ausgelassen hat.467) Chemnitz schreibt: „Bisher haben wir von der Gegenwart der ganzen Person Christi nach beiden Naturen im Abendmahl und in der Kirche aus der Schrift und aus den Zeugnissen der alten Kirche geredet und gezeigt, wie . tröstlich jene Lehre sei. Wenn aber außerdem von andern Kreaturen gefragt wird, die außerhalb der Kirche und Gottes allgemeiner Regierung unterworfen sind, so lehrt die Schrift klar, daß Christo nach der Menschheit als dem HErrn oder, wie die Alten reden, der Menschheit Christi alles unterworfen sei, nicht nur in der Kirche, sondern allgemein (in genere) alles, so daß nichts ausgenommen ist außer der, der ihm alles unter

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464) Müller, S. 692, § 80 ff.        465) Sub „Ubiquität”.

466) Concordia Concors, s. 47, p. 1212 sqq.

467) Theol. der Konkordienf. III, 390.


220  >        Die Lehre von Christo.  [English ed. ~ 199–200]

worfen hat. Und ausdrücklich werden bei jener Unterwerfung genannt die Tiere des Feldes, die Vögel des Himmels, die Fische im Meer und überhaupt alle Werke der Hände Gottes, ob sie im Himmel oder auf der Erde oder unter der Erde sind, auch die Feinde Christi und also auch der Teufel und der Tod selbst, Ps. 8; Phil. 2; Offenb. 4 und 1 Kor. 15, wo als Korrelat der Unterwerfung die Herrschaft gesetzt wird, welche Ps. 8 durch das Wort maschal erklärt wird, welches Wort Macht, Herrschaft, Gewalt über jemand haben und machtvoll ausüben bedeutet. Die menschliche Natur in Christo darf daher von der allgemeinen Herrschaft, welche sie über alle Dinge hat und ausübt, und so von der Verwaltung der Welt nicht ganz ferngehalten und ausgeschlossen werden, weil die Schrift ausdrücklich sagt, daß auch alle Dinge außerhalb der Kirche den Füßen Christi unterworfen seien. Diese Aussagen sind nicht allein von der göttlichen Natur in Christo zu verstehen, sondern eigentlich (proprie) von der Unterwerfung aller Dinge, welche die menschliche Natur in Christo in der Zeit durch die Erhöhung empfangen hat, wie wir im vorhergehenden mit vielen Worten gezeigt haben. Nicht daß die Menschheit abgesondert herrschte, sondern daß die Person in beiden, mit beiden und durch beide Naturen mächtig über alles herrscht, welche Herrschaft die Gottheit des Logos von Ewigkeit besitzt, die Menschheit aber in der Zeit vermöge der persönlichen Vereinigung empfangen hat.” Wer Chemnitz' Worte nur bis hierher liest, könnte allenfalls noch meinen, daß Chemnitz nur eine wirksame, nicht aber eine substantielle Gegenwart Christi nach der menschlichen Natur bei allen Kreaturen lehre. Auch Hunzinger glaubt sich zu der Bemerkung berechtigt: „Praesens ubique dominari ist nicht ubique esse.” 468) Aber Chemnitz weist diese Deutung seiner Worte sofort selbst ab, wenn er hinzusetzt, daß Christus nicht wie weltliche Könige in absentia herrsche, sondern so, daß er überall in dem beherrschten Gebiet gerade auch nach seiner menschlichen Natur gegenwärtig sei. Chemnitz fährt nämlich unmittelbar fort: „Jene aber" — die Menschheit (humianitas) Christi — „herrscht im Logos und mit demselben über alle Dinge nicht aus der Ferne oder durch einen unermeßlichen Zwischenraum getrennt oder durch eine stellvertretende Dienstleistung oder Besorgung der Geschäfte, wie es die Art der Könige ist, wenn ihre Herrschaft sich weithin über viele und ent

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468) RE.3 XX, 195.


221  >        Übereinstimmung der Lutheraner in bezug auf diese Lehre.  [English ed. ~ 200–201]

fernte Provinzen erstreckt, sondern wie sie” (die humanitas) „im Logos ihre Existenz hat, so hat sie auch, insofern sie am Logos persönlich hängt, im Logos alle Dinge vor sich gegenwärtig, und sie herrscht über alle Dinge gegenwärtig im Logos. Wiewohl wir die Art und Weise, wie dies geschieht, nicht verstehen, so glauben wir es doch einfältig, weil wir die menschliche Natur Christi nicht nur in ihrer natürlichen Begrenzung und nicht nur nach ihren wesentlichen und natürlichen Eigenschaften betrachten, sondern vornehmlich in ihrer persönlichen Vereinigung mit der Gottheit und nach dem Besitz jener Erhöhung über alle Namen, nachdem sie alle Gewalt und Herrschaft über alles empfangen hat.” 469) Es ist daher die Annahme, daß in der Konkordienformel ein bewußter 470) oder doch unbewußter 471)Lehrkompromiß zwischen Luther und Chemnitz vorliege, als sachlich nicht begründet abzuweisen. Chemnitz konnte das Lutherisch-Brenzsche „alles durch und durch voll Christus, auch nach der Menschheit" ohne Kompromiß unterschreiben, weil er es selber lehrt, wie wir gesehen haben. Ebenso hätte Luther ohne Kompromiß die Konkordienformel unterschreiben können, wenn er nicht schon 1546 gestorben wäre, weil auch er neben der „Omnipräsenz" die „Volipräsenz" im Abendmahl usw. lehrt. Ganz unnötig rechnet Hunzinger Luther es als Inkonsequenz an, daß dieser neben der substantiellen Gegenwart auch die „Volipräsenz" vortrage, und ebenso unnötig redet er bei Chemnitz von einem „widerspruchsvollen Schwanken", weil bei Chemnitz neben der Volipräsenz auch die Omnipräsenz austauche in den Worten: „daß die hypostatische Union an und für sich utriusque naturae inter se praesentissimam unionem et unitissimam praesentiam begründe, und darum die Menschheit allezeit im Logos gegenwärtig sei und in ihm alle Kreaturen gegenwärtig habe”.472) Tatsache ist, daß beide Martine beides ohne allen Selbstwiderspruch lehren, weil beide an dem neque caro extra λόγον neque λόγος extra carnem als das Wesen der unio personalis konstituierend festhalten und den reformierten Grundirrtum von der nur lokalen und umschriebenen Seinsweise der menschlichen Natur Christi abweisen. Daher fehlt auch zwischen Luther und Chemnitz oder zwischen den „Schwaben” und den „Sachsen" die

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469) De duabus naturis, c. XXX, p. m. 205.

470) Dorner, Glaubenslehre 2 II, 1, 338.

471) Frank, Theol. der Konkordienf. III, 211 ff.

472) RE.3 XX, 189. 195.


222  >        Die Lehre von Christo.  [English ed. ~ 201–202]

nötige Basis für eine Uneinigkeit. Wir berühren hier auch noch einige Punkte, deren Behandlung später, namentlich bei der Lehre von den Ständen, wieder ausgenommen werden muß. Nicht bloß Chemnitz denkt die menschliche Natur Christi als Instrument — freilich als persönliches und mitwirkendes Instrument — der Gottheit zur Ausrichtung des Erlösungswerkes, sondern auch bei Luther ist die menschliche Natur Christi das „Handgezeug” (= instrumentum) der Gottheit,473) und die Mitteilung der göttlichen Eigenschaften an die menschliche Natur ist auch bei Luther nicht „starr physisch", sondern als Wirkung gedacht. Insonderheit läßt Luther gerade auch die omnipraesentia generalis durch den göttlichen Willen gesetzt sein, wenn er sagt: „Weil er” (der Leib Christi durch sein Aufgenommensein in das Ich des Sohnes Gottes) „außer der Kreatur ist, so ist er freilich, wo er will, daß ihm alle Kreaturen so durchläuftig und gegenwärtig sind als einem andern Körper seine leibliche Stätte oder Ort."474) Andererseits kann Chemnitz nicht umhin, mit Luther den Stand der Niedrigkeit nur als Verbergung der.göttlichen Majestät durch teilweisen Nichtgebraüch in der menschlichen Natur zu denken und den Stand der Erhöhung nur als Offenbarung durch völligen Gebrauch der göttlichen Herrlichkeit zu beschreiben. Chemnitz nämlich warnt nicht nur vor der falschen Auffassung der Erniedrigung Christi, als ob während dieses Standes die menschliche Natur Christi nicht die ganze göttliche Herrlichkeit besessen habe, sondern auch vor der falschen Auffassung der Erhöhung, als ob durch dieselbe die menschliche Natur etwas „gleichsam von außen und anderswoher” (quasi ab extra et aliunde) empfangen habe, was sie nicht schon seit der Empfängnis durch die unio personalis hatte. Es fehlt also auch an diesem Punkte die nötige Basis für eine Differenz.475)

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473) St. L. XI, 283.

474) St. L. XX, 949. Das von Luther öfter gebrauchte „durchläuftig" ist die περιχώρησις. Dorner sagt mit Recht von Luther: „Er hat auch die Allgegenwart des Leibes Christi nicht als unendliche Ausbreitung im All oder als Diffusion, sondern als die Macht gedacht, alles sich gegenwärtig zu machen und sich selbst allem in dynamischer Weise. (Glaubenslehre 2 II, i, 333.)

475) L. c., p. 28: Quidam unionem hypostaticam ex statu exinanitionis metientes imaginantur assumptam naturam liumanam ratione unionis tunc non habuisse divinam maiestatem personaliter inhabitantem, quasi scilicet exinanitio sit absentia vel carentia. Deinde fingunt post depositam servilem formam, quidquid assumpta natura excellentiae et praeeminentiae in glorificatione et exaltatione scribitur accepisse, illud eam


223  >        Übereinstimmung der Lutheraner in bezug auf diese Lehre.  [English ed. ~ 202–203]

Freilich ist zuzugeben, daß es unter den lutherischen Theologen an gelegentlichen christologischen Fehden nicht gefehlt hat. Aber diese beruhten teils und vornehmlich auf persönlichen — auch politischen — Verstimmungen,476) teils auf. ungenauen Formulierungen und auf Versehen bei der Darlegung von Einzelheiten.477) Was Chemnitz

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non ex hypostatica cum divinitate unione accepisse et habere, sed quasi ab extra et aliunde in eam allatum. Quae imaginationes cum vera ratione [Beschaffenheit] hypostaticae unionis pugnant et eam evertunt. In primo enim momento conceptionis tota plenitudo divinae essentiae et maiestatis personaliter se assumptae naturae univit et in ea personaliter habitavit. Licet autem ratione exinanitionis se non semper in carne plena et manifesta usurpatione exeruerit, non tamen ideo defuit, ut postea in glorificatione et exaltatione aliunde et quasi ab extra.fuerit in carnem inferenda et deducenda. Aliud enim est aliquid habere, et aliud est illud usurpare.

476) Wir denken hier sonderlich an Heßhusius' und seiner Helmstädter Kollegen nachträgliche ganz unverständige Bekämpfung der Konkordienformel wegen der „leidigen Ubiquität. Heßhusius gibt zu, daß er selbst früher diese „leidige Ubiquität gelehrt haben möge. Aber er will sie jetzt „expungieren”. Heßhusius gibt auch zu, daß „Lutheri testimonium", in dem die „Ubiquität" gelehrt wird, schon zu der Zeit in der Konkordienformel stand, als er sie unterschrieb. Aber er habe bei der Unterschrift „auf die Hauptfach' gesehen, daß die praesentia corporis Christi in Coena aus rechtem Grund göttlichs Worts wird asseriert und demonstriert, und daß viel andere controversiae religionis in Formula Concordiae graviter et nervose seint dezidiert worden. (Ableinung der ganz unerfindlichen Auslagen usw. Diese Schrift der Helmstädter vom Jahre 1585 liegt Mir vor in ,,Acta und Schriften, zum Concordi Buch gehörig und nötig usw. Anonym und ohne Angabe des Drückorts offenbar von einem Calvinisten veröffentlicht 1589 B. 25—27.) Heßhusius und Daniel Hoffmann fühlten.sich bei den Verhandlungen über die Konkordienformel zurückgesetzt, und Herzog Julius war durch einen ernsten Vorhalt von Chemnitz schwer beleidigt. Herzog Julius hatte nämlich aus politischem Interesse seinen Söhnen papistische Weihen erteilen lasten, und Chemnitz hielt ihm vor, daß er seinen Söhnen damit das Zeichen des Antichristen habe ausprägen lasten. (H. Schmid in RE.2 III, 190 f. Gieseler III, 2, 307 ff. Müller, Symb. Bücher, Einl., S. 118 f.)

477) Hierher gehört die Redeweise, namentlich späterer Theologen, daß Nur die göttlichen Eigenschaften der menschlichen Natur direkt mitgeteilt seien, welche der Wahrheit der menschlichen Natur nicht durch aus widerstreben. So Baier III, 68. Gemeint sind die sogenannten ruhenden göttlichen Eigenschaften: Einfachheit, Ewigkeit, Unermeßlichkeit. Die Sache ist richtig, aber die Begründung ist unzutreffend und kann rationalistisch gemißbraucht werden. Denn wenn dagegen die reformierten Theologen sagen, daß auch die sogenannten wirkenden göttlichen Eigenschaften: Allmacht, Allwissenheit und Allgegenwart, der Wahrheit der menschlichen Natur widersprechen, so sind dieselben lutherischen Theologen gezwungen, aus ihren eigentlichen Grund zurückzufallen und zu sagen: Die Schrift sagt nur


224  >        Die Lehre von Christo.  [English ed. ~ 204]

betrifft, so ist neuerdings behauptet worden, daß er von Luthers Lehre abgefallen sei. Wir glauben, im vorhergehenden nicht nur das Gegenteil nachgewiesen, sondern auch klargestellt zu haben, daß es an der nötigen Basis für eine Lehrdifferenz zwischen Chemnitz und Luther fehlt. Man muß aber zugeben, daß Chemnitz an einem Punkte einem reformierten Argnment gegenüber unnötig zurückweicht. Die Reformierten haben bekanntlich von allem Anfang an das Publikum durch die angeblich schreckliche Tatsache bange zu machen gesucht, daß bei der Lehre von einer Allgegenwart Christi nach beiden Naturen die menschliche Natur nicht nur in Holz und Stein, sondern auch an unsaubern Orten, Kloaken usw., gegenwärtig zu denken sei. Chemnitz behandelt diesen Einwurf nun nicht so, daß er diese Gegenwart leugnete. Vielmehr schärft er sowohl in De duabus naturis als auch in dem nach Hessen geschriebenen Briefe ein, daß man keine Kreatur, Stätte oder Raum trennend zwischen die beiden Naturen in Christo treten lassen dürfe. Aber an beiden Stellen gibt er den Rat, die Gedanken von dieser Gegenwart abzuwenden, weil sie nicht erbaulich, sondern für die Einfältigen ärgerlich seien. Auch an die Gegenwart der göttlichen Natur an solchen Orten lasse sich nicht ohne Ärgernis denken. Dagegen ist mit Luther zu sagen, daß der Gedanke an diese Gegenwart nicht ärgerlich und störend, sondern erbaulich und tröstlich ist. Luther erinnert daran, daß Christen zur Zeit der Verfolgung auch in Kloaken geworfen wurden. Und in dieser Situation war es sicherlich sehr tröstlich, daß sie mit ihrer Anrufung Gottes nicht zu warten brauchten, bis sie in eine „geschmückte Kirche" kamen.478) Ärgerlich ist die Teilnahme der menschlichen Natur an der göttlichen Gegenwart in allen Kreaturen erst dann, wenn man wider die Schrift „kindische Gedanken" von der göttlichen Gegenwart hegt, nämlich Gedanken von einer räumlich ausgedehnten Gegenwart der göttlichen Natur und somit auch der mit ihr verbundenen menschlichen Natur. Sobald man diese schriftwidrigen Gedanken, wie sich's gebührt, fahren läßt, hört das „Ärgernis" auf, und ist auch der Befürchtung gewehrt, daß durch die Gegenwart an allen Orten entweder die göttliche oder

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die wirkenden göttlichen Eigenschaften direkt von der menschlichen Natur aus, während sie die ruhenden Eigenschaften indirekt — an den wirkenden — zur Aussage bringt. Die Konkordienformel stellt sich lediglich auf das Schriftprinzip. (M. 685, § 52. 53.) Dieser Gegenstand wird noch unter einem späteren Abschnitt behandelt.

478) St. L. XVIII, 1700 f. Opp. v. a. VII, 141 sq.


225  >        Übereinstimmung der Lutheraner in bezug auf diese Lehre.  [English ed. ~ 204]

die menschliche Natur oder beide mit den Kreaturen vermischt und somit verunreinigt werden könnten.479) Dem Ärgernis ist also nicht mit Chemnitz durch Schweigen über die Gegenwart an allen Orten, sondern mit Luther durch Aufdeckung der schriftwidrigen Gedanken zu wehren, in denen das Ärgernis seinen Grund hat. Daß Chemnitz an diesem einen Punkt vor einem reformierten Argument ausweicht, rechtfertigt er auch nicht durch die hinzugefügte Erinnerung, daß wir uns bei dem hohen Geheimnis der Person Christi in den Grenzen der Schrift zu halten haben und weitere Aufschlüsse im ewigen Leben erwarten sollen. Er hat ja soeben selbst aus der Schrift bewiesen,480) daß Christus nach seiner menschlichen Natur das Universum nicht in absentia regiere, sondern omnia coram se praesentia habere. Auch hat er die Ermahnung hinzugefügt, die Tatsache der Gegenwart bei allen Kreaturen auf das Wort der Schrift hin zu glauben, obwohl das Wie sich unserm Verständnis entziehe. Zudem setzt er auch wieder sofort hinzu, man müsse unter allen Umständen den Grundsatz festhalten, daß die göttliche Natur Christi nirgends außerhalb seiner menschlichen Natur zu denken sei. So stellt Chemnitz sich tatsächlich wieder in Reihe und Glied mit Luther und den „Schwaben", weil ihm — das ist zu wiederholen — die Basis für eine Differenz fehlte.481) Freilich ist hier eine Erinnerung gegen

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479) Auch Kromayer sagt treffend: Absurda nobis obiiciunt: secuturum inde, Christum esse in omnibus cloacis, cantharis, patibulis etc. Sed respondemus κατ'1 ενοταοιν: ita nec Deus ipse creaturis omnibus erit praesens, quia verendum, ne sit in omnibus cloacis, patibulis, cantharis. (Theol. pos.-pol. I, 247.)

480) De duabus naturis, p. 205.        ,

481) Die Worte lauten in De duabus naturis, p. 205: Quod vero praeterea particularius disputatur et quaeritur, cum in ecclesia Christus utraque sua natura adsit et in singulis membris inhabitet ac corpus eius sit in coena, an ita etiam corpus Christi in lignis et lapidibus, in pomis, in avibus coeli, pecoribus campi, piscibus maris, an ibi quaeri et inveniri velit, et quae praeterea auditu foeda, cogitatu abominanda de stercoribus et cloacis, quae etiam de divina natura, quam ubique esse constat, sine blasphemia cogitari aut dici non possunt, attexi solent, cum de huiusmodi quaestionibus non habeamus certum verbum et expressam promissionem, quod ibi velit quaeri et inveniri, nec aliquid vel aedificationis vel consolationis in ecclesia afferant, sed simpliciores offendant, infirmiores perturbent et adversariis praebeant materiam litis nunquam finiendae, simplicissimum et tutissimum est, tales disputationes a nostris argumentationibus et consequentiis retrahere et intra cancellos divinae patefactionis revocare ac intra illas metas nos sollicite continere, ut Christum ibi


226  >          [English ed. ~ 204–205]

neuere Dogmengeschichtler am Platze. Es ist eine Neigung bemerkbar, in der Christologie Chemnitz auf Kosten von Luther und Brenz in den Vordergrund Zu rücken. Man schreibt Luther und Brenz die

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quaeramus et apprehendamus, ubi se adesse velle· certo verbo promisit. Atque ita reliqua, quae vel quaeri solent vel disputari possunt, suspendamus, differamus et reiiciamus ad futuram coelestem illam academiam, ubi coram facie ad faciem Christi, Fratris nostri, gloriam, quae, qualis et quanta sit, videbimus. Omnia enim arcana mysterii huius penetralia pervestigare et perlustrare in hac vita nec possibile nec mandatum nobis est. , Interea tamen non simus tam impii, ut dicamus, Filium Dei universa sua potentia, etiam si vellet, hoc praestare non posse, sed retineamus illud, quod verissimum est, Christum suo corpore esse posse ubicunque, quandocunque et quomodocunque vult, de voluntate vero eius ex patefacto certo verbo iudicemus.. Aus dem nach Hessen geschriebenen Briefe teilt Hutter (Concordia Concors 1690, p. 1213 sq.) folgendes mit: „Zum fünften haben wir uns auch dessen hiebei unterredet, daß der einfältigste, sicherste Weg sei, daß man nicht ex speculatione absolutae ubiquitatis allerlei disputationes einführe und schließe, sed ut ordiamur a verbo patefacto et a promissionibus divinis de praesentia Christi. Licet enim per ascensionem Christus localem, circumscriptam et visibilem suam praesentiam nobis sustulerit, so haben wir gleichwohl tröstliche, ausdrückliche Verheißung, daß der ganze, völlige HErr JEsus Christus (zu welches ganz völliger Person nicht allein die göttliche, sondern die beiden Naturen, göttliche und menschliche, persönlich vereiniget, zusammengehören) gegenwärtig sein wolle und auch sei in seinem Abendmahl und dem Amt des Worts und der Sakramente, auch bei seiner ganzen Kirche, bei allen und jeden derselben Gliedmaßen, wo die allenthalben in dieser ganzen Welt zerstreuet sein. Und wiewohl solches nicht geschieht locali circumscriptione aut visibili praesentia, so haben und glauben wir doch vermöge der angeregten Verheißung, weil die angenommene menschliche Natur in die Person des Sohnes Gottes unzertrennlicherweise durch die persönliche Vereinigung eingesetzt, daß die ganze Person Christi nicht allein mit der göttlichen, sondern auch mit seiner angenommenen menschlichen Natur in seinem Abendmahl, bei dem ministerio verbi et sacramentorum, bei seiner ganzen Kirche, bei allen und jeden derselben Gliedmaßen, wo die allenthalben in dieser ganzen Welt auf Erden zerstreuet sein, vermöge seiner Verheißung gegenwärtig sein wolle und könne. Denn von der Gegenwärtigkeit der Person Christi sollen wir uns in keinem Wege die angenommene Menschliche Natur absondern, trennen oder scheiden lassen, weil das unser höchster Trost ist, daß der HErr JEsus Christus auch nach der Natur und mit der Natur, nach welcher er unser Bruder ist, und wir Fleisch sein von seinem Fleisch, bei uns sein wolle. Denn ja niemand sein eigen Fleisch gehaffet; das ist gar tröstlich. Wenn aber jemand weiter fragen wollte von andern Kreaturen außer der Kirche Gottes, da wissen wir ingemein, daß Christo auch nach seiner angenommenen menschlichen Natur alles unter die Füße getan, alles seiner Gewalt untergeben, daß ihm alles gegenwärtig sei, und  > er gegenwärtig über alles regiere. Wenn man aber disputieren wollte von Holz, Stein oder von andern unsauberen Orten und Händeln, so ist's


227  >        Die mitgeteilte Allgegenwart in den beiden Ständen.  [English ed. ~ 205–206]

größere Kühnheit und Einheitlichkeit, Chemnitz die größere Schriftmäßigkeit zu.482) Dies Urteil ist sachlich nicht begründet. Obwohl der „andere Martinus" sicherlich der größte lutherische Lehrer der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts ist, so reicht er doch an den „ersten Martinus" auch in der sicheren Handhabung der Schrift nicht hinan.483)

Die mitgeteilte Allgegenwart im Stande der Erniedrigung und im Stande der Erhöhung. ^

Auf die Frage, wann Christus nach der menschlichen Natur der göttlichen Gegenwart teilhaftig geworden sei, gibt es nach der Schrift nur eine richtige Antwort: im Augenblick der Empfängnis oder, was dasselbe ist, in dem Augenblick, als der Sohn Gottes Mensch wurde. Dies ist in allen Stellen der Schrift bezeugt, in denen von der Menschwerdung des Sohnes Gottes die Rede ist. Gehen wir von Kol. 2, 9 aus, so müssen wir sagen, daß mit dem παν το πλήρωμα τής ϑεότητος auch die göttliche Allgegenwart in die Menschheit einging. Wen hier wieder die ungeheure Ausdehnung der menschlichen Natur, die damit gesetzt sei, schreckt, der erinnere sich, daß die göttliche Allgegenwart gar keine Ausdehnung hat. Die göttliche Allgegenwart ist zugestandenermaßen nicht größer als „die ganze Fülle der Gottheit”. Hat die ganze Fülle der Gottheit in der menschlichen Natur Christi als in ihrem Platz, so findet auch die göttliche Allgegenwart in derselben genügenden Raum. Nur die modernen Kenotiker haben

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der sicherste Weg, daß solche Fragen eingestellet und solche disputationes abgeschafft werden, weil sie nicht bauen, sondern zur Weitläufigkeit und ärgerlichen Gedanken Ursach' geben, und wir das Geheimnis der persönlichen Vereinigung in Christo in diesem Leben nicht genugsam oder vollkömmlich verstehen; allein daß wir ingemein den Grund behalten, daß keine Kreatur, Ort, Stell' oder Zeit die beiden Naturen in der Person Christi voneinander absondere oder hinter sich lasse, sondern allenthalben, wo er sei, dieselbe persönlich oder nach Art und vermöge der persönlichen Vereinigung in und bei sich habe. Wenn man in und bei solcher Einfalt bleibet, achte ich, sei es am sichersten und einfältigsten und auch der Kirche erbaulich."

482) Seeberg, Dogmengesch. II, 363.

483) Chemnitz beruft sich in De duabus naturis, p. 206, auf einen Ausspruch Luthers in der Jenaer Ausgabe (VIII, 375), wonach auch Luther die Disputation über die generalis omnipraesentia eingestellt wissen wolle. Hutter weist in Concordia Concors, p. 31 sqq., nach, daß dies nicht Luthers, sondern wahrscheinlich Melanchthons Worte seien. Hutter erklärt auch, inwiefern Chemnitz bona fide die Worte Luther zuschreiben konnte.


228  >        Die Lehre von Christo.  [English ed. ~ 206–207]

 

von ihrem Standpunkt aus ein Recht, der menschlichen Natur Christi im Stande der Niedrigkeit die mitgeteilte Allgegenwart abzusprechen, weil sie den Sohn Gottes nicht in der ganzen Fülle seiner Gottheit, sondern minus Allmacht, Allwissenheit und Allgegenwart Mensch werden lassen. Was der Sohn Gottes im Stande der Niedrigkeit nach seiner göttlichen Natur selbst nicht hatte, konnte er natürlich auch seiner menschlichen Natur nicht mitteilen. Alle Antikenotiker aber, das heißt, alle diejenigen, welche den Sohn Gottes unhalbiert, in der Fülle seiner Gottheit, Mensch werden lassen und doch wie die mitgeteilte göttliche Macht und Weisheit, so auch die mitgeteilte göttliche Gegenwart leugnen, treten dadurch in Widerspruch nicht nur mit der Schrift, sondern auch mit sich selbst. Wenn Meyer zu Kol. 2, 9 bemerkt: „Sonach wohnt in Christo in seinem Erhöhungszustande ungeteilt und nach ganzer Fülle das Wesen Gottes", so ist das „in seinem Erhöhungszustande" in den Text eingetragen. Im Text ist für diesen Zusatz keinerlei Andeutung vorhanden. Mit Recht beweisen die alten lutherischen Lehrer aus Kol. 2, 9 die mitgeteilte göttliche Gegenwart auch für den Stand der Niedrigkeit.484) Vor demselben Resultat stehen wir auf Grund von Joh. 1, 14 : "Ό λόγος σάρς εγένετο und den parallelen Aussagen. Seitdem der Logos σάρξ,  also ενοαρκος, incarnatus, geworden ist, hat kein Mensch, erst recht kein Theolog, der der Schrift zu glauben bekennt, ein Recht, den Sohn Gottes außerhalb seiner menschlichen Natur (extra carnem) zu denken. Wo er daher — auch im Stande der Niedrigkeit — den Sohn Gottes, sei es im Himmel, sei es aus Erden, hinsetzt, da muß er auch seine menschliche Natur hinsetzen, es wäre denn, daß er für den Stand der Niedrigkeit das ενοαρκος auszugeben gesonnen wäre. Nicht nur für den Stand der Erhöhung, sondern auch für den Stand der Niedrigkeit gilt das Axiom: Neque λόγος extra carnem, neque caro extra λόγον. Wen bei diesem Schriftgemäßen Axiom abermals der Gedanke an die Ausdehnung der menschlichen Natur beunruhigen will, der tröste sein Herz wiederum durch die Erinnerung, daß die Ausdehnung keine Eigenschaft der göttlichen Allgegenwart ist, und daß dieses non-ens daher auch der menschlichen Natur nicht mitgeteilt wurde.

Wenn wir aber festhalten, daß Christo nach der Menschheit auch schon im Stande der Niedrigkeit die über allen Raum

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484) Quenstedt II, 667.


229  >        Die mitgeteilte Allgegenwart in den beiden Ständen.  [English ed. ~ 207]

erhabene göttliche Gegenwart zükomme, so tritt man uns vornehmlich mit einem doppelten Einwurs entgegen: 1. daß damit der Ständeunterschied, das heißt, der Unterschied zwischen dem status exinanitionis und exaltationis, gefährdet erscheine; 2. daß damit ein unerträglicher „Dualismus" eingesührt werde, insofern durch die mitgeteilte Allgegenwart Christi menschliche Natur schon im Stande der Niedrigkeit zugleich auf Erden und im Himmel sei. Dadurch aber werde Christus und sein ganzer Wandel aus Erden zu einem „Phantasma", zu einer „gespenstigen Erscheinung", herabgedrückt.

Was den ersten Einwurs betrifft, so gilt allerdings für beide Stände: „Wo du mir Gott hinsetzest, da mußt du mir die Menschheit mit hinsetzen", weil in beiden Ständen der Logos ενοαρκος ist. Aber die Gegenwart ist in den beiden Ständen nicht von derselben Beschaffenheit. Im Stande der Niedrigkeit ist der Sohn Gottes in seiner menschlichen Natur dem All und der Kirche gegenwärtig. Im Stande der Erhöhung aber ist er dem All und der Kirche auch durch seine menschliche Natur gegenwärtig, das heißt, in der Weise gegenwärtig, daß alle göttlichen Wirkungen auf die Welt und die Kirche sich durch die menschliche Natur vollziehen. Über diese Sachlage sollte sich niemand wundern. Sie tritt uns nicht erst bei der göttlichen Allgegenwart entgegen. Es verhält sich vielmehr mit der göttlichen Gegenwart genau so wie mit der göttlichen Macht und dem göttlichen Wissen. Die göttliche Allmacht war im Stande der Niedrigkeit jederzeit in der menschlichen Natur, aber sie betätigte sich nicht jederzeit und allen Objekten gegenüber durch die menschliche Natur. So zum Beispiel war die göttliche Allmacht in der menschlichen Natur, als Christus gegriffen, verurteilt, geschlagen, verspien, ans Kreuz geschlagen wurde und starb.485) Aber die göttliche Allmacht betätigte sich nicht durch die menschliche Natur diesen Ereignissen gegenüber. Es hätte sonst weder zur Gefangennahme und Verurteilung noch zum Leiden und Sterben kommen können. Auch die göttliche Allwissenheit war im Stande der Niedrigkeit zu allen Zeiten in der menschlichen Natur Christi. Aber auch diese göttliche Eigenschaft betätigte sich nicht allezeit und allen Objekten gegenüber durch die menschliche Natur, wie wir aus Luk. 2, 62 und Mark. 13, 32 ersehen: Christus nahm zu an Weisheit und wußte den Jüngsten Tag nicht. Ebenso verhält es sich nun auch

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485) Joh. 18, 6; Matth. 26, 63. 64; 1 Kor. 2, 8 usw.


230  >        Die Lehre von Christo.  [English ed. ~ 208]

mit der göttlichen Allgegenwart. Mit der ganzen Fülle der Gottheit wohnte vom Moment der Menschwerdung an natürlich auch die göttliche Allgegenwart in Christi menschlicher Natur als in ihrem σώμα, und der Sohn Gottes war auch im Stande der Niedrigkeit überall, wo er war, in seiner menschlichen Natur. Aber erst mit der Erhöhung nach seiner menschlichen Natur wurde der Sohn Gottes durch seine menschliche Natur dem All und der Kirche gegenwärtig. Die Gegenwart nach der menschlichen Natur wurde zur allmächtigen oder allwirksamen Gegenwart durch die menschliche Natur. Diese Distinktion ist nicht eine menschliche Erfindung. Vielmehr ist dieser Fortschritt von der Allgegenwart in der menschlichen Natur zu der Allgegenwart durch die menschliche Natur überall dort in der Schrift gelehrt, wo von Christo ausgesagt wird, daß ihm nach Tod und Auferstehung durch die Erhöhung zur Rechten Gottes alles Existierende unter die Füße getan, er der Kirche zum Haupt gegeben sei, und daß er sowohl das All als auch die Kirche wirkend erfülle.486) Die Allgegenwart im Stande der Erhöhung ist praesentissimum ac potentissimum in omnes creaturas dominium nach der menschlichen Natur.487)

An diesem Punkte setzt die reformierte Theologie von der Admonitio Neostadiensis an bis auf die neueste Zeit mit einem Einwurf ein, den sie für unwiderleglich hält. Sie sagt nämlich: Hat sich die göttliche Allgegenwart, als allwirksame göttliche Gegenwart gefaßt, erst nach der Erhöhung durch die menschliche Natur völlig betätigt, so war sie vor der Erhöhung, also im Stande der Niedrigkeit, von der menschlichen Natur getrennt, und somit ist in die Lehre von der unzertrennlichen Gemeinschaft der Naturen (realis communio naturarum), die die Lutheraner unter

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486) Eph. 1, 20—23; 4, 10; Matth. 28, 20.

487) Spätere Dogmatiker unterscheiden zur Auseinanderhaltung der Stände zwischen omnipraesentia intima und extima oder auch zwischen omnipraesentia partialis (ohne Herrschaft durch die menschliche Natur) und totalis sive modificata (mit Herrschaft durch die menschliche Natur). Nur muß dabei die Erinnerung von Scherzer nicht vergessen werden, daß auch die praesentia intima oder partialis als praesentia substantialis (natürlich ohne physische Ausdehnung) zu denken sei. Scherzer, Systema VIII, 224: Cum praesentia divina partialiter άδιαοταοίαν, totaliter praeter indistantiam simul operationem denotet: Christus dominio quidem se evacuavit, άδιαοταοίαν vero retinuit.. Scherzer behandelt die verschiedene Beschaffenheit der Gegenwart in den beiden Ständen sehr ausführlich, sowohl der Sache nach als dogmengeschichtlich, l. c., p. 221—238.


231  >        Die mitgeteilte Allgegenwart in den beiden Ständen.  [English ed. ~ 208–209]

allen Umständen festhalten wollen, von ihnen selbst eine unverschließbare Bresche gelegt. Allein dieser Einwurf trifft in bezug auf die Allgegenwart ebensowenig zum Ziel wie bei der göttlichen Allmacht. Wie die göttliche Allmacht von der menschlichen Natur nicht dadurch getrennt wurde, daß sie sich nicht durch die menschliche Natur, zum Beispiel bei der Gefangennahme, Kreuzigung usw., betätigte, so wurde auch die göttliche Allgegenwart nicht dadurch von der menschlichen Natur getrennt, daß sie sich im Stande der Niedrigkeit als allwirksame Gegenwart nicht durch die menschliche Natur betätigte. Es ist dagegen von einer Seite geltend gemacht worden, daß man sich allenfalls die göttliche Allmacht als in der menschlichen , Natur „ruhend" vorstellen könne, aber in bezug auf die göttliche Allwissenheit und sonderlich in bezug auf die göttliche Allgegenwart sei der Gedanke an ein „Ruhen" innerhalb der menschlichen Natur, also eine Unterscheidung zwischen κτήσις und χρήσις einfach „Nonsens”. Allein der „Nonsens" ist lediglich subjektiv. Er hat seinen Sitz in dem „dogmatisierenden Subjekt", insofern dieses hartnäckig an der irrigen Vorstellung von einer räumlichen Ausdehnung der göttlichen Allgegenwart festhält. Nur insofern man sich von dieser schriftwidrigen Vorstellung beherrschen läßt, kommt man auf den Gedanken, daß im Stande der Erhöhung ein Territorium besetzt wurde, das im Stande der Niedrigkeit nicht gedeckt war.

Der zweite Einwurf lautete dahin, daß durch die mitgeteilte Allgegenwart Christi menschlicher Natur im Stande der Niedrigkeit ein gleichzeitiges Sein auf Erden und im Himmel zugeschrieben werde. Das sei aber ein „Dualismus", der Christi Person und Wandel auf Erden auf ein Phantasma zu reduzieren drohe. Lassen wir zunächst diese Folgerung beiseite, und fassen wir nur die These ins Auge. Über die These, daß Christo im Stande der Niedrigkeit nach der menschlichen Natur ein gleichzeitiges Gegenwärtigsein auf Erden und im Himmel zukomme, sollten sich Lutheraner und Reformierte leicht verständigen können. Calvin sagt ganz richtig, daß der Sohn Gottes vom Himmel herabgekommen sei, ohne jedoch den Himmel zu verlassen.488) Calvin bekennt also ausdrücklich, daß die Person des Sohnes Gottes auch bei ihrem Sein auf Erden, also bei ihrem Sein in der Krippe, in Galiläa, in Jerusalem usw., im Himmel blieb. Calvin bekennt zum andern,

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488) Instit. II, 13, 4: Mirabiliter e coelo descendit Filius Dei, ut coelum tamen non relinqueret..


232  >        Die Lehre von Christo.  [English ed. ~ 209–210]

daß die menschliche Natur Christi von allem Anfang an und während des ganzen Standes der Niedrigkeit in die Person des Sohnes Gottes ausgenommen war. Calvin muß daher, solange er bei seinen beiden richtigen Sätzen bleibt, zugestehen, daß Christus auch nach seiner menschlichen Natur schon vom Moment der Menschwerdung an und während des ganzen Standes der Niedrigkeit im Himmel war. Mit andern Worten: Jeder, der die Menschwerdung des Sohnes Gottes, das heißt, das Aufgenommensein der menschlichen Natur in die Person des Sohnes Gottes, lehrt und dabei mit Calvin richtig den Sohn Gottes im Himmel bleiben läßt, lehrt so ixso, daß Christus nach seiner menschlichen Natur zugleich auf Erden und im Himmel war. Das Sitzen zur Rechten Gottes im Sinne der allgegenwärtigen Herrschaft durch die menschliche Natur kommt Christo erst im Stande der Erhöhung zu. Aber das Sein im Himmel vermöge der unio personalis wird ihm schriftgemäß auch schon im Stande der Niedrigkeit zugeschrieben. Daß die reformierten Theologen hiergegen Protest einlegen, kommt daher, daß sie an diesem Punkte wieder, wie oft, die von ihnen zugegebene unio personalis preisgeben und auf eine unio mystica reduzieren. Sie haben hier einen Einwand erhoben, der auch einige Lutheraner irregemacht hat. Um es recht handgreiflich zu machen, daß Christi menschliche Natur bei seinem Sein auf Erden nicht zugleich im Himmel sein konnte, wies Zwingli auf die Tatsache hin, daß Christus auf Erden gegessen und getrunken, geschlafen und geruht habe, ja gekreuzigt, gestorben und begraben sei. Diese Dinge aber schickten sich offenbar nicht für den Himmel. Daher könne Christus im Stande der Niedrigkeit nach seiner menschlichen Natur nicht zugleich im Himmel gewesen sein. Durch diesen Einwurf ließ sich auch der sonst treffliche Althofer so verwirren, daß er die Worte Joh. 3, 13: ό ών εν τώ ούρανφ nicht nur mit „der im Himmel war” ubersetzte und auf Christi ewiges Sein im Himmel nach der göttlichen Natur bezog, sondern auch hinzufügte, es sei absurd, Christo im Stande der Niedrigkeit ein Sein im Himmel zuzuschreiben, weil daraus folgen würde, daß Christus auch im Himmel gegessen und geschlafen habe usw.489) Quenstedt bemerkt Althofer gegenüber nur: „Ich wundere mich, daß ein sonst so gelehrter Theolog so grob (crasse) von diesem höchsten Geheimnis denkt und redet.” 490) Luther faßt den reformierten Einwurs

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489) Harmonia Evangelistarum zu Joh. 3, 13.        490) Systema II, 567.


233  >        Die mitgeteilte Allgegenwart in den beiden Ständen.  [English ed. ~ 210–211]

energischer an. Er weist nach, daß das vom Essen, Schlafen usw. hergenommene Argument, wenn es etwas beweise, noch stärker gegen die unio personalis von Gott und Mensch in Christo rede. Schickt sich das Essen und Trinken nicht für das Sein im Himmel, so erst recht nicht für das Sein der menschlichen Natur in der Gottheit, da man doch auch nach menschlicher Rechnung in der Gottheit nicht esse, trinke, schlafe, leide, sterbe und sich begraben lasse. Wenn Zwingli aber bei allen diesen Vorgängen die menschliche Natur Christi in der Gottheit, das ist, in der unio personalis, lasse, so könne er sie auch ohne alle Bedenken im Himmel lassen. Luther schreibt: „Der grobe Geist weiß noch nicht, was im Himmel sein heißt, und will Folgerei darinnen treiben. Denn da ich sagte, wie Christus' Leib im Himmel war, da er noch auf Erden ging, wie Joh. 3, 13 steht: ,Des Menschen Sohn, der im Himmel ist', hilf, Gott, wie hat er da zu folgern und zu gaukeln! Wie könnte, spricht er, Christus dazumal im Himmel sein? Ißt und trinkt man auch im Himmel? Stirbt und leidet man auch im Himmel? Schläft und ruht man auch im Himmel? Siehe, wohin du kommst, du toller Luther; pfui dich mal an! Wie dünkt dich um diesen Sieg des Geistes? Konstantinopel hat er hiermit gewonnen und den Türken gefressen. . . . Ein frommer Christ sage mir, ob's nicht höher und größer ist, daß die Menschheit [Christi] in Gott, ja mit Gott eine Person ist, denn daß sie im Himmel ist? ... So wollt' ich nun auch wohl aus der Zwingelischen Kunst folgern und gaukeln: Jsset und trinket man auch in der Gottheit? Stirbt und leidet man auch in der Gottheit? Siehe, wohin du kommst, du toller Johannes Evangelist, der du lehren willst, daß Christus Gott und in der Gottheit sei! Denn so bei Gott kein Sterben noch Leiden noch Essen noch Trinken ist, so kann Christus' Menschheit nicht bei Gott sein; viel weniger kann sie mit Gott eine Person sein. . . . Kann nun Christus zugleich auf Erden leiden und sterben, ob er wohl in der Gottheit und mit Gott eine Person ist, warum sollte er nicht vielmehr auf Erden leiden können, ob er schon zugleich im Himmel ist? Sollt's der Himmel hindern, viel mehr würde es die Gottheit hindern.” 491) So tritt uns allerdings auch an diesem Punkte wiederum klar entgegen, daß die Argumente, mit denen die reformierten Theologen die Mitteilung der göttlichen Eigenschaften an die menschliche Natur — hier das Sein im Himmel —

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491) St. L. XX, 965 f.


234  >        Die Lehre von Christo.  [English ed. ~ 212]

bekämpfen, die unio psrsonalis selbst treffen, die sie doch gegen die Unitarier sesthalten wollen. Wer die unio personalis sesthält, kann Christi menschliche Natur auch im Stande der Niedrigkeit nicht vom Sein im Himmel ausschließen.

Es ist im vorhergehenden schon wiederholt die Stelle Joh. 3,13 erwähnt worden. Daß Christi menschliche Natur aus Erden zugleich im Himmel war, sieht Luther mit Recht bereits in allen Schriftsteller: gelehrt, welche bezeugen, daß Christus Gott ist. In dem Menschen Christus war Gott auf Erden und der Mensch im Himmel. Diese Tatsache findet Luther nun auch Joh. 3, 13 bezeugt, wo Christus im Gespräch mit Nikodemus von sich sagt: „Niemand ist aufgestiegen in den Himmel außer der vom Himmel Herabgestiegene, der Menschensohn, welcher im Himmel ist” (ο ών εν τφ ονρανώ). Luther bezieht die Worte „der im Himmel ist" auf Christum nach der menschlichen Natur. Und Luther hat recht. Es ist bekannt, daß nicht nur Zwingli und Calvin, sondern auch viele Theologen außerhalb des reformierten Lagers diese Worte von Christo nach der göttlichen Natur verstehen und die Beziehung aus Christum nach der menschlichen Natur ablehnen. Aber der Text ist nicht schuld an dieser Exegese, die die ganze Beweisführung Christi durchbrechen würde. Luther berichtet, daß Ökolampad über Pirkheimer spottete, als dieser die Worte „der im Himmel ist" aus Christum nach der menschlichen Natur bezogen hatte. Luther bemerkt dazu: „Wenn , ich Pirkheimer wäre, wollte ich Ökolampad eine Brille schicken und bitten, daß er die Buchstaben doch wollt' zählen, ob's helfen möchte, daß sie nicht so leichtfertig über die Sprüche der Schrift hinführen und uns dafür ihre Träume in die Bücher klickten.” 492) Luthers entschiedene Sprache ist berechtigt. Christus redet hier in dem Gespräch mit Nikodemus von sich gerade nach der Menschheit. Freilich ist Christus seiner Gottheit nach im Himmel. Aber das kommt hier nicht in Frage. Nach dem Kontext kommt in Frage, ob Christus, insofern er in menschlicher Gestalt und in menschlicher Rede, also als Mensch, mit Nikodemus verkehrt, letzterem über die himmlischen Dinge, zu denen kein Mensch Zutritt hat (ονδεις άναβέβηκεν εις τον ουρανόν),  zuverlässigen Bericht geben kann. Dies bejaht Christus durch die Aussage, daß der vom Himmel Herabgekommene und nun aus Erden mit Nikodemus redende Menschensohn

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492) St. L. XX, 812 f.


235  >        Die mitgeteilte Allgegenwart in den beiden Ständen.  [English ed. ~ 212–213]

im Himmel ist. Der Gedanke ist kurz dieser: Der Menschensohn redet auf Erden himmlische Dinge, weil er als der auf Erden Redende im Himmel ist. Wollte man das Sein im Himmel auf die göttliche Natur beschränken und die menschliche Natur, nach welcher Christus mit Nikodemus redet, vom Sein im Himmel ausschließen, so würde man damit, wie bereits bemerkt wurde, die Beweisführung Christi durchbrechen. Man würde nämlich den klaren Zusammenhang zwischen dem Sein im Himmel und dem zuverlässigen Bezeugen der himmlischen Dinge durchschneiden.493) Selbst Calvin konnte sich dem Eindruck des klaren Wortlauts nicht entziehen.494) Es kommt ihm zwar „absurd" vor, daß Christus von sich das esse in coelo aussage zu der Zeit, da er doch auf Erden wohnte. Aber er gesteht: wenn man antworten wollte, daß das hinsichtlich der Gottheit wahr sei, so laute der Ausdruck anders, nämlich dahin, daß der Mensch selbst zu der Zeit im Himmel gewesen sei. Calvin hilft sich dann mit der Zwinglischen Ällöosis: was der göttlichen Natur eigen sei, werde auf die menschliche übertragen, natürlich ohne sachlichen Hintergrund, bloß rhetorisch. Aber Christus will hier gerade den sachlichen Hintergrund angeben, .warum der Menschensohn himmlische Dinge offenbaren kann, und der Grund ist der, daß der Menschensohn im Himmel ist. Luther bemerkt zu Joh. 3, 13: „Christus redet hier ... von der himmlischen Gemeinschaft mit dem Vater, die nicht an leiblich Wesen, Ort und Stätte gebunden, welche er von Ewigkeit gehabt und auch in menschlicher Natur, sobald er dieselbige angenommenem solchem himmlischen Wesen allezeit gewesen und geblieben ist," 495) An einer andern Stelle schreibt er zu den Worten „Niemand führet gen Himmel, denn der herabgefahren ist, des Menschen Sohn, der im Himmel ist": „Damit er [Christus] ja anzeigt, daß sein Leib zugleich im Himmel und auf Erden, ja schon bereits an allen Enden ist. Denn er ist durch seine Verklärung nicht eine andere Person worden, sondern wie vorhin, so auch hernach allenthalben

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493) Am gründlichsten durchschneidet die Gedankenverbindung die schon früher (Note 378) erwähnte Bemerkung der englischen Ausgabe des Meyerschen Kommentars: "He, while on earth, was still in heaven (3, 13), yet not de facto, but de iure.” Hierdurch wird dem Heiland das Argument untergeschoben: „Ich offenbare die himmlischen Dinge, zu denen kein Mensch Zutritt hat, weil ich zwar auch nicht im Himmel bin, aber doch ein Anrecht an den Himmel habe."

494) Im Kommentar zu Joh. 3, 13.        495) XI, 1189.


236  >        Die Lehre von Christo.  [English ed. ~ 213–214]

gegenwärtig.” 496) Um nicht auf Grund von Joh. 3, 13 Christo nach der menschlichen Natur ein Sein im Himmel zugestehen zu müssen, haben sich reformierte Theologen auf Joh. 8,59: „Ehe denn

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496) St. L. XX, 812 f. — Joh. 3, 13 gehört zu den Bibelstellen, die von den Auslegern viel erlitten haben. Es ist an der Stelle weder von der Himmelfahrt Christi nach der Auferstehung die Rede, wie auch alte lutherische Theologen sich die Auffassung dieser Stelle verbaut haben, noch auch von dem raptus in coelum, den Sozinianer hier unterbrachten (Cat. Racov., ed. Öder, p. 347 sqq.), noch auch davon, daß Christus zum Zweck des Lernens alle Tage πνενματι in den Himmel gefahren sei, wie Böhl gar wunderlich deutet (Dogmatik, S. 340), sondern die Worte besagen, daß der Menschensohn zu der Zeit, wo er mit Nikodentus redet, im Himmel ist und darum über die himmlischen Dinge glaubwürdigen Aufschluß geben kann. Der Zusammenhang ist dieser: Christus fordert von Nikodemus Glauben in bezug auf die von ihm zu bezeugenden himmlischen Dinge, und diese Forderung begründet er durch den Hinweis auf die Tatsache, daß kein Mensch außer dem Menschensohn um die himmlischen Dinge weiß und sie kundtun kann. Daß kein Mensch um die himmlischen Dinge weih, sagt er in den Worten: „Niemand ist aufgestiegen in den Himmel", nämlich um daselbst die himmlischen Dinge zu erkunden. Parallel ist 1, 18: „Niemand hat Gott je gesehen.” Daß aber der Menschensohn um die himmlischen Dinge weiß und sie kundtun kann, drückt er aus mit den Worten, daß der Menschensohn vom Himmel herabgekommen und im Himmel ist. Wie der Vater bei der Verklärung Matth. 17 alle Welt an des Sohnes Mund bindet mit den Worten: „Dies ist mein lieber Sohn, . . . den sollt ihr hören", so bindet hier im Gespräch mit Nikodemus der Sohn selbst alle Menschen an seinen Mund durch die Worte: „Niemand ist in den Himmel aufgestiegen außer der vom Himmel Herabgestiegene, der Menschensohn, der im Himmel ist.” Richtig bemerkt Meyer, daß die Worte ό ών εν τοΐς ονρανοΐς „argumentativ" sind, also den Grund angeben, weshalb der Menschensohn in der Lage ist, die himmlischen Dinge, zu denen kein Mensch Zutritt hat, bezeugen zu können. Nur geht Meyer dem spezifischen Gehalt dieser Stelle dann wieder dadurch aus dem Wege, daß er willkürlich hinzusetzt: Die Worte „setzen das im Himmel Gewesensein notwendig voraus”. Die Worte hier lauten nicht bloß auf ein Gewesensein, sondern auch auf ein Sein im Himmel, wie Meyer unmittelbar vorher anerkannt hat, wenn er zu ο ών εν τοΐς ονρανοΐς hinzusetzt: „wobei ό ών nicht gleich δς ήν, sondern δς έοτι ist, dessen Sein im Himmel ist”. Daß die Worte ο ών εν τοΐς ονρανοΐς in א [HEBREW] BL fehlen, kann uns nicht bewegen, sie zu streichen, da Origenes zu Röm. 10, 6 die Worte gelesen hat. (Vgl. Alford.) Gut und klar Michael Walther in der Harmonia Biblica zur Stelle, indem er zugleich die Beziehung auf die Himmelfahrt Christi nach der Auferstehung abweist: Augustinus, Beda et Rupertus exponunt de ascensione post resurrectionem. Sed in Graeco habetur praeteritum άναβέβηκεν. Simplicius per communicationem idiomatum phrasis explicatur, hisce enim verbis Christus mysterium istud aperit, quod, licet humana ipsius natura naturaliter et localiter eo tempore tantummodo in terria cum Nicodemo fuerit, imo loco verissime circumscripta, λόγος tamen nusquam fuerit, sive in coelo, sive in terra, ubi non eandem illam


237  >        Die mitgeteilte göttliche Ehre.  [English ed. ~ 214–215]

Abraham ward, bin ich” und auf Joh. 6, 62: „Der Menschensohn wird auffahren, da. er zuvor war” berufen. Wie an diesen Stellen Christus von sich nur nach seiner göttlichen Natur rede, so auch Joh. 3, 13 in den Worten: „der im Himmel ist”. Aber das ist eine Täuschung. An den erstgenannten Stellen sagt Christus ausdrücklich, daß er von sich vor seiner Menschwerdung rede, nämlich von seinem Sein vor Abraham und von seinem Sein im Himmstl, ehe er durch die Menschwerdung vom Himmel herabkam (οπον ψ το πρότζρον). Joh. 3,13 aber redet Christus ganz entschieden nicht von sich vor seiner Menschwerdung, sondern davon, wo er nach seinem Herabkommen vom Himmel (ο εκ τον ουρανοϋ καταβάς) und zu der Zeit und Stunde ist, wo er mit Nikodemus m menschlicher Rede verkehrt und diesem über die himmlischen Dinge Zuverlässigen Bericht gibt, nämlich im Himmel. Und was endlich das „Gespenst” betrifft, in das der Mensch Christus angeblich verwandelt wird, falls er bei seinem Sein auf Erden zugleich im Himmel ist, so ist zu sagen: ist der Mensch Christus auf Erden zugleich „in der Gottheit", das heißt, mit Gott eine Person, ohne in ein Gespenst verwandelt zu werden, so steht das Gespenstwerden auch nicht zu befürchten, wenn der Mensch Christus auf Erden zugleich im Himmel ist.

Die mitgeteilte göttliche Ehre. ^

Die Trennung der menschlichen Natur Christi von der göttlichen Ehre des Sohnes Gottes ist ein so klar zutage liegender Verstoß gegen die unio personalis, daß ein Teil der reformierten Lehrer an diesem Punkt den Grundsatz Finitum non est capax infiniti fahren läßt und Christi menschlicher Natur wegen ihrer Vereinigung mit der göttlichen Natur göttliche Ehre zugesteht. Es ist dies freilich eine Inkonsequenz, weil das Prädikat der göttlichen Ehre nicht nur auf gleicher Linie mit den Prädikaten der göttlichen Macht und der andern göttlichen Eigenschaften liegt, sondern die mitgeteilte göttliche Ehre auch das Resultat der mitgeteilten Fülle der göttlichen Natur und ihrer Eigenschaften ist, und göttliche

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humanitatem sibi in personae suae unitate extra et supra omnem locum ineffabiliter unitam et personaliter praesentem habuerit, quandoquidem totus Christus incarnatus et Filius hominis factus est. Non ergo λόγος nudus et ab humana natura separatus, sed λόγος incarnatus Filiusque hominis factus in coelo est personaliter cum in terris stat naturaliter, ubi neutra praesentia impedit aut tollit alteram.


238  >        Die Lehre von Christo.  [English ed. ~ 215–216]

Ehre ohne mitgeteilte göttliche Macht und Herrlichkeit als Götzendienst anzusehen wäre. Die Schrift begründet die Mitteilung der göttlichen Ehre ausdrücklich mit der Mitteilung der göttlichen Eigenschaften und Werke.497) Aber bei einem Teil der reformierten Theologen findet sich tatsächlich die Inkonsequenz, daß sie die mitgeteilte göttliche Natur, Macht, Allwissenheit usw. abweisen, aber für die mitgeteilte göttliche Ehre eintreten. So schreibt selbst Hospinian, der heftige Bekämpfer der Konkordienformel: „Bei den Orthodoxen ist außer Streit, daß der ganze Christus, Gott und Mensch, in einer Anrufung anzubeten sei, und bei der Anbetung die Menschheit von der Gottheit nicht getrennt werden könne noch dürfe, weil sie Gottes Menschheit und mit dem Wort vereinigt ist.” Die versuchte Umbiegung in das Land der Ällöosis Zwinglis will Hospinian nicht gelingen, wenn er hinzusetzt: „Eigentlich wird die Gottheit in der Menschheit als in ihrem Tempel angebetet, weshalb Kyrill die Menschheit eine anbetungswürdige Natur (adorabilem naturam) nennt. Denn wegen der Vereinigung wird der ganze Christus angebetet und daher mit dem Wort auch das Fleisch."498) Der einige Seiten später 499) wiederholte Versuch mißlingt ebenso. Wenn Hospinian schreibt: „Die Ursache dieser Ehre oder Anbetung ist nur die anbetungswürdige Vereinigung des Fleisches mit dem Wort, welche [Vereinigung] eigentlich angebetet wird", so setzt Gerhard mit Recht hinzu: „Nicht die Vereinigung selbst wird angebetet, sondern die vereinigten Naturen.” Auch römische Schreiber gestehen Christo nach der menschlichen Natur göttliche Ehre zu. So schreibt neuerdings der Jesuit Drum in der Catholic Encyclopedia: “Sinee the human nature is the real and true nature of Christ, that human nature and all its parts are the object of the cult called latria, i. e., adoration..” 500) Hingegen sind andere reformierte und römische Theologen konsequent. Sie wollen Christum nach seiner menschlichen Natur auch von der göttlichen Ehre ausgeschlossen wissen. Zanchi meint, es lasse sich nicht aus der Schrift erweisen, daß Christo nach der menschlichen Natur göttliche Verehrung zukomme.501) Beza drückt sich nach seiner Gewohn

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497) Joh. 5, 22 ff..

498) De orig. et progressu F. C., f. 293. Vgl. die Zitate aus reformierten Schriften bei Gerhard, De pers., § 241 sqq.

499) L. c. f. 295.

500) The Catholic Encyclopedia unter "Incarnation", Vol. VII, 716.

501) De incarnat. Filii Dei, 1. 1, coi. 198.


239  >        Die mitgeteilte göttliche Ehre.  [English ed. ~ 216–217]

heit kräftiger aus. Er nennt die göttliche Verehrung Christi nach der menschlichen Natur „erschrecklichen Götzendienst” (horrendae idololatriae crimen) .502) Noch andere Reformierte und Römische bieten uns hier einen Kompromiß an. Sie wollen Christo nach der menschlichen Natur eine Verehrung erweisen, die weder rein göttlich noch rein menschlich, sondern eine Art Mittelding zwischen beiden ist. Die Reformierten reden von einem cultus mediatorius. Die Römischen wollen Christo nach der menschlichen Natur dieselbe Ehre wie der Jungfrau Maria zugestehen, nämlich die ύπερδουλεία, indem sie Gott allein die λατρεία und den Engeln und den Menschen die δονλεία zuweisen.

Es erscheint fast ungehörig, wenn man für die Tatsache, daß Christo nach seiner menschlichen Natur auch göttliche Ehre gegeben sei, nur eine mehr oder minder lange Reihe von Schriftaussagen vorführen will. Nicht der λόγος άσαρκος, sondern der Sohn Gottes, insofern er im Fleische erscheinen sollte und in der Fülle der Zeit im Fleische erschienen ist, also der Sohn Gottes gerade auch nach seiner menschlichen Natur, der Sohn Gottes als Weibessame, als Abrahams Same, als Davids und Mariä Sohn, ist der Skopus der Schrift vom ersten Buch bis zum letzten und wird allen Menschen auf Erden als der Heiland vorgestellt, an den alle glauben und den alle als ihren Gott und Heiland anbeten sollen. Der Sohn Gottes, insofern er nach dem Tppus der Schlange in der Wüste ans Kreuz erhöht ist, also nach der menschlichen Natur, ist Gegenstand des gläubigen Anschauens derer, die die Seligkeit erlangen.503) Wer das Fleisch des Menschensohnes nicht ißt und sein Blut nicht trinkt, das heißt nach dem Kontext, nicht an den Sohn Gottes glaubt, insofern er nach der menschlichen Natur sein Leben in den Tod gegeben und sein Blut vergossen hat, der hat kein Leben in sich.504) Auch im Himmel ist der Gegenstand der Anbetung das Lamm, das erwürget ist.505) Damit ist die Qualität der Verehrung Christi nach der menschlichen Natur schon genügend als cultus vere divinus gekennzeichnet. Der Grundsatz ist schriftgemäß: „An wen wir als unfern Seligmacher glauben, dem erweisen wir göttliche Ehre.” 506) Aber noch mehr: Die geringere Ehre, welche Reformierte

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502) Opp., Vol. 2, Apolog. 3 ad Selnecc., p. 462. Bei Quenstedt II, 287.

503) Joh. 3, 14—16.        504) Joh. 6, 53.        505) Offenb. 5, 8—12.

506) Scherzer:  In quem credimus, illum religiose adoramus, Rom. 10,14.  At in Christum hominem credimus, Ioh. 3, 16. Ergo. (Systema, p. 81.)


240  >        Die Lehre von Christo.  [English ed. ~ 217–218]

und Papisten Christo nach der menschlichen Natur erzeigen wollen, ist in der Schrift ausdrücklich verboten, wenn sie sagt, daß alle den Sohn ehren sollen, καϋώς, wie sie den Vater ehren. Daß der Sohn hier gerade nach seiner menschlichen Natur in Betracht kommt, wird noch besonders hervorgehoben durch die vorhergehende Begründung: „Auch richtet der Vater niemand, sondern alles Gericht hat er dem Sohne gegeben."507) Auch Phil. 2, 9—11 wird sowohl die Qualität der Anbetung Christi als eu1tu8 vore diviuu8 bestimmt, als auch die Hinsicht angegeben, in welcher ihm der cultus vere divinus zukommt, nämlich nach seiner menschlichen Natur. Der cultus vere divinus ist bestimmt durch die Worte: Gott „hat ihm einen Namen gegeben, der über alle Namen ist, daß in dem Namen JEsu sich beugen sollen alle derer Knie, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind, und alle Zungen bekennen sollen, daß JEsus Christus der HErr sei”. Daß aber Christus nach der menschlichen Natur Objekt dieser Anbetung sei, geht daraus hervor, daß ihm dieser „Name über alle Namen" gegeben ist, insofern er sich vorher selbst erniedrigte und gehorsam ward bis zum Tode am Kreuz. Wenn Reformierte und Papisten gegen die göttliche Ehre Schriftaussagen wie Ies. 42, 3: „Ich will meine Ehre keinem andern geben noch meinen Ruhm den Götzen” und Jer. 17, 6: „Verflucht ist der Mann, der sich auf Menschen verläßt" eingewendet haben, so tritt dadurch abermals klar zutage, daß sie den Menschen Christus zu einem andern neben dem Sohne Gottes (άλλος και άλλος) machen, das heißt, trotz aller Versicherung des Gegenteils die menschliche Natur Christi aus der persönlichen Vereinigung mit dem Sohne Gottes herausnehmen, also die unio personalis auflösen.508) Eine Auflösung der unio personalis liegt auch in dem Falle vor, wenn man der menschlichen Natur Christi göttliche Ehre nur ex accidenti zugestehen will, das heißt, in der Weise, wie das Purpurkleid des Königs an der königlichen Ehre teil hat. Die

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507) Joh. 5, 22.

508) Gut Eckhard, Fasciculus controversiarum, p. 118: Natura humana non est alter aliquis, sed cum λόγω unam constituit personam, ac proinde citra Nestorianismi reatum humanae in Christo naturae testimonium hoc adaptari nequit. Ad hanc, si extendere quispiam conetur, ab ipsa quoque tum nominis, tum regni et dominii divini κοινωνία illam consequenter excludet et neque Dominum neque Filium Dei fas erit appellare Christum secundum humanam naturam, quod contra manifesta Scripturae testimonia.


241  >        Zweite Art der Mitteilung im Unterschied von der ersten.  [English ed. ~ 218–219]

menschliche Natur Christi verhält sich zur Person des Sohnes Gottes nicht wie ein Purpurkleid zum König, sondern bildet mit dem Sohn Gottes eine persönliche Einheit.509) Erhebt man endlich gegen die Mitgeteilte göttliche Ehre denselben Einwand, der auch gegen die Gemeinschaft der Naturen und gegen die mitgeteilte göttliche Herrlichkeit, Macht, Wissen usw. geltend gemacht wurde, daß nämlich die menschliche Natur Christi als eine endliche Kreatur der göttlichen Ehre nicht fähig sei, so ist damit wieder va banque gespielt. Ist die menschliche Natur Christi, weil sie Kreatur ist und bleibt,, der Teilhaberschaft an der göttlichen Ehre nicht fähig, so ist sie auch der Teilhaberschaft an der göttlichen Person des Sohnes Gottes nicht fähig, und die Menschwerdung des Sohnes Gottes muß mit den Sozinianern und allen Unitariern für unmöglich erklärt werden. Was die Christusverehrung der Unitarier betrifft, die ja allesamt Christo die wesentliche Gottheit absprechen, so sind nur diejenigen unter ihnen konsequent, die Christo jede göttliche Verehrung absprechen. Inkonsequent fordern Lälius Sozinus und der Rakauer Katechismus,510) daß der erhöhte Christus anzurufen sei. Dieselbe Inkonsequenz begehen alle neueren Theologen, die Christo göttliche Verehrung zusprechen, wiewohl sie die „Zweinaturenlehre" verwerfen. ^

Die zweite Art der Mitteilung der göttlichen Eigenschaften im Unterschied von der ersten. ^

Was über die zweite Art der Mitteilung der Eigenschaften von Seite 169 an gesagt wurde, fassen wir um derer willen, die die längeren Ausführungen entbehren können, so zusammen: Weil die Naturen in Christo unverwandelt bleiben, so hat Und behält auch die menschliche Natur innerhalb der persönlichen Vereinigung ihre natürlichen, menschlichen Eigenschaften. Weil aber die menschliche Natur in die Person des Sohnes Gottes ausgenommen ist, und der Sohn Gottes nicht extra carnem, sondern in carne und per carnem das Erlösungswerk ausrichtet, so hat die menschliche Natur Christi nicht bloß nominell (per modum loquendi), sondern tatsächlich (realiter) an des Sohnes Gottes gött

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509) Eckhard bemerkt 1. c., p. 138, gegen Danäus und Beza: Ingens dissimilitudo. Neque enim vel purpura vel corona cum rege una est persona, sicut humanitas Christi cum λόγω.

510) Frage 186, ed. Öder, p. 372.


242  >        Die Lehre von Christo.  [English ed. ~ 219–220]

licher Macht, göttlichem Wissen, göttlicher Gegenwart, göttlicher Ehre, kurz, an den göttlichen Eigenschaften teil. Die reformierten und römischen Theologen, welche diese Teilhaberschaft leugnen, treten in Widerspruch a. zu den Schriftstellen, welche berichten, daß der Sohn Gottes mit der ganzen Fülle des göttlichen Wesens und der göttlichen Eigenschaften in die menschliche Natur eingegangen sei,511) d. zu den Schriftstellen, in denen die einzelnen göttlichen Eigenschaften von Christo nach der menschlichen Natur ausgesagt werden, nämlich in der Zeit gegebene Allmacht,512) in der Zeit gegegebene Allwissenheit,513) in der Zeit gegebene Allgegenwart,514) in der Zeit gegebene göttliche Ehre.515) Die reformierte Leugnung dieser Mitteilung schließt konsequenterweise sowohl die Leugnung der Menschwerdung überhaupt als auch die Leugnung der ewigen Gottheit Christi in sich. Läßt nämlich.die Endlichkeit der menschlichen Natur die Mitteilung der göttlichen Eigenschaften nicht zu, so ist dasselbe von der Mitteilung der göttlichen Person des Sohnes Gottes zu sagen, und damit ist die Möglichkeit der Menschwerdung geleugnet. Und ist die in der Zeit geschehene Mitteilung göttlicher Eigenschaften nicht auf die menschliche Natur Christi zu beziehen, so bleibt nur die Beziehung auf die göttliche Natur übrig, und somit wäre Christus nicht Gott von Ewigkeit, sondern ein in der Zeit gewordener Gott, ein arianisches Geschöpf. Alle diese Punkte sind in längerer Ausführung von Seite 169 an dargelegt worden.

Müssen wir aber auf Grund der Schrift allem Widerspruch gegenüber eine Mitteilung dtzr göttlichen Eigenschaften an die menschliche Natur Christi lehren, so stehen wir vor der Tatsache, daß Christo göttliche Eigenschaften sowohl nach der göttlichen als nach der menschlichen Natur zukommen. Aber auf ganz verschiedene Weise: nach der göttlichen Natur von Ewigkeit und als wesentliche Eigenschaften (essentialiter), nach der menschlichen Natur als in der Zeit gegebene oder mitgeteilte Eigenschaften (communicative, per communicationem). Demnach ist der Unterschied zwischen dem ersten

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511) Kol. 2, 9; Joh. 1, 14; 1 Joh. 1, 1 ff.; Joh. 2, 11; Joh. 17, 5.

512) Hebr. 2, 8; Ps. 8, 7; 1 Kor. 15, 27; Eph. 1, 22; Matth. 28, 18; Dan. 7, 13. 14; Matth. 11, 27; Joh. 13, 3; 3, 35; Ies. 9, 6; Joh. 5, 27; 6, 55; 1 Joh. 1, 7.

513) Joh. 3, 31. 32; 1, 18; 3, 13. 34; 2, 24. 25.

514) Eph. 4, 10; 1, 20—23; Matth. 28, 20.

515) Joh. 3, 16; Gen. 3, 15 usw.; Offenb. 5, 12; Joh. 5, 23; Phil. 2, 9 ff.


243  >        Zweite Art der Mitteilung im Unterschied von der ersten.  [English ed. ~ 220]

und zweiten Genus der Mitteilung der Eigenschaften so zu bestimmen: Im ersten Genus wird von der Person Christi Göttliches und Menschliches, zum Beispiel Ewigkeit und ein Alter von acht Tagen, gleich wirklich (realiter) ausgesagt, aber das Göttliche nach der göttlichen Natur, das Menschliche nach der menschlichen Natur, wie die bisweilen ausdrücklich hinzugefügten particulae diacriticae (κατά σάρκα usw.) näher angeben. Im zweiten Genus hingegen — und dies ist die schriftgemäße Definition desselben — werden der Person Christi göttliche Eigenschaften auch nach der menschlichen Natur zugeschrieben, nicht zwar als wesentliche, wohl aber als in der Zeit gegebene oder mitgeteilte Eigenschaften, weil die göttliche Natur mit ihren Eigenschaften in der menschlichen Natur als ihrem eigenen Leibe wohnt und zur Wirksamkeit kommt. Daher die Benennung dieses zweiten Genus als genus maiestaticum, um zum Ausdruck zu bringen, daß Christo nach der menschlichen Natur nicht bloß herrliche endliche Gaben, sondern die göttliche Majestät oder unendliche göttliche Attribute durch die persönliche Vereinigung zukommen. Dasselbe besagen die griechischen Ausdrücke δόξασις, βελτίωσις, μετάδοσις und μεταποίησις, μετοχή ϑείας δυνάμεωςusw. Weil man damals weniger die Verleumdung fürchtete als wir zu unserer Zeit, so scheute man sich auch nicht, Ausdrücke wie ϑέωσις, άποϋέωσις und ϑεοποίησις zu gebrauchen, nicht im Sinne der Verwandlung, sondern um die persönliche Vereinigung von Gott und Mensch und die damit gesetzte Durchdringung der menschlichen Natur seitens der göttlichen zu bezeichnen.516) Daß die lutherische Lehre von der Mitteilung der göttlichen Eigenschaften an die menschliche Natur keine neue Lehre sei, sondern bereits von den alten griechischen und lateinischen Lehrern vorgetragen wurde, ist überzeugend in dem Catalogus Testimoniorum nachgewiesen, der mit dem Konkordienbuch als Privatschrift von Andreä und Chemnitz veröffentlicht wurde.517)

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516) Vgl. die Verzeichnisse der Namen für das zweite Genus bei Gerhard, De pers., § 261; bei Quenstedt II, 143. . Eine ausführlichere Erklärung der Namen gibt Hollaz, De pers. Christi, qu. 47. Aus Chemnitz, De duabus naturis, gehören namentlich Kap. 25 und 26 hierher.

517) In der Müllerschen Ausgabe abgedruckt S. 731—760 unter dem Titel: „Verzeichnis der Zeugnisse Heiliger Schrift und der alten reinen Kirchenlehrer, wie dieselbigen von der Person und göttlichen Majestät der menschlichen Natur unsers HErrn JEsu Christi, zur Rechten der allmächtigen Kraft Gottes eingesetzt, gelehret und geredet haben.” Dieser Catalogus sollte um so mehr beachtet


244  >        Die Lehre von Christo.  [English ed. ~ 221]

Die Konkordienformel beschreibt in ausführlicher Erklärung das genus maiestaticum so: „Was anlanget die angenommene menschliche Natur in der Person Christi, haben wohl etliche streiten wollen, daß dieselbige auch in der persönlichen mit der Gottheit Vereinigung anders und mehr nicht habe denn nur allein ihre natürlichen, wesentlichen Eigenschaften, nach welchen sie ihren Brüdern allenthalben gleich ist, und daß derwegen der menschlichen Natur in Christo nichts solle noch könne zugeschrieben werden, was über oder wider ihre natürliche Eigenschaften sei, wenngleich der Schrift Zeugnisse dahin lauten. Aber daß solche Meinung falsch und unrecht sei, ist aus Gottes Wort klar. . . . Denn die Heilige Schrift und die alten Väter aus der Schrift zeugen gewaltig, daß die menschliche Natur in Christo darum und daher, weil sie mit der göttlichen Natur in Christo persönlich vereiniget, als sie nach abgelegter knechtischer Gestalt und Erniedrigung glorifiziert und zur Rechten der Majestät und Kraft Gottes erhöhet, neben und über ihre natürlichen, wesentlichen, bleibenden Eigenschaften auch sonderliche, hohe, große, übernatürliche, unerforschliche, unaussprechliche, himmlische praerogativas und Vorzüge an Majestät, Herrlichkeit, Kraft und Gewalt über alles, was genennet mag werden, nicht allein in dieser, sondern auch in der künftigen Welt, empfangen habe, daß also die menschliche Natur in Christo zu den Wirkungen des Amts Christi auf ihre Maß und Weise mit gebrauchet werde und auch ihre efficaciam, das ist, Kraft und Wirkung, habe, nicht allein aus und nach ihren natürlichen, wesentlichen Eigenschaften, oder allein soferne sich das Vermügen derselben erstrecket, sondern fürnehmlich aus und nach der Majestät, Herrlichkeit, Kraft und Gewalt, welch? sie durch die persönliche Vereinigung, Glorifikation und Erhöhung empfangen hat. Und dies können oder dürfen auch nunmehr fast die Widersacher nicht leugnen, allein daß sie disputieren und streiten, daß es nur erschaffene Gaben oder finitae qualitates sein sollen wie in den Heiligen, damit die

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werden, als Chemnitz auch zu unserer Zeit als ein gründlicher Kenner der patristischen Literatur anerkannt werden muß. Die Zeugnisse für das genus maiestaticum sind unter zehn Thesen zusammengeordnet, die als eine kurze Zusammenfassung der Lehre der Konkordienformel gelten können. Den Zeugnissen ist jedesmal der Schriftbeweis vorangestellt, um zum Ausdruck zu bringen, daß „der wahrhaftige, seligmachende Glaube aus keines alten oder neuen Kirchenlehrers, sondern einzig und allein aus Gottes Wort gegründet sein soll”. Der vorangestellte Schriftbeweis macht deshalb einen so gewaltigen Eindruck, weil er ohne allen Kommentar gegeben ist.


245  >        Zweite Art der Mitteilung im Unterschied von der ersten.  [English ed. ~ 222]

menschliche Natur in Christo begabet und gezieret, und daß sie nach ihren Gedanken oder aus ihren eigenen argumentatiationibus oder Beweisungen abmessen und ausrechnen wollen, was die menschliche Natur in Christo ohne derselben Abtilgung fähig oder nicht fähig könne oder solle sein.” 518)In kürzerer Fassung sagt die Konkordienformel: „Wir glauben, lehren und bekennen, daß die angenommene menschliche Natur in Christo nicht allein ihre natürlichen wesentlichen Eigenschaften habe und behalte, sondern daß sie darüber durch die persönliche Vereinigung mit der Gottheit und hernach durch die Verklärung oder Glorifikation erhöhet sei zur Rechten der Majestät, Kraft und Gewalt über alles, was genennet kann werden, nicht allein in dieser, sondern auch in künftiger Welt."519)

Es kann nicht nachdrücklich genug daran erinnert werden, daß die Schriftaussagen, in denen göttliche Eigenschaften von Christo nach der göttlichen Natur ausgesagt werden (wie: Der Menschensohn war im Himmel, Joh. 6, 62), von den Schriftaussagen zu unterscheiden sind, in denen göttliche Eigenschaften Christo nach der menschlichen Natur zugeschrieben werden (wie: Der Menschensohn ist im Himmel, Joh. 3, 13; hat alle Gewalt im Himmel und auf Erden empfangen, Matth. 28, 18). Durch die Nichtunterscheidung dieser Schriftaussagen verbauen sich die Reformierten das Verständnis der Lehre von Christi Person, und die Nichtbeachtung dieses Unterschieds in den Schriftaussagen ist die Ursache, daß neuere Theologen die Dreiteilung der propositiones idiomaticae als unnötig und schwerfällig kritisieren. Auch bei Hase, der

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518) S. 684, § 50 ff.

519) S. 676, § 12. Baier (III, 52): Secundum genus communicationis idiomatum est, quo perfectiones vere divinae et hinc resultans auctoritas et potestas, honor et gloria summa, humanae naturae in abstracto communicantur.  Zu dem in abstracto fügt Baier aber erklärend hinzu: Ita ut non solum concreto aut personae ab humana natura denominatae et quoad divinam forte spectandae (so die Reformierten), verum ipsi humanae naturae, non tamen quatenus praecise (für sich) et extra unionem hypostaticam, sed vi unionis, et quatenus intra unionem illam spectatur, competant. (1. c,, p. 68.) Auch Dietrichs Definition in seiner Auslegung des Kleinen Katechismus genügt: „Welches ist die zweite Art der Mitteilung der Eigenschaften? Antwort: Wenn Christo nach der menschlichen Natur göttliche Majestät, Ehre und Gewalt durch und wegen der persönlichen Vereinigung zugesprochen wird.” (St. Louiser Ausg., S. 76.) Hollaz: Secundum genus communicationis idiomatum est, quo Filius Dei maiestatem suam divinam assumptae carni communicavit. (Examen, De pers., qu. 45.)


246  >        Die Lehre von Christo.  [English ed. ~ 222–223]

sich sonst in seinem Hutterus redivivus vielfach durch korrekte Darstellung der lutherischen Christologie auszeichnet, findet sich an diesem Punkt ein Mißverstand, und er wirst die Schriftaussagen unordentlich durcheinander. Er meint nämlich, wenn im ersten Genus vom Konkretum der menschlichen Natur Göttliches ausgesagt werde (wie Joh. 8, 58: Der in der Zeit Geborne ist vor Abraham), so falle die Aussage mit dem recht verstandenen genus maiestatieum zusammen, also zum Beispiel mit Joh. 5, 27: Der Menschensohn hat die Gewalt des Weltgerichts empfangen.520) So ist's bei den alten lutherischen Theologen nicht gemeint, und es liegt ein Mißverstand der betreffenden Schriftaussagen vor. Wenn die Schrift Joh. 6 und Joh. 8 von dem Menschensohn sagt, daß er im Himmel war und vor Abraham ist, so bezieht sich das göttliche Prädikat auf Christum nach seiner göttlichen Natur. Wenn sie hingegen Joh. 5, Matth. 28 und Dan. 7 dem Menschensohn in der Zeit gegebene Gerichtsgewalt und alle Gewalt im Himmel und auf Erden zuschreibt, so beziehen sich die göttlichen Prädikate auf Christum nach seiner menschlichen Natur. Wie nötig diese Unterscheidung sei, legt Hase selbst dar. Er weist auf die Verwüstung hin, die in der Lehre von Christi Person angerichtet wird, wenn man Schriftaussagen wie Joh. 5, Matth. 28, Dan. 7 usw. auf Christum nach der göttlichen Natur beziehen wollte. Weil es sich an diesen Stellen um göttliche Eigenschaften handelt, die Christo erst in der Zeit gegeben oder mitgeteilt sind, so wäre durch die Beziehung jener Prädikate auf Christum nach der göttlichen Natur „die Gottheit Christi selbst widerlegt, und. nichts bliebe übrig als ein arianisches Geschöpf oder ein sozinianischer Weltregent”.521) Ein Gott, der erst in der Zeit Allmacht überkommt, ist nicht wesentlich Gott, sondern ein sogenannter Gott, Deus creatus. So verhängnisvoll wird es, wenn man sachlich verschiedene Schriftaussagen über die Mitteilung der Eigenschaften ohne Unterscheidung durchaus in eine Klasse werfen will. Dies tut nach dem Vorgang der alten reformierten Lehrer auch Hodge, wenn er sagt: "That our Lord said, ‘All power is given unto Me in heaven and in earth,’ no more proves that His human nature is almighty than His saying, ‘Before Abraham was I ,am,’ proves that humanity is eternal.” 522) So benutzt Hodge eine Schriftaussage, die auf Christum nach der

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520) Hutterus redivivus, S. 235.        521) A. a. O., S. 236.

522) Syst. Theol., II, 416.


247  >        Keine Trennung der göttlichen Eigenschaften vom göttlichen Wesen.  [English ed. ~ 223–224]

göttlichen Natur lautet, dazu, eine Schriftaussage abzutun, die sich auf Christum nach der menschlichen Natur bezieht. So bleibt wahr, woran die Konkordienformel erinnert: „Die propositiones oder praedicationes, das ist, wie man von der Person Christi, von derselben Naturen und Eigenschaften redet, haben nicht einerlei Art und Weise, und wenn ohne gebührenden Unterschied davon geredet wird, so wird die Lehre verwirrt, und der einfältige Leser leichtlich irregemacht."523) Kurz, will man die Schriftlehre von der Person Christi, speziell von der Mitteilung der Eigenschaften, recht vortragen, so ist festzuhalten: In der Schrift werden Christo göttliche Prädikate sowohl nach der göttlichen als nach der menschlichen Natur zugeschrieben: nach der göttlichen Natur als wesentliche Eigenschaften, und diese Schriftaussagen ordnen die lutherischen Lehrer dem ersten Genus der Mitteilung der Eigenschaften bei (genus idiomaticum); nach der menschlichen Natur als in der Zeit gegebene oder mitgeteilte Eigenschaften, und diese Schriftaussagen bilden das genus maiestaticum, das zweite bei den Dogmatikern 524) und das dritte in der Konkordienformel.525)

Keine Trennung der göttlichen Eigenschaften von dem göttlichen Wesen beim zweiten Genus. ^

Gegen die Lehre von mitgeteilten göttlichen Eigenschaften macht aber die reformierte und die römische Theologie sofort den folgenden Einwand geltend: Gehören die göttlichen Eigenschaften als mitgeteilte auch der menschlichen Natur an, so ist damit eine Trennung (separatio) der göttlichen Eigenschaften von dem göttlichen Wesen gelehrt, und wir bekommen auf diese Weise zwei Reihen von göttlichen Eigenschaften (two sets of divine properties), eine Reihe, die der göttlichen Natur, eine zweite Reihe, die der menschlichen Natur zukommt. Daher liegt mit der Annahme

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523) Müller, S. 681, § 35.

524) Hollaz: Quando idiomata divina in primo genere praedicantur de Filio hominis, vindicantur naturae divinae, cui formaliter (wesentlich) conveniunt, v. g.: Filius hominis est ante Abrahamum, scii, secundum naturam divinam; at in secundo genere idiomata divina spectantur, prout humanae naturae communicative aut inhabitative conveniunt. (Ex., De pers., qu. 60.)

525) Müller, S. 684, § 48.


248  >        Die Lehre von Christo.  [English ed. ~ 224–225]

eines genus maiestaticum eine „Gleichmachung der Naturen” (exaequatio naturarum) oder eine offenbare Verwandlung der menschlichen Natur in die göttliche vor. Die älteren reformierten Theolagen werden nicht müde, in der einen oder andern Form diesen Einwand gegen die Mitteilung göttlicher Eigenschaften an die menschliche Natur geltend zu machen.526) Auch Hodge redet von einem "transfer of divine attributes” und von einer "physical impossibility that attributes are separated from the substances of which they are the manifestations” und meint damit, das genus maiestaticum zu widerlegen.527) Man kann nicht sagen, daß diesem Einwurf auch vom reformierten Standpunkt aus irgendein vernünftiger Sinn zugrunde liege. Die reformierten Theologen wollen doch mit der lutherischen Kirche die reale Mitteilung der Person des Sohnes Gottes an die menschliche Natur Christi festhalten. Wenn nun durch die reale Mitteilung der göttlichen Person nicht zwei Exemplare der göttlichen Person des Sohnes Gottes entstehen, was die Reformierten mit der lutherischen Kirche ablehnen, warum sollen denn die göttlichen Eigenschaften, zum Beispiel die Allmacht, durch ihre Mitteilung an die menschliche Natur sich verdoppeln? Ferner verfehlt der Einwurf, der auf Trennung der göttlichen Eigenschaften von dem göttlichen Wesen lautet, deshalb gänzlich das Ziel, weil nach lutherischer Lehre — und bekanntlich auch nach der Lehre der Schrift, Kol. 2, 9 — das ganze göttliche Wesen, παν τό πλήρωμα τής ϑεότψος, in der menschlichen Natur als seinem σώμα wohnt. Wie kann da von einer Trennung der göttlichen Eigenschaften von dem göttlichen Wesen die Rede sein! Mit Recht illustrieren das lutherische Bekenntnis und die lutherischen Theologen den Tatbestand durch das in der Schrift selbst gebrauchte Beispiel der Verbindung von Seele und Leib im Menschen. Der menschliche Leib hat an sich kein Leben, keine Empfindung und keine Bewegung. Die Seele aber teilt ihr Leben dem Leibe mit, solange sie mit dem Leibe verbunden ist. Durch diese Mitteilung wird das Leben von der Seele nicht getrennt, und es entstehen nicht zwei Leben und zwei Reihen von seelischen Eigenschaften, sondern ein und dasselbe Leben (una numero

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526) So meint Danäus, daß die actiones der einen Natur alteri communicari non possunt, alioquin desinerent esse propriae. (De Filii Dei incarnatione, p. 404; bei Frank III, 368.)

527) Syst. Theol., II, 417. 408.


249  >        Keine Trennung der göttlichen Eigenschaften vom göttlichen Wesen.  [English ed. ~ 225–226]

vita), das der Seele wesentlich (essentialiter) zugehört, wohnt im Leibe, kommt im Leibe zur Wirksamkeit und wird so dem Leibe gegebenerweise oder mitteilungsweise (communicative) eigen. So gibt es auch in Christo nur eine Reihe göttlicher Eigenschaften, zum Beispiel nur eine göttliche Allmacht, die der göttlichen Natur wesentlich zukommt, aber dadurch auch der menschlichen Natur mitgeteilterweise eigen wird, daß die göttliche Natur in der menschlichen wie in ihrem σώμα wohnt und zur Wirksamkeit kommt. Und sowenig der Leib dadurch, daß er durch die einwohnende Seele ein lebendiger Leib wird, der Seele gleichgemacht oder in die Seele verwandelt wird, so wenig hat eine exaequatio naturarum in Christo dadurch statt, daß die menschliche Natur Christi durch die Einwohnung der göttlichen mitgeteilterweise allmächtig, allwissend usw. wird. Wenn die Reformierten hiergegen einwenden, zwischen Seele und Leib, als zwei endlichen Faktoren, sei eine Mitteilung ohne Verwandlung möglich, aber in der Person Christi handele es sich um ganz inkongruente Größen, um unendliche Macht usw. und eine endliche menschliche Natur: so ist zu sagen, daß der Einwand vom sozinianischen Standpunkt aus einen Sinn hätte, da die Sozinianer in konsequenter Anwendung des Finitum non est capax infiniti die Mitteilung einer unendlichen Hypostase an eine menschliche Natur ablehnen. Die Reformierten aber, welche die Mitteilung der unendlichen Hypostase zugestehen, erheben den Einwand im Widerspruch mit dem eigenen Standpunkt.

Weil die reformierten Theologen mit außerordentlicher Zähigkeit behaupteten, daß die Mitteilung der göttlichen Eigenschaften ihre Lostrennung vom göttlichen Wesen und ihre Verdoppelung in sich schließe, so spricht sich dieser falschen Darstellung gegenüber die Konkordienformel sehr ausführlich über den Modus aus, wie die menschliche Natur die göttlichen Eigenschaften hat, nämlich nicht durch Loslösung (separatio) von der göttlichen Natur oder durch eine Hinübergießung (transfusio) in die menschliche Natur, „als wenn aus einem Gefäß in das andere Wasser, Wein oder Öl gegossen würde", also nicht so, daß die göttlichen Eigenschaften die wesentlichen Eigenschaften der menschlichen Natur wären, und eine exaequatio naturarum stattfände, sondern lediglich durch die persönliche Vereinigung, das heißt, durch die einzigartige Tatsache, daß die menschliche Natur der Gottheit eigener Leib ist, und die Wirkungen der Gottheit sich durch diese mensch


250  >        Die Lehre von Christo.  [English ed. ~ 226–227]

liche Natur vollziehen, „wie die Seele im Leibe und das Feuer in einem glühenden Eisen tut”. Daher gehört alles, was der Widerpart von Verdoppelung der göttlichen Eigenschaften und der Gleichmachung der Naturen sagt, in das Gebiet der falschen Darstellung. Dies legt die Konkordienformel im Zusammenhang ganz ausführlich dar 528) und schließt diesen Abschnitt mit den Worten: „Also ist und bleibet in Christo nur eine einige (unica) göttliche Allmächtigkeit, Kraft, Majestät und Herrlichkeit, welche allein der göttlichen Natur eigen ist; dieselbige aber leuchtet, beweiset und erzeiget sich völlig, aber doch freiwillig, in, mit und durch die angenommene erhöhte menschliche Natur in Christo. Gleichwie in einem glühenden Eisen nicht zweierlei Kraft, zu leuchten und zu brennen, ist, sondern die Kraft zu leuchten und zu brennen ist des Feuers Eigenschaft, aber weil das Feuer mit dem Eisen vereiniget, so beweiset's und erzeiget's solche seine Kraft zu leuchten und zu brennen in, mit und durch das glühende Eisen, also daß auch das glühende Eisen daher und durch solche Vereinigung die Kraft hat zu leuchten und zu brennen ohne Verwandlung des Wesens und der natürlichen Eigenschaften des Feuers und Eisens."529) Nicht ohne sachliche Berechtigung macht die Konkordienformel hier nebenbei die geschichtliche Bemerkung, daß es sich bei diesem reformierten Einwurf (von einer Lostrennung der göttlichen Eigenschaften vom göttlichen Wesen) zum Teil um ein absichtliches Nichtverstehenwollen handele.530) Thomasius sieht sich zu derselben Bemerkung veranlaßt 531) und gibt seiner Verwunderung darüber Ausdruck, daß Dorner dem reformierten Einwurf eine Berechtigung zuerkennt. Thomasius sagt nach Darlegung der lutherischen Lehre, mit deren „Auffassung" er selbst „nicht völlig” ubereinstimme: „Wir sehen, die Lehre unserer Kirche verteidigt sich selbst gründlich genug gegen jene Beschuldigung, und es ist gewiß der Billigkeit nicht zu viel zugemutet, wenn wir ihre Gegner auffordern, doch erst näher zuzusehen, bevor sie sie anklagen; es möchte sonst den Anschein gewinnen, als ob ihre Angriffe auf Unbekanntschaft oder auf böswilligem Mißverständnis beruhen; .denn wer nur will, des Buches' (der Konkordienformel) ,rechte Meinung deutlich und wohl vernehmen kann' (Apologie des Konkordienbuches, S. 86)."

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528) Art. 8, S. 687 ff., § 61—75.        529) Müller, S. 689, § 66.

530) S. 688, § 63.

531) Beiträge zur kirchl. Christologie. Erl. 1845, S. 52 ff.


251  >        Die abstrakten Redeweisen beim genus maiestaticum.  [English ed. ~ 227]

Die abstrakten Redeweisen beim genus maiestaticum. ^

Es ist auch innerhalb der lutherischen Kirche die Frage erörtert worden, ob man nicht beim zweiten Genus die sogenannten abstrakten Redeweisen, zum Beispiel: „Die menschliche Natur Christi ist lebendigmachend, allmächtig” usw., meiden und statt dessen stets die ganze Person im Subjekt nennen und sagen solle: „Christus oder der Sohn Gottes oder der Menschensohn ist allmächtig nach der menschlichen Natur.” Als Grund hat man angegeben, daß die erstere Redeweise von Unerfahrenen leicht so verstanden werde, als ob die menschliche Natur Christi, abgesondert von dem Sohn Gottes (in abstracto reali), also in sich selbst, durch eine zweite Allmacht neben der Allmacht der göttlichen Natur, allmächtig sei. Darauf ist zu sagen: Diesen Mißverstand muß man, wo er zu befürchten ist, beseitigen. Doch darf man sich diese Redeweise nicht als falsch verbieten lassen, weil sie, wenn auch seltener, die Redeweise der Heiligen Schrift ist. Die Konkordienformel beruft sich mit Recht auf Joh. 6, 51 ff., wo das Fleisch Christi das lebendige, das heißt, lebengebende, Brot heißt, und auf 1 Joh. 1, 7, wo dem Blut Christi die Rechtfertigung zugeschrieben wird, also direkt von der menschlichen Natur Christi allmächtige, göttliche Wirkung ausgesagt ist. Die Worte der Konkordienformel lauten: „Die Schrift sagt nicht allein ingemein von der Person des Sohnes, sondern deutet auch ausdrücklich auf seine angenommene menschliche Natur, 1 Joh. 1: ,Das Blut reiniget uns von allen Sünden', nicht allein nach dem Verdienst, welches am Kreuz einmal verrichtet, sondern Johannes redet an demselben Ort davon, daß uns im Werk oder Handel der Rechtfertigung nicht allein die göttliche Natur in Christo, sondern auch sein Blut per modum efficaciae, das ist, wirklich, reiniget uns von allen Sünden. Also Joh. 6 ist das Fleisch Christi eine lebendigmachende Speise, wie daraus auch das Ephesinum concilium geschlossen hat, daß das Fleisch Christi die Kraft habe, lebendig zu machen; wie von diesem Artikel andere viele, herrliche Zeugnisse der alten rechtgläubigen Kirche anderswo angezogen sind.” 532) Baier und andere alte Theologen 533) haben in bezug auf den Gebrauch der abstrakten Redeweisen Bedenken geäußert, weil

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532) Müller, S. 686, § 59.

533) Baier, Comp. III, 69, und Reusch in seinen Annotationes zu Baiers Kompendium 1757, p. 651 sqq.


252  >        Die Lehre von Christo.  [English ed. ~ 228]

die „indocta plebs" sie leicht dahin verstehe, daß die menschliche Natur Christi auch außerhalb der persönlichen Verbindung mit dem Sohne Gottes allmächtig sei. Darauf ist zu sagen: 1. Baier und die Theologen, welche dieselbe Befürchtung hegen, fassen die Situation kaum ganz richtig auf. Der befürchtete Mißverstand findet sich nicht sowohl bei der indocta als bei der docta plebs. Der einfältige Christ kommt bei den Schriftworten Joh. 6, 55: „Mein Fleisch ist die rechte Speise" schwerlich auf den Gedanken, daß das Fleisch Christi als getrennt von der Person des Sohnes Gottes zu denken sei. 2. Die abstrakten Redeweisen sind, wie bereits erinnert wurde, die Redeweise der Schrift, und wie die Schrift redet, kann und soll man überall, auch coram indocta plebe, reden. Mit Recht weigerten sich daher die im Oktober 1578 zu Schmalkalden versammelten Theologen, auf eine Erinnerung der kurpfälzischen Theologen hin die abstrakten Redeweisen aus der Konkordienformel zu streichen. Sie begründen ihre Weigerung an erster Stelle mit der Tatsache, „daß solche phrases per vocabula abstracta nicht wir erst erdacht, sondern die Heilige Schrift redet selbst auch also, nicht allein in concrato, sondern auch per vocabula abstracta, 1 Joh. 1: ,Das Blut JEsu Christi reiniget uns von allen Sünden.' Item: Mein Fleisch ist eine wahrhaftige Speise.' Item: ,Des Weibes Same soll der Schlange den Kopf zertreten.' Item: ,In deinem Samen sollen gesegnet werden alle Völker der Erde.'"534) Die christliche Kirche darf sich also die vocabula abstracta, wobei die menschliche Natur Christi selbstverständlich stets in und nie außerhalb der persönlichen Vereinigung mit dem Sohn Gottes gedacht ist,535) nicht nehmen lassen. Daß auch die alte Kirche diese Redeweisen gebraucht habe, ist sehr ausführlich im Catalogus Testimoniorum unter Thesis III 536) nachgewiesen, die so lautet: „Daß die Heilige Schrift zuvörderst und dann auch die alten reinen Kirchen von diesem Geheimnis auch reden per vocabula abstracta, das ist, mit solchen Worten, welche ausdrücklich die menschliche Natur in Christo bedeuten und sich auf

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534) Hutter, Concordia Concors, c. 21, p. 679. Die ganze Stelle ist sehr instruktiv.

535) Auch Hase weist in Lutt. reck., p. 234, darauf hin, daß die lutherischen Dogmatiker, wenn sie beim genus maiestaticum vom Abstraktum der menschlichen Natur reden, immer nur an die menschliche Natur denken, insofern sie tatsächlich mit dem Sohne Gottes vereinigt ist.

536) Müller, S. 742 ff.


253  >        Keine Gegenseitigkeit beim zweiten genus.  [English ed. ~ 228–229]

dieselbe in der persönlichen Vereinigung ziehen, als daß die menschliche Natur solche Majestät mit der Tat und Wahrheit empfangen habe und gebrauche.” Daß die reformierten Theologen den vocabula abstracta, wie: „Das Fleisch Christi ist lebengebend” usw., sonderlich feind sind, kommt daher, daß diese vocabula sonderlich klar die Mitteilung göttlicher Eigenschaften an die menschliche Natur, die sie bekämpfen, zum Ausdruck bringen.

Keine Gegenseitigkeit beim zweiten genus. ^

Die reformierten Theologen haben von allem Anfang an dem Zauns maiastatianm auch deshalb die Existenzberechtigung abgesprochen, weil es diesem Zauns an der nötigen Gegenseitigkeit fehle. Die Neustädter Admonition tadelt die Lutheraner hart, „daß sie zwar der Menschheit die Eigenschaften der Gottheit, aber nicht andererseits der Gottheit die Eigenschaften der Menschheit mitgeteilt sein lassen", und sie sieht hierin auf seiten der Lutheraner ein unruhiges Gewissen.537) Das reformierte Argument verläuft so: Wenn infolge der unio personalis der menschlichen Natur die göttliche Eigenschaft zum Beispiel der Allmacht und der Kraft, lebendig zu machen, mitgeteilt ist, dann muß kraft derselben unio personalis der göttlichen Natur auch die menschliche Eigenschaft der beschränkten Macht und der Sterblichkeit mitgeteilt sein. Nun geben die Lutheraner letzteres nicht zu, folglich dürfen sie auch ersteres nicht lehren, und daher ist es mit dem ganzen genus maiestaticum nichts. Auch Hodge hat es nicht unterlassen, dieses Argument gegen die Lutheraner zu registrieren: "They” (die Lutheraner) "do not carry out the principle, and argue that, because Christ is denominated from His divine nature when the limitations of humanity are ascribed to Him” (wie: Der HErr der Herrlichkeit ist gekreuzigt), "that therefore His divine nature is limited” (wie: Die göttliche Natur ist gestorben). Und Hodge meint, damit die Lutheraner widerlegt und bewiesen zu haben, daß es überhaupt keine Mitteilung göttlicher Eigenschaften an die menschliche Natur gibt.538) Auch die modernen Kenotiker machen dem genus maiestaticum die Einseitigkeit zum Vorwurf. Sie fordern entschieden, daß

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537) Admon. Neost., p. 252: Argumentum trepidantis conscientiae est, quod . . . fingunt humanitati quidem Deitatis, sed non vicissim Deitati humanitatis proprietates esse communicatas.

538) Syst. Theol., II, 416.


254  >        Die Lehre von Christo.  [English ed. ~ 229–230]

mit dem genus maiestaticum ein genus ταπεινωτικόν verbunden Werde. Wenn die menschliche Natur Christi durch die Verbindung mit der göttlichen ein plus zu verzeichnen habe, so müsse auch für die göttliche Natur durch ihre Verbindung mit der menschlichen ein minus herauskommen. Die ursprünglichen Kenotiker, wie Thomasius, stellten das minus bekanntlich dahin fest, daß der Logos nach seiner göttlichen Natur die sogenannten wirkenden, ein Verhältnis zur Welt ausdrückenden göttlichen Eigenschaften, also vor allen Dingen Allmacht, Allwissenheit und Allgegenwart, abgelegt habe. Die Kenotiker haben diese Gegenseitigkeit im Namen der Logik gefordert. So meinte Kahnis: „Wenn die communicatio idiomatum in dem Wechselverhältnis besteht, nach welchem sich die beiden Naturen in Christo ihre Eigenschaften gegenseitig Mitteilen, so zerfällt der Logik nach dies Wechselverhältnis in zwei Seiten: erstlich teilt die göttliche Natur ihre Eigenschaften der menschlichen mit (genus αύχηματικόν), zweitens teilt die menschliche Natur ihre Eigenschaften der göttlichen mit (genus αύχηματικόν). Allein die alte Dogmatik erkennt dies zweite genus gar nicht an. Dies ist, wie neuerdings besonders Thomasius geltend gemacht hat, eine offenbare Einseitigkeit der alten Dogmatik.” 539) 

Hiergegen ist vor allen Dingen zu sagen, daß die gerügte „Einseitigkeit" nicht eine Erfindung der lutherischen Kirche ist. Die Schrift macht die Mitteilung der Naturen aneinander, soweit eine Mehrung oder Minderung in Betracht kommt, nicht gegenseitig, sondern einseitig. Damit ist gesagt: Die Schrift lehrt wohl, daß die menschliche Natur durch die göttliche Natur eine Verherrlichung, Erhöhung, Mehrung oder Bereicherung erfahren habe;540) aber die Schrift lehrt nicht, daß die göttliche Natur durch die menschliche eine Erniedrigung, Schwächung oder Minderung erfahren habe. Im einzelnen ist zu sagen, wie bereits nachgewiesen wurde: Die Schrift lehrt Wohl, daß die menschliche Natur durch die Einwohnung der göttlichen Natur lebengebend oder allmächtig geworden sei, aber sie lehrt nicht, daß die göttliche Natur durch ihre Verbindung mit der menschlichen Natur ihre lebengebende

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539) Dogmatik 2 II, 78.

540) Hierher gehören die zahlreichen Ausdrücke der alten Kirche, daß der menschlichen Natur Christi durch ihre Verbindung mit der Gottheit widerfahren sei προσθήκη, προσϋ'ήκη μεγάλη, βελτίωσις, δόξασις, μεταμόρφωσις εις δόξαν, νψωσις. (Bei Athanasius, Gregor von Nyssa usw. Vgl. Catalogus; Müller, S. 738 ff.)


255  >        Keine Gegenseitigkeit beim zweiten genus.  [English ed. ~ 230–231]

Kraft oder irgend etwas von ihrer Allmacht verloren habe. Die Schrift lehrt Wohl, daß die menschliche Natur durch die Einwohnung der göttlichen Natur unendlichen Wissens teilhaftig geworden sei, sie lehrt aber nicht, daß die göttliche Natur durch ihre Verbindung mit der menschlichen ihr göttliches Wissen ganz oder teilweise eingebüßt habe. Die Schrift lehrt wohl, daß die menschliche Natur durch ihre Verbindung mit der göttlichen in den Himmel gehoben und dem Universum allwirksam gegenwärtig geworden sei, aber sie lehrt nicht, daß die göttliche Natur durch ihr Eingehen in die menschliche Natur ihr innertrinitarisches Verhältnis oder ihr Sein und ihre Wirksamkeit im Universum aufgegeben habe. Die Schrift lehrt wohl, daß die menschliche Natur Christi, weil sie in das Ich des Sohnes Gottes ausgenommen ist, der göttlichen Ehre teilhaftig geworden ist, aber sie lehrt nicht, daß die göttliche Natur dadurch irgend etwas von ihrer göttlichen Anbetungswürdigkeit verloren habe. So ist der Versuch, mit dem genus maiestaticum auf seiten der menschlichen Natur ein genus ταπεινωτικόν auf seiten der göttlichen Natur zu verbinden,

als ein gegen die Schrift unternommener Gewaltstreich zu bezeichnen. Die Schrift schreibt dem menschgewordenen Sohn Gottes auch im Stande der Niedrigkeit sämtliche göttliche Eigenschaften ausdrücklich zu, die auf dem Lehrplan der Kenotiker im Namen der Logik und zur Herstellung der nötigen Gegenseitigkeit als abwesend angemerkt stehen. Die Schrift schreibt dem menschgewordenen Sohn Gottes im Stande der Niedrigkeit wie das ungeschmälerte „innergöttliche Sein",541) so auch den Besitz und die Betätigung der auf die Welt wirkenden göttlichen Eigenschaften zu.542) Also die Forderung, daß mit dem genus maiestaticum auf seiten der menschlichen Natur ein genus ταπεινωτικόν auf seiten der göttlichen Natur zu verbinden sei, ist wider die Schrift.

Auch an diesem Punkt tritt wieder zutage, daß weder die reformierten Theologen noch die modernen Kenotiker den Standpunkt

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541) Joh. 10, 30: Έγώ και ο πατήρ εν έσμεν; Joh. 1, 18: Ό ών εις τον κόλπον τον πατρός — έξηγήσατο. Einerlei ob ών präsentisch oder imperfektisch übersetzt wird, immer ist es als dem έξηγήσατο, das im Stande der Niedrigkeit stattsand, gleichzeitig aufzufassen, da mit ο ών εις τον κόλπον τον πατρός die Erkenntnisquelle für das έξηγήσατο angegeben wird.

542) Joh. 5, 17: Ό πατήρ μον εως άρτι εργάζεται κάγώ εργάζομαι. Joh. 1, 14: Έϑεασάμεϋ'α (im Stande der Niedrigkeit) την δόξαν αντον, δόξαν ώς μονογενονς παρά πατρός, und zwar nicht bloß die δόξα der göttlichen Liebe, sondern auch der göttlichen Allmacht, Joh. 2, 11.


256  >        Die Lehre von Christo.  [English ed. ~ 231–232]

 

der lutherischen Kirche auch nur verstehen. Wenn sie der lutherischen Kirche entgegenhalten: „Fließt aus der unio personalis, daß die menschliche Natur allmächtig geworden ist, so fließt auch aus der unio personalis, daß die göttliche Natur sterblich wurde", so setzen sie voraus, daß die lutherische Kirche ihre Aussagen über die Mitteilung der Eigenschaften aus der unio personalis durch Schlußfolgerungen ableite. Das ist aber durchaus nicht der Fall. Was im einzelnen aus der unio personalis für die beiden Naturen folgt, läßt die lutherische Kirche sich von der Schrift selbst sagen. Die Stellung der lutherischen Kirche ist diese: Der menschlichen Natur Christi oder, was dasselbe ist, Christo nach seiner menschlichen Natur ist die göttliche Allmacht usw. zuzuschreiben, weil die Schrift ausdrücklich sagt, daß Christo in der Zeit die göttliche Allmacht, zum Beispiel die Macht der Totenerweckung und die Macht des Weltgerichts, gegeben sei, νιος άνϑρώπον εστίν,543) das heißt, nach seiner menschlichen Natur. Aber der göttlichen Natur Christi oder, was dasselbe ist, Christo nach seiner göttlichen Natur ist nicht die Geburt aus Maria und das Sterben zuzuschreiben, weil die Schrift ausdrücklich sagt, daß Christo die menschliche Geburt, die Geburt „aus dem Samen Davids", und das Leiden und Sterben zukomme κατά σάρκα und σαρκί,544) das heißt, nach der menschlichen Natur, nicht κατά το πλήρωμα τής ϑεότητος, das heißt, nicht nach der göttlichen Natur. So bleibt die lutherische Kirche nur bei der Schrift, wenn sie zwar Christo nach seiner menschlichen Natur Allmacht, ihm aber nicht nach der göttlichen Natur beschränkte Macht oder Leiden und Sterben zuschreibt.545)

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543) Joh. 5, 27; Dan. 7, 13. 14.

544) Rom. 1, 3; 9, 5; 1 Petr. 3, 18; 4, 1.

545) Mit Recht berufen sich daher die Apologeten des Konkordienbuchs dem reformierten Vorwurf der „Einseitigkeit" gegenüber einfach auf die Schrift, und Frank sollte das an ihnen nicht beanstanden (Theol. d. Konkordienf. III, 262 ff.), sondern loben. Die Apologeten legen dar (Apologie d. Konkordienbuchs gegen die Admon. Neost., 5b ff.): die Schrift schreibe die menschlichen Eigenschaften des Leidens und Sterbens zwar der Person des Sohnes Gottes in concreto, aber nicht der göttlichen Natur des Sohnes Gottes zu. Hingegen sage die Schrift die göttlichen Eigenschaften der Allmacht usw. nicht bloß von der ganzen Person (in concreto), sondern auch insonderheit von der menschlichen Natur (mit abstractivis vocabulis) aus, wie: Das Fleisch Christi ist lebengebend; das Blut Christi reinigt von Sünden. „Was darf's" — sagen die Apologeten — „viel Worte? Wir bleiben stracks bei diesem unbeweglichen Grunde: was die Schrift sagt, das muß wahr sein; was Christus


257  >          [English ed. ~ 232–233]

Aber die Forderung, mit dem genus maiestaticum ein genus ταπεινωτικόν zu verbinden, ist auch wider die Vernunft, und zwar in mehr als einer Hinsicht. Mit der Ausstellung des genus ταπεινωτικόν  wird erstlich die Unveränderlichkeit Gottes preisgegeben. Nun steht es aber so, daß nicht nur die Heilige

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selbst ausgesprochen, das muß recht sein; was der Heilige Geist saget und bezeuget, das kann nicht fehlen.” (Apologie des Konkordienbuchs, gegen die Prediger zu Bremen, 12 b.) Frank lobt sonst die Weise der Konkordiensormel, daß sie sich nicht aus theologische Exerzitien einlasse, sondern einfach die in der Schrift berichteten Tatsachen darstelle. An diesem Punkt aber, wo er direkt pro domo, das heißt, für seine Kenosis, redet, hat er ein unsachliches Urteil nicht vermieden. Auch Hodge stellt den Standpunkt der lutherischen Kirche durchaus irrig dar, wenn er meint, die Lutheraner folgerten (infer) die Mitteilung der göttlichen Eigenschaften an die menschliche Natur, also das genus maiestaticum, zumeist aus Schriftstellen, in denen ein sonsrstnni der menschlichen Natur im Subjekt und ein göttliches Idiom im Prädikat stehe, wie in den Sätzen: Der Menschensohn war im Himmel; der Menschensohn ist im Himmel; der Menschensohn hat Allmacht empfangen usw. Hodge sagt: "Almost all the arguments” (für das genus maiestaticum) "derived from the Scriptures, urged by Lutherans, are founded on passages in which the person of Christ is denominated from His human nature, when divine attributes or prerogatives are ascribed to Him, whence it is inferred that those 1 attributes and prerogatives belong to His humanity.” (Syst. Theol. ., II, 416.) Aber so machen es die Lutheraner nicht. Sie sagen vielmehr: In solchen Sätzen kann das göttliche Prädikat der Person sowohl nach der göttlichen als nach der menschlichen Natur zukommen. Die Schrift muß jedesmal entscheiden, und sie tut dies klar und deutlich. Wenn die Schrift sagt, daß der Menschensohn im Himmel war, vor Abraham ist usw., so redet sie von dem Menschensohn vor seiner Menschwerdung, also nach seiner göttlichen Natur. Wenn sie aber von dem Menschensohn sagt, daß er erst in der Zeit durch die Menschwerdung und durch die folgende Erhöhung in den Himmel gekommen sei und erst in der Zeit Allmacht empfangen habe, δτι νιος άνϑρώπον εατίν, so ist damit wahrlich klar genug die Beziehung des göttlichen Prädikats auf die menschliche Natur gelehrt. Die Beziehung aus die göttliche Natur würde die ewige Gottheit des Menschensohnes leugnen und seine ewige Gottheit auf ein „arianisches Geschöpf" reduzieren. Um bei der Schrift zu bleiben, ordnen daher die Lutheraner die Schriftaussagen der ersteren Art dem ersten genus, dem genus idiomaticum, bei, in dem von der Person Christi Göttliches und Menschliches ausgesagt wird, aber das Göttliche nach der göttlichen Natur und das Menschliche nach der menschlichen Natur. Die Schriftaussagen der letzteren Art aber stellen sie zum zweiten genus, dem genus maiestaticum, zusammen, in dem von der Person Christi nach der menschlichen Natur göttliche Eigenschaften ausgesagt werden, nicht als wesentliche, sondern als mitgeteilte Eigenschaften, weil die göttlichen Eigenschaften in der menschlichen Natur zur Wirksamkeit kommen.


258  >          [English ed. ~ 233–234]

Schrift die Unveränderlichkeit Gottes lehrt,546) sondern daß auch der natürliche Mensch, solange er von seiner Vernunft Gebrauch macht, gar nicht auf den Gedanken kommt, daß Gott seine göttliche Seinsweise ändere oder seine göttlichen Eigenschaften ganz oder teilweise verlieren könne. Die Gedanken von einem veränderlichen Gott entstehen immer erst durch Unterdrückung der natürlichen Gotteserkenntnis.547) Alles, was die modernen Kenotiker vom Aufgeben göttlicher Eigenschaften oder gar von der Umsetzung des göttlichen Ich in ein menschliches sagen, ist nicht „Wissenschaft", sondern eine Verleugnung der natürlichen Gotteserkenntnis und fällt unter das Urteil des Apostels: Ήλλαξαν την δόξαν τον άφϑάρτον ϑεον εν δμοιώματι εΐκόνος φϑαρτον ανϑρώπου,548) Sodann: Unter der Voraussetzung, daß der Sohn Gottes Mensch geworden ist, um durch seine göttliche Wirksamkeit in der angenommenen menschlichen Natur und durch dieselbe die Werke des Teufels zu zerstören und sich eine Kirche zu sammeln und zu erhalten: ist es da — im Licht der natürlichen Vernunft betrachtet — nicht viel wahrscheinlicher, daß die menschliche Natur zwar zur Kraft der göttlichen erhöht wurde, aber die göttliche nichts von ihrer Kraft eingebüßt hat? Endlich haben alle, die dem genus maiestaticum ein genus ταπεινωτικόν an die Seite stellen wollen, nicht bedacht, daß man beide genera wirklich nicht haben kann. Wird die göttliche Natur um ihre nach außen wirkenden göttlichen Eigenschaften, also um Allmacht, Allwissenheit und Allgegenwart, verringert, dann ist überhaupt nichts mehr da, wodurch die menschliche Natur erhöht werden konnte. Durch die Setzung des genus ταπεινωτικόν würde das ganze genus maiestaticum verschwinden.549) Daß man trotzdem ein genus ταπεινωτικόν neben dem genus maiestaticum als selbstverständlich gefordert hat,550) ist ein weiterer Beleg für die Tatsache,

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546) Ps. 102, 27. 28; 1 Tim. 6, 16; Röm. 1, 23.

547) Röm. 1, 18: την αλήθειαν εν αδικία κατέχοντες.

548) Röm. 1, 23.

549) Hierauf weist auch schon die Apologie des Konkordienbuchs S. 46 a hin: „Wo Christus nicht wahrhaftiger, wesentlicher, ewiger Gott wäre, so wäre es unmöglich, daß er seiner angenommenen menschlichen Natur, welche ihm persönlich und unzertrennlich vereinigt, göttliche Kraft und Majestät Mitteilen könne. Denn was einer nicht hat, kann er freilich nicht geben."

550) Kahnis, a. a. O. D.. F. Frank in RE.2 unter Comm. idd. Luthardt, Dogmatik, 10. Aufl., S. 223. Zöckler, Handbuch III, 129 f. — Die Bemerkung der Princeton Review (1910, 689 f.) ist aber richtig, daß die moderne Kenose erst auf dem Kontinent und dann auch in England so ziemlich von der Tages


259  >          [English ed. ~ 234–235]

daß an sich völlig sinnlose Redensarten ohne Prüfung übernommen und weitergegeben werden.

Was die alte Kirche betrifft, so hat sie mit großer Entschiedenheit die Gegenseitigkeit abgewiesen.551) Die Konkordienformel ist geradezu entsetzt über eine ταπείνωσις, die Christo nach der göttlichen Natur zukommen soll.552)

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ordnung abgesetzt ist. Vgl. auch Kirn, Grundriß 3, S. 103 ff. Die Sachlage hat sich dadurch freilich nicht gebessert. Es ist jetzt mehr Mode geworden, die „Zweinaturenlehre” uberhaupt zu verwerfen. (Seeberg, Grundwahrh.5, S. 112 ff. Vgl. die Nachträge von Winter zu Luthardts Dogmatik, S. 236.) Ihmels widerspricht zwar Seeberg, aber schwächlich. (Zentralfragen 2, S. 185.) Vgl. über moderne Kenose auch Strong, Syst. Theology,, II, 686 ff.

551) Johannes von Damaskus hat die altkirchliche Lehre über diesen Punkt zusammengefaßt. Er weist die Gegenseitigkeit (De fide orth. III, 15) mit den viel zitierten Worten ab: „Zwar teilt die Gottheit ihre eigenen göttlichen Eigenschaften (τά οίκεΐα ανχήματα) dem Leibe mit, sie selbst aber bleibt der Leiden des Fleisches unteilhaftig (διαμένει αμέτοχος); denn nicht wie die Gottheit durch das Fleisch wirkte, so litt auch das Fleisch durch die Gottheit; denn das Fleisch diente der Gottheit als Organ.” Kyrill: „Weil das Fleisch mit dem lebengebenden Wort verbunden ist, so ist es ganz lebengebend gemacht worden. Denn nicht hat es das mit ihm verbundene Wort zu seiner vergänglichen Natur herabgezogen, sondern es ist selbst zur Kraft der höheren Natur emporgehoben worden.” (In Iohannem, lib. 4, c. 23. Catalogus, p. 749.) Basilius lehrt unter Verwendung des Bildes von Feuer und Eisen die „Einseitigkeit" so: „Wie ist die Gottheit im Fleische? So, wie das Feuer im Eisen ist, nicht so, daß sie etwas verliert, sondern so, daß sie etwas mitteilt (ον μεταβατικώς, άλλα μεταδοτικώς). Denn nicht geht das Feuer in das Eisen über durch Selbstentleerung, sondern es bleibt ungestört an seinem Platz und teilt ihm seine eigene Kraft mit (ον γάρ έκτρέχει το πυρ προς το σίδηρον, μένον δέ κατά χοοραν μεταδίδωσιν αντφ τής οικείας δννάμεως). Das Feuer Wird durch Mitteilung keineswegs verringert (έλαττοϋται) und erfüllt ganz das mit ihm Verbundene.” (In Nativitatem Christi; Catalogus, p. 749. Das μένειν κατά χώραν ist eine gewöhnliche griechische Redeweise zur Bezeichnung des Begriffs: in ungestörter Ordnung oder Verfassung bleiben. Vgl. die größeren Lexika.) Augustinus unterscheidet zwischen der Art und Weise, wie die Gottheit am Leiden und wie die menschliche Natur an der göttlichen Majestät teil hat: „Iniuria sui corporis affectam non fateor Deitatem, sicut maiestate Deitatis glorificatam novimus carnem.” (Contra Felicianum Arianum, c. 11. Catal., p. 750.)  Ebenso Johannes von Damaskus: „Diese” (die göttliche Natur) „teilt dem Fleische die eigenen herrlichen Eigenschaften (ανχήματα) mit, während sie selbst leidenslos (άπαϑής) bleibt.” (De orthod. fide III, 7. 15.)

552) F. C. 684, §49: „Was die göttliche Natur in Christo anlanget, weil bei Gott keine Veränderung ist (Jak. 1), ist seiner göttlichen Natur durch die Menschwerdung an ihrem Wesen und Eigenschaften nichts ab- oder zugegangen,


260  >        Die Lehre von Christo..  [English ed. ~ 236]

Alle göttlichen Eigenschaften sind der menschlichen Natur Christi mitgeteilt. ^

Die reformierte Theologie hat endlich gegen die Mitteilung der göttlichen Eigenschaften an die menschliche Natur noch einen Einwurs erhoben, der von der Unteilbarkeit der göttlichen Eigenschaften hergenommen ist. Das Argument verläuft so: Entweder müssen — infolge der Unteilbarkeit der göttlichen Eigenschaften — alle göttlichen Eigenschaften von Christo nach der menschlichen Natur ausgesagt werden oder gar keine. Nun schreibt die lutherische Lehre Christo nach der menschlichen Natur zwar Allmacht, Allwissenheit und Allgegenwart — die sogenannten wirkenden göttlichen Eigenschaften — zu, aber nicht Ewigkeit, Unermeßlichkeit und das Geistsein, die sogenannten ruhenden göttlichen Eigenschaften. Damit fällt aber — eben wegen der Unteilbarkeit des göttlichen Wesens und der göttlichen Eigenschaften — die ganze lutherische Lehre von der Mitteilung göttlicher Eigenschaften an die menschliche Natur dahin. Wollen die Lutheraner Christum nach seiner menschlichen Natur nicht „ewig", „unkörperlich” und „unermeßlich" nennen, so haben sie auch kein Recht, Christo nach seiner menschlichen Natur Allmacht, Allwissenheit und Allgegenwart zuzuschreiben. So argumentieren die Reformierten vor und nach der Neustädter Admonition.553) Ganz besonders meinten sie die

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ist in oder für sich dadurch weder gemindert noch gemehret.” S. 690, § 71: „Wir glauben, lehren und bekennen keineswegs eine solche Ausgießung der Majestät Gottes und aller derselbigen Eigenschaften in die menschliche Natur, dadurch die göttliche Natur geschwächt oder etwas von dem Ihren einem andern übergebe, das sie nicht für sich selbst behielte.” S. 550, § 39: „Wir verwerfen und verdammen als Gottes Wort und unserm einfältigen Glauben zuwider, . . da gelehret und der Spruch Matth. 28: Mir ist gegeben alle Gewalt' also gedeutet und sterlich verkehrt wird, daß Christo nach seiner göttlichen Natur in der Auferstehung und feiner Himmelfahrt restituiert, das ist, wiederum zugestellet worden sei, alle Gewalt im Himmel und auf Erden, als hätte er im Stand seiner Niedrigung auch nach der Gottheit solche abgeleget und verlassen. Durch welche Lehre ... der verdammten arianischen Ketzerei der Weg bereitet, daß endlich Christus' ewige Gottheit verleugnet und also ganz und gar samt unserer Seligkeit verloren, da solcher falschen Lehre aus beständigem Grund göttlichen Worts und unsers einfältigen Glaubens nicht widersprochen würde."

553) Admonitio Neost. p. 252: Si unio cum natura omnipotente et immensa facit naturam humanam omnipotentem et immensam [?], cur unio cum natura incorporea non faceret eam incorpoream? Sadeel, De veritate humanae nat. Christi, p. 10: Qui affirmant omnipraesentiam corporis Christi, id dicunt fieri vi unionis hypostaticae τον λόγον: eo quod ο λόγος


261  >        Alle göttlichen Eigenschaften der menschlichen Natur mitgeteilt.  [English ed. ~ 236]

Lutheraner mit dem Prädikat der Ewigkeit bedrängen zu können. Kein Lutheraner behaupte, daß Christo nach der menschlichen Natur Ewigkeit zuzuschreiben sei; so sei ihm auch nicht alle Gewalt im Himmel und aus Erden nach der menschlichen Natur gegeben.554)

Dieses reformierte, so energisch geltend gemachte Entweder —' Oder hat wieder die doppelte Eigenschaft, daß es a. wider die Schrift und b. wider die Vernunft ist.

Es ist Wider die Schrift, weil nicht die lutherische Kirche, sondern die Schrift jenen beanstandeten Unterschied in den Aussagen macht. Die Schrift nämlich sagt von Christo nach der menschlichen Natur Wohl die Allmacht, Allwissenheit, Allgegenwart und göttliche Ehre aus, wie bereits im einzelnen nachgewiesen wurde, aber die Schrift sagt von Christo nach der menschlichen Natur nicht die Ewigkeit, sondern ausdrücklich ein Alter von acht Tagen und dreißig Jahren aus.555) Das reformierte Entweder — Oder stellt also einen rationalistischen Gewaltstreich gegen die Schrift dar. Die Apologie des Konkordienbuchs hat daher die Lehre der Konkordienformel genügend verteidigt,556) wenn sie in bezug auf den reformierten Einwurs sagt: „Wir antworten hie mit wenig Worten, daß wir von der Mitteilung der göttlichen Majestät oder Eigenschaften nicht weiter gehen oder lehren, denn uns Gottes Wort fürleuchtet. Weil nun Gottes Wort wohl von Mitteilung anderer Eigenschaften meldet, aber von der Ewigkeit nichts sagt, so gebührt, uns auch nichts zu asseverieren. Und hat man sich darum keiner Teilung der göttlichen Eigenschaften zu befürchten. Denn der Sohn Gottes, der solche Lehre von der Mitteilung der göttlichen Gewalt, lebendigmachender Kraft, und was dergleichen mehr sind, geoffenbart, der wird auch die Weise wohl wissen, wie solche Mitteilung ohne Zertrennung der Eigenschaften geschehen könne. Dem wir's auch befehlen und in solchem Geheimnis außerhalb seines Worts mit unserer Vernunft nichts dichten oder grübeln sollen."557) Ebenso weist Chemnitz an erster Stelle darauf hin, daß der reformierte Einwurs sich in Widerspruch zur Schrift setze. „Du siehst",

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(inquiunt) communicat corpori suam omnipraesentiam, At omnipraesentia sive ubiquitas τον λόγον non potest separari ab aeternitate ipsius λόγον. Nam quia divina natura est simplicissima, idcirco proprietates divinae essentiae, quae sunt ipsa essentia, sunt indivisibiles. (Bei Frank III, 377.)

554) Vgl. Apologie des Konkordienbuchs, S. 81a.

555) Luk. 2, 21; 3, 23.        556) Gegen Frank        III, 277 ff.

557) Apol. d. Konkordienbuchs, S. 81a; bei Frank III, 377.


262  >        Die Lehre von Christo.  [English ed. ~ 236–237]

schreibt er, „daß die spitzfindigen Leute nicht von der Offenbarung der Schrift anfangen, was die von Christo als ihm in der Zeit nach der menschlichen Natur gegeben aussagt, sondern sie setzen ihre Spitzfindigkeiten (argutias illas) dem geoffenbarten Wort entgegen.558)

Aber das reformierte Entweder — Oder ist auch, obwohl es mit Vernunftgründen gegen Schriftaussagen operiert, nichts weniger als vernünftig, mag man es vom reformierten oder allgemein menschlichen Standpunkt aus betrachten. Es involviert erstlich wieder Selbstmord. Nach reformierter Lehre ist die göttliche Persönlichkeit des Sohnes Gottes der menschlichen Natur Christi mitgeteilt. Wenn nun die reformierten Theologen es mit Recht ablehnen, wegen der mitgeteilten ewigen göttlichen Persönlichkeit die Ewigkeit von der menschlichen Natur Christi auszusagen, so haben sie damit jedes Recht verwirkt, von den Lutheranern zu fordern, daß diese wegen der mitgeteilten ewigen göttlichen Allmacht die Ewigkeit von der menschlichen Natur Christi aussagen. So bricht die so energisch unternommene reformierte Offensive, selbst vom reformierten Standpunkt aus betrachtet, völlig in sich selbst zusammen. Denken wir ferner an die Verbindung von Seele und Leib im Menschen, ein Analogon, das die Schrift selbst (Kol. 2, 9) zur Illustration der Verbindung von Gott und Mensch in Christo gebraucht. Es wäre nicht vernünftig, wenn jemand in bezug auf die Vereinigung von Seele und Leib sagen wollte: „Wenn der Leib durch die Vereinigung mit der Seele ein lebendiger Leib wird, so muß er durch dieselbe Vereinigung auch immateriell werden. Wird er nicht immateriell, so ist er auch nicht ein lebendiger zu nennen.” Genau so wenig vernünftig ist das Argument der Neustädter Admonition: Wenn die menschliche Natur durch die Vereinigung mit der göttlichen

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558) De duabus naturis, c. 23, p. 127. Äg. Hunnius faßt De duabus naturis, c. 23, p. 127 (Baier III, 55), den reformierten Einwurs so zusammen: At uno idiomate τον λόγον non communicato humanitati nulla prorsus communicata dicentur; ac vero infinitas, aeternitas, spiritualitas non sunt carni tributa, ergo nec idiomata reliqua. Hunnius antwortet: Hic initio respondeo, nos in hoc mysterio nihil ultra praescriptum divini Verbi vel affirmare vel defendere. Quia igitur manifesta habemus testimonia, Christo homini communicatam omnipotentiam, infinitam sapientiam, virtutem vivificandi et praesentiam usque ad consummationem saeculi, propterea credimus. Rursum quia Scriptura nusquam dicit humanitatem Christi esse ab aeterno, esse factam infinitam etc., ideo hoc etiam non asserimus..


263  >        Alle göttlichen Eigenschaften der menschlichen Natur mitgeteilt.  [English ed. ~ 238–239]

nicht immateriell (incorporea) wird, so wird sie durch diese Vereinigung auch nicht allmächtig (omnipotens).

Wiewohl das reformierte Entweder — Oder genugsam durch tue Tatsache abgewiesen ist, daß die Schrift nur die Allmacht, Allwissenheit und Allgegenwart, nicht aber die Ewigkeit von der menschlichen Natur Christi aussagt, so sind wir doch durch die Offenbarung der Schrift in der Lage, näher den Grund angeben zu können, warum nicht alle göttlichen Eigenschaften in gleicher Weise von der menschlichen Natur Christi ausgesagt werden können, obwohl mit der ganzen Fülle der Gottheit (Kol. 2, 9) selbstverständlich sämtliche göttliche Eigenschaften, nicht nur die wirkenden, sondern auch die ruhenden, in die menschliche Natur eingegangen sind. Der Grund ist dieser: Die göttlichen Eigenschaften bleiben auch innerhalb der persönlichen Vereinigung durchaus und stets die wesentlichen Eigenschaften nur der göttlichen Natur und werden nie, etwa durch Ausgießung (transfusio), die wesentlichen Eigenschaften der menschlichen Natur. So sagt die Konkordienformel zu Anfang des achten Artikels von der Person Christi: „Also gläuben, lehren und bekennen wir, daß allmächtig sein, ewig, unendlich, allenthalben zumal, natürlich, das ist, nach Eigenschaft der Natur und ihres natürlichen Wesens, für sich selbst gegenwärtig sein, alles wissen sind wesentliche Eigenschaften der göttlichen Natur, welche der menschlichen Natur wesentliche Eigenschaften in Ewigkeit nimmermehr werden."559) Wenn nun die göttlichen Eigenschaften nie wesentliche Eigenschaften der menschlichen Natur werden, in welcher Weise kommen sie denn der menschlichen Natur zu? Sie werden der menschlichen Natur nur dadurch eigen und daher auch nur deshalb von der menschlichen Natur ausgesagt, insofern und weil sie in der menschlichen Natur als dem Leibe der göttlichen Natur zur Wirksamkeit kommen. Auch Luther faßt, wie bereits nachgewiesen wurde, die Mitteilung der göttlichen Eigenschaften an die menschliche Natur nicht „starr physisch", sondern „dynamisch", das heißt, als Durchdringung der menschlichen Natur seitens der göttlichen zum Zweck göttlicher Wirkung durch die menschliche Natur. Die menschliche Natur ist ihm das „Handgezeug" für die Gottheit. Nehmen wir als Beispiel die göttliche Allmacht. Wir schreiben der menschlichen Natur Christi alle Gewalt im Himmel und auf Erden, lebendigmachende Kraft, Gerichtsgewalt usw., zu, nicht als wesent

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559) Müller, S. 676, § 9. Dasselbe lehrt die Konkordienformel in ganz ausführlicher Darlegung, S. 687 ff., § 60 ff.


264  >        Die Lehre von Christo.  [English ed. ~ 239–240]

liche Eigenschaft, sondern weil der Sohn Gottes seine göttliche Gewalt in der menschlichen Natur, die zu seiner Person gehört, betätigt. Nun macht aber die Schrift selbst, was die Tätigkeit nach außen oder die Wirkung auf die Kreaturen betrifft, einen klar erkennbaren Unterschied unter den göttlichen Eigenschaften. Sie stellt die einen als ruhend, die andern als wirkend dar. Nehmen wir als Beispiel die Erschaffung der Welt. Gott war sicherlich auch nach seiner Ewigkeit oder als der ewige Gott bei und in der Weltschöpfung. Dennoch redet die Schrift so, daß Gott die Welt nicht durch seine Ewigkeit, sondern durch seine Allmacht geschaffen hat, das heißt, die Ewigkeit wird bei der Weltschöpfung als ruhend, die Allmacht als wirkend vorgestellt. Nun behaupten auch die Reformierten nicht, daß dadurch die Ewigkeit von der Allmacht abgesondert, also eine Trennung unter den göttlichen Eigenschaften angerichtet werde. Zudem: Daß Gott auch nach seiner Ewigkeit in und bei der Weltschöpfung war, geht daraus hervor, daß die Eigenschaft der Ewigkeit indirekt, nämlich an der Eigenschaft der Allmacht, zur Aussage kommt, wenn die Allmacht, durch welche die Schöpfung sich vollzog, als die ewige Allmacht oder die Allmacht des ewigen Gottes beschrieben wird. Dies findet nun seine Anwendung auch auf die Mitteilung der göttlichen Eigenschaften an die menschliche Natur Christi. Christi menschliche Natur ist und bleibt auch innerhalb der Persönlichen Vereinigung eine Kreatur. Freilich ist in diese Kreatur παν το πλήρωμα τής ϑεότητος eingegangen, und es ist daher nicht mißverständlich, sondern recht geredet, wenn wir sagen, daß sämtliche göttliche Eigenschaften, nicht nur die wirkenden (Allmacht, Allwissenheit und Allgegenwart), sondern auch die ruhenden (Ewigkeit, Unendlichkeit, Geistsein), in der menschlichen Natur wohnen und in dem Sinne ihr mitgeteilt sind. Weil aber nur die wirkenden göttlichen Eigenschaften in der menschlichen Natur, die ein Geschöpf ist und bleibt, direkt zur Wirksamkeit kommen, so werden auch nur die wirkenden direkt von der menschlichen Natur ausgesägt, während die ruhenden indirekt, nämlich an den wirkenden, zur Aussage gelangen. Um an Beispiele zu erinnern: So werden Allmacht und Allgegenwart Christo nach der menschlichen Natur direkt zugeschrieben, wenn die Schrift uns dahin belehrt, daß Christo in der Zeit und nach der Erhöhung alles unter die Füße getan sei, und er das All und die Kirche erfülle.560) Die

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560) Eph. 1, 20—23; 4, 10.


265  >        Alle göttlichen Eigenschaften der menschlichen Natur mitgeteilt.  [English ed. ~ 240]

Ewigkeit hingegen kommt nur indirekt, nämlich an den wirkenden Eigenschaften, zur Aussage. So wird die Allmacht, die Christo in der Zeit gegeben ist, ausdrücklich als ewige Allmacht charakterisiert, wenn es Dan. 7,14 von der dem Menschensohne gegebenen „Gewalt, Ehre und Reich" heißt: „Seine Gewalt ist ewig, die nicht vergehet.” Ebenso wird die δόξα, durch welche Christus nach seiner menschlichen Natur durch die Erhöhung herrlich gemacht wird, Joh. 17, 5 ausdrücklich als ewige δόξα beschrieben: „Nun verherrliche mich bei dir selbst mit der Herrlichkeit, die ich bei dir hatte, ehe die .Welt war.” Auch Joh. 1, 14 wird die Herrlichkeit, welche die Jünger an dem fleischgewordenen Logos im Stande der Niedrigkeit sahen, als δόξα ώς μονογενούς παρά πατρός, also als ewige göttliche Herrlichkeit, charakterisiert. In dieser Weise geben nicht nur die späteren lutherischen Dogmatiker, sondern auch Chemnitz und seine Zeitgenossen aus der Schrift den näheren Grund für die Tatsache an, daß nicht alle göttlichen Eigenschaften gleicherweise von der menschlichen Natur Christi ausgesagt werden, wiewohl mit der ganzen Fülle der Gottheit sämtliche göttliche Eigenschaften in die Menschheit eingegangen sind.561)

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561) Chemnitz: Propius aliquanto ad argutias dissolvendas accedamus. Scholastici scriptores et alii eruditi recte dicunt: idiomata essentialia in divinitate esse simpliciter ipsam absolutam Dei essentiam, cum qua unum et idem eunt. Et essentiam illam Dei in sese consideratam esse άμέριατον atque ideo idiomata etiam essentialia absolute in sese in Deo considerata non esse a se invicem distincta; non enim alia sui parte Deus est sapiens, alia potens, alia iustus, . . . sed unica, individua et simplicissima essentia divina est ipsa potentia, sapientia, vita divina etc. Sed quando individua illa divinitatis essentia ad creaturas refertur atque ita relate ad extra consideratur, quod scilicet in creaturis non eadem in omnibus, sed in aliis alia efficiat, quaedam iustitia sua, quaedam bonitate, quaedam potentia sua etc.: in ea relatione seu consideratione aliquam quasi distinctionem inter essentiam, et attributa eius docendi et discendi causa cogitamus, . . . atque tunc etiam in illa relatione aut consideratione attributa divina aliquam inter se distinctionem admittunt. Quaedam enim sunt, quibus divina essentia quasi extra se ενεργεία quadam, ad creaturas egredietur . . ., qualis est iustitia, bonitas, potentia, maiestas seu gloria, sapientia, vita. . . . Alia vero sunt attributa, quae quasi intra ipsam essentiam manent nec peculiaribus ενεργείαις, actionibus, operationibus aut effectis in creaturis ad extra se proferunt vel cognoscenda se praebent, ut illis tanquam actu secundo describi et intelligi possint, qualis est aeternitas, immensitas, infinitas, quodque est spiritualis essentia. . . . Aeternitas et immensitas Deitatis, quia ad totam plenitudinem Deitatis pertinent, personaliter inhabitant in assumpta Christi natura, sed non


266  >        Die Lehre von Christo.  [English ed. ~ 241–242]

Wir können diesen Abschnitt nicht schließen, ohne daran zu erinnern, daß uns in dem von der Unteilbarkeit des göttlichen Wesens und der göttlichen Eigenschaften hergenommenen Argument eine große Fülle eingebildeter menschlicher Weisheit entgegentriü. Es ist eine

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peculiares pro se (an sich selbst) ενεργείας in assumpta natura et per eam proferunt et exerunt, Reliqua vero Deitatis Yerbi attributa ita personaliter inhabitant in assumpta natura, ut ενεργείας suas in illa et per illam exerant, sicut dictum est, quibus tamen aeternitas et immensitas individuo nexu cohaerent. Divina enim potentia του λόγον, quae operationes suas per assumptam naturam exerit, est aeterna et immensa potentia. Haec amantibus veritatem plana sunt. Et reliquae quidem creaturae ab ένεργεία illorum attributorum Divinitatis qualitates quasdam mutuantur, tanquam rivos ex fonte et radios a lumine deductos. In Christi vero assumpta natura ipsa divina potentia Verbi non habitus aut qualitates tantum efficit, sed ipsas operationes suas divinas per carnem assumptam exerit, eo modo, sicut dictum est. Atque inde sumitur denominatio, quod caro Christi praedicatur vivifica. Quod vero dicitur, carnem Christi non factam esse ex unione aeternam, infinitam, immensam et spiritualem essentiam, ideo non totam plenitudinem Deitatis personaliter communicatam assumptae humanae naturae, facile solvitur. Neque enim ex reliquorum etiam attributorum personali communicatione humanitas Christi in seipsa aut secundum se, essentialiter aut per essentiam, proprietate aut conditione aliqua naturae, facta est omnipotens, omniscia, vivifica, sed quia assumpta humanitas attributa illa Divinitatis λόγον personaliter sibi imita habet, ita ut in illa et per illam operationes suas exerant, sicut de ferro ignito dictum est: ideo dicitur communionem cum illis habere. Über die Beispiele von Seele und Leib und Feuer und Eisen fügt Chemnitz hinzu: Et anima, quae et ipsa est αμέρωτος, non habens partem extra partem, cum sit in toto corpore tota et singulis partibus tota, potentias quidem suas communicat corpori, ut oculus videat, auris audiat, cor intelligat, non tamen corpus ideo aut inde fit substantia spiritualis et immortalis sicut est anima. Ignis etiam se totum et facultates suas communicat ferro ignito, non tamen ideo aut inde ferrum ignitum fit substantia elementaris levis, sursum tendens, nec ideo vera et realis communicatio ignis ad ferrum infringitur. Sed satis sit de illis argutiis, cum lucerna pedibus nostris et lux semitis nostris sit patefactum Verbum Dei, cuius facem praelucentem in magni huius mysterii explicatione solam merito ac necessario sequimur. (De duabus naturis, p. 128 sq.) — Quenstedt faßt vollkommen schriftgemäß den Tatbestand so zusammen: Recte dicitur omnia attributa divina esse naturae humanae communicata, item quaedam, nulla. Omnia communicata sunt quoad inhabitationem et possessionem, quaedam saltem quoad immediatam praedicationem et enunciationem (ut ενεργητικά sive quae habent actum primum et secundum, ut omnipotentia, omniscientia etc., non vero άνενέργητα, ut aeternitas, infinitas etc.). Nulla sunt communicata quoad e subiecto in subiectum transfusionem. (1. c. II, 228.)


267  >        Dritte Art der Mitteilung der Eigenschaften.  [English ed. ~ 242–243]

Weisheit, die kein Bedenken trägt, mit sogenannten „logischen Notwendigkeiten" kreuz und quer durch das göttliche Wesen und die göttlichen Eigenschaften zu fahren, als ob Gott nicht φως άπρόοιτον für die Menschen wäre,562) sondern ein Gott, den sie ohne sein offenbarendes Wort in seinem Wesen und Wirken völlig durchschaut haben. Freilich ist es eine feststehende Wahrheit, daß es in Gott keine Teile gibt, sondern die göttlichen Eigenschaften Gottes unteilbares Wesen selbst sind. Die Unendlichkeit Gottes schließt alle Teile in Gott aus. Aber ebenso ist es eine feststehende Wahrheit, daß wir Menschen uns von einem unendlichen und unteilbaren Wesen nicht die geringste Vorstellung machen können. Weil Gott aber von uns Menschen erkannt werden will, so hat er sich zu unserm menschlichen Vorstellungsvermögen herabgelassen und in seinem Wort sich gleichsam stückweise, das heißt, in einzelnen Eigenschaften, geoffenbart. An diese Offenbarung müssen wir Menschen in diesem Leben uns halten, die Eigenschaften voneinander unterscheiden und den einzelnen Eigenschaften nur die Wirkungen zuschreiben, die Gott selbst in seinem Wort ihnen zuschreibt. Dann erkennen wir Gott zwar nur stückweise, έκ μέρους; aber das ist nach des Apostels Erklärung die normale Erkenntnis für dieses Leben.563) Auf die Theologen und Philosophen, welche mit der „absoluten Einheit" Gottes, von der sie gar keine Vorstellung haben, Schriftaussagen korrigieren wollen, wird das viel gemißbrauchte Wort mit Recht angewendet: "Fools rush in where angels fear to tread."

Die dritte Art der Mitteilung der Eigenschaften (genus apotelesmaticum). ^

Auch die Belastung der Dogmatik mit einer besonderen Darlegung über die Gemeinschaft der Naturen in der Vollbringung der Amtswerke (αποτελέσματα) ist von den reformierten Theologen und ihren christologischen Gesinnungsgenossen verschuldet.564) Die reformierten Theologen fordern nämlich sehr entschieden, daß die menschliche Natur Christi in ihrem Handeln oder Wirken (operatio, actio) von dem Handeln oder Wirken der göttlichen Natur getrennt werde, weil die menschliche Natur als eine endliche Größe (finitum) nicht Organ für die Betätigungen der unendlichen göttlichen Natur sein könne. Hodge zum Beispiel sagt:

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562) 1 Tim. 6, 16.        563) 1 Kor. 13, 9.

564) Klee, Katholische Dogmatik II, 1, S. 446.


268  >        Die Lehre von Christo.  [English ed. ~ 243–244]

"Omnipresence and omniscience are not attributes of which a creature can be made the organ.”565) Die alten reformierten Theologen sind derselben Ansicht. Danäus schärft ein: wenn auch jede Natur das ihr Eigentümliche innerhalb der Person wirke, so sei dies doch nicht dahin zu verstehen, „als ob zur Gemeinschaft der ihr eigentümlichen Handlung oder Wirkung die göttliche Natur die menschliche als mit ihr Verbundenoder mitwirkend oder mitverursachend hinzunähme” (quasi ad ενεργείας seu operationis sibi propriae consortium et participationem natura divina assumat humanam veluti sibi sociam et cooperatricem ac owakiov).566) Einige Seiten später 567) sagt derselbe Danäus: „Jede Natur Christi handelt bei diesem Genus der Mitteilung das ihr Eigentümliche, ohne daß die andere Natur zu der ihr eigentümlichen Handlung herbeigerufen oder hinzugezogen wird” (non convocata in suam propriam ενέργησιν neque ascita altera natura). Ebenso Zanchi: „Was die Handlungen (actiones) betrifft, durch welche [die Person Christi] handelt (operatur), so sind die einen der Gottheit, die andern der Menschheit eigentümlich, und weil sie eigentümlich sind, können die, welche nur einer Natur eigentümlich zugehören, der andern nicht mitgeteilt werden, sonst würden sie aufhören, eigentümliche zu sein” (alteri communicari non possunt, alioqui desinerent esse propriae).568) Wir haben hier auf reformierter Seite bei dem genus apotelesmaticum nur eine Anwendung der Ablehnung des genus maiestaticum. Ist die menschliche Natur Christi der göttlichen Eigenschaften, insonderheit auch der wirkenden Eigenschaften der Allmacht, Allwissenheit und Allgegenwart, nicht fähig, so ist sie natürlich auch aller Amtswerke nicht fähig, zu deren Ausrichtung diese göttlichen Eigenschaften erforderlich sind.

Vergegenwärtigen wir uns den reformierten Gegensatz nach den einzelnen wirkenden göttlichen Eigenschaften in der Ausrichtung von Amtswerken. Woimmer es sich um ein Amtswerk handelt, zu dessen Ausrichtung die göttliche Allmacht erforderlich ist, da kann die menschliche Natur wegen ihrer Endlichkeit nicht mithandeln. Hieraus erklärt sich die so überaus sonderbare reformierte Lehre von den

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565) Syst. Theol., II, 417.

566) Examen libri Chemnitii, p. 324; bei Frank III, 366.

567) 1. c., p. 327.

568) De Filii Dei incarnatione, p. 404; bei Frank III, 368.


269  >        Dritte Art der Mitteilung der Eigenschaften.  [English ed. ~ 244–245]

Wundern Christi. Auch die Wunder Christi gehörten zu seinen  Amtswerken, weil er auch an seinen Wundern als der im Fleische  erschienene Sohn Gottes und Sünderheiland erkannt werden sollte  und wollte.569) Und tatsächlich'haben seine Jünger an ihm, als er  unter den Menschen wohnte, an seinem Fleische, das heißt, an seiner  menschlichen Natur, seine göttliche Herrlichkeit geschaut.570) Die  Jünger machten somit einen Unterschied zwischen den Wundern Christi  und den Wundern der Propheten und anderer Gottesboten. Dagegen  lautet die reformierte Lehre nun dahin, daß Christus nach seiner  menschlichen Natur nicht anders Wunder wirke als Petrus und  andere menschliche Wundertäter. Auch Hodge sägt: "The human natare of Christ is no more omniscient or almighty than the worker of a miracle is omnipotent.” 571) Die reformierte Trennung  der menschlichen Natur Christi von dem Allmachtswirken der göttlichen Natur kommt ja auch durch Zwinglis Vertauschungslehre (Allöosis) zum Ausdruck. Wie Zwingli den Sohn Gottes aus dem Subjekt der Schriftaussage gestrichen haben will, wenn das  Prädikat auf Leiden und Sterben lautet, so will er auch die menschliche Natur Christi aus dem Subjekt der Schriftaussagen entfernt haben, wenn das Prädikat auf ein Allmachtswerk lautet. Deshalb macht er den Vorschlag, die Aussage Christi Joh. 6: „Mein  Fleisch ist die rechte Speise" durch Subjektsvertauschung so umzuandern: „Die göttliche Natur ist die rechte Speise.” 572) Die späteren Reformierten suchen zwar, wie wir gesehen haben, den Ausdruck άλλοίωσις und permutatio zu meiden, weil er eine zu offenbare Mißhandlung der Schriftaussagen darstellt. Aber wie ihre näheren Erklärungen darüber, wie dem Sohne Gottes Leiden und Tod zukommt, sachlich mit Zwinglis Allöosis zusammenfallen,573) so trennen sie auch in großer sachlicher Übereinstimmung die menschliche Natur Christi von dem Allmachtswirken der göttlichen Natur. Sie lassen die Joh. 6 vorliegende Schriftaussage: carnem Christi esse vivificam nicht gelten und gebrauchen das Bild, daß die menschliche Natur Christi zur Vollbringung seiner Wunder nicht mehr getan habe als  der Saum seines Kleides zur Heilung des blutflüssigen Weibes oder der Stab Mosis zu Mosis Wundern.574) Kurz, es ist reformierte

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569) Matth. 11, 2—6.        570) Joh. 1, 14; Matth. 14, 22—32.

571) A. a. O., S. 417.        572) Vgl. Note 311.        573) S. 166 s.

574) Danäus, Examen libri Chemn., p. 108; Sadeel, De veritate hum. nat., p. 121. Bei Gerhard, De pers., § 288; bei Quenstedt II, 300 sq.


270  >        Die Lehre von Christo.  [English ed. ~ 245–246]

 

Lehre, daß die menschliche Natur Christi vom Mithandeln bei den Allmachtswerken ausgeschlossen sei, weil dies über ihre Kapazität hinausgehe. Wenn die reformierten Theologen auch den Ausdruck „Organ" für die menschliche Natur Christi gebrauchen, so denken sie dabei nicht an ein Organ, das zur lebendigen Einheit der Person gehört, und dem die Allmacht mitgeteilterweise eigen ist, sondern an ein Organ im Sinne von „merum instrumentum", das heißt, .an ein Organverhältnis, wobei die menschliche Natur Christi in eine Rubrik mit den wundertuenden Propheten und Aposteln kommt. Die göttliche Allmacht bleibt nach reformierter Lehre von der menschlichen Natur Christi geradeso getrennt, wie sie getrennt blieb von der menschlichen Natur des Petrus, als dieser den Lahmen vor der Schönen Tür des Tempels heilte.575) Ebenso gestaltet sich nach reformierter Christologie die Sachlage bei den Amtswerken, zu deren Verrichtung Allwissenheit und Allgegenwart erforderlich sind. Achten wir auf das prophetische Amt Christi, Das prophetische Amt Christi besteht darin, daß er im Unterschiede von allen andern Gesandten Gottes aus seinem göttlichen Wissen, nämlich als ὁ ών εις τον κόλπον τον πατρός lehrte.576) Von diesem einzigartigen, nur Christo zukommenden Lehren nach göttlichem Wissen ist aber nach reformierter Vorstellung die menschliche Natur Christi ausgeschlossen, denn:  “A human soul which is omniscient is not a human soul”577) Wie Christi Wundertun, so liegt auch sein Predigen nach der menschlichen Natur auf gleicher Linie mit dem Predigen der Propheten und Apostel. Achten wir auch auf das königliche Amt Christi. Zu diesem Amt gehört, daß er in seiner Christenheit auf Erden gegenwärtig ist und wirkt, seine Kirche, die ja sein Leib ist,  erfüllt, regiert und Wider die Pforten der Hölle erhält. Von dieser Tätigkeit ist aber die menschliche Natur Christi nach reformierter Lehre ausgeschlossen, weil sie einmal einer Allmachtshandlung unfähig, und dann auch ihr ganzer Daseins- und Wirkungsradius nur localis und visibilis ist,578) also nicht über die Körpergröße, etwa sechs Fuß, hinausreicht. Deshalb sagt der Heidelberger Katechismus, daß Christus nach seiner menschlichen Natur jetzt nicht mehr bei seiner Kirche auf Erden ist.579) Christus, soweit seine menschliche Natur in Betracht kommt, regiert seine Kirche in absentia, wie welt

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575) Apost. 3, 1 ff.        576) Joh. 1, 18; 3, 31—34;        3, 13.

577) Hodge, 1. c. II, 416.        578) S. 195 ff.        579) Frage 47.


271  >        Dritte Art der Mitteilung der Eigenschaften.  [English ed. ~ 246–247]

liche Herrscher in bezug auf ihre Reiche sich mit einer Abwesenheits Herrschaft begnügen müssen. Zu Werken des königlichen Amtes Christi gehört auch seine Gegenwart und Wirkung im Universum, Christus hat nämlich zur Sicherstellung seiner Kirche auch das ganze angrenzende Territorium, das All der Dinge, besetzt. Er hat in seine Hand genommen das Meer und das Trockene, Wolken, Luft und Winde, Menschen und Tiere, Engel und Teufel samt allen Ungläubigen. Diese das All umfassende Wirkungssphäre schreibt die Schrift Christo ganz ausdrücklich zu, wenn sie sagt, daß er aufgefahren sei über alle Himmel, um das All (τα πάντα) zu erfüllen, daß ihm alle Dinge unter die Füße getan seien.580) Aber bei diesen Werken der Regierung aller Dinge kann nach reformierter Lehre Christi menschliche Natur nicht mithandeln; denn — wie Heidegger in Übereinstimmung mit Zwingli, Calvin und allen echten Reformierten sagt —: Corporis humani non alia quam visibilis, localis, circumscriptiva praesentia est.581) Calvin dehnt, wo er konsequent ist, die Trennung des Werkes der Naturen ausdrücklich auch auf das hohepriesterliche Amt Christi aus. Wenn er Christi Verdienst das Verdienst eines Menschen nennt, das erst durch die Prädestination erlösendenWert empfange,582) so denkt er die menschliche Natur im Werk des Leidens und Sterbensvon der wertverleihenden göttlichen Natur getrennt. Wenn er anderswo dem Blute Christi schlechthin erlösenden Wert zuschreibt, und ihm hierin die reformierten Theologen im allgemeinen folgen, so ist das eine glückliche Inkonsequenz. Die wirklich festgehaltene reformierte Lehre lautet dahin, daß der göttlichen und der menschlichen Natur Christi kein gemeinschaftliches Handeln zukommen könne, sondern die Naturen in ihren actiones und operationes notwendig getrennt bleiben müssen, weil die endliche menschliche Natur einer realen Gemeinschaft mit der unendlichen göttlichen Natur und insonderheit mit den wirkenden göttlichen Eigenschaften (Allmacht, Allwissenheit und Allgegenwart) nicht fähig sei. Danäus drückte dies, wie wir sahen, so aus: „Jede Natur in Christo tut bei diesem

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580) Eph. 4, 10; 1, 20—23  usw.

581) Note 410. Calvin,  Inst. IV, 17, 29: Haec est propria corporis veritas, ut spatio contineatur, ut suis dimensionibus (etwa sechs Fuß umfassend) constet, ut suam faciem habeat. — Garriunt (Calvin meint die Lutheraner) de invisibili praesentia. — Nec promissio (Matth. 28, 20: „Ich bin bei euch") ad corpus trahenda est. (L. c., 30.)

582) Inst. II, 17, 1.


272  >        Die Lehre von Christo. ^  [English ed. ~ 247]

Genus der Mitteilung das ihr Zugehörende, non convocata in suam propriam ενέργησιν neque ascita altera natura.” und in grundsätzlicher Zusammenfassung legt Zanchi dar: Christus, insofern er Gott ist, hat nichts mit dem Wirken der menschlichen Natur zu tun, und Christus, insofern er Mensch ist, hat nichts mit dem Wirken der göttlichen Natur zu tun.583) Und der Irrtum ist auch an diesem Punkte so ernstlich gemeint, daß er als Retter der Orthodoxie, nämlich als Retter der menschlichen Natur Christi, auftritt. Gemeinschaftliches Handeln mit der göttlichen Natur würde die menschliche Natur vernichten. Um dies Unglück zu verhüten, sagt Danäus von den actiones naturarum: Communionem quidem habent ad idem opus seu αποτέλεσμα, sed non habent communicationem inter se.584) 

Diesen Menschengedanken gegenüber halt die christliche Kirche auf Grund der Schrift fest — und dies ist eine Beschreibung des sogenannten genus apotelesmaticum —: Alle Amtswerke, die Christus als Prophet, Hoherpriester und König zur Seligmachung der Menschen gewirkt hat und noch wirkt, wirkt er nach beiden Naturen, indem jede Natur das ihr Eigentümliche nicht getrennt von der andern, sondern in steter Gemeinschaft mit der andern in einem ungeteilten gottmenschlichen Akt (actio ϑεανδρική) wirkt. Die Konkordienformel beschreibt dieses genus also: „Was anlanget die Verrichtung des Amts Christi, da handelt und wirket die Person nicht in, mit, durch oder nach einer Natur allein, sondern in, nach, mit und durch beide Naturen, oder, wie das Concilium Chalcedonense redet, eine Natur wirket mit Gemeinschaft der andern, was einer jeden Gemeinschaft ist. Also ist Christus unser Mittler, Erlöser, König, Hoherpriester, Haupt, Hirte usw. nicht nach einer Natur allein, es sei die göttliche oder menschliche, sondern nach beiden Naturen.585) 

Die reformierte Theologie, welche in Abrede stellt, daß die menschliche Natur Christi bei den Allmachts-, Allwissenheits- und

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583) Zanchi, bei Heppe, Ref. Dogmatik, S. 312: Christus sicut qua Deus est, non vult nec operatur voluntate et potentia humana, sic neque idem qua homo est, vult et operatur voluntate et potentia divina.

584) De Filii Dei incarnationec, p. 404; bei Frank III, 368. über die Selbsttäuschung in bezug auf das „idem opus" später.

585) Müller, S. 684, § 46. 47. Baier: Tertium genus communicationis idiomatum consistit in eo, quod operationes ad officium Christi pertinentes non sunt unius et solius cuiusdam naturae, sed utrique communes, quatenus utraque ad illas, quod suum est, confert et sic utraque agit cum communicatione alterius. (Comp. III, 70.)


273  >        Dritte Art der Mitteilung der Eigenschaften.  [English ed. ~ 248]

Allgegenwartswerken mithandeln oder Mitwirken könne, tritt in Widerspruch mit sich selbst, mit der Schrift und mit dem Zeugnis der alten Kirche.

Sie tritt in Widerspruch mit sich selbst. Es scheint prima facie eine sehr vernünftige Erwägung zu sein, wenn Zanchi sagt, daß die Handlungen (actiones) der Gottheit, weil sie der Gottheit eigentümlich zugehören (Deitatis propriae sunt), der menschlichen Natur nicht mitgeteilt werden können, und wenn in demselben Sinne Hodge uns versichert, daß die menschliche Natur als ein Geschöpf nicht Organ für das göttliche Wissen und die göttliche Allgegenwart werden könne. Aber diese scheinbar vernünftige Erwägung ist nicht vernünftig für reformierte Theologen. Reformierte Theologen wollen bekanntlich den Unitariern gegenüber die unio personalis festhalten, das heißt, sie wollen festhalten, daß das göttliche Ich oder die göttliche Person der menschlichen Natur Christi mitgeteilt sei, und also die menschliche Natur wahrhaftig zum Organ der göttlichen Person gemacht worden ist. Nun hat aber die göttliche Person ganz genau die Eigenschaften der göttlichen Werke. Die göttliche Person des Logos ist ebenso göttlich, unendlich und ein proprium der Gottheit wie die göttlichen Handlungen oder Wirkungen der Allmacht, Allwissenheit und Allgegenwart.586) Mit welchem Recht argumentiert daher Zanchi, die actiones divinitatis, weil sie divinitatis propriae seien, könnten der menschlichen Natur nicht mitgeteilt werden, und mit welchem Recht behauptet Hodge, die menschliche Natur Christi könne nicht zum Organ des göttlichen Wissens und der göttlichen Allgegenwart gemacht werden, da doch beide Theologen den Unitariern gegenüber die Mitteilung der göttlichen Person an die menschliche Natur behaupten wollen? So liegt bei den reformierten Theologen auch hier wieder der Selbstwiderspruch vor, an den wir schon oft erinnern mußten. Sie wollen zwar die Mitteilung der göttlichen Person des Logos an die menschliche Natur zugestehen, aber die Mitteilung der ebenso göttlichen und der Gottheit eigentümlichen Handlungen (actiones) der Allmacht, Allwissenheit und Allgegenwart ablehnen und als Zerstörung der menschlichen Natur oder als Eutychianismus bezeichnen. Dieser Selbstwiderspruch kann nur auf doppelte Weise gehoben werden. Entweder müssen sie ihre Polemik gegen die Unitarier aufgeben und mit den Unitariern die unio personalis von Gott

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586) So richtig auch Frank III, 324.


274  >        Die Lehre von Christo.  [English ed. ~ 249]

und Mensch leugnen, oder sie müssen ihre Gegenstellung gegen die lutherische Kirche fahren lassen und mit den Lutheranern wie die Mitteilung des göttlichen Ich, so auch die Mitteilung der göttlichen actiones der Allmacht, Allwissenheit und Allgegenwart bekennen, Tertium non datur. Wir sagen auch hier wieder im Anschluß an Seeberg : Wer die unio personalis von Gott und Mensch zugibt, hat das Recht verloren, auch nur ein Wort gegen die Mitteilung der göttlichen actiones an die menschliche Natur zu sagen.

Die reformierte Trennung der Naturen in ihren aotiones oder operationes tritt aber vor allen Dingen in direkten Widerspruch zur Schrift. In den Schriftworten 1 Joh. 3, 8: Εις τοΰτο εφανερώϑη — nämlich εν οαρκί 587) — ό υιός τον ϑεον, ΐνα λνσγ) τά εργα τον διάβολον ist von allen göttlichen Werken (actiones) die Rede, durch welche der Sohn Gottes der Retter der Menschen wurde und noch wird. Alle diese göttlichen Werke aber vollziehen sich durch das angenommene Fleisch. Das Fleisch oder die menschliche Natur Christi ist daher das von Gott gewählte Organ für das göttliche Erlösungswerk in allen seinen Teilen. Die Behauptung, die menschliche Natur Christi, weil sie ünitnin oder eine Kreatur ist, könne für die göttliche Allwissenheit, Allmacht und Allgegenwart nicht Organ sein ("cannot be made the organ"), ist eine Verwerfung der ganzen göttlichen Erlösungsmethode. Diese Behauptung ist gleichbedeutend mit der Erklärung, daß auf Gottes Seite ein bedauerlicher Mißgriff zu verzeichnen war, als er seinen Sohn ins Fleisch sandte, damit derselbe im Fleisch und durch das Fleisch das Heilandsamt ausrichte. So gewiß nun Gott mit der Menschwerdung seines Sohnes zur Erlösung der Menschen keinen Mißgriff begangen hat, so gewiß liegt schon in 1 Joh. 3, 8 und allen gleichwertigen Schriftaussagen die Erklärung vor, daß die menschliche Natur Christi ein überaus passendes Organ für die Wirkungen der göttlichen Natur ist, einerlei ob es sich um Wirkungen der göttlichen Allmacht oder der göttlichen Allwissenheit und Allgegenwart handelt, mit andern Worten: daß der/ menschlichen Natur Christi trotz ihres Kreaturseins gemeinschaftliches Handeln mit der Gottheit zukommt, oder alle Amtswerke Christi gottmenschliche Handlungen sind. Die Bezeugung dieser Wahrheit zieht sich durch die ganze Schrift hindurch und ist als der eigentliche Skopus der Schrift zu bezeichnen. Als Weibessame, also durch die mensch-

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587) 1 Joh. 4, 2: εν ααρκί έληλνΰώς.


275  >        Dritte Art der Mitteilung der Eigenschaften.  [English ed. ~ 249–250]

liche Natur als Organ, zertritt der Sohn Gottes der Schlange den Kopf.588) Als Abrahams Same, also in der menschlichen Natur und durch dieselbe, bringt er den Segen unter die Heiden.589) Als der vom Weibe Geborne, also in der menschlichen Natur und durch dieselbe, ist der Sohn Gottes unter das Gesetz getan, auf daß er die, so unter dem Gesetz waren, erlösete, und wir die Kindschaft empfingen.590) Als Prediger auf Erden, also im  Fleisch und durch dasselbe, lehrt er nicht bloß εκ τής γής,  sondern als ό ών εις τον κόλπον τον πατρός mit göttlichem Wissen.591) Als der nach Leiden und Tod erhöhte König, also nach der menschlichen Natur und durch dieselbe, herrscht er nicht in absentia, sondern überall gegenwärtig in Welt und Kirche.592) Angesichts der Schriftaussagen, welche die Amtswerke des Sohnes Gottes durch das angenommene Fleisch sich vollziehen lassen, erscheint die Behauptung, daß die menschliche Natur Christi nicht Organ für die göttlichen aotiones sein könne, allerdings als eine Ungeheuerlichkeit. Es steht vielmehr so: Wie wir nach der Schrift kein Recht haben, dem Sohne Gottes nach seiner Menschwerdung ein Sein außerhalb des Fleisches (esse extra carnem) zuzuschreiben, denn: ό λόγος σάρξ εγένετο, so haben wir auch nach  der Schrift kein Recht, dem Sohne Gottes nach seiner Menschwerdung eine Wirksamkeit außerhalb des Fleisches (operatio extra carnem) zuzuschreiben; denn gerade dazu ist der Sohn Gottes im Fleische erschienen, daß er im Fleische und durch das Fleisch die Werke des Teufels zerstöre, also im Fleische und durch das Fleisch Prophet, Hoherpriester und König sei. Um bei dieser so klar bezeugten Schriftwahrheit zu bleiben, hat daher die Kirche sich veranlaßt gesehen, das sogenannte genus apotelesmaticum aufzustellen, worin sie bekennt: Alle Amtswerke (άποτελέσματά) vollbringt Christus nach beiden Naturen, indem jede Natur das ihr wesentlich Zugehörige in steter Gemeinschaft mit der andern in einem ungetrennten Akt wirkt.

Was den Schriftbeweis für das genus apotelesmaticum betrifft, so ist noch eine Bemerkung am Platze. Man hat es sonderbar und verwirrend gefunden, daß ein und dieselben Schriftaussagen in zwei oder auch in allen drei genera angeführt werden. Aber dies ist völlig sachgemäß. Nehmen wir als Beispiel 1 Joh. 1, 7:  „Das Blut JEsu Christi, des Sohnes Gottes, macht uns rein von

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588) 1 Mos. 3, 15.        589) 1 Mos. 22, 18.        590) Gal. 4, 4. 5.

591) Joh. 1, 18; 3, 31 ff.         592) Eph. 1, 20 ff.

 


276  >        Die Lehre von Christo.  [English ed. ~ 250–251]

aller Sünde.” Wenn wir gegen Nestorius, Zwingli und Genossen hervorzuheben haben, daß in diesen Schriftworten das Blut Christi das Blut des Sohnes Gottes, nicht bloß der menschlichen Natur, heißt, so führen wir die Worte unter dem ersten Genus (genus idiomaticum) an. Gilt es, Nestorius, Zwingli und den reformierten Theologen gegenüber die Aufmerksamkeit darauf zu richten, daß in dieser Schriftstelle dem Blut Christi, also Christo nach der menschlichen Natur, das göttliche Werk der Reinigung von Sünden zugeschrieben wird, so werden die Worte sachgemäß auch unter dem zweiten und dritten Zenus angeführt, weil in den Worten zum Ausdruck kommt, daß der menschlichen Natur Christi sowohl göttliche Kraft mitgeteilterweise eigen ist (genus maiestaticum), als auch gemeinschaftliches Handeln (actio) mit der göttlichen Natur zukommt (genus apotelesmaticum). Daß wir den Inhalt einer Schriftaussage in drei genera auseinanderlegen, hat seinen Grund nicht in lutherischer Weitläuftigkeit und Liebe zur Polemik, sondern in der Existenz von Leuten, welche mit Nestorius, Zwingli und Genossen geleugnet haben und noch leugnen, daß der Sohn Gottes Blut habe, und diesem Blut göttliche Kraft und göttliche Wirkung zukomme. Wir können das genus apotelesmaticum das direkt praktische genus nennen. Unter demselben werden die Schriftaussagen insofern angeführt, als sie Christum in seinem Amt oder Werk, das er der ganzen Menschheit und seiner Kirche zugut ausgerichtet hat und noch ausrichtet, beschreiben. Es geschieht dies, wie es die Dogmatiker ausgedrückt haben, entweder durch ein nomen officii concretum, wie: Christus, Heiland, Mittler, Prophet, Hoherpriester, König, Licht usw., oder durch propositiones (Sätze) officium Christi describentes, in denen von Christo als Subjekt ausgesagt wird: der Welt Sünde tragen (Joh. 1, 29), sich selbst für unsere Sünde geben (Gal. 1, 4), sich selbst für unsere Sünde dargeben zur Gabe und Opfer, Gott zu einem süßen Geruch (Eph. 5, 2), für unsere Sünde sterben (1 Kor. 15, 3), im Fleisch für uns leiden (1 Petr. 4, 1), durch seine Wunden uns heilen (Ies. 53, 5; 1 Petr. 2, 24), sein Leben zum Schuldopfer geben (Ies. 53, 10), vom Fluch des Gesetzes erlösen (Gal. 3, 13), der Schlange den Kopf zertreten (1 Mos. 3,15), die Werke des Teufels zerstören (1 Joh. 3, 8), durch den Tod dem Teufel, der des Todes Gewalt hatte, die Macht nehmen (Hebr. 2, 14), selig machen, was verloren ist (Luk. 19,10), durch sich selbst die Reinigung der Sünden


277  >        Die praktische Wichtigkeit des genus apotelesmaticum.  [English ed. ~ 251–252]

vollziehen (Hebr. 1, 3), die Kirche durch sein eigen Blut erwerben (Apost. 20, 28), alle Völker der Erde segnen (1 Mos. 22, 18), der Heiden Licht sein (Ies. 42, 6; Luk. 2, 32), den unsichtbaren Gott aus Erden offenbaren und sichtbar machen (Joh. 1,18; 3,13; 14, 9; 1 Joh. 1,1 ff.), sür die Kirche beten (Joh. 17; Röm. 8, 34; 1 Joh. 2,1), bei der Kirche gegenwärtig sein (Matth. 28, 20), der Kirche Gaben geben (Eph. 4, 7. 11), das Universum und die Kirche erfüllen (Eph. 4, 10; 1, 20—23) usw. Ob in solchen Aussagen das Subjekt ausdrücklich nach beiden Naturen benannt ist (wie: Christus ist für unsere Sünden gestorben) oder nur nach einer von beiden Naturen (wie: der eingeborne Sohn hat es uns perkündigt — der Weibessame zertritt der Schlange den Kopf) — immer vollbringt die ganze Person die Werke nach beiden Naturen, indem jede Natur das ihr eigentümlich Zugehörende (proprium) in steter Gemeinschaft mit der andern (cum communicatione alterius) handelt. Und in diesem einzigartigen Zusammenwirken von Gott und Mensch in einer Person, das heißt, in der gottmenschlichen Handlung, ist der einzigartige Charakter des Werkes Christi in seinem prophetischen, hohepriesterlichen und königlichen Amt begründet, während durch die reformierte Scheidung der actiones der menschlichen Natur von den actiones der Gottheit, wenn sie konsequent durchgesührt wird, Christi Werk seinen einzigartigen Charakter verliert und aus menschliches Niveau herabgedrückt wird. Der Gegenstand ist so wichtig, daß wir hierüber sofort einen besonderen Abschnitt folgen lassen.

Die praktische Wichtigkeit des genus apotelesmaticum. ^

Es wurde schon daran erinnert, daß das genus apotelesmaticum das direkt praktische genus genannt werden könne. Die ersten beiden genera, das idiomaticum und maiestaticum; sind notwendige Voraussetzungen für das apotelesmaticum. Die Kirche kämpft für die beiden ersten genera im Interesse des dritten. Wir halten im ersten genus Nestorius und Zwingli gegenüber fest, daß nicht ein bloßer Mensch, sondern der Sohn Gottes von Maria geboren und am Kreuz gestorben ist, und wir halten im zweiten Genus allen reformierten Widersprechern gegenüber fest, daß die menschliche Natur Christi mitgeteilterweise allmächtig, allwissend und allgegenwärtig ist, um im dritten Genus festhalten zu können, daß auch alles Handeln Christi gottmensch-


278  >          [English ed. ~ 252–253]

lichen und dadurch einzigartigen, seligmachenden und tröstlichen Charakter trage.593a)

Der einzigartige Charakter des prophetischen Amtes Christi besteht, wie schon dargelegt wurde, darin, daß in Christo Gott selbst auf Erden lehrt. Diesen einzigartigen Charakter des Lehrens Christi auf Erden stellt die Schrift im allgemeinen heraus, wenn sie sagt: „Nachdem vorzeiten Gott manchmal und auf mancherlei Weise geredet hat zu den Vätern durch die Propheten, hat er am letzten in diesen Tagen zu uns geredet durch den Sohn",593b) und im besonderen, wenn sie sagt, daß Christus nicht εκ τής γής, von der Erde aus, wie die Propheten und auch Johannes der Täufer, sondern als ό ών εις τον κόλπον τον πατρός gelehrt habe.594)  Mit andern Worten: Christus hat auf Erden einzigartig, ganz anders als alle andern Boten Gottes, nämlich aus eigenem göttlichen Wissen, gelehrt: Niemand hat Gott je gesehen; der eingeborne Sohn, der in des Vaters Schoß ist, der hat es uns verkündigt.” Wer nun aber vom reformierten Standpunkt aus behauptet, daß Christi menschliche Natur göttlichen Wissens nicht fähig sei ("omniscience is not an attribute of which a creature can be made the organ"), der drückt damit Christi Lehren nach seiner menschlichen Natur — und durch diese Natur vollzog sich seine ganze Lehrtätigkeit auf Erden — auf das Niveau der Propheten und Apostel herab. Das ist die Folge des falschen Grundsatzes, daß die actiones der beiden Naturen in Christo „non (habent) communicationem inter se”.595) 

Vor allen Dingen aber gilt es, das gemeinschaftliche Handeln der Naturen, die communicatio actionum inter se, bei dem Zentral-

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593a) Deshalb nennt Hollaz das genus idiomaticum und das genus maiestaticum das fundamentum proximum für das genus apotelesmaticum: Fundamentum huius communicationis remotum est unitas personae et intima communio naturae divinae et humanae in Christo. Fundamentum proximum, est communicatio idiomatum primi et secundi generis. (Examen, De pers. Christi, qu. 67.) Philippi: „Beide Genera der Idiomenkomnumikation (das idiomaticum und maiestaticum) haben es mit der Person des Gottmenschen an sich zu tun. Der Zweck der Menschwerdung ist aber kein anderer als die Weltversöhnung und Welterlösung. Blicken wir nun auf das Werk (αποτέλεσμα) des Gottmenschen, so entsteht uns ein drittes Genus der Idiomenkommunikation, das sogenannte genus apotelesmaticum.” (Glaubenslehre IV, 1, S. 276 f.)

593b) Hebr. 1, 1. 2.        594) Joh. 1, 18; 3, 13.

595) Zanchi; bei Frank III, 368.


279  >        Die praktische Wichtigkeit des genus apotelesmaticum.  [English ed. ~ 253–254]

werk Christi festzuhalten, nämlich bei dem hohepriesterlichen Amt, in dem Christus sich selbst für die Sünden der Welt Gott zum Opfer dargebracht hat. Christus leidet zwar nicht nach der göttlichen, sondern nach der menschlichen Natur. Aber auch nach seiner göttlichen Natur ist er und wirkt er in und bei diesem Leiden, indem die göttliche Natur mit der menschlichen persönlich vereinigt bleibt, dieselbe stützt und dem Leiden unendlichen Wert verleiht, so daß aus dem gemeinschaftlichen Wirken der beiden Naturen ein Leiden für die ganze Welt resultiert, das heißt, ein Werk, wodurch die Versöhnung der ganzen Welt mit Gott zustande gekommen ist. Ohne das Zusammenwirken der göttlichen und der menschlichen Natur hätte Christi Leben, Leiden und Sterben nicht mehr Wert und Bedeutung als das Werk eines menschlichen Heiligen. Christi hohepriesterliches Werk würde den Charakter des Erlösungswerkes verlieren. Wir können zwar nicht den Modus darlegen, wie der in sich leidensunfähige Gott in die Gemeinschaft des Leidens an seiner menschlichen Natur kommen konnte. Wir haben auch erkannt, daß alle versuchten Näherbestimmungen vom Übel sind.596) Aber die Tatsache der Gemeinschaft am Leiden steht so gewiß fest, als die Schrift den Tod Christi den Tod des Sohnes Gottes nennt und darauf den Versöhnungswert dieses Todes gründet.597) Dies ist der Punkt, von welchem aus Luther Zwinglis Allöosis bekämpft: „Also lerne diesen Artikel fassen, daß man diese Person Christi ganz behalte und beider Naturen Werk ineinanderschließe, obwohl die Naturen unterschieden sind. Denn nach der göttlichen Natur ist er nicht von einem Menschen geboren, noch etwas von der Jungfrau genommen. Und ist wahr, daß Gott ist der Schöpfer, der Mensch aber eine Kreatur oder Geschöpf; hier aber sind sie Zusammenkommen in eine Person, und heißt nun Gott und Mensch ein Christus, daß Maria hat einen Sohn geboren, und die Juden solche Person gekreuzigt, welcher ist Gott und Mensch. Sonst, wo er lauter Mensch wäre als andere Heilige, vermöchte er mit aller seiner Heiligkeit, Blut und Sterben nicht eine Sünde von uns zu nehmen oder ein Tröpflein des höllischen Feuers zu löschen."598) Ferner: „Wir Christen müssen das wissen: Wo Gott nicht mit in der Wage ist und das Gewichte gibt, so sinken wir mit unserer Schüssel zugrunde. Das meine ich

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596) S. 157 und Note 325.

597) Röm. 5, 10; 1 Joh. 1, 7; Apost. 20, 28.     598) St. L. VIII, 386.


280  >        Die Lehre von Christo.  [English ed. ~ 254–255]

also: Wo es nicht sollte heißen: Gott ist für uns gestorben, sondern allein ein Mensch, so sind wir verloren; aber wenn Gottes Tod und Gott gestorben in der Wageschüssel liegt, so sinket er unter, und wir fahren empor als eine leichte, ledige Schüssel."599) Deshalb ist auch Luthers Urteil über Zwinglis Redefigur „Allöosis", durch welche dieser den Sohn Gottes von dem Werk des Leidens absonderte, nicht zu scharf: „Hüte dich, hüte dich, sage ich, vor der Allöosi! Sie ist des Teufels Larve; denn sie richtet zuletzt einen solchen Christum zu, nach dem ich nicht gerne wollte ein Christ sein, nämlich daß Christus hinfort nicht mehr sei noch tue mit seinem Leiden und Leben denn ein anderer schlechter Heiliger. Denn wenn ich das glaube, daß allein die menschliche Natur für mich gelitten hat, so ist mir Christus ein schlechter Heiland, so bedarf er wohl selbst eines Heilandes. Summa: Es ist unsäglich, was der Teufel mit der Allöosi sucht. . . . Nun leugnet der Zwinge! nicht allein diesen höchsten, nötigsten Artikel, daß Gottes Sohn für uns gestorben sei, sondern lästert dasselbe dazu und spricht, es sei die allergreulichste Ketzerei, so je gewesen ist. Dahin führt ihn sein Dünkel und die verdammte Allöosis, daß er die Person Christi zertrennt und läßt uns keinen andern Christus bleiben denn einen lautern Menschen, der für uns gestorben und uns erlöst habe. Welches christliche Herz kann doch solches hören und leiden? Ist doch damit der ganze christliche Glaube und aller Welt Seligkeit allerdings weggenommen und verdammt. Denn wer allein durch Menschheit erlöst ist, der ist freilich noch nicht erlöst, wird auch nimmermehr erlöst."600) Das ist die Christi hohepriesterliches Amt aufhebende Wirkung der Zwinglischen Allöosis. Wahr ist auch, wie bereits nachgewiesen wurde,601) daß spätere reformierte Theologen in ihren theoretischen Erklärungen über das Verhältnis des Sohnes Gottes zum Leiden sachlich über Zwinglis Allöosis nicht hinauskommen. Aber mich hier wiederholen wir den Hinweis auf die Tatsache, daß an diesem praktischen Punkte vom Erlösungswerk des Leidens Christi die meisten Reformierten ihr Finitum non est capax infiniti vergessen, daß Calvins Redeweise, wonach Christi Verdienst als das Verdienst eines Menschen keinen erlösenden Wert an sich habe, wenig Nachahmer gefunden hat, und daß selbst die Neustädter Admonition den reformierten Standpunkt verläßt, wenn sie dem Leiden der menschlichen Natur Christi durch die göttliche

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599) St. L. XVI, 2231.        600) St. L. XX, 943 f. 601) S. 166 f.


281  >        Die praktische Wichtigkeit des genus apotelesmaticum.  [English ed. ~ 255–256]

Natur unendlichen Wert verleihen läßt (ut sit λύτραν et pretium sufficiens pro totius mundi peccatis, aequipollens poenis aeternis) und damit wie eine Gemeinschaft der Naturen, so auch ein Zusammenwirken derselben zugibt. Auch sei wieder auf Hodges Äußerung hingewiesen: "Such expressions as Dei mors, Dei sanguis, Dei passio have the sanction of Scriptural as well as of Church usage. It follows from this that the satisfaction of Christ has all the value which belongs to the obedience and suiferings of the eternal Son of God, and His righteousness, as well active as passive, is infinitely meritorious.” 602) Dies steht zwar im Widerspruch mit der so oft wiederholten und hartnäckig festgehaltenen Behauptung, daß zwischen den Naturen und ihren operationes wegen der Inkongruenz derselben keine reale Mitteilung statthabe noch statthaben könne. Aber wir wollen bei der Besprechung der traurigen Lehrdifferenzen nicht unterlassen, immer wieder auf die Tatsache hinzuweisen, daß Gottes Wort unter der Hand auch bei denen sich Geltung verschafft, die es in der Aufregung des Kampfes aus Parteigeist zu Verkehren trachten. Herzog Georg von Sachsen starb auf die Lehre von der Rechtfertigung, die er während seines ganzen Lebens an Luther bekämpft hatte. So nennen auch die reformierten Theologen die reale Gemeinschaft und das gemeinschaftliche Wirken der Naturen in Christo an den Lutheranern eutychianische Ketzerei, erkennen aber diese „Ketzerei" als rechte Lehre an, wenn sie dem Leiden der menschlichen Natur Christi unendlichen Wert durch die göttliche Natur mitgeteilt sein lassen. In der Leidenschaft des Kampfes bemerken sie nicht den. Selbstwiderspruch.

Es erübrigt noch,, auf die Praktische Wichtigkeit des gemeinschaftlichen Handelns der Naturen im königlichen Amt hinzuweisen. Wenn die lutherische Kirche lehrt, daß Christus auch nach seiner menschlichen Natur in seiner Kirche bis ans Ende der Tage überall gegenwärtig ist und wirkt, sowie das Universum erfüllt und regiert, so hören wir auf gegnerischer Seite den Einwurf: Warum die menschliche Natur durch die Teilnahme an der allgegenwärtigen Herrschaft in Kirche und Welt der Gefahr der Vernichtung, der Verwandlung in ein „Gespenst” usw. aussetzen? Ist nicht Christus allein nach seiner göttlichen Natur Manns genug, Kirche und Welt allgegenwärtig zu regieren? Darauf ist erstlich zu antworten, daß die Schrift Christo in der Zeit, also nach der menschlichen Natur,

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602)         S. 168.


282  >        Die Lehre von Christo.  [English ed. ~ 256]

göttliche Gewalt gegeben sein läßt und die Erhöhung zur allgegenwärtigen Herrschaft in Kirche und Welt ausdrücklich auf seine menschliche Natur bezieht, wie bereits ausführlich dargelegt worden ist.603) Damit erledigt sich auch die befürchtete Vernichtung der menschlichen Natur.604) Zum andern ist zu antworten, daß es sicherlich für die Kinder Gottes tröstlich ist, wenn sie auf Grund der Schrift festhalten, daß Christus nicht bloß nach seiner göttlichen, sondern auch nach seiner menschlichen Natur, nach der er ihr Bruder ist, auf Erden bei seiner ganzen Kirche und jedem einzelnen Gliede derselben gegenwärtig sei. Hierauf macht die Konkordienformel aufmerksam, wenn sie sagt: „Darum wir es für einen schädlichen Irrtum halten, da Christo nach seiner Menschheit solche Majestät entzogen, dadurch den Christen ihr höchster Trost genommen, den sie in vorangezeigten Verheißungen” (wie Matth. 28: „Ich bin bei euch") „von der Gegenwärtigkeit und Beiwohnung ihres Hauptes, Königs und Hohenpriesters haben, der ihnen versprochen hat, daß nicht allein seine bloße Gottheit bei ihnen sein werde, welche gegen uns arme Sünder wie ein verzehrendes Feuer gegen dürre Stoppeln ist, sondern Er, Er, der Mensch, der mit ihnen geredet hat, der alle Trübsal in seiner angenommenen menschlichen Natur versuchet hat, der auch daher mit uns, als mit Menschen und seinen Brüdern, Mitleid haben kann, der wolle bei uns sein in allen unsern Nöten auch nach der Natur, nach welcher er unser Bruder ist, und wir Fleisch von seinem Fleisch sind.” 605) Chemnitz widmet der Tröstlichkeit dieser Tatsache in De duabus naturis nicht nur ein eigenes Kapitel,606) sondern weist auch an zahlreichen andern Stellen dieser Schrift auf die „dulces consolationes" hin, die in der Gemeinschaft der operationes der beiden Naturen liegen.607) Übrigens ist auch

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603) S. 169 ff.         604) Konkordienformel, S. 685, § 53; 695, § 92.

605) S. 694, § 87.        606) Cap. XXXI, p. m. 206 sqq.

607) Wir setzen noch einige Ausführungen von Chemnitz hierher. Chemnitz sagt zunächst vorsichtig (ähnlich wie Luther, St. L. II, 778): Non dico, divinam naturam λόγον non posse divinas suas operationes sine adminiculo assumptae perficere. Potuit enim illud ante incarnationem et adhuc idem posset.. Er setzt dann aber sofort hinzu: Sed singulari ευδοκία voluit assumptam nostram naturam in communionem divinarum suarum operationum, praecipue in officio Messiae, tanquam organon assumere, ut certum pignus beatificationis nostrae naturae nobis in seipso ostenderet, utque sciamus nos aditum et communionem habere ad officia et beneficia Filii Dei, Regis, Pontificis et Capitis nostri, quia ad effectionem et com


283  >        Die praktische Wichtigkeit des genus apotelesmaticum.  [English ed. ~ 256–257]

an diesem Punkte die Praxis bei den Reformierten besser als die Theorie der Theologen. In dem Congregationalist wurde vor einigen Jahren eine Zuschrift eines Laien mitgeteilt, in der dieser versicherte, daß er sich seinen Heiland nur in der menschlichen

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munionein illorum officiorum assumpsit humanam nostram naturam, qua nobis consubstantialis, cognatus, imo Frater noster est, Caro de carne nostra, et nemo carnem suam odio habet, sed nutrit ac fovet eam, sicut Dominus ecclesiam, Eph. 5. (Cap. XXIII, p. 126.) Ferner: Adversarii ipsi [die Reformierten] fatentur, Christum ipsum ante omnia nobis donari et nostrum fieri, nobis adesse, ac nobiscum coniungi oportet, ut ita ex ipso, in ipso et per ipsum impleamur in omnem plenitudinem Dei, Eph. 3. Non autem divina natura Christi medium est, per quod humana ipsius natura se nobis communicet, ut ipsi coniungamur, sed sicut veterum sententiis ostendimus, cum natura nostra a gratia, vita et salute, quae est in divina natura, per peccatum divisa et abalienata esset, ita ut nudam divinitatem, secum in iudicio divino agenteifi, non melius ferre posset, quam stipula ignem consumentem, Filius igitur Dei Mediator, naturam nobis excepto peccato cognatam et consubstantialem, hypostatica unione sibi copulavit, ut divinitas cum illa et per illam, qua Frater noster est, non tantum salutem nobis promereretur, verum etiam nobiscum ageret et divina salvationis beneficia nobis communicaret. Cumque fidei nostrae infirmitas onere carnis depressa in hac vita non possit secreta coelorum conscendere et perlustrare, Christus ipse ad nos venit, ecclesiae suae totus adest et tanquam caput membris suis in terra militantibus se coniungit, in illa, cum illa et per illam naturam, qua Frater noster, cognatus et consubstantialis nobis est, ut hoc modo ad communionem et consortium divinae naturae nos perducat. (Cap. XXXI, p. 209.) Den reformierten Irrtum beschreibt Chemnitz so: Fingunt humanam in Christo naturam munere suo, propter quod assumpta fuerat, tunc prorsus defunctam fuisse, quando in cruce dixit: ,,Consummatum est“, ita ut nunc post exaltationem Filius Dei in regno suo assumptam suam humanitatem prorsus non adhibeat ad operationes illas salvationis exercendas, expediendas seu perficiendas, quas in officio tanquam Messias, Rex, Sacerdos ac Caput nostrum in ecclesia in credentibus nunc operatur. . . . Hoc tantum ipsam [humanam naturam] in passione meruisse, ut iam divina natura per se sola in regno Christi omnia agat, non adhibita ad hoc assumpta natura, sed absque eius communione et cooperatione ecclesiae sola divinitas adsit, credentes iustificet, vivificet et reliqua salvationis beneficia praestet et impleat. Ita quidam propositionem Ephesini concilii, quod caro Christi vivificet, eludunt. In bezug auf die Quelle dieses Irrtums bemerkt Chemnitz: Hae opiniones inde oriuntur, quod humana natura in Christo tantum in meris physicis terminis [nach der natürlichen Körpergröße] consideratur, ad quae scilicet et in quantum essentiales seu naturales eius proprietates et facultates se extendunt. (L. c.) — Auch Frank weist (III, 284 ff.) zur Charakterisierung des lutherischen Bekenntnisses nach


284  >        Die Lehre von Christo.  [English ed. ~ 257–258]

Natur gegenwärtig vorstelle. Und es ist uns immer etwas zweifelhaft erschienen, ob auch ein christlicher Theolog imstande sei, bei den Worten: „Ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende" sich Christum außerhalb seines Fleisches nur nach der göttlichen Natur gegenwärtig vorzustellen.

Das genus apotelesmaticum und die alte Kirche. ^

Die Reformierten täuschen sich, was das genus apotelesmaticum betrifft, auch in bezug aus die historische Sachlage, nämlich in bezug aus ihre Übereinstimmung mit der alten Kirche, speziell mit dem Chalcedonense. Sowohl reformierte Bekenntnisse als auch die einzelnen reformierten Lehrer sind freilich sehr eifrig in der Versicherung ihrer Übereinstimmung mit der altkirchlichen Lehrtradition. Die zweite Helvetische Konfession behauptet die ehrfurchtsvolle Annahme (religiose recipimus) der Mitteilung der Eigenschaften,

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drücklich aus folgendes hin: „Treten wir aus das praktische Gebiet des Bekenntnisses zurück, so ist hier ... am Orte, des sonderlichen praktischen Interesses zu gedenken, welches der Glaube gerade in seiner evangelisch-christlichen Gestalt an der Tatsache hat, daß jedwedes Handeln des Gottessohnes mit uns ein zugleich menschlich vermitteltes, aus allen Punkten gottmenschliches im vollen Sinne des Wortes sei. Gleichwie wir bei. dem genus apotelesmaticum in seiner Verbindung mit dem genus idiomaticum darauf Gewicht legen mußten, daß um der Realität der Erlösung willen jedwedes hieraus bezügliche Tun Christi nicht ohne Anteilnahme der göttlichen Natur sich vollzogen habe, so ist es nicht minder für den Glauben von Bedeutung, daß, wo es sich um die Machtübung des Erlösers nach Vollendung des Erlösungswerkes zur Realisation der Ziele desselben handelt, jedwedes daraus gerichtete Tun Christi nicht ohne Anteilnahme der menschlichen Natur sich vollziehe. Denn es würde, sagt unser Artikel, da Christo nach seiner Menschheit solche Majestät entzogen, dadurch den Christen ihr höchster Trost genommen werden. ... Es ist sonach die Partizipation der menschlichen Natur an den Akten der Majestät Christi nur die Kehrseite zur Anteilnahme der göttlichen an den Widerfahrnissen und Leistungen seines Gehorsams bis zum Tode; und ist das Interesse des Glaubens an jenem ersteren Satze ein unmittelbares, so nicht minder an dem zweiten das Interesse des evangelischen Glaubens, welcher mit Luther spricht: Ich habe keinen Gott, weder im Himmel ^noch auf Erden, ich weiß sonst von keinem außer dem Fleische, welches in dem Schöße der Jungfrau Maria liegt. Gott ohne Fleisch ist nichts nütze.” (Walch VI, 74; St. L. VI, 50.) Krauth sagt über die reformierte Trennung der Menschheit Christi von den Werken des königlichen Amts: "Cold speculation has taken our Lord out of the world He redeemed, and has made heaven, not His throne, but a great sepulcher, with a stone rolled against its portal.” (The Conservative Reformation, 357.)


285  >        Das genus apotelesmaticum und die alte Kirche.  [English ed. ~ 258–259]

die der Schrift entnommen und von der ganzen alten Kirche vorgetragen sei.608) Auch Böhl sagt: „Wir nehmen mit unfern reformierten Bekenntnisschristen unfern Standort in dem Concilium Chalcedonense und dessen Symbol vom Jahre 451.” 609) Ebenso behauptet Hodge: "The Reformed Church" sei "adhering to the doctrine as it had been settled in the Council of Chalcedon.” 610) Aber das ist eine Täuschung. Das Chalcedonense bekennt bekanntlich in bezug aus die Verbindung der Naturen das „ungeschieden” und „unabgesondert” (άδιαιρέτως, άχωρίοτως). Diese adverbialen Bestimmungen aber beziehen sich gerade auch aus die Ungetrenntheit der Naturen und ihrer actiones und passiones, die Nestorius leugnete. Weil nun nach reformierter Lehre der menschlichen Natur Christi unter allen Umständen nur eine localis et visibilis praesentia zukommt, und die göttliche Natur an unzähligen Orten ist und handelt, wo die menschliche Natur wegen ihrer örtlichen, nicht über die Körpergröße hinausreichenden praesentia weder sein noch handeln kann, so stellt sich die reformierte Lehre allerdings als das gerade Gegenteil von dem άδιαιρέτως und άχωρίοτως des Chalcedonense dar. Die Reformierten nehmen auch Leos Brief an Flavian 611) nicht an. Leo sagt bekanntlich: Agit utraque forma [Natur] cum alterius communione quod proprium est. Von diesem axiomatischen Satz nehmen die Reformierten nur an: Agit utraque forma quod proprium est. Die Annahme des „cum alterius communione" ist ihnen unmöglich, weil nach ihrer Christologie die menschliche Natur, ohne vernichtet zu werden, nicht über ihre Körperlänge hinaus existieren und handeln kann, und somit die göttliche Natur über den lokalen Radius der menschlichen Natur hinaus extra carnem sein und handeln muß. Die Nichtübereinstimmung mit der alten Kirche tritt auch zutage, wenn wir daraus achten, was alte Lehrer über das Mithandeln der menschlichen Natur Christi bei den einzelnen göttlichen Werken lehren. Während Hodge meint, die menschliche Natur Christi könne ohne Zerstörung nicht das Organ für die göttlichen Attribute werden, sagt Damascenus (III, 17): „Das Fleisch des HErrn ist reich geworden an göttlichen Wirkungen (τας Όείας

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608) Cap. XI:        Communicationem        idiomatum ex Scripturis petitam et ab universa vetustate in explicandis componendisque Scripturarum locis in speciem pugnantibus usurpatam religiose recipimus.

609) Dogmatik, S. 332.          610) Syst. Theol., II, 409.

611) Mansi V, 1359 sqq.


286  >        Die Lehre von Christo.  [English ed. ~ 259]

ένεργείας επλοντηοεν) wegen der unvermischten Vereinigung mit dem Logos, nämlich wegen der persönlichen Vereinigung; es hat dabei aber keineswegs seine natürlichen Eigenschaften eingebüßt.” 612) Während Hodge in hezug auf die göttliche Allmacht meint: "The human nature of Christ is no more . . . almighty than the worker of a miracle is omnipotent", und das Wundertun Christi nach seiner menschlichen Natur auf gleiche Stufe mit dem Wundertun des Petrus stellt, schärft hingegen Kyrill ein, daß die Weise, wie die göttliche Allmacht durch Petrus oder Paulus wirkt, wohl zu unterscheiden sei von der Art und Weise, wie die Allmacht durch die menschliche Natur Christi, in der die Fülle der Gottheit leibhaftig wohnt, sich betätigt. Er sagt: „Obwohl die Natur des Fleisches, insofern es .Fleisch ist, nicht lebendig machen kann, so tut es dies dennoch, weil es die ganze Wirkung des Logos empfangen hat. Denn nicht der Leib des Paulus oder Petrus oder anderer Menschen, sondern der Leib des Lebens, in dem die Fülle der Gottheit leibhaftig wohnt, kann dies tun. Deshalb vermag auch das Fleisch aller andern Menschen nichts, aber Christi Fleisch, weil in demselben der eingeborne Sohn Gottes wohnt, kann allein lebendig machen.” 613) Während Hodge in bezug auf die göttliche Allwissenheit versichert: “A soul which is omniscient ... is not a human soul. The Christ of the Bible and of the human heart is lost if this doctrine be true . . .; omniscience is not an attribute of which a creature can be made the organ”,614) sagt hingegen Damascenus zunächst im allgemeinen in bezug auf das Instrumentalitätsverhältnis: „Das Fleisch hat Gemeinschaft mit der wirkenden Gottheit des Logos, weil die göttlichen Wirkungen durch den Leib als Organ sich vollziehen (εκτελεϊσϑαι), und weil es ein und derselbe ist, der sowohl auf göttliche als menschliche Weise(ϑεϊκώς τε άμα και άνϑρωπίνως) wirkt.” Dann fährt er fort in bezug auf die Beteiligung an dem göttlichen Wissen: „Man muß nämlich wissen, daß sein heiliger Verstand (νους) zwar auch seine natürlichen Wirkungen hat — aber er hat auch Gemeinschaft mit der wirkenden, herrschenden und regierenden Gottheit des Logos, und so sieht, erkennt und beherrscht er das Universum (τό παν νοών και γινώσκων και διέπων), nicht wie der bloße (ψιλός) Verstand eines Menschen, son

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612) Catalogus; Müller, S. 756.        613) Catalogus, S. 749.

614) L. c., p. 416. 417.


287  >        Das genus apotelesmaticum und die alte Kirche.   [English ed. ~ 259–260]

dern als ein Verstand, der persönlich mit Gott geeint und Gottes Verstand geworden ist (ώς ϑεφ καΰ’ νπόστασιν ηνωμένος και ϑεοΰ νοϋς χρηματίσας).615) Ferner sagt Damascenus: „Die Seele ('ψυχή) des HErrn, obwohl sie eine solche war, die das Zukünftige nicht wußte, so hat sie dennoch, weil sie persönlich mit Gott dem Logos vereinigt war, die Erkenntnis aller Dinge gehabt (πάντων την γνώοιν εϊχεν),        nicht aus Gnaden, sondern wegen der persönlichen Vereinigung."616) Während Hodge mit allen reformierten Theologen erklärt: "Omnipresence is not an attribute of which a creature can be made the organ",.so bemerkt bekanntlich Ökumenius (nach Theophylakt) zu Eph. 4,10: „Sicherlich erfüllte er [Christus] mit der bloßen Gottheit längst das All, und als der Menschgewordene (σαρκωθείς) ist er hinabgesahren und ausgesahren, um das All mit dem Fleische zu erfüllen (ίνα τά πάντα μετά σαρκός πληρώση).617)  Während Calvin das Wunder des Kommens Christi bei verschlossenen Türen in die durch Gottes Allmacht geöffnete Tür verlegt, weil ein wahrer menschlicher Leib nicht durch geschlossene Türen eintreten könnet) läßt Augustinus die Türen geschlossen und sagt: „Wir sehen ihn [den menschlichen Leib Christi] durch geschlossene Türen eintreten.” Die Behauptung, daß dies nicht geschehen sein könne, weil es gegen die Natur eines wahren Leibes sei, erklärt Augustinus für eine Lästerung (sacrilegum).619) Eine unbefangene historische Forschung wird immer zu dem Resultat gelangen, daß die lutherische Kirche in ihrer Christologie den Konsensus der alten Kirche für sickffhat, während die reformierte Kirche sich durchaus in den von der alten Kirche abgewiesenen nestoriaischen Bahnen bewegt.

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615) Catalogus, S. 738. De fide orthod. III, 19.

616) Catalogus, p. 756. De fide orthod. II, 22.

617) Catalogus, S. 757 sq.        618) Inst. IV, 17, 29.

619) De agone christiano, cap. 24 (Opp. Basii. III, 548): Sacrilegum est credere Dominum nostrum, cum ipse sit veritas, in aliquo fuisse mentitum. Nec nos moveat quod clausis ostiis subito eum apparuisse discipulis scriptum est, ut propterea negemus illud fuisse corpus humanum, quia contra naturam huius corporis videmus illud per clausa ostia intrare. ... Si enim potuit [Christus] ante passionem clarificare illud sicut splendorem solis, quare non potuit et post passionem ad quantam vellet subtilitatem in temporis momento redigere, ut per clausa ostia posset intrare. (Vgl. auch die Sermones, 156—160, l. c. X, 675 sqq.)


288  >        Die Lehre von Christo.  [English ed. ~ 260–261]

Der verschiedene Sinn gleichlautender Ausdrücke bei dem genus apotelesmaticum. ^

Bei der vorstehenden Darlegung des genus apotelesmaticum trat bereits wiederholt zutage, daß Lutheraner und Reformierte gewisse Ausdrücke in verschiedenem Sinn gebrauchen. Hierher gehören sonderlich die Ausdrücke „Organ” und „Amtswerk” und vor allen Dingen wieder der Ausdruck „Persönliche Vereinigung”. Zur Klarstellung der Sachlage und im Interesse der Verständigung stellen wir früher Gesagtes noch unter einem besonderen Abschnitt zusammen.

Auch die Lutheraner — nicht bloß von Chemnitz, sondern von Luther an — nennen Christi menschliche Natur bei der Verrichtung der Amtswerke das Organ oder Instrument — Luther: „Handgezeug"620) —  Gottheit, weil der Sohn Gottes in der angenommenen menschlichen Natur und durch dieselbe die Werke des Teufels zerstört hat und noch zerstört. Die Lutheraner lehren aber einen spezifischen — nicht bloß graduellen — Unterschied zwischen dem Organverhältnis der menschlichen Natur Christi und dem Organverhältnis anderer Menschen, durch die Gott seine göttlichen Werke, zum Beispiel das göttliche Werk der Bekehrung oder Wiedergeburt,621) der Heilung eines Lahmen,622) der Totenerweckung 623) usw., verrichtet. Die Lutheraner begründen diesen Unterschied mit dem Hinweis auf die Tatsache, daß bloße Menschen als Vollbringer göttlicher Werke instrumentum separatum sind, das heißt, Instrumente, die bei der Vollbringung göttlicher Werke außerhalb der Person des Sohnes Gottes sind und bleiben. Die göttliche Kraft, durch welche die göttlichen Werke geschehen, wird den bloß menschlichen Werkzeugen auch nicht mitgeteilterweise (communicative) eigen. Die menschliche Natur Christi hingegen ist bei der Vollbringung der göttlichen Werke, bei der Zerstörung der Werke des Teufels, nicht instrumentum separatum, sondern coniunctum und zwar personaliter coniunctum, das heißt, ein Instrument, das zur Person des Sohnes Gottes gehört, in lebendiger, persönlicher Einheit mit dem Sohne Gottes steht, und dem daher auch die göttliche Kraft mitgeteilterweise (communicative) eigen ist. Nach reformierter Lehre fällt der Unterschied zwischen dem Organverhältnis der menschlichen Natur Christi und dem Organverhältnis bloß

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620) S. 222; Luther, St. L. XI, 283.

621) 1 Kor. 4, 15: „Ich [Paulus] habe euch gezeuget"; Gal. 4, 19.

622) Apost. 3, 6.        623) Apost. 9, 40; 20, 10; 1 Kön. 17, 21.


289  >        Der verschiedene Sinn gleichlautender Ausdrücke.  [English ed. ~ 261–262]

menschlicher Vollbringer göttlicher Werke fort. In diesem Sinne sagte Hodge: "The human nature of Christ is no more omniscient or almighty than the worker of a miracle is omnipotent", und in diesem Sinne erklären reformierte Lehrer ausdrücklich, daß die Wunderwerke Christi, soweit seine menschliche Natur in Betracht kommt, auf gleicher Linie mit den Wunderwerken der Propheten und Apostel liegen. Diese Differenz in bezug auf den Sinn des Wortes „Organ" entspricht der Grunddifferenz zwischen Reformierten und Lutheranern. Während die Reformierten auch hier beim genus apotelesmaticum ihr Axiom: Finitum non est capax infiniti in Anwendung bringen, halten die Lutheraner auch bei diesem §smis, das heißt, bei der Vollbringung sämtlicher Amtswerke, die in der Schrift bezeugte Wahrheit fest, daß in Christo allerdings die endliche Menschheit der unendlichen Gottheit fähig ist, wie der Zusammenschluß zu einem Ich ausweist. Die Lutheraner nennen daher die menschliche Natur Christi ein der göttlichen Werke fähiges und bei denselben mitwirkendes Organ (δργανον εϋχρηστον καί σννεργόν),624) mährend die Reformierten das Bild gebrauchen, daß die göttliche Macht des Sohnes Gottes sich durch seine menschliche Natur betätige, wie Wasser durch eine Röhre fließt, oder der Saum des Kleides Christi Organ der göttlichen Kraft war, durch die das blutflüssige Weib geheilt wurde. Darum tritt an der Art und Weise, wie die reformierte Theologie das Organverhältnis der menschlichen Natur Christi faßt, wiederum zutage, daß diese Theologie die Einzigartigkeit der Verbindung zwischen Gott und

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624) Quenstedt: Distinguendum inter instrumentum separatum et unitum, αεργον et σννεργόν. In operibus officii mediatorii natura humana Christi est quidem λόγον organon, sed non separatum, verum τω λόγφ personaliter unitum, non αεργον, qualis fuit baculus Mosis, sed σννεργόν, scii. tale instrumentum, cui τον λόγον ceu causae principalis subsistentia et maiestas tributa est. (II, 299.). (II, 299.) Hollaz: Quando humana Christi natura actionum officii mediatorii organum vel instrumentum dicitur, eminentissima ratione [Art und Weise] id intelligendum est, ut vox instrumenti ab omni imperfectione defaecetur. Non enim est instrumentum separatum, uti fenestra est, quando sol pellucet, non exanime sicut securis aut malleus fabri, non άνεργον, ut baculus Mosis, sed est instrumentum arctissime et personaliter unitum atque σννεργόν; est organum vivum sicut membra corporis sunt viva organa animae per ea agentis; non est instrumentum brutum ut asina Bileami loquens, sed intelligens; non commune ut quilibet ecclesiae minister, sed singularissimum et sine pari exemplo. (Examen; De pers. Christi, qu. 63.)


290  >        Die Lehre von Christo.  [English ed. ~ 262–263]

Mensch in Christo, das heißt, die unio personalis, aushebt. Hodge zwar meint die Lutheraner zu widerlegen, wenn er schreibt: "They admit that for God to exercise His power, when Peter said to the lame man, ‘Rise up and walk,’ was something entirely different from rendering Peter omnipotent.” 625) Das ist wahr in bezug aus Petrus. Petrus, als "the worker of a miracle", wurde nicht allmächtig, sondern die göttliche Allmacht betätigte sich durch ihn wie durch einen „Kanal", eine „Röhre” usw. Aber Petrus war auch nicht Gottmensch, sondern war und blieb bei seinem Wundertun "mere man”. In Petrus wohnte nicht wie in der menschlichen Natur Christi „die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig", und von Petrus heißt es daher nicht wie von Christo: „Er offenbarte seine Herrlichkeit, und seine Jünger glaubten an ihn",626) sondern Petrus charakterisierte sich ausdrücklich als instrumentum separatum, wenn er erklärte: „Was sehet ihr aus uns, als hätten wir diesen wandeln gemacht durch unsere eigene Kraft?" 627) Trefflich legt Hollaz die Sache dar, wenn er sagt: „Sehr groß ist der Unterschied zwischen dem Menschen Christus und den Propheten und Aposteln, die auch Wunder getan haben und Gottes Gefäße und Organe heißen. Denn der Logos wirkte im Fleische als in seinem eigenen Tempel, mit dem Fleische als mit ihm persönlich verbunden, durch das Fleisch als durch ein ganz einzigartig mitwirkendes Instrument, nach dem Fleische (secundum carnem) als nach einem Subjekt, das der göttlichen Majestät teilhaftig ist. Daher heißt Christi Fleisch geradezu (in casu recto) lebendigmachend, seine Hand allmächtig, sein Auge allsehend, sein Blut von Sünden reinigend. Hingegen wirkte Christus in Paulo als nicht persönlich, sondern zufällig verbunden (in Paulo non personaliter, sed accidentaliter unito), nicht durch Paulus als ein einzigartiges, sondern allgemeines Instrument, geschweige nach Paulo als einem der göttlichen Allmacht teilhaftigen Subjekt. Deshalb darf Pauli Fleisch nicht lebendigmachend noch seine Hand allmächtig noch sein Auge allsehend genannt werden.” 628) Die Apologie des Konkordienbuchs sagt über den verschiedenen Sinn, den Reformierte und Lutheraner mit dem Ausdruck „Organ" verbinden: „Sie geben für, daß wir den Unterscheid, so da ist unter der lebendigen Gottheit und angenommenen Fleisch Christi, nicht recht erklären, denn das Fleisch Christi sei

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625) Syst. Theol., II, 417.        626) Joh. 2, 11.

627) Apost. 3, 12.        628) Examen; De pers. Christi, qu. 63.


291  >        Der verschiedene Sinn gleichlautender Ausdrücke.  [English ed. ~ 263–264]

allein ein organum der Lebendigmachung, die Gottheit Christi aber unica causa efficiens, die einige Hauptursach' oder Brunquell. Nun sagen wir das auch, daß Christi Fleisch ein organum sei. Wir setzen aber dazu, daß es ein organum sanctificatum sei, perfecte omnia habens, wie Epiphanias redet, und nicht ein solch Werkzeug, so nichts empfindet oder dazutut, wie eine Wasserröhre, als unser Gegenteil lästert.” 629) Den starken Ausdruck. „Lästerung" gebraucht die Apologie, weil durch die reformierte Auffassung des Organverhältnisses der menschlichen Natur Christi die unio personalis aufgehoben wird. Die Apologie sagt über diesen Punkt noch weiter: „Wenn der Widersacher Gedicht bestehen sollte, müßte unwidersprechlich folgen, daß der angenommenen menschlichen Natur in Christo, soviel die Verrichtung der Wunderwerk' anlangt, nicht mehr zuzueignen wäre denn Mosis Stabe oder Petro und den andern Aposteln, welche im Namen JEsu Christi Tote auferweckt und andere mehr Wunderzeichen, dazu sie ihre Stimmen und Willen gebraucht, gewirkt. Welches auch abscheulich zu hören. Denn solches im Grunde anderes nichts ist, denn die persönliche Vereinigung beider Naturen in Christo auf gut nestorianisch scheiden, verleugnen und aus Christo nur einen schlechten Apostel oder heiligen Menschen machen.” 630)

Auch den Ausdruck „Amtswerk” (αποτέλεσμά) verstehen Lutheraner und Reformierte in verschiedenem Sinne. Die Lutheraner verstehen darunter ein gemeinschaftliches Handeln oder Wirken, so daß jede Handlung weder bloß göttlich noch bloß menschlich, sondern gottmenschlich (actio ϑεανδρική) ist. Die Reformierten hingegen wollen die Gemeinschaft nicht auf das Handeln selbst beziehen, sondern nur auf das Resultat des Handelns. Sie tun das in Übereinstimmung mit ihrem Grundirrtum, daß die menschliche Natur Christi der Gemeinschaft mit der göttlichen Natur und mit den Handlungen (den actiones oder operationes) der göttlichen Natur nicht fähig sei. Deshalb unterscheiden die reformierten Theologen beim genus apotelesmaticum zwischen actiones und opera. In bezug auf die actiones lehnen sie die Gemeinschaft ab; in bezug auf die opera — die opera als facta externa oder effectus (Resultat) operis gefaßt — wollen sie die Gemeinschaft zugeben. Deshalb sagt Danäus gegen Chemnitz, wie wir schon

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629) S. 17 b.

630) S. 7 b. Vgl. Konkordienformel über diesen Punkt, S. 689 f., 67—70.


292  >        Die Lehre von Christo.  [English ed. ~ 264–265]

oben sahen: Utraque Christi natura in hoc communicationis genere id quod suum est agit, non convocata in suam propriam ενεργήoiv, neque ascita altera natura [Ablehnung der Gemeinschaft bei der Handlung selbst, ένέργησις, actio], et tamen unum et idem cum altera effectum spectat et producit [Zugeständnis der Gemeinschaft in bezug auf das Resultat der Handlung].631) Gegen diese reformierte Scheidung von actio und opus ist zu wiederholen, daß sie erstlich Wider die, Schrift ist. Die Schrift lehrt die Gemeinschaft gerade in bezug auf das Handeln (agere, actio, ένέργησις), wenn sie die göttliche Wirkung direkt von der menschlichen Natur Christi ausfagt oder, noch genauer bezeichnet: die göttliche Wirkung durch die menschliche Natur, also uno actu, sich vollziehen läßt, wie in den Schriftaussagen, daß des Sohnes Gottes Blut uns von Sünden reinige, oder der Sohn Gottes durch seinen Tod dem Teufel die Macht nehme.632) Die Schrift lehrt also nicht bloß ein gemeinschaftliches Resultat bei getrenntem Handeln der Naturen, sondern ein gemeinschaftliches Handeln der Naturen, oder das Handeln der göttlichen Natur durch diemenschliche. Sodann zerstört die Scheidung von actio und opus oder, was dasselbe ist, die Annahme, daß die actiones der göttlichen und menschlichen Natur untereinander (inter se) keine Gemeinschaft haben,633) auch das opus selbst, das opus als Resultat gefaßt, weil der Wert des opus, als Resultat gefaßt, gerade darauf beruht, daß die actiones der Naturen „ineinandergeschlossen" 634) oder actiones ϑεανδρικαί sind, wie denn die Schrift den Wert der Erlösungstat von dem Zusammenhandeln von Gottheit und Menschheit ableitet, wenn sie sagt, daß Gott durch sein eigenes Blut sich die Gemeinde erworben habe.635) Ohne diesen Zusammenschluß der actiones hätten wir die Akzeptilationstheorie oder Calvins „meritum hominis", das an sich keinen Wert hat, sondern den Wert erst durch Gottes Schätzung erhält. Das „getrennt Marschieren und vereint Schlagen" findet keine Anwendung auf das Tun von Gott und Mensch in Christo, weil es sich in Christo nie um getrennte Heere oder auch nur um zwei Personen (άλλος καί άλλος), sondern immer nur um eine Person handelt. „Vereintes Schlagen" hat

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631) Exam. libri Chemnitii, p. 327; bei Frank III, 369.

632) 1 Joh. 1, 7; Hebr. 2, 14.

633) Zanchi, De Filii Dei incarnatione, p. 404; bei Frank III, 368.

634) Luther zu Joh. 14, 16. St. L. VIII, 386.     635) Apost. 20, 28.


293  >        Der verschiedene Sinn gleichlautender Ausdrücke.  [English ed. ~ 265–266]

hier statt, insofern und weil hier „vereintes Marschieren" stattfindet, das heißt, Christi Tun für die Menschheit hat erlösenden und rettenden Wert, insofern und weil alle actiones des Gottmenschen gottmenschliche actiones sind. Es liegt klar auf der Hand, daß bei der reformierten Trennung der actiones der Naturen an die Stelle eines objektiven Tatbestandes eine bloße Gedankenoperation tritt. Christi Handeln wäre hiernach nicht tatsächlich gottmenschlich, sondern würde nur als gottmenschlich angesehen. So hätte auch das opus, als Resultat des Handelns gefaßt, nicht an sich Erlösungswert, sondern dieser Erlösungswert würde ihm in Gottes Gedanken nur beigelegt. Hiermit steht freilich im Einklang, was wir oben von Danäus hörten, daß Christi Leiden dem Sohne Gottes nur vermöge einer Gedankenoperation ohne jede wirkliche Mitteilung zugeschrieben werde (praedicatione dialectica sine ulla reali communicatione).636) Auch die Apologie des Konkordienbuchs weist schon auf die irrige reformierte Scheidung zwischen actio und opus beim genus apotelesmaticum hin: „Sie” (die Theologen der Neustädter Admomtion) „machen einen Unterscheid und geben für, die apotelesmata, effecta oder Amtswerke seien Wohl beiden Naturen gemein, aber die Wirkungen selbst, daraus diese Amtswerke entspringen oder verrichtet werden, bleiben einer jeden Natur eigen und werden nicht mitgeteilt. Nun schreibet hergegen das Concilium Ephesinum aus den Worten Christi Joh. 6: Mein Fleisch ist die rechte Speise nicht allein die effecta, apotelesmata oder Amtswerke beiden Naturen ingemein zu, wie unser Gegenteil tut, sondern brauchet klar solcher Worte, in und mit welchen dem Fleisch oder [der] angenommenen menschlichen Natur Christi eine activitas, operatio oder cooperatio, eine Wirkung, Kraft oder Mitwirkung, lebendig zu machen, zugeeignet wird, als da er spricht: carnem Christi esse vivificam oder vivificatricem, Christi Fleisch sei lebendig oder lebendigmachend, welche Worte anders nicht denn von der Kraft oder Mitwirkung, lebendig zu machen, können verstanden werden."637)

Auch Frank hat auf diese Differenz zwischen Lutheranern und Reformierten in bezug auf das genus apotelesmaticum aufmerksam gemacht.638) Er sagt: „Halten wir uns an jene Übereinstimmung, wonach die Reformierten nicht minder wie die Verfasser der Konkordienformel bekennen, daß Christus Mittler, Priester, König,

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636) S. 167.        637) S. 16 b.        638) A. a. O. III, 258 f.


294  >        Die Lehre von Christo.  [English ed. ~ 266–267]

Haupt seiner Gemeinde sei nach beiden Naturen zugleich, fügen wir auch hinzu, daß sie in ganz ähnlicher Weise wie Chemnitz die Anteilnahme der göttlichen Natur an dem Leiden der menschlichen beschreiben, so läßt sich gleichwohl nicht verkennen, daß in diesen gleichlautenden Ausdrücken Unterschiede verborgen sind.” bei den Lutheranern ist der Sinn der, daß „die sonderliche Betätigung der einen Natur nicht geschehe ohne Partizipation an jener der andern”. Bei den Reformierten hingegen ist das Interesse dieses, „die beiden Radien göttlichen und menschlichen Wirkens möglichst gesondert nebeneinander laufen und erst in dem äußersten Endpunkte, eben dem Apotelesma, Zusammentreffen zu lassen. Für die reformierte Auffassung war es von Wichtigkeit, den Begriff als puren Resultats, als eines nur äußerlichen Faktums, von den Handlungen selbst, deren Resultat es ist, zu unterscheiden”. Franks Darlegung muß aber widersprochen werden, wenn er hinzusetzt: „Zu einer klaren Auseinandersetzung hinsichtlich all dieser Punkte zwischen den beiden Konfessionen konnte es schon darum nicht kommen, weil die Differenzen wesentlich da ihre Wurzeln haben, wo scheinbar volle Übereinstimmung herrschte, und worauf mithin am wenigsten die Kontroverse sich richtete: in der Lehre von der Einheit der Person."639) In diesen Worten Franks ist die historische Sachlage ganz entschieden irrig dargestellt. Wenn irgend etwas, so steht dies historisch fest, daß die Konkordienformel und die lutherischen Theologen von Luther an bis auf Hollaz die Differenz „in der Lehre von der Einheit der Person" sehen und in der Kontroverse durchweg den Nachweis führen, daß die reformierte Christologie, sofern sie zu der lutherischen Lehre in Gegensatz tritt, die Einheit der Person, die unio personalis, aufhebt. Sie weisen nach: Wenn die Reformierten den Sohn Gottes von dem Leiden ausdrücklich absondern (Zwingli) oder ihn doch nur durch eine Gedankenoperation ohne wirkliche Mitteilung (Danäus), nominetenus (Neustädter Admonition) mit dem Leiden in Verbindung bringen, so ist damit die unio personalis zwischen Gott und Mensch in Christo aufgegeben. Die Lutheraner weisen ferner nach: Wenn nach reformierter Lehre die menschliche Natur Christi der göttlichen Eigenschaften und Handlungen (actiones) auch mitgeteilterweise (communicative) nicht fähig sein soll, weil finitum non est capax infiniti: so ist nach demselben Grundsatz die menschliche

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639) Theol. d. F. C. III, 258 f.


295  >        Der verschiedene Sinn gleichlautender Ausdrücke.  [English ed. ~267–268]

Natur auch des göttlichen Ich des Sohnes Gottes mitgeteilterweise nicht fähig, und damit ist die unio personalis für unmöglich erklärt. Und wenn die reformierten Lehrer mit großer Übereinstimmung behaupten, daß der Sohn nach seiner Menschwerdung auch extra carnem sei und wirke, so setzen sie eo ipso an die Stelle der unio personalis zwischen Gott und Mensch in Christo die Verbindung Gottes mit allen Gläubigen und mit allen Kreaturen. So klar haben die Verfasser der Konkordienformel und die lutherischen Theologen erkannt und dargelegt, daß die Differenz zwischen Lutheranern und Reformierten in der Lehre von der unio personalis liege. Aus der Konkordienformel gehören u. a. die folgenden Sätze hierher: „Wo die Allöosis soll bestehen, wie sie Zwingel führet, so wird Christus zwo Personen müssen sein, eine göttliche und eine menschliche, weil er die Sprüche vom Leiden allein auf die menschliche Natur zeucht und allerdings von der Gottheit wendet. Denn wo die Werke geteilt und gesondert werden, da muß auch die Person zertrennt werden, weil alle Werke oder Leiden nicht den Naturen, sondern der Person zugeeignet werden."640) Ferner: „Wo du einen Ort zeigen würdest, da Gott wäre und nicht der Mensch, so wäre die Person schon zertrennt, weil ich alsdann mit der Wahrheit könnte sagen: Hie ist Gott, der nicht Mensch ist und noch nie Mensch worden. . . . Nein, Gesell, wo du mir Gott hinsetzest, da mußt du mir die Menschheit mit hinsetzen; sie lassen sich nicht sondern und voneinander trennen; es ist eine Person worden und scheidet die Menschheit nicht von sich.” 641) Und Luther sagt in bezug auf das genus apotelesmaticum: „Also lerne diesen Artikel fassen, daß man diese Person ganz behalte und beider Naturen Werke ineinanderschließe, obwohl die Naturen unterschieden sind.” 642) Daher ist zur Klarstellung der Differenzen zwischen Lutheranern und Reformierten zu sagen, daß sie nicht bloß Ausdrücke wie „Organ” und „Amtswerk", sondern vor allen Dingen auch den Ausdruck „persönliche Vereinigung", unio personalis, in einem völlig verschiedenen Sinne gebrauchen. Die Lutheraner verstehen darunter eine unio, vermöge welcher die Person des Sohnes Gottes nach der Menschwerdung überall in ihrer menschlichen Natur ist und auch überall in der menschlichen Natur — wenn auch in verschiedener Weise vor und nach der Erhöhung

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640) S. 683, § 43.        641) S. 693, § 82. 83.

642) Zu Joh. 14, 16. St. L. VIII, 386.


296  >          [English ed. ~ 268]

— wirkt. Die Reformierten hingegen, sofern sie konsequent sind, verstehen unter unio persona1is eine unio, bei welcher der Sohn Gottes auch nach der Menschwerdung ebensowohl extra carnem als in carne ist und handelt. Sie denken die unio personalis als unio Gottes mit allen Kreaturen. Wie denn der Heidelberger Katechismus lehrt, der Sohn Gottes bleibe auf Erden in persönlicher Vereinigung mit seiner im Himmel eingeschlossenen menschlichen Natur, weil Gott ja in allen Kreaturen gegenwärtig sei.643)

Abweisung des Eutychianismus und Nestorianismus bei dem genus apotelsmaticum. ^

In kurzer Zusammenfassung und zur Abweisung sowohl des Eutychianismus als des Nestorianismus ist in bezug auf das genus apotelesmaticum zu sagen: Wie in Christo die Naturen selbst nicht verwandelt werden, sondern verschieden (distinctae) sind und bleiben, so sind und bleiben auch die actiones der Naturen verschieden (distinctae). Dies kommt zum Ausdruck durch die Worte: Agit utraque forma (natura), quod sibi proprium est. Wie aber die Naturen nicht geschieden (separatae), sondern persönlich verbunden (personaliter coniunctae) sind in der Weise, daß παν το πλήρωμα τής ϑεότητος in der menschlichen Natur als in ihrem Leibe (σωμαηκώς) wohnt, so sind auch die actiones der Naturen nie geschieden (separatae), sondern stets gemeinschaftlich, das heißt, gottmenschlich, ϑεανδρικαί. Dies kommt zum Ausdruck durch den Zusatz: Jede Natur tut das ihr Zugehörende cum communicatione alterius, in Gemeinschaft mit der andern. Nach seiner Gottheit wirkt Christus mit bei allen Werken, die wesentlich oder als proprium nur der Menschheit angehören, und nach seiner Menschheit wirkt er mit bei allen Werken, die wesentlich oder als proprium nur der Gottheit angehören. Im einzelnen: Unter dem Gesetz Sein, Leiden und Sterben kommt Christo wesentlich oder als proprium nur κατά σάρκα, nicht κατά ϑεότψα, aber auch nach der Gottheit ist er so gewiß bei dem Gesetzesgehorsam und bei dem Leiden, als die Schrift diese Vorgänge von dem Sohne Gottes aussagt,644) und nach der Gottheit wirkt er auch bei der Gesetzeserfüllung und ,bei dem Leiden, so gewiß die Schrift den genugtuenden Wert dieser Vorgänge nicht

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643) Frage 47. 48.        644) Gal. 4, 4; 1 Kor. 2, 7.


297  >        Abweisung des Eutychianismus und Nestorianismus.  [English ed. ~ 268–269]

in die Prädestination oder die bloße Schätzung Gottes, sondern in die Teilhaberschaft des Sohnes Gottes setzt.645) Auf jede nähere Erklärung des Wie ist zu verzichten. Andererseits: Allmachts-, Allwissenheits-, Allgegenwartswerke, kurz, göttliche Werke vollbringen, kommt Christo wesentlich oder als proprium nur nach der Gottheit zu. Aber auch nach seiner menschlichen Natur ist er und wirkt er bei allen Werken der Gottheit, weil der Sohn Gottes gerade zu dem Zweck ins Fleisch gekommen ist, um alle seine Gotteswerke als Prophet, Hoherpriester und König im Fleische und durch das Fleisch, das heißt, in der mit ihm persönlich geeinten menschlichen Natur und durch dieselbe, zu wirken. Auch hier ist auf jede nähere Erklärung des Wie zu verzichten, aber die Tatsache ist festzuhalten, weil die Schrift diese göttlichen Werke von Christo auch nach der menschlichen Natur ganz ausdrücklich ausfagt.646) Die menschliche Natur Christi ist durch ihre Aufnahme in das göttliche Ich wie in die göttliche Seinssphäre, so auch in die göttliche Wirkungssphäre erhoben worden.

Die lutherischen Lehrer weisen bei der Beschreibung des genus apotelesmaticum mit aller wünschenswerten Klarheit sowohl den Eutychianismus als den Nestorianismus ab. Hierüber mögen hier noch einige Aussprachen folgen. Hollaz: In officio mediatorio divinae et humanae naturae in. Christo distinctae, sed non separatae sunt ένέργεια, agendi vires et operationes. ... Quemadmodum duae Christi naturae, personaliter unitate, sunt et manent realiter distinctae, ita etiam agunt distincte, at non divise. (Examen; De pers. Christi, qu. 64.) Zu den Worten: Principium, quo expediuntur actiones officii sacerdotalis,, regii et prophetici, est utraque Christi natura fügt Hollaz in bezug auf den Unterschied des Handelns hinzu: Et quidem natura divina est principium originale, cui infinita vis agendi formaliter [wesentlich] competit, natura autem humana est principium organicum respectu operationum divinarum, v. g. redemptionis, satisfactionis, salvationis etc.; agit enim tanquam instrumentum personaliter unitum ex virtute divina per unionem hypostaticam sibi communicata. At eadem Christi natura humana est principium formale respectu propriarum actionum et passionum, v. g. locutionis,

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645) Gal. 4, 46; Röm. 5, 10.

646) 1 Joh. 1, 7; Joh. 6, 48 ff.; 5, 27; Matth. 28, 18—20; Eph. 1, 20 ff.; 4, 10.


298  >        Die Lehre von Christo.  [English ed. ~ 269–270]

 

effusionis sanguinis etc. (Examen; De pers. Christ, qu. 63.) Gerhard sagt zur Abwehr des Nestorianismus: Verissimum quidem est, in operibus officii utramque Christi naturam agere, quod cuique proprium est, sed eo non absolvitur integra definitio, verum addendum etiam illud, quod canon Concilii Chalcedonensis addit: cum communicatione alterius. (De pers. Christi, § 283.) Quenstedt schreibt zur Abwehr der eutychianischen Vermischung der Handlungen: Aliud est naturam humanam operari divina per propriam ενέργειαν, et aliud operari divina per unitum Verbum et communicatam divinam maiestatem; non prius, sed posterius asserimus. (II, 299.) Etiamsi dicatur carnem etiam id agere, quod λόγφ proprium est, non sua naturali, sed communicata virtute: non confunduntur tamen ένέργειαι, quia lenge alia ratione agit divina natura quam humana; illa independenter, haec vero nonnisi dependenter a λόγω. Non exerit virtutem illam ut sibi proprium idioma, sed ut communicatum a λόγω. (II, 303.)  Hollaz sagt von der Gemeinschaft, welche bei der Vollbringung der Amtshandlungen Christi seiner menschlichen Natur im Unterschiede von der Mitwirkung Gottes bei den Handlungen aller Menschen zukommt: Non absolvitur concursu divino cum actione Christi hominis, quia Deus concurrit cum actionibus omnium hominum, qui secundum vires suas naturales agunt, neque tamen exinde resultat opus theandricum, sed requiritur etiam realis κοινωνία naturarum in agendo, a qua est actio divino-humana, ut a gladio ignito est' ustio secans et sectio urens. (Examen; De pers. Christi, qu. 66.) J. B. Carpzov sagt in bezug auf den Einwurf, daß sich eine Verdoppelung der göttlichen Eigenschaften und Handlungen ergebe, falls die menschliche Natur an den göttlichen Handlungen teilhabe: Humana natura in Christo non tantum operatur humane et humanas actiones, sed et divinas, non quidem per vim propriam, sed communicatam, scii, divinitatis, cuius instrumentum ac εϋχρηστόν est humana natura, ut concurrant quidem duae naturae tanquam principium quo, sed tamen unam eandemque facultatem habeant, quam principale agens, divina natura scilicet habet ex se, humana natura vero per communicationem. (Isagoge in lib. Symbolicos, 1675, p. 1514 sq.) Quenstedt faßt die historische Sachlage so zusammen: Totus patrum chorus, qui sistitur a Chemnitio lib. de duab. nat. c. 17, eo tendit unaque voce concinit, Christum non solum in carne et cum carne agere et operari, sed etiam per carnem, ita ut carni non tantum ministerium exter-


299  >        Zusammensassende Beurteilung der reformierten Christologie.  [English ed. ~ 271]

num tribuatur, sed etiam illa ipsa efficacia divina, quae λόγω quidem originaliter, humanae naturae vero έπομένως et consequenter ex unione personali κοινωνία reali attribuatur. (II, 302. Vgl. oben den Abschnitt: „Das genus apotelesmaticum und die alte Kirche", S. 284 ff.)

Zusammenfassende Beurteilung der reformierten Christologie. ^

Es ist viel darüber verhandelt worden, ob die reformierte Christologie, sofern sie zur lutherischen in Gegensatz tritt, das Fundament des christlichen Glaubens antaste oder nicht. Auch Walch hat in seiner „Geschichte der Streitigkeiten mit den Reformierten" diesem Frage ausführlich behandelt.647) Es ist zu sagen: Sofern die reformierte Christologie zum Zweck der Bekämpfung der lutherischen Christologie den Grundsatz Finitum non est capax infiniti geltend macht, hebt sie konsequenterweise die Menschwerdung des Sohnes Gottes und Christi Verdienst und damit das ganze Fundament des Christentums aus. Sofern sie aber inkonsequent wird, das heißt, ihr πρώτον ψευδός, daß die menschliche Natur Christi der Gottheit nicht fähig sei, selbst sistiert und namentlich dem Sozinianismus gegenüber die Menschwerdung des Sohnes Gottes und ein Verdienst Christi von unendlichem Wert lehrt, kehrt sie aus christlichen Grund und Boden zurück. Aus diese doppelte Seite der reformierten Christologie wurde in der vorstehenden längeren Ausführung schon wiederholt hingewiesen. Hier stellen wir das früher Gesagte der Übersicht wegen nochmals zusammen. Es ist eine ober

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647) Einleitg. in d. Religionsstreitigkeiten außerhalb d. luth. K. Dritter Teil, 1734, S. 298 ff. Hier ist auch auf die haikptsächlichste ältere (lutherische und reformierte) Literatur hingewiesen, die sich Mit der Frage von dem fundamentalen Dissensus zwischen der lutherischen und reformierten Christologie beschäftigt. Hierher gehören auch die Schriften, die Walch in seiner Bibliotheca Theologica II, 486—527, unter dem Titel Scripta irenica  anführt mit der näheren Erklärung: Sunt ista [scripta] eo consilio composita, ut auctores concordiam ecclesiasticam inter Lutheranos et Reformatos restituendam partim suaderent, partim vero dissuaderent. Das Verzeichnis umfaßt die Schriften des 16., 17. und 18. Jahrhunderts bis auf Walchs Zeit. Von Nikolaus Hunnius' Diascepsis theologica de fundamentali dissensu etc. urteilt Walch: Merito magnam comparavit sibi existimationem, quia neque antea, neque postea ullus tam solide atque accurate ac Hunnius monstravit, dissensum inter nos ac Reformatos esse, fundamentalem. Dies Urteil ist dahin zu beschränken, daß wir in den Schriften des 16. Jahrhunderts, namentlich in den Schriften von Luther und Chemnitz und in der Apologie des Konkordienbuchs, die beste prinzipielle Auseinandersetzung mit der reformierten Kirche haben.


300  >        Die Lehre von Christo.  [English ed. ~ 271–272]

flächliche, unsachliche Ansicht, die von einem Teil der reformierten Theologen und auch von einigen späteren lutherischen Theologen 648) ausgesprochen worden ist, daß der christologische Streit zwischen Lutheranern und Reformierten im Grunde nur ein Wortstreit sei. Zu einer sachgemäßen Auseinandersetzung mit der reformierten Christologie gehört vernehmlich zweierlei. Es gilt erstlich, den Punkt aufzuzeigen, wo die reformierte Christologie durch die Verwendung rationalistischer Axiome zwischen sich und der christlichen Lehre eine unübersteigliche Kluft befestigt. Zum andern sind die Punkte herauszustellen, an denen sie selbst wieder die Verbindung mit der christlichen Lehre herstellt. Diese Weise allein dient auch einer ehrlichen Verständigung mit den reformierten Kirchengemeinschaften unsers Landes, die in ihren Vertretern einerseits dem Liberalismus gegenüber mit ganzem Ernst die Schriftlehre vertreten wollen, andererseits die lutherische Lehre von Christi Person heftig bekämpfen.

Die reformierte Christologie bricht die Verbindung mit der christlichen Lehre überall dort prinzipiell ab, wo sie die Gemeinschaft der Naturen (realem naturarum communionem), die Mitteilung der göttlichen Eigenschaften an die menschliche Natur (genus maiestaticum) sowie die Mitteilung göttlicher Handlungen (actiones) an die menschliche Natur (genus apotelesmaticum) mit dem Grundsatz bekämpft, daß die menschliche Natur Christi wegen ihrer Endlichkeit der Gemeinschaft mit der unendlichen göttlichen Natur sowie der Mitteilung der göttlichen Eigenschaften und Handlungen nicht fähig sei. Der Grund, weshalb hierin ein prinzipieller Bruch mit der christlichen Lehre vorliegt, ist der: da die göttliche Person des Sohnes Gottes nicht minder unendlich ist als seine göttliche Natur und seine göttlichen Eigenschaften und Handlungen, so ist mit dem reformierten Argument auch die Verbindung der Person des Sohnes Gottes mit der menschlichen Natur, also die Menschwerdung des Sohnes Gottes, die unio personalis von Gott und Mensch, für unmöglich erklärt. Diese Konsequenz aus ihrem irrigen Argument ziehen die reformierten Theologen selbst, wenn sie behaupten, daß der Sohn Gottes auch nach seiner Menschwerdung nicht weniger extra carnem als in carne sei, und damit die einzigartige Verbindung von Gott und Mensch in Christo (unio personalis) in die Verbindung Gottes mit allen Gläubigen (unio

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648) So z. B. der Tübinger Kanzler Pfaff; vgl. Walch a. a. O., S. 300 f.


301  >        Zufammenfassende Beurteilung der reformierten Christologie.  [English ed. ~ 272–273]

mystica) und in die Verbindung Gottes mit allen Geschöpfen (unio cum omnibus creaturis) umsetzen. Aus dieser Preisgebung der unio personalis zieht Calvin auch die Konsequenz in bezug auf das Verdienst Christi, wenn ihm gelegentlich die Äußerung entfährt, daß Christi Verdienst als das Verdienst eines Menschen nicht an sich dem göttlichen Gericht entgegengesetzt werden könnet) Dieselbe Konsequenz ziehen die reformierten Theologen, welche die Gottheit Christi dadurch intakt erhalten wollen, daß sie das Leiden und Sterben der menschlichen Natur dem Sohne Gottes nur nominell und vermöge einer Gedankenoperation (nominetenus, praedicatione dialectica absque ulla reali communicatione) zukommen lassen wollen 650) und dadurch den inneren Wert des Verdienstes Christi aufheben. Auch verdeckt Böhl den sachlichen Dissensus zwischen der lutherischen und der reformierten Christologie, wenn er behauptet, daß die reformierte Theologie das genus idiomaticum und apotelesmaticum annehme und nur das genus maiestaticum ablehne.651) Es ist vielmehr zu sagen: Sofern die reformierten Theologen ihren Fundamentalsatz verwenden, daß das Endliche des Unendlichen nicht fähig sei (the incapacity of human nature for divinity), lehnen sie auch das genus idiomaticum und apotelesmaticum ab: das genus idiomaticum, sofern sie dem Sohne Gottes das Leiden und Sterben der menschlichen Natur nur nominell und vermöge einer Gedankenoperation zukommen lassen wollen, das genus apotelesmaticum, sofern sie die menschliche Natur Christi von allen Amtswerken ausschließen, zu deren Verrichtung Allmacht, Allwissenheit und Allgegenwart erforderlich ist, mit der Begründung, daß die menschliche Natur Christi göttlicher Eigenschaften und Werke nicht fähig sei. Es kann niemand das genus maiestaticum leugnen, ohne konsequenterweise auch das genus apotelesmaticum aufzuheben. Das ist die reformierte Christologie, sofern sie ihren Grundsatz, daß die menschliche Natur Christi der Gottheit nicht fähig sei, in Anwendung bringt. Insofern sie dies tut, nimmt sie einen außerhalb der christlichen Religion gelegenen Standpunkt ein.

Zu einer sachlichen Darstellung gehört aber die Anerkennung der Tatsache, daß die reformierten Theologen sonderlich dem Sozinianismus gegenüber sowohl die Menschwerdung des Sohnes Gottes als auch ein Verdienst Christi von unendlichem Wert lehren. Das ist freilich inkonsequent, aber eine mit Freuden anzuerkennende Tat

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649) S. 153 f., Note 312.        650) S. 167.        651) Dogmatik, S. 344.


302  >        Die Lehre von Christo.  [English ed. ~ 273–274]

sache. Der Heidelberger Katechismus bekennt, daß der ewige Sohn Gottes durch Wirkung des Heiligen Geistes aus der Jungfrau Maria eine wahre menschliche Natur an sich genommen und in seinem Leiden ' und Sterben die Sünde des ganzen menschlichen Geschlechts getragen habe, auf daß er mit seinem Leiden, als dem einigen Sühnopfer, unfern Leib und Seel' von der ewigen Verdammnis erlösete und uns Gottes Gnade, Gerechtigkeit und ewiges Leben erwürbe.652) Und dieselbe Admonitio Neostadiensis, die einerseits behauptet, es könne keine wirkliche Gemeinschaft zwischen der göttlichen und menschlichen Natur in Christo geben, gesteht andererseits diese Gemeinschaft tatsächlich zu, wenn sie sagt, daß die göttliche Natur dem Leiden der menschlichen Natur einen solchen Wert verliehen habe, „daß es ein hinreichendes Lösegeld für die Sünden der ganzen Welt sei”.653) Die Wertverleihung setzt nicht bloß nominelle, sondern wirkliche Gemeinschaft der Naturen voraus. Sofern nun die reformierte Christologie ihren Grundsatz: Finitum non est capax infiniti in glücklicher Inkonsequenz vergißt und sowohl die Menschwerdung des Sohnes Gottes als auch die satisfactio vicaria lehrt, tritt sie auf das christliche Gebiet zurück.

So ist ein charakteristisches Merkmal der reformierten Christologie der Selbstwiderspruch. Mit Recht ist in alter und neuer Zeit 654) den reformierten Theologen vorgehalten worden: Wer die persönliche Einheit von Gott und Mensch in Christo oder, was dasselbe ist, die Mitteilung der göttlichen Persönlichkeit an die menschliche Natur Christi zugibt, der hat damit das Recht verloren, auch nur ein Wort gegen die Mitteilung der göttlichen Eigenschaften und Werke zu reden. Und alle die schrecklichen Dinge, welche die reformierten Theologen den Lutheranern nachsagen als notwendig aus der Mitteilung der göttlichen Eigenschaften und Werke folgend (Zerstörung der menschlichen Natur, Verwandlung des ganzen irdischen Lebens Christi in einen bloßen Schein usw.) — all diese schrecklichen Dinge treffen, wenn sie treffen, die Reformierten gleicherweise, solange sie noch an der unio personalis, das ist, an der Mitteilung der göttlichen Person des Sohnes Gottes an die menschliche Natur, festhalten.655) Auch die Unitarier haben von ihrem Standpunkt aus auf den reformierten Selbstwiderspruch hingewiesen. Man hat es

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652) Fr. 35. 37.

653) Vgl. die Ausführung oben, S. 145 f.

654) S. 137 f. 172 f., 60 (Note 22).        655) S. 173.


303  >        Zusammenfassende Beurteilung der reformierten Christologie.  [English ed. ~ 274]

dem unglücklichen Adam Neuser sehr übelgenommen, daß er seinen Unitarismus der reformierten Schulung verdanke und gegen seine früheren Glaubensgenossen die Anklage erhob, sie schlügen andern Leuten die Köpfe wegen solcher Lehren ab, die sie selbst führten.656) Aber Neuser hat sachlich vollkommen recht. Wenn das reformierte Axiom: Finitum non est capax infiniti in der Christologie gelten soll, so ist die Menschwerdung des Sohnes Gottes unmöglich, und wenn die in der Zeit geschehene Mitteilung der göttlichen Allmacht, Allwissenheit ufw, sich nicht auf Christum nach der menschlichen Natur, sondern auf Christum nach der göttlichen Natur beziehen soll, so ist Christus nach seiner „Gottheit" nicht der ewige Sohn Gottes, sondern ein „arianisches Geschöpf”.657)

Schuld an diesem Elend des Selbstwiderspruchs ist die unglückliche Tatsache, daß die reformierten Theologen in ihrer Christologie eine unheilige Kopulation vornehmen wollen. Sie wollen zwei Dinge miteinander verbinden, die einander unaufhörlich bestreiten und sich gegenseitig aufheben. Sie wollen nämlich mit der in der Schrift geoffenbarten Wahrheit, daß der Sohn Gottes Mensch geworden ist, um in der menschlichen Natur und durch dieselbe die Werke des Teufels zu zerstören, den diese Wahrheit aufhebenden Menschengedanken verbinden, daß eine menschliche Natur des Sohnes Gottes in seinem göttlichen Wesen, seinen göttlichen Eigenschaften und Werken (actiones) nicht fähig sei. Dieser Menschengedanke, der kein Existenzrecht in der christlichen Theologie hat, sondern als ein Fremdkörper in sie eingeführt wird, ist die Ursache auch alles weiteren reformierten christologischen Elends. Er ist die Ursache des Widerspruchs gegen die Schrift. Achten wir auf den Grund, weshalb die reformierte Christologie die Schriftaussagen umdeutet, welche Christo nach der menschlichen Natur mitgeteilte göttliche Eigenschaften und Werke zuschreiben, so taucht als letzter und eigentlicher Grund immer der Menschengedanke auf, daß die menschliche Natur dieser Mitteilung nicht fähig sei, ohne in die Gottheit verwandelt oder vernichtet zu werden. Dieser

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656) Si quis argumentis ipsorum (der Reformierten) utitur et reipsa fit Arianus, aperte et in specie docens hoc, quod ipsi in genere, capite plectitur. (Apologie des Konkordienbuchs, S. 45 6.) In der, Tat wurde der Unitarier Sylvanus zu Heidelberg am 23. Dezember 1572 durch Kurfürst Friedrich III. von der Pfalz hingerichtet, über Neuser RE.2 IV, 692; XVI, 242; RE.1 I, 663; XVI, 758.

657) S. 173 f.


304  >        Die Lehre von Christo.  [English ed. ~ 274–275]

Menschengedanke ist auch die Ursache der ganzen ungerechten Polemik gegen die lutherische Kirche. Achten wir auf den Grund, weshalb die reformierten Theologen, von Zwingli und Calvin an bis auf die Gegenwart, die lutherische Kirche wegen der Lehre von der Mitteilung der göttlichen Eigenschaften und Werke an die menschliche Natur des Eutychianismus, das heißt, der Verwandlung der Menschheit in die Gottheit, beschuldigen, so erscheint auf der Bildfläche als letzter und eigentlicher Grund immer der Menschengedanke von der Unfähigkeit der menschlichen Natur Christi für göttliche Eigenschaften und Handlungen: Communicatio idiomatum Deitatis cum humanitate cum natura humana pugnat, corporis humani non alia quam visibilis, localis, circumscriptiva praesentia est; human nature cannot be made the organ of divine attributes, etc. Der Versuch, diesen Menschengedanken festzuhalten und als kirchliche Lehre erscheinen zu lassen,, wird für die reformierten Theologen auch die Veranlassung für die historisch unwahre Behauptung, daß die reformierte Christologie den Konsensus der alten Kirche, speziell des Chalcedon, für sich habe.658) 

Wenn die reformierte Kirche von dem Elend des Selbstwiderspruchs und dem übrigen christologischen Elend loskommen will, so geht das nur so, daß sie das rationalistische Prinzip: Finitum non est capax infiniti als einen eingedrungenen Fremdkörper aus ihrem Leibe ausscheidet. Sie muß in bezug auf die Kapazität der menschlichen Natur Christi auf den biblischen Standpunkt kommen, den die Konkordienformel mit den klassischen Worten bekennt, die wir nochmals hierhersetzen: „Der beste, gewisseste und sicherste Weg in diesem Streit ist dieser, nämlich was Christus nach seiner angenommenen menschlichen Natur durch die Persönliche Vereinigung, Glorifikation oder Erhöhung empfangen habe, und was seine angenommene menschliche Natur über (praeter et supra) die natürlichen Eigenschaften ohne derselben Abtilgung fähig sei, daß solches niemand besser und gründlicher wissen könne denn der HErr Christus selber; derselbige aber hat solches, soviel uns in diesem Leben davon zu wissen vonnöten, in seinem Wort offenbart. Wovon Wir nun in der Schrift in diesem Falle klare, gewisse Zeugnisse haben, das sollen wir einfältig glauben und in keinem Wege dawider disputieren, als könnte die menschliche Natur in Christo desselben nicht fähig sein."659)

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658) S. 284 ff.        659) Müller, S. 685, § 53. [Trig. 1033, F. C., Solid Decl. VIII, § 53]


305  >        Zusammenfassende Beurteilung der reformierten Christologie.  [English ed. ~ 275–276]

Es mögen hier noch einige Bemerkungen über neuere reformierte Theologen, deren Schriften in unserer Mitte verbreitet sind, Platz finden. Shedd weist sehr energisch darauf hin, daß in der christlichen Theologie nur das Schriftprinzip Geltung haben könne. Er sagt sehr richtig, daß die christliche Dogmatik und die sogenannte „biblische" Theologie sich inhaltlich decken müssen.660) Aber dazu macht er die Bemerkung, daß es unter allen Theologen sonderlich Calvin gelungen sei, seine Dogmatik von menschlichen Gedanken freizuhalten. Er sagt: "The systematic theology of Calvin’s Institutes is exclusively Biblical in its constituent elements and substance. Calvin borrows hardly anything from human philosophy, Science, or literature. His appeal is made continually to the Scriptures alone. No theologian was ever less influenced by a school of philosophy, or by human Science and literature, than the Genevan reformer.”661) Das ist ein Irrtum. Calvins Theologie, soweit sie sich von der lutherischen unterscheidet, ist gänzlich von rationalistisch-philosophischen Sätzen beherrscht, und seine — zum Teil fanatische — Bekämpfung der lutherischen Lehre geht von diesen rationalistisch-philosophischen Sätzen aus. Seine Lehre von der Gnade Gottes (De gratia Dei), speziell die Bestimmung, auf wie viele Menschen sich die Gnade erstreckt,662) wird ganz von dem Menschengedanken beherrscht, daß die Ausdehnung des göttlichen Gnadenwillens nicht nach den Schriftaussagen, sondern nach der Erfahrung oder dem Resultat (experientia, effectus) zu beurteilen sei. Von diesem Menschengedanken aus deutet Calvin alle Schriftaussagen um, die auf den allgemeinen Gnadenwillen (gratia universalis) lauten, und bekämpft er als Toren alle, die einen allgemeinen Gnadenwillen lehren. Was nun Calvins Christologie betrifft, so steht sie wie die seiner Genossen unter der Herrschaft des menschlichen Dekrets von der Unfähigkeit der menschlichen Natur für die Gottheit. Er nennt es eine Unwissenheit (inscitia), wenn man die Menschheit Christi überall mit seiner Gottheit vereinigt sein lasse. Insonderheit urgiert er das Spezialdekret, daß der menschlichen Natur Christi nur eine sichtbare und lokale Gegenwart zukommen könne.663) Von diesem Menschengedanken aus deutet er die geschlossenen Türen

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660) Dogmatic Theol I, 11.        661) L. c., p. 12.        662) S. 27.

663) Inst. IV, 17, 30. 29: Garriunt [die Lutheraner] de invisibili praesentia. — Haec est propria corporis veritas, ut spatio contineatur, ut suis dimensionibus constet..


306  >        Die Lehre von Christo.  [English ed. ~ 276–277]

(Joh. 20) in geöffnete um, und verlegt er das Wunder des Verschwindens Christi (Luk. 24) in die Augen der Jünger. Von hier aus bekämpft er auch die Lutheraner als Eutychianer und als Leute, die schlimmer seien als die Papisten.664) So steht Calvins Christologie unter der Herrschaft von rationalistischen Axiomen.

Es ist schade, daß auch bedeutende neuere reformierte Dogmatiker wie Hodge, Shedd und Böhl, die in vieler Beziehung trefflich dem modernen Liberalismus sich entgegenstellen, in der Christologie die altreformierte Lehre in ihrem Selbstwiderspruch und in ihrem Widerspruch gegen die Schrift reproduzieren und dabei auch der Versuchung erliegen, in der Polemik gegen die Lutheraner die lutherische Lehre nach Inhalt und Geschichte falsch darzustellen. Auf Hodges Christologie wurde in der vorstehenden Ausführung schon vielfach Bezug genommen, weil seine Dogmatik und seine Kommentare auch in unfern Kreisen verbreitet sind. Hodge — das sahen wir — vertritt entschieden den altreformierten Standpunkt und bekämpft ebenso entschieden die lutherische Lehre von dem Grundsatz aus, daß die menschliche Natur Christi der Attribute und Werke seiner Gottheit nicht fähig sei. Wir lenken die Aufmerksamkeit nur noch auf die Tatsache, daß Hodges historische Ausführungen über die lutherische Christologie im höchsten Grade unzuverlässig sind. Dasselbe hatte D. Krauth schon an D. Shedd zu tadeln. Krauth gebrauchte Shedd gegenüber diese scheinbar harten, aber sachlich berechtigten Worte: "We cannot refrain from expressing our amazement that the writer of a History of Christian Doctrine 665) should give such a definition of so familiar a term” (es handelt sich um den Ausdruck communicatio idiomatum, die Shedd als "the presence of the divine nature of Christ in the sacramental elements" definiert hatte). "We are forced almost to the conclusion — and it is the mildest one we can make for Dr. Shedd — that he has ventured to give a statement of the doctrine of our Formula (die Konkordiensormel ist gemeint) "without having read it with sufficient care to form a correct judgment as to the meaning of its most

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664) Inst. IV, 17, 30: Non loquor de papistis, quorum tolerabilior vel saltem magis verecunda est doctrina. Sed quosdam [die Lutheraner sind gemeint] ita abripit contentio, ut dicant propter unitas in Christo naturas, ubicunque est divinitas Christi, illic quoque esse carnem, quae ab illa separari nequit.

665) Shedd, A History of Christian Doctrine. Erste Auflage, New York und Edinburgh, 1865 (zwei Bände).


307  >        Zusammensassende Beurteilung der reformierten Christologie.  [English ed. ~ 277–278]

important terms.” "Dr. Shedd ... in general seems to stumble from the moment he gets on German ground.” 666) D. Hodge ist in seinen historischen Ausführungen über die lutherische Christologie nicht glücklicher. Wir erinnerten schon daran,667) daß Hodge Martin Chemnitz unter die Theologen versetzt, welche lehren, "that human nature is not capable of divinity”. Hodge ist der Ansicht, daß unter den lutherischen Theologen eine hoffnungslose Uneinigkeit herrsche. Er sagt: "It would require a volume to give the details of the controversies between the different schools of the Lutheran divines.” 668) Um diese angenommene Uneinigkeit zu konstatieren, schreibt er unter anderm: "No less diversity appears in the answer to the question, What is meant by the communication of natures ? Sometimes it is said to be a communication of the essence of God to the human nature of Christ; sometimes, a communication of divine attributes; and sometimes it is said to mean nothing more than that the human is made the organ of the divine.” 669) Tatsache ist, daß sämtliche lutherischen Theologen alle drei Punkte lehren und bekennen. Alle lehren, daß Gottes Wesen der menschlichen Natur Christi mitgeteilt sei, weil die Schrift lehrt, daß in Christi menschlicher Natur die ganze Fülle der Gottheit als in ihrem Leibe wohnt, und der Sohn Gottes nicht exklusive, sondern inklusive seiner göttlichen Natur Mensch geworden ist.670) Die Behauptung reformierter Theologen,671) daß der Sohn Gottes minus seiner göttlichen Natur Mensch geworden sei, bezeichnen sie als das, was sie ist, nämlich als eine Leugnung der Schriftaussagen. Ebenso lehren sämtliche lutherischen Theologen die Mitteilung der göttlichen Eigenschaften an die menschliche Natur, weil nach der Schrift Christo in der Zeit, also nach der menschlichen Natur, nicht bloß große natürliche Gaben (dona finita), sondern auch übernatürliche, wahrhaft göttliche Gaben (dona vere divina et infinita) gegeben sind. Wenn die reformierten Theologen zum Beispiel den Ausdruck Matth. 28,18: πάσα εξουσία εν ονρανφ καί έπι γής nur eine beschränkte Macht bezeichnen lassen wollen, so nennen die lutherischen Theologen das eine Verkehrung der Schriftworte. Und wenn andere reformierte Theologen die Worte auf Christum nach seiner göttlichen Natur beziehen wollen, so weisen die lutherischen Theologen nach, daß damit Christi ewige

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666) The Conservative Reformation, p. 351 sqq.        667) S. 215.

668) Systematic Theol., II, 413.        669) L. c., p. 411.

670) Kol. 2, 9; Joh. 1, 14.        671) S. 135.


308  >        Die Lehre von Christo.  [English ed. ~ 278–279]

Gottheit geleugnet, und der Sohn Gottes in ein arianisches Geschöpf verwandelt werde, weil in der Schriftstelle von einer Allmacht die Rede sei, die Christo erst in der Zeit gegeben wurde. Endlich lehren auch sämtliche lutherischen Theologen, Luther eingeschlossen, daß die Mitteilung der göttlichen Eigenschaften an die menschliche Natur nur den Sinn hat, daß die menschliche Natur zum Organ der göttlichen Natur gemacht wurde. Die lutherischen Theologen bedingen sich nur aus, daß Christi menschliche Natur in anderer und höherer Weise Organ der Gottheit ist als zum Beispiel die menschliche Natur des Petrus, wenn Gott durch diesen Allmachtswerke verrichtete. Sie fassen die menschliche Natur Christi als ein zur Person des Sohnes Gottes gehörendes Organ (instrumentum personaliter coniunctum, ενχρηοτον, cooperans), und sie bezeichnen es als eine die Menschwerdung des Sohnes Gottes aufhebende Lehre, wenn reformierte Theologen behaupten, daß Christus nach seiner menschlichen Natur nicht anders göttliche Werke wirke als menschliche Wundertäter. So liegt klar auf der Hand, daß die Uneinigkeit, welche Hodge in den drei angegebenen Punkten den lutherischen Theologen zuschreibt, lediglich in das Gebiet der Fiktion gehört. Wir erinnern an unsere längere Darlegung (S. 216 f.), daß weder die Lutheraner untereinander noch die Reformierten untereinander wesentlich uneinig sein können, solange einerseits die Lutheraner lehren: Finitum in Christo capax est infiniti, the human nature of Christ is capable of divinity, neque caro extra λόγον, neque λόγος extra carnem usw., und solange andererseits die Reformierten in ihrer Christologie festhalten: Finitum non est capax infiniti, the human nature of Christ is not capable of divinity, cannot be made the organ of divinity and of divine attributes, corporis Christi non alia quam visibilis et localis praesentia est. Auch die Einwürfe, mit denen Hodge unter dem Titel "Remarks on the Lutheran Doctrine”672) die lutherische Lehre bekämpft, liegen sämtlich außerhalb des Gebietes der Wahrheit. Es sei nur auf den ersten Einwurf hingewiesen. Hodge trägt kein Bedenken zu sagen: "The first objection is that the Lutheran doctrine is an attempt to explain the mystery” und dies bestimmt er näher dahin: "Not content with admitting the fact that two natures are united in the one person of Christ, the Lutheran theologians insist on explaining the fact.” Genau das Gegenteil ist geschichtlich wahr. Die lutherische Lehre, daß die menschliche

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672) L. c., p. 413—418.


309  >        Die Lehre von den Ständen Christi.   [English ed. ~ 279–280]

Natur durch ihre persönliche Verbindung mit dem Sohne Gottes nicht bloß nominelle, sondern wirkliche Gemeinschaft mit der göttlichen Natur und deren Eigenschaften und Werken hat, ist nicht eine Lehraussage, die die lutherischen Theologen aus ihrem eigenen Innern zu der uuio psrsoualis hinzutun oder durch Vernunftschlüsse aus der unio personalis folgern, sondern das ist eine Lehre, die in der Schrift ausgedrückt vorliegt. Hingegen ist die reformierte Leugnung der communio naturarum und der Mitteilung göttlicher Eigenschaften und Werke an die menschliche Natur eine direkte Negation der Schriftaussagen und eine rationalistische Wegerklärung der unio personalis, wie die Schrift selbst die unio personalis beschreibt. D. Hodges Einwürfe gegen die lutherische Christologie können nur unzutreffend sein, weil sie auf dem Menschengedanken von der incapacity of human nature for divinity beruhen. Aber auch in bezug auf Hodge ist die erfreuliche Tatsache zu melden, daß er alle seine Einwürfe gegen die lutherische Christologie der Sache nach selbst zurücknimmt, wenn er unter dem Abschnitt "The Intrinsic Worth of Christ's Satisfaction” 673) sich zu den Ausdrücken Dei mors, Dei sanguis, Dei passio bekennt und in dem, was diese Ausdrücke besagen, den unendlichen Wert des Verdienstes Christi begründet sieht, wie auch die Admonitio Neostadiensis dem Leiden der menschlichen Natur durch die göttliche Natur unendlichen Wert mitgeteilt sein läßt. Damit ist die Gemeinschaft der Naturen und ihrer Werke anerkannt. So ist zu sagen, daß die reformierte Christologie eine unchristliche und eine christliche Seite darbietet. Sofern sie das Prinzip: Finitum non est capax infiniti adoptiert hat und anwendet, ist sie unchristlich-unitarisch. Sofern sie inkonsequent wird und Wider das adoptierte Prinzip die hypostatische Einheit und den inneren unendlichen Wert (intrinsic worth) des Leidens Christi lehrt, ist sie christlich.

II. Die Lehre von den Ständen Christi. ^

(De statibus exinanitionis et exaltationis.)

Die Schrift sowohl Alten als Neuen Testaments stellt Christum in einem doppelten Zustande dar. Erstlich in einem Zustand der Niedrigkeit, der ein dreiunddreißigjähriges Erdenleben in menschlicher Entwicklung und menschlicher Niedrigkeit und zuletzt sogar den Tod am Kreuz und das Grab in sich schließt, sodann in

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673) Systematie Theol., II, 482 ff.


310  >        Die Lehre von Christo.  [English ed. ~ 280]

einem auf die Niedrigkeit folgenden und die Niedrigkeit aufhebenden Stand der Erhöhung, der nicht nur die Auferstehung vom Tode, sondern auch die Erhebung aus den Thron der Weltherrschaft und die Setzung zum Haupt der Kirche sowie die sichtbare Wiederkunft in göttlicher Herrlichkeit zum Weltgericht in sich begreift.674)

Was es um diese beiden Zustände sei, näher, worin die Erniedrigung und Erhöhung bestehe — die Erniedrigung im teilweisen Nichtgebrauch, die Erhöhung im vollen Gebrauch der göttlichen Herrlichkeit nach der menschlichen Natur —, das mußte schon immerfort bei der Beschreibung der unio personalis dargelegt werden. Es ist schlechterdings unmöglich, die unio personalis von Gott und Mensch zu beschreiben und dem vielgestaltigen Irrtum gegenüber sestzuhalten, ohne fortgehend auf die Erniedrigung und Erhöhung Christi Rücksicht zu nehmen, weil sowohl aus dem Zustande der Niedrigkeit als auch aus dem Zustande der Erhöhung gegen die schriftgemäße Lehre von der unio personalis argumentiert wird. Was die Schrift von der Niedrigkeit Christi berichtet, zum Beispiel sein Zunehmen an Weisheit, sein Nichtwissen des Jüngsten Tages, seine Bitte um Vorübergehen des Kelchs und vollends sein Sterben, soll nicht zu dem Gottsein Christi, jedenfalls nicht zu der Mitteilung göttlicher Eigenschaften und Werke an die menschliche Natur Passen.675) Und was uns die Schrift über die Erhöhung Christi berichtet, sonderlich seine Erhöhung aus den Thron der Weltherrschaft und seine Gegenwart in der Kirche auch nach der menschlichen Natur, soll sich durchaus nicht mit der wahren Menschheit Christi vertragen.676) Alle diese Einwände mußten schon im vorhergehenden besprochen werden. Wenn hier nun noch ein besonderer Abschnitt über die Stände Christi folgt, so kann es sich nur darum handeln, früher Gesagtes unter den Begriffen „Erniedrigung” und „Erhöhung" der Übersicht wegen nochmals zusammenzustellen. Was die lästig erscheinende Wiederholung derselben Dinge unter verschiedenen Gesichtspunkten betrifft, so können wir uns mit Chemnitz in

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674) Ies. 53, 2—12; Ps. 8, 6—10; Ps. 110 usw. Deutung der alt-testainentlichen Stellen im Neuen Testament durch Christum selbst Luk. 24, 26: εδει παϑεΐν τον Χριστόν και εισελϑειν εις την δόξαν αυτόν. Paulus Phil. 2, 6—11: εαυτόν εκένωσεν μορφήν δούλου λαβών κτλ. — διό και ο ϑεός αυτόν νπερνψωσεν

675) Unitarier, Reformierte. Von Neueren Böhl und Hodge.

676) Reformierte, neuere Unitarier.


311  >        Wesen und Begriff der Erniedrigung und Erhöhung.  [English ed. ~ 280-281]

dessen Schrift De duabus naturis trosten.677) Eine Anzahl bisher noch nicht besprochener Einzelheiten kommen unter dem Abschnitt „Die einzelnen Teile der Erniedrigung und Erhöhung" zur Darstellung.

1. Wesen und Begriff der Erniedrigung und Erhöhung Christi. ^

Über Wesen und.Begriff der Erniedrigung und Erhöhung sei hier das Folgende wiederholt und zusammengestellt: Weil die Menschwerdung Gottes darin besteht, daß der Sohn Gottes ohne jegliche Reduktion seines göttlichen Ich oder seiner göttlichen Eigenschaften, also in der ganzen Fülle der Gottheit, in seine menschliche Natur einging,678) so war Christus auch nach seiner menschlichen Natur vom ersten Augenblick der unio psrsoualis an und während seines ganzen Erdenlebens im Besitz der δόξα ϑεον. Dies wurde unter dem genus maiestaticum sowohl im allgemeinen als auch in bezug auf die einzelnen göttlichen Eigenschaften, insonderheit auch in bezug auf die Allmacht, Allwissenheit und Allgegenwart, dargelegt. Daher besteht die Erniedrigung Christi darin, daß Christus während seines Erdenlebens aus den Gebrauch der seiner menschlichen Natur mitgeteilten göttlichen Herrlichkeit verzichtete, soweit diese Verzichtleistung von seinem Erlöseramt gefordert war, nämlich von dem Amt, daß er — im Einklang mit der göttlichen Erlösungsmethode — an Stelle der Menschen unter dem Gesetz sein (γενόμένος υπό νόμον) und an Stelle der Menschen leiden und sterben sollte (γενό μένος ντιερ ημών κατάραa) .679)

Dies ist bekanntlich die lutherische Lehre von der Erniedrigung. Die Konkordienformel sagt: „Welche [göttliche] Majestät Christus gleich in seiner Empfängnis auch im Mutterleibe gehabt, aber, wie der Apostel zeuget, sich derselben geäußert (seipsum exinanivit) und, wie D. Luther erkläret, im Stand seiner Erniedrigung heimlich gehalten (secreto habuit) und nicht allezeit, sondern wann er gewollt, gebraucht hat (usurpavit).” 680)

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677) Uns ist keine Schrift bekannt, in der ein und dieselben christologischen Wahrheiten so oft wiederholt werden, als die genannte Schrift von Chemnitz. Die Wiederholungen liegen in der Natur der Sache. Alle christologischen Irrlehren werden im Gegensatz zu einigen wenigen christlichen Grundwahrheiten, besonders im Gegensatz gegen die unio personalis, aufgestellt. So ist Chemnitz veranlaßt, bei der Besprechung der zahlreichen Irrtümer immer wieder dieselben Grundwahrheiten auf den Plan zu stellen.

678) Abweisung des genus tapeinoticon.  679) Gal. 4, 4. 5; 3, 13.

680) Müller, S. 680, § 26.


312  >        Die Lehre von Christo.  [English ed. ~ 281–282]

Dieselben Gedanken sind auch in den folgenden Worten ausgesprochen, aber mit nachdrücklicher Herausstellung der Tatsache, daß durch die Selbstentäußerung nach der Menschheit die wahrhast menschliche Entwicklung Christi gesichert war: Welche [göttliche] Majestät Christus nach der persönlichen Vereinigung allwegen gehabt und sich doch derselben im Stande seiner Erniedrigung geäußert und der Ursach'” (qua de causa, nämlich wegen der Entäußerung) „wahrhaftig an aller Weisheit und Gnade bei Gott und den Menschen zugenommen; darum er solche Majestät nicht allezeit, sondern wann es ihm gefallen, erzeiget” (exercuit, ausgeübt, gebraucht), „bis er die Knechtsgestalt, und nicht die Natur, nach seiner Auferstehung ganz und gar hingeleget und in den völligen Gebrauch, Offenbarung und Erweisung der göttlichen Majestät gesetzet (in plenarium usurpationem, manifestationem et declarationem divinae maiestatis collocaretur)."681) Die Lehre von der Erhöhung hängt so eng mit der Lehre von der Erniedrigung zusammen, daß mit der letzteren auch immer die erstere gegeben ist, und man das Wesen der Erniedrigung nicht beschreiben kann, ohne auch von der Erhöhung zu reden, wie aus den angeführten Worten der Konkordienformel hervorgeht. Besteht die Erniedrigung im teilweisen Nichtgebrauch der göttlichen Majestät nach der menschlichen Natur, so besteht die Erhöhung im vollen Gebrauch der göttlichen Majestät nach der menschlichen Natur. Von der Erhöhung insonderheit sagt die Konkordienformel: „Wir glauben, lehren und bekennen, daß des Menschen Sohn zur. Rechten der allmächtigen Majestät und Kraft Gottes 682) realiter, das ist, mit der Tat und Wahrheit, nach der menschlichen Natur erhöhet, weil er in Gott ausgenommen, als er von dem Heiligen Geist in Mutterleib empfangen und seine menschliche Natur mit dem Sohn des Allerhöchsten persönlich vereinigt (fuerit unita).”683) Ferner heißt es ausführlicher mit Gegenüberstellung der Stände: „So halten und lehren wir . . ., weil die ganze Fülle der Gottheit in Christo wohnt, nicht wie in andern heiligen Menschen und Engeln, sondern leibhaftig als in ihrem eigenen Leibe, daß sie mit aller ihrer Majestät, Kraft, Herrlichkeit und Wirkung in der angenommenen menschlichen Natur freiwillig, wann und wie er will, leuch

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681) Müller, S. 546, § 16.

682) Gegensatz gegen die dona creata und finitae qualitates der Reformierten. Müller, S. 685, § 52.

683) Müller, S. 546, § 15.


313  >        Wesen und Begriff der Erniedrigung und Erhöhung.  [English ed. ~ 282]

tet, in, mit und durch dieselbige seine göttliche Kraft, Herrlichkeit und Wirkung beweiset, erzeiget und verrichtet (exerceat, operetur et perficiat), wie die Seele im Leibe und das Feuer in einem glühenden Eisen tut. . . . Solches ist zur Zeit der Niedrigung verborgen und hinterhalten worden, aber jetzund nach abgelegter knechtischer Gestalt geschieht solches völlig, gewaltig und öffentIich vor allen Heiligen im Himmel und auf Erden.” (In der Übersetzung: Haec autem naturae humanae maiestas in statu humiliationis maiori ex parte occultata et quasi dissimulata fuit. At nunc post depositam servi formam [seu exinanitionem] maiestas Christi plene et efficacissime atque manifeste coram omnibus in coelo et in terris sese exserit.)684) „Also [ist Christus] in seine Herrlichkeit eingegangen, daß er jetzt nicht allein als Gott, sondern auch als Mensch alles weiß, alles vermag, allen Kreaturen gegenwärtig ist und alles, was im Himmel, auf Erden und unter der Erden ist, unter seinen Füßen und in seinen Händen hat, Matth. 28, 18; Eph. 4, 10."685)

Wenn wir voraus auf den später zu behandelnden kryptisch-kenötischen Streit Rücksicht nehmen, so ist auf zweierlei hinzuweisen:  1. Die Konkordienformel gebraucht, wie aus den angeführten Stellen klar hervorgeht, bei der Beschreibung der Erniedrigung die Ausdrücke „Heimlichhaltung” und „Nichtgebrauch” und bei der Beschreibung der Erhöhung „Offenbarung” und „Gebrauch" als Synonyma.  2. Die Konkordienformel führt die Erniedrigung und Erhöhung auf die unio personalis zurück, etwas dogmatischer ausgedrückt: nach der Konkordienformel ist die unio personalis das fundamentum adaequatum der Erniedrigung und Erhöhung. Die Konkordienformel unterscheidet dann die Stände danach, daß im Stande der Niedrigkeit ein beschränkter, im Stande der Erhöhung ein völliger Gebrauch (völlige Betätigung, völlige Offenbarung) der göttlichen Majestät in der menschlichen Natur und durch die menschliche Natur stattfindet.

Wenn wir zusammenfassen wollen, so enthält die Lehre der Konkordienformel von der Erniedrigung und Erhöhung die folgenden Punkte: 1. Erniedrigung und Erhöhung beziehen sich auf Christum nach der menschlichen Natur. Die Beziehung auf Christum nach der göttlichen Natur ist eine „lästerliche Verkehrung”.686) 2. Christus

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684) Müller, S. 688, § 64. 65.        685) Müller, S. 547, § 16.

686) Müller, S. 550, § 39.


314  >        Die Lehre von Christo.  [English ed. ~ 282–283]

ist nach der menschlichen Natur von der Empfängnis an propter unionem personalem im Besitz der göttlichen Majestät. 3. Die Erniedrigung oder Entäußerung besteht darin, daß Christus nicht bloß scheinbar, sondern wirklich auf den Gebrauch der göttlichen Majestät verzichtete. Infolge dieses Verzichts hat Christus sich echt menschlich entwickelt. Nichtgebrauch und „Heimlichhaltung" der göttlichen Majestät sind Synonyma. 4. Der Nichtgebrauch ist nicht Verzicht aus allen Gebrauch. Noch an sein Sterben mußte Christus das ganze Gewicht der Gottheit hängen.687) 6. Die Erniedrigung unterscheidet sich von der Erhöhung dadurch, daß die göttliche Majestät im Stande der Niedrigkeit nur beschränkt, und zwar amtlich beschränkt, im Stande der Erhöhung völlig in der menschlichen Natur und durch dieselbe zur Verwendung, Wirksamkeit oder Offenbarung kommt (exercere, sese exserere, operari, lucere).

Diese Hauptpunkte der Lehre von den Ständen bringen auch die Definitionen der lutherischen Dogmatiker zum Ausdruck. Baier sagt: „Die Erniedrigung Christi bezieht sich auf seine menschliche Natur und besteht darin, daß Christus sich zeitweilig des vollen Gebrauchs der göttlichen Herrlichkeit begab, die die menschliche Natur in der Persönlichen Vereinigung durch Mitteilung empfing.” 688) Die Erhöhung beschreibt Baier so: „Der Stand der Erhöhung ist der, in welchem Christus nach der menschlichen Natur, nach Ablegung der Schwachheiten des Fleisches, den vollen Gebrauch der göttlichen Majestät annahm und ausübte.” 689) Über den Unterschied der Stände sagt Hollaz: „Christus hat die seinem Fleische mitgeteilte göttliche Majestät nicht immer in derselben Weise betätigt, sondern von der Empfängnis bis zum Tode und Begräbnis hat er den vollen Gebrauch Zurückgezogen und gehemmt (retraxit et inhibuit); aber nach der Lebendigmachung, Auferstehung, Himmelfahrt und Erhöhung zur Rechten Gottes hat er sie völlig in Gebrauch genommen."690)

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687) Müller, S. 679, § 25.

688) Compendium, ed. Walther, III, 76: Pertinet exinanitio Christi ad humanam eius naturam atque in eo consistit, quod Christus maiestatis divinae, quam in unione personali humana natura communicatam accepit, usu plenario aliquamdiu se abdicavit.

689) Compendium III, 89: Exaltationis status est, quo Christus secundum humanam naturam, depositis infirmitatibus carnis, plenarium divinae maiestatis usum suscepit et exseruit.

690) Examen, De statu exin., qu. 110: Christus communicatam cami suae maiestatem divinam non semper eodem modo exeruit, sed a concep–


315  >        Wesen und Begriff der Erniedrigung und Erhöhung.  [English ed. ~ 283]

Was die reformierte und römische Lehre von. den Ständen betrifft, so ist zu sagen: Da nach der Schrift die Erniedrigung im teilweisen Nichtgebrauch und die Erhöhung im vollen Gebrauch der der menschlichen Natur Christi mitgeteilten göttlichen Majestät besteht, die reformierten und römischen Theologen aber die Mitteilung der göttlichen Majestät an die menschliche Natur für unmöglich erklären kraft ihres Axioms: „Finiitum non est capax infiniti, so ist alles, was diese Theologen im Einklang mit ihrer Theorie über die Erniedrigung und Erhöhung Christi aussagen, außerhalb der Schrift gelegen. Sie beziehen die Erniedrigung und Erhöhung in der Regel auf beide Naturen.691)

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tione usque ad mortem et sepulchrum eiusdem plenum usum retraxit et inhibuit, vivificatus autem, resuscitatus, evectus in coelum et exaltatus ad dextram Dei eandem plene usurpavit. Ex quo oritur duplex Christi status exinanitionis et exaltationis. In näherer Beschreibung unterscheiden die Dogmatiker zwischen subiectum quod und subiectum quo der Erniedrigung. Quenstedt: Subiectum exinanitionis est vel quod vel quo. Subiectum quod est persona τον λόγον, non qua άσαρκος et incarnanda, sed qua Μνσαρκος et incarnata. ... Subiectum quo est natura humana, utpote quae sola deteriorationis [Verringerung] capax est. Nec enim nisi secundum humanam naturam in forma Dei fuit et habuit τά Ισα τφ ϑεω (sollte heißen: ro είναι Ισα ϑεω] et potuisset, si voluisset, se aequalem Deo gerere. (Syst. II, 475.) In bezug auf das obiectum exinanitionis sagt Quenstedt: Obiectum exinanitionis, seu quo se exinanivit Christus, non est essentia aut maiestas divina carni communicata. Si enim communicatam divinam maiestatem assumptae carni subtraxisset, ipsam unionem personalem rescidisset aut dissolvisset, ast semper a primo conceptionis momento Filius Dei fuit et mansit et inhabitantem totam plenitudinem Deitatis secundum carnem perpetuo άχωρίστως retinuit et possedit, sed id, quo se abdicavit, in genere fuit μορφή τον ΰεον, id est, status divinus gloriosus seu deiformitatis, hoc est, divinae maiestatis plenarius, universalis et non interruptus usus, non quod nunquam ea uteretur, sed quod non semper et tum solum, quoties ex officii ratione expediret. ... In specie obiectum exinanitionis est (1.) usus plenarius et universalis divinae gloriae, Ioh. 17, 5, (2.) omnis opulentiae, Matth. 8, 20, (3.) omnipotentiae, Luc. 22, 42. 43, (4.) omnisapientiae, Luc. 2, 52, (5.) omniscientiae, Mare. 13, 32, (6.) omnipraesentiae, Eph. 1, 20 [als majestätische Gegenwart und Herrschaft gefaßt), (7.) cultus adorationis religiosae, utpote cuius plenario usu status exaltationis definitur, Phil. 2, 9—11. (L. c., p. 476. 480.) — In bezug auf die Erhöhung sagt Quenstedt: Subiectum exaltationis est vel quod vel quo. Subiectum quod est λόγος ενσαρκος sive Christus ϑεάνϑρωπος. Subiectum quo natura non divina, quia haec simpliciter αμετάβλητος, sed humana est, Ps. 110, 7; Phil. 2, 9. (L. c., p. 526.)

691) Zitate bei Heppe, Dogmatik d. res. K., S. 351; Baier, ed. Walther, III, 55 ff.; Baumgarten, Streitigk. II, 312. Heppe zitiert aus Mastricht (Miso


316  >        Die Lehre von Christo.  [English ed. ~ 284]

Da sie aber die Unveränderlichkeit Gottes festhalten wollen, so wird ihnen unter der Hand die Erniedrigung und Erhöhung nach der göttlichen Natur zur bloßen Redeweise, zur bloßen occultatio, beziehungsweise manifestatio der Gottheit vor Menschenaugen. Auf die menschliche Natur bezogen, ist ihnen die Erniedrigung mancherlei: die Annahme der menschlichen Natur, das ungewöhnliche Maß der Schmach und des Leidens usw., nur nicht der Verzicht auf den Gebrauch der in der menschlichen Natur leibhaftig wohnenden göttlichen Majestät. Die Erhöhung nach der menschlichen Natur ist ihnen die Mitteilung sehr großer endlicher Gaben (dona extraordinaria finita) im Widerspruch mit den klaren Schriftaussagen. Phil. 2, 9—11: τό δνομα το ϋπερ παν δνομα, ΐνα εν τφ όνόματι παν γόνυ κάμψη — και πάσα γλώσσα εξομολογήσηται δτι κύριος 3Ιησούς Χριστός; Matth. 28, 18: πάσα έξονσΐα εν τφ ονρανφ και επί τής γης; Eph. 1, 20—23: νπεράνω πάσης αρχής κτλ., καί πάντα νπέταξεν υπό τούς πόδας αϋτον; Eph. 4, 10: νπεράνω πάντων των ουρανών, ΐνα πληρώση τα πάντα. (Vgl. die Ausführungen über das genus maiestaticum S. 169 ff,) Selbstverständlich ist ferner, daß auch der alten und neuen Unitarier Lehre von der Erniedrigung mit der Schriftlehre nichts gemein hat, da sie die wesentliche (metaphysische) Gottheit Christi, die „Zweinaturenlehre", leugnen und somit die Mitteilung göttlicher Herrlichkeit an die menschliche Natur innerhalb der persönlichen Vereinigung für sie ein non-ens ist. Wenn die Unitarier noch von einer Erhöhung Christi reden, so verstehen sie darunter Christi Erhebung zum intellektuellen, moralischen usw. Welt- oder auch Kirchenregenten mit oder ohne Auferstehung von den Toten. Die älteren Unitarier (Sozinianer) lassen in der Regel Christum von den Toten auferstanden sein. Neueren Unitariern ist die leibliche Auferstehung Christi nicht wesentlich. Es kommt ihnen nur darauf an, daß Christus durch das, was er auf Erden gesagt und getan hat, der „Erreger" sittlicher, frommer und anderer Ideen und Gefühle ist, wobei er im Grabe geblieben und doch eine geistige Königsmacht" sein kann.692)

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retico-praet. theol. V, IX, 4): Status humiliationis seu exinanitionis est is status, quo Christus quoad divinam quidem naturam seipsum privavit usu et manifestatione gloriae sibi alias competente, et quoad humanam naturam cum extrema humilitate subiectus est legi divinae ad perferenda et agenda omnia, quae ad restitutionem peccatoris requirebantur.

692) Nitzsch, Ev. Dogm., ed. Horst Stephan, S. 612: „Die Frage nach der Auferstehung und Himmelfahrt als äußerlichen Tatsachen und geschichtlichen


317  >        Wesen und Begriff der Erniedrigung und Erhöhung.  [English ed. ~ 284–285]

Die neueren Theologen, und zwar gerade auch die positiven, urteilen ziemlich übereinstimmend, daß die Christologie der Konkordienformel den Eindruck „des Unfertigen" mache.693) Dagegen hat Frank, wiewohl selber der „Fortbildung" huldigend, mit Recht bemerkt: „Jene Theologen” (die Verfasser der Konkordienformel), „indem sie entsprechend dem Schriftbefunde thetisch nebeneinanderstellten, was dem menschlichen Verständnis zu fassen schwer ankommt, machten sich über die Schwierigkeit solchen Verständnisses viel weniger Gedanken, als dies die Theologen der Gegenwart zu tun Pflegen, weil sie das differre in aeternam scholam besser als diese gelernt hatten."694) An dieselbe Tatsache hat auch Hase erinnert: „Die lutherische Kirche will nur das heilbringende Rätsel als Mysterium gläubig auf st eilen und gegen falsche Aufstellungen verwahren."695)

In der Tat erweist sich das, was die Konkordienformel und die mit ihr übereinstimmenden lutherischen Lehrer über die Erniedrigung wie über die Erhöhung Christi aussagen, nicht als „dogmatische Konstruktion", sondern als die klare Lehre der Heiligen Schrift und somit als in Übereinstimmung mit der „geschichtlichen Wirklichkeit”. Die lutherische Lehre wird allen Schriftaussagen über die Niedrigkeit und Erhöhung Christi gerecht. Darüber sei hier folgendes wiederholt und zusammengestellt: In der Schrift liegen uns zwei Reihen von Schriftaussagen über Christi Erdenleben vor. In der einen Reihe wird Christo der Besitz der göttlichen Herrlichkeit und aller Dinge zugeschrieben.696) In der andern Reihe von Aussagen schreibt die Schrift demselben Christus in demselben Erdenleben Armut, beschränktes Wissen, beschränkte Macht: Müdewerden, Gefangenwerden, Leiden, Sterben und Begrabenwerden zu.697) Es ist nützlich, sich zu vergegenwärtigen, daß in diesen beiden Reihen von Schriftaussagen die größten Gegensätze vorliegen, die je von einer Person ausgesagt worden sind. Die Weltgeschichte bietet uns freilich Beispiele genug, daß Mächtige dieser Erde völlig machtlos, Reiche ganz arm geworden sind. Aber

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Einzelvorgängen gehört nicht in die Glaubenslehre, sondern in die Wissenschaft vom Leben JEsu.

693) Seeberg, Dogmengesch. II, 377.    694) Theol. d. F. C. III, 218 f.

695) Bei Meusel III, 753.

696) Joh. 1, 14; 2, 11; 1 Joh. 1, 1 ff.; Kol. 2, 9; Matth. 11, 27 usw.

697) Matth. 8, 20; 2 Kor. 8, 9; Mark. 13, 32; 2 Kor. 13, 4 (εοτανρώϑη εξ άσϑενείας);  Joh. 4, 6 (κεκοπιακώς εκ τής οδοιπορίας); 18, 12; 19, 16. 30 ff.


318  >        Die Lehre von Christo.  [English ed. ~ 285–286]

diese Zustände folgten aufeinander, und außerdem handelte es sich immer nur um endliche Größen, da auch die größte menschliche Macht und der größte menschliche Reichtum stets begrenzt sind. Aber in der doppelten Reihe der Schriftaussagen von Christo wird ein und derselben Person in demselben Erdenleben und gleichzeitig Allbesitz und Armut, Allmacht und beschränkte Macht zugeschrieben. Wie sind beide Reihen von Schriftaussagen miteinander zu vereinigen? Die Schrift überläßt das nicht unserer Vermutung, sondern vollzieht selbst die Vereinigung in der Weise, daß sie zum Beispiel von der Tatsache des Sterbens Christi sagt: „Niemand nimmt das Leben von mir, sondern ich lasse es von mir selber. Ich habe es Macht zu lassen und habe es Macht wieder zu nehmen.” 698) So also kam es bei Christo zum Sterben, daß er die in ihm wohnende Macht nicht gebrauchte. Dasselbe ist von allen Teilen der Erniedrigung, von seiner Armut, Müdigkeit, seinem beschränkten Wissen, und dem ganzen Stande der Niedrigkeit zu sagen. Noch bei seiner Gefangennahme weist Christus sehr nachdrücklich darauf hin, daß bei ihm nur ein Nichtgebrauch der ihm zu Gebote stehenden göttlichen Macht vorliege. Er läßt sich zwar von der Schar binden, εδησαν αυτόν, aber unmittelbar vorher wirft er dieselbe Schar mit einem Wort zu Boden.699) Auch das hat Schriftgrund, wenn das lutherische Bekenntnis und die lutherischen Lehrer in ihrer Beschreibung der Erniedrigung beschränkend hinzusetzen, daß Christus nicht auf allen, sondern auf den vollen Gebrauch seiner göttlichen Herrlichkeit verzichtet habe: Wo nämlich sein Amt es erforderte, hat Christus seine göttliche δόξα gebraucht. Bei den Wundern, die er auf Erden wirkte, offenbarte er und sahen seine Jünger την δόξαν αντον, την δόξαν ώς μονογενούς παρά πατρός.700) Auch von der Welterhaltung und Weltregierung war er im Stande der Niedrigkeit nach der menschlichen Natur nicht ausgeschlossen: ό πατήρ μου εως άρτι εργάζεται, κάγω εργάζομαι.701) Bei seinem Lehren auf Erden redete er nicht εκ τής γής, wie Propheten und Apostel, sondern als ο ών εις τον κόλπον του πατρός, als ο ών εν τω ουρανω,702) Reguliert wird in Christi Erdenleben der Gebrauch und Nichtgebrauch der göttlichen Herrlichkeit durch sein Erlöser

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698) Joh. 10, 18.

699) Joh. 18, 12. 6. Gegen die rationalistischen Ausdeutungen vgl. Meyer zu Joh. 18, 6. Luther, St. L. VIII, 862 ff.

700) Joh. 1, 14.     701) Joh. 5, 17.     702) Joh. 3, 31. 32; 1, 18; 3, 13.


319  >        Wesen und Begriff der Erniedrigung und Erhöhung.  [English ed. ~ 286]

amt, das nicht bloß Offenbarung Gottes durch Lehren, sondern auch Gesetzesgehorsam und Leiden und Tod an Stelle der Menschen in sich schloß. Nach dem Bericht der Schrift hat Christus durchweg ein amtliches Leben geführt, das heißt, er hat hier auf Erden als Gottes und der Menschen Diener und nicht sich selbst gelebt: „Der Menschensohn ist nicht gekommen, daß er sich dienen lasse, sondern daß er diene und gebe sein Leben zur Erlösung für viele.” 703) Ονχ εαντω ηρεσεν.704) Hätte Christus sich selber gelebt, so hätte er nicht in der in den Evangelien berichteten niedrigen Menschengestalt auszutreten brauchen, in der die ανϑρωποι ihn für Johannes den Täuser oder Elias oder Jeremias oder der Propheten einen hielten.705) Er hätte vielmehr vermöge der in ihm wohnenden Fülle der Gottheit so auftreten können, daß bei seinem Anblick jedermann hätte ausrufen müssen: „Da wandelt Gott auf Erden!" Wenn schon ein in eine Leuchte gestelltes Licht diese mit seiner Helle durchstrahlt, wie würde Christi menschliche Natur, in der die ganze Fülle der Gottheit wie in ihrem Leibe wohnte, von göttlicher Herrlichkeit gestrahlt haben, wenn er diese Herrlichkeit gebraucht hätte! Die der unio personalis von Gott und Mensch entsprechende göttliche Erscheinungsform oder Gestalt sahen in etwas die drei Jünger an Christo auf dem Berge der Verklärung: „Er ward verkläret vor ihnen, und sein Angesicht leuchtete wie die Sonne, und seine Kleider wurden weiß als ein Licht.706)  In derselben Erscheinungsform werden den ϑεάνϑρωπος alle Menschen schauen, wenn er am Jüngsten Tage εν τῃ δόξῃ αντον kommen wird.707) Aber in dieser göttlichen Gestalt, die für ihn, den Gottmenschen, die normale Gestalt gewesen wäre, hätte er nicht unter dem Gesetz sein und nicht leiden und sterben können. Eltern, Verwandte, das jüdische Volk, die Hohenpriester und ihre Diener samt Pilatus mit seinen Kriegsknechten wären entsetzt vor ihm geflohen. Daher geschah es nun im Interesse seines Erlöseramtes, daß er den Gebrauch seiner göttlichen Majestät in dem Maße beschränkte, daß er nicht als Herr, sondern als Diener, nicht als Gottmensch, sondern als ein Mensch wie andere Menschen auftrat und sogar den Tod am Kreuze starb. Das alles tat er aus Liebe zu Gott: „Aus daß die Welt erkenne, daß ich den

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703) Matth. 20, 28.

704) Röm. 15, 3. Der „Knecht Gottes" im A. T.: Ies. 42,1 usw.; Sach. 3, 8.

705) Matth. 16, 13 ff.        706) Matth. 17; Mark. 9; Luk. 9.

707) Matth. 25, 31.


320  >        Die Lehre von Christo.  [English ed. ~ 286–287]

Vater liebe, und ich also tue, wie mir der Vater geboten hat: stehet auf und lasset uns von hinnen gehen",708) nämlich zum Leiden, und aus Liebe zu den Menschen: „Niemand hat größere Liebe denn die, daß er sein Leben lässet für seine Freunde."709) Das ist die Erniedrigung Christi.

Diese Lehre von der Erniedrigung liegt auch Phil. 2, 511 vor. Freilich herrscht in der Auffassung dieser Schriftstelle eine große Uneinigkeit unter den Theologen. Das ist aber nicht Schuld der Apostelworte. Von Neueren hat alles Wesentliche falsch Meyer im Kommentar z. St. und alles Wesentliche richtig Nösgen.710)  Der Skopus der Stelle ist ganz klar. Der Apostel ermahnt zum Zweck der Sicherung der christlichen Eintracht — die Christen zum gegenseitigen demütigen Dienst unter Verleugnung des eigenen Interesses, V. 3. 4: „Nichts tut durch Zank oder eitle Ehre, sondern durch Demut achte einer den andern höher denn sich selbst; und ein jeglicher sehe nicht auf das Seine, sondern auf das, was des andern ist.” Dieser Ermahnung zu demütiger Selbstverleugnung gibt der Apostel Nachdruck durch das Beispiel Christi: in den Christen soll dieselbe selbstverleugnende Gesinnung sein, die in Christo war, V. 5: Τοντο φρονεΐσθω εν ύμϊν δ καί εν Χριστώ Τησον,711)  Wie aber war Christus JEsus gesinnt? Also, daß Christus JEsus „sich selbst entäußerte", εαυτόν εκένωσε.  Worin das εαυτόν έκένωαε, die Selbstentäußerung, negativ und positiv bestand, sagt der Apostel selbst: negativ darin, daß Christus JEsus, der in Gottesgestalt sich befand, mit diesem „Gottgleichsein" kein Gepränge trieb 712) (δς εν μορφΐ] θεού υπάρχων, ούχ άρπαγμόν ήγήσατο τό είναι Ισα θεω); positiv darin, daß Christus JEsus Knechtsgestalt annahm, gleich wie andere Menschen wurde und daher auch in seinem Auftreten unter den Menschen von diesen nicht wie der Gottmensch, sondern wie ein gewöhnlicher Mensch erfunden wurde (μορφήν δούλου λωβών, εν όμοιώματι ανθρώπων γενόμενος και σχήματι εύρεθεις ώς άνθρωπος). Nachdem der Apostel so negativ und positiv bestimmt hat, ' V welche „Selbstentäußerung" JEsus Christus in bezug auf seine Per

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708) Joh. 14, 31.        709) Joh. 15, 13. Vgl. Luther, St. L. VIII, 551.

710) Geschichte der neutestamentl. Offenbarung II, 232 ff.

711) Die Lesart φρονείτε statt der Rezepta φρονείσϑω ändert natürlich nichts an dem Sinn.

712) Daß dies die durch den Kontext gegebene Auslegung des ονχ άρπαγμόν ήγήσατο sei, wird später unter „Einzelnes zu Phil. 2, 5 ff.” nachgewiesen.


321  >        Wesen und Begriff der Erniedrigung und Erhöhung.  [English ed. ~ 287–288]

son geübt habe, weist er in den folgenden Worten noch besonders darauf, zu welchem Knechtsdienst sich JEsus Christus erniedrigte: Er erniedrigte sich selbst im Gehorsam gegen Gottes Willen bis zum Tode, und zwar nicht bloß zu einem gemeinmenschlichen Tode, etwa auf dem Bette, sondern bis zum Tode am Kreuz (εταπείνωσεν εαυτόν γενόμενος υπήκοος μέχρι θανάτου, θανάτου δε σταυρού). Das sind die durch die Apostelworte ausgedrückten Gedanken. Hier wurde aber und wird nun gefragt, ob die demütige Selbstverleugnung Christi, die vom Apostel den Christen zur Nachahmung vorgestellt wird, darin bestand, daß der ewige Sohn Gottes Mensch wurde, also eine menschliche Natur annahm, oder darin, daß der menschgewordene Sohn Gottes in seinem irdischen Leben unter den Menschen nicht in göttlicher Gestalt, als Gottmensch, sondern als ein gewöhnlicher Mensch auftrat. Reformierte Theologen und die modernen Kenotiker behaupten das erstere, die Lutheraner lehren übereinstimmend das letztere. Entscheidend ist nicht der Hinweis auf die Tatsache, daß das δς auf Χριστός ,Ιησοϋς zurückgeht und Χριστός Ιησούς Bezeichnung des λόγος ενσαρκος ist. Man muß zugeben, daß der menschgewordene Sohn Gottes auch dann im Subjekt stehen kann, wenn das Prädikat auf die göttliche Natur geht, wie Joh. 6, 62: Der Menschensohn war im Himmel.713) Mehr fällt ins Gewicht, worauf sowohl die alten lutherischen Lehrer als auch eine Anzahl neuerer Theologen Hinweisen, daß sonst in der Schrift nicht die Menschwerdung des Sohnes Gottes, sondern Sinn und Wandel des Menschgewordenen den Christen zur Nachahmung vorgestellt wird.714) Schlechthin entscheidend ist aber der Umstand, daß der Apostel in der vorliegenden Stelle kein Wort von der Menschwerdung und Annahme der menschlichen Natur sagt. Der Apostel bestimmt vielmehr die Selbstentäußerung ausdrücklich dahin, daß Christus JEsus

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713) Genus idiomaticum.

714) Philippi, Glaubensl. IV, 1, 469. Philippi fügt noch hinzu: „Das schlechthin Unnachahmliche [die Menschwerdung] kann nicht als Gegenstand der Nachahmung ausgestellt werden.” Ebenso Nösgen, a. a. O. Ebenso Quenstedt II, 482: Christus ab apostolo nobis in exemplum imitationis proponitur, sed incarnatione ipsum imitari aut similes fieri non possumus. Auseinandersetzung mit Matth. 5, 48 bei Philippi, a. a. O., S. 470; bei Nösgen, a. a. O., S. 233. Philippi weist auch darauf hin, daß ,,φρόνηαις sonst nur Prädikat des Menschen, nicht Gottes ist"; a. a. O., S. 471. Quenstedt II, 476: Tribuitur ei φρονεΐν, quod homini proprium.


322  >        Die Lehre von Christo.  [English ed. ~ 288–289]

nicht „in göttlicher Gestalt", als Gott und HErr, sondern in „Knechtsgestalt", als ein Knecht und gewöhnlicher Mensch, in der Welt auftrat und also von den Menschen erfunden wurde.715) Meyer 716) meint zwar, daß der Ausdruck εν μορφή ϑεον υπάρχων, „in Gottes Gestalt sich befindend", Christum nach seiner göttlichen Natur oder in seiner „vormenschlichen Existenzform” bezeichne. Er beruft sich für seine Meinung auf Stellen wie Kol. 1, 15, wo Christus nach der göttlichen Natur „das Ebenbild (είκών) des unsichtbaren Gottes" heißt, und auf Hebr. 1, 3, wo Christus ebenfalls nach seiner Gottheit der „Glanz (απαύγασμα) der Herrlichkeit Gottes und das Ebenbild (χαρακτήρ) seines Wesens" genannt werde. Aber diese Stellen sind ungleichartig. Nach diesen Stellen nämlich ist Christus nach der Gottheit nicht „in Gottes Bild", εν είκόνι τον ϑεοϋ, sondern Gottes Bild selbst, είκών τον ϑεοϋ, und nicht „im Glanz der Herrlichkeit Gottes", sondern Gottes Glanz selbst, ών απαύγασμα τής δόξης κτλ. So paßt nach diesen Stellen der

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715) Die gründlichste Erörterung über die Ausdrücke „göttliche Gestalt” und „knechtische Gestalt" finde ich bei Luther, St. L. XII, 468 f. 473 f. Er weist nach, daß „göttliche Gestalt" nicht das göttliche Wesen oder die göttliche Natur und die „knechtische Gestalt" nicht das menschliche Wesen oder die menschliche Natur bezeichnen könne, sondern daß „Gestalt" in beiden Fällen das Auftreten oder „Gebaren" ausdrücke. Den Mißverstand dieses „feinen Textes" Phil. 2 steht Luther darin begründet, daß etliche „nicht achthaben aus St. Pauli Weise zu reden”. Auch Nösgen bemerkt gegen die Beziehung der Worte εν μορφῃ ϑεοϋ νπάρχων auf Christi „vorzeitliches Sein": „Wenn man meint, den Satz V. 6: ,indem er in göttlicher Gestalt war dahin deuten zu müssen, so wird der Ausdruck Gestalt ebensowenig wie das gebrauchte Zeitwort gewürdigt. Die Gottesgestalt steht im Gegensatz zur Knechtsgestalt, und diese bezeichnet den Habitus des Knechtes Gottes. Christus trat in die Reihe der Knechte Gottes ein. (Vgl. Matth. 20, 28 und das alttestamentliche  עַבְדִּ֖ יְהוָ֗ה [HEBREW].) Danach kann nun der Apostel mit dem Wort ,Gestalt nicht das körperliche Aussehen oder die Leibesbildung” (die menschliche Natur) „sondern allein den Habitus seines Gebarens und Auftretens meinen. Die von ihm gemeinte Gottesgestalt würde in einem Austreten in göttlicher Macht und Herrschergewalt bestanden haben, wie er es seinem übermenschlichen Wesen nach von Anfang an auf Erden Hütte an sich tragen können. Sie stand ihm seinem Anfang und Ausgang nach zu (Micha 5, 1), wie der Apostel V. 6 durch das Zeitwort des Partizipialsatzes” (υπάρχων) „andeutet. Doch JEsus Christus hatte nicht im Sinne, durch Einhalten einer derartigen Lebensgestalt und einer solchen Form seines Auftretens das, was damit ohne weiteres verknüpft gewesen wäre, das Ingleicher-Weise-Sein wie Gott, den Menschen gegenüber gewalttätig und im Widerspruch mit Gottes Wort an sich zu reißen. (A. a. O., S. 234 s.)

716) im Kommentar z. St.


323  >        Wesen und Begriff der Erniedrigung und Erhöhung.  [English ed. ~ 288–289]

Ausdruck εν μορφή θεον υπάρχων nicht auf Christum nach seiner Gottheit. Wohl aber paßt er auf Christum nach seiner Menschheit. Unter der Voraussetzung, daß der Mensch Christus Gott ist, oder daß die ganze Fülle der Gottheit in der Menschheit Christi leibhaftig wohnte, ist die Menschheit eo ipso „in göttlicher Gestalt", das heißt, im Besitz der göttlichen Herrlichkeit, und wenn die göttliche Herrlichkeit im Erdenleben nicht voll und ganz sich betätigt oder hervorstrahlt, sondern Christus auf Erden in Knechtsgestalt auftritt und in seinem Habitus (σχήμαη) ganz wie andere Menschen, die nicht Gott sind, sich darstellt, so kann dies nur daher kommen, daß eine Selbstentäußerung in der Weise stattfand, daß er nach seiner Menschheit in seinem Auftreten die göttliche Gestalt oder das Gottgleichsein darangibt und statt dessen Knechtsgestalt annimmt, wie es vom Interesse der Erlösung gefordert war. Endlich ist doch auch nicht zu vergessen, daß die „Selbstentäußerung” (εαυτόν έκένωσεν) im Gegensatz zur nachfolgenden Erhöhung steht. Bestände die Kenosis in der Menschwerdung oder in der Annahme der menschlichen Natur, so müßte — kraft des Gegensatzes — die Erhöhung als Entmenschung oder Ablegung der menschlichen Natur aufgefaßt werden.717)) So widerlegt die Beziehung der „Selbstentäußerung" auf die Annahme der menschlichen Natur sich selbst. So redet die Philipperstelle —

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717) Scherzer, Syst., p. 231: Per formam, Dei non natura divina, per formam servi non natura humana intelligi potest, alias in exinanitione naturam divinam, in exaltatione vero naturam humanam deposuisset adeoque in neutro statu ϑεάνϑρωπος esset, quod absurdum. Male igitur exinanitio per incarnationem definitur. Quo pacto exaltatio per excarnationem esset describenda. Dorner bemerkt gegen die modernen Kenotiker: „Das Subjekt des Satzes ist, wie die lutherischen Dogmatiker unwiderleglich beweisen, JEsus Christus, nicht aber der Logos; denn (von allem andern abgesehen) wie kann ein Akt der Kenosis wie der angebliche, gänzlich ins unsichtbare Gebiet fallende, den Philippern als Beispiel vorgestellt werden? Oder wie kann, wenn man nicht wieder erst eine petitio principii begeht durch Einschiebung einer andern Kenose, als von der wir wissen, der Logos erhöht werden (V. 9)?” (Bei Philippi IV, 1, 475.) Dorner wiederholt diese Ausführung, Christl. Glaubenslehre 2 II, 285 s. Nösgen: „V. 11 beweist unbedingt, wie in den Versen vorher von Christus als solchem die Rede, der noch nicht zum HErrn im Reiche Gottes erhöht war. Darauf weist auch seine Bezeichnung als der hin, welcher, wiewohl er voll Geist und Gotteskraft war, sich nur als Mensch gebärdete. . . . Von einem Tun des Logos oder von Christus in seinem vorzeitlichen Sein kann daher in dieser Philipperstelle um so weniger die Rede sein.” (A. a. O., S. 233.)


324  >        Die Lehre von Christo.  [English ed. ~ 288–289]

dabei werden wir es bleiben lassen müssen — von einer „Selbstentäußerung" Christi, die darin bestand, daß er nach feiner Menschheit auf den Gebrauch der göttlichen Herrlichkeit, die durch die unio personalis in ihm war, verzichtete, soweit der Verzicht von seiner Amtsstellung als Gottes und der Menschen Knecht gefordert war. Die Worte Phil. 2, 6—9: „Ob er wohl in göttlicher Gestalt war” usw. beschreiben die persönliche Rüstung, die Christus für die Ausrichtung seines Amtes in seinem Eintreten für die Menschen anlegte. Luther nennt treffend die Erniedrigung die „dienstliche Gestalt" Christi.718) Es ist das freilich eine wunderbare Rüstung und Gestalt. Der weltliche Krieger, der den Sieg gewinnen will, gürtet sein Schwert an die Seite und strebt in die Höhe. Christi Rüstung für den zu gewinnenden Sieg entwickelt sich in der entgegengesetzten Richtung. Christus εαυτόν έκένωσεν, entäußerte sich, machte sich leer, zunichte, wurde niedrig, ganz niedrig. Aber diese sonderbare Ausrüstung liegt in der Beschaffenheit des auszurichtenden Werkes. Es galt nicht, Städte zu erobern. Es galt auch nicht, den, der die Menschen aus Gottes Verhängnis gefangen hält, mit einem göttlichen Machtwort in die Hölle zu schleudern. Es galt — in Ausführung der göttlichen Erlösungsmethode —, stellvertretend durch Untertansein, Leiden und Sterben der Menschen Sündenschuld zu bezahlen. Das konnte freilich nicht so geschehen, daß er seine Gottheit teilweise oder ganz ablegte. Er konnte seine Gottheit im Stande der Niedrigkeit nicht entbehren. Er mußte das volle Gewicht seiner Gottheit an sein Untertansein und an sein Leiden und Sterben hängen, wie die Schrift bezeugt.719) Noch mitten im Tode mußte er der starke Gott sein, um durch den Tod den Tod überwinden, den Tempel seines Leibes wieder aufrichten,720) das Leben wieder an sich nehmen zu können.721) Die Konkordienformel macht mit Recht darauf aufmerksam, daß JEsus Christus „nicht schlecht wie ein anderer Mensch gestorben, sondern mit und in seinem Tode die Sünde, Teufel, Hölle und ewige Verdammnis überwunden" habe.722) Uber um an Stelle der Menschen gehorsam werden, leiden und sterben zu können, muß er nicht bloß scheinbar, sondern wirklich auf den Gebrauch der Gottesgleiche verzichten. Wie dies möglich war, wird nicht „erkenntnismäßig erfaßt", sondern auf Grund des

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718) St. L. XII, 473.        719) Gal. 4, 4. 5; Röm. 5, 10.

720) Joh. 2, 19. 21.        721) Joh. 10, 18.

722) Müller, S. 679, § 25.


325  >        Wesen und Begriff der Erniedrigung und Erhöhung.   [English ed. ~ 289–290]

Schriftzeugnisses geglaubt. Luther drückt dies bekanntlich so aus: „Gar heimlich führt er sein' Gewalt, er ging in meiner armen G'stalt; den Teufel wollt' er fangen.” und wenn wir so von einem Verzicht auf den Gebrauch der Gottesgestalt auf seiten dessen reden, der doch Gott war und blieb, und dem daher auch nach der Menschheit die Gottesgestalt zu Gebote stand, so ist es nicht ungehörig.723) auch bei dieser Philipperstelle an die Parallele zwischen dem ersten und zweiten Adam zu denken. Der erste Adam war ein bloßer Mensch und wollte durch der Schlange Verführung sein wie Gott.724) Dadurch ist die Sünde und der Tod in die Welt gekommen. Der zweite Adam ist nicht bloß Mensch, sondern der HErr vom Himmel.725) Er ist Gott und darum auch nach seiner menschlichen Natur in göttlicher Gestalt. Aber anstatt mit seinem Gottsein zu prunken, wurde er wie ein niedriger Mensch. Dadurch sind Sünde und Tod aufgehoben, und der Schade gutgemacht worden, den der erste Adam mit seinem Gottseinwollen angerichtet hat.

Einzelnes zu Phil. 2, 5 ff. Das υπάρχων in εν μορφῃ ϑεοϋ υπάρχων drückt im Unterschied von dem einfachen (vgl. 2 Kor. 8, 9: πλούσιος ών) das Sein oder den Tatbestand stärker aus, etwa: „in der Gestalt Gottes sich befindend”. Christus befand sich in göttlicher Gestalt, trug sie aber nicht zur Schau, sondern entäußerte sich. Nösgen: „Es war ihm eigen, in göttlicher Gestalt zu sein.” Vgl. vom reichen Mann Luk. 16, 23: υπάρχων εν βασάνοις, er befand sich in der Qual. — Auf die Frage, ob άρπαγμός in ούχ άρπαγμόν ήγήσατο aktiv oder passiv zu fassen sei, das Heißt, den Akt des Raubens oder den Gegenstand des Raubens, das Geraubte (die Beute), bezeichne, ist viel unnötige Gelehrsamkeit verschwendet worden. Die philologischen Untersuchungen haben — gerade wie bei πλήρωμα, Eph. 1, 23; vgl. Note 398 — genau das. entgegengesetzte Resultat ergeben. Die einen beweisen, daß άρπαγμός nur den Akt des Raubens, die andern, daß es als ein Wort auf μος auch den Gegenstand des Raubens bezeichnen könne (Meyer — Lipsius, Nösgen). Hier ist die passive Bedeutung durch den Kontext sestgelegt. Auch diejenigen, welche άρπαγμός nur die aktive Bedeutung zugestehen wollen, halten diese Bedeutung selbst nicht fest, sobald sie das ούχ άρπαγμόν ήγήσατο mit seinem Objekt, dem το είναι ίσα ϑεω, dem „Gottgleichsein", verbinden. Das Gottgleichsein bezeichnet einen Zustand, und einen Zustand kann kein menschlicher Geist als einen Akt ausfassen, sondern er setzt den Akt, hier den Akt des Raubens, notwendig sofort in den Gegenstand des Raubens um. „Christus hielt das Gottgleich sein nicht für einen Akt des Raubens" ist ein Ungedanke, der tatsächlich noch niemand geglückt ist. (Vgl. Lipsius bei Nösgen II, 235, Anm. 1.) — In τό είναι ίσα ϑεώ ist ίσα Neutrum Pluralis und als Adverbium gebraucht, wie bei Homer und ab

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723) Gegen Meyer z. St. 724) 1 Mos. 3, 5.        725) 1 Kor. 15, 47.


326  >        Die Lehre von Christo.  [English ed. ~ 290–291]

wärts. Aus Homer können Stellen zitiert werden wie Il. 15, 439: ΐοα ψίλοιαι τοκεϋσιν ετίομεν εν μεγάροισιν. Ob ΐοα oder ΐοα zu schreiben sei, kann man ohne Schaden unentschieden kaffen. (Winer, Gr.6, S. 50.) — Welchen Sinn hat nun aber der ganze Ausdruck: „Er hielt das Gottgleichsein nicht für einen Raub? Man hat hier auch aus orthodoxer Seite paraphrasiert: „Christus hielt das Gottgleichsein nicht für einen Raub, das heißt, nicht für etwas Fremdes, sondern für etwas, was ihm als rechtmäßiges Eigentum zukam.” Das könnten die Worte bedeuten, wenn der beigesügte Gegensatz dahin lautete. Nun redet aber der Gegensatz nicht vom Gebrauch rechtmäßigen Eigentums, sondern im Gegenteil davon, daß Christus sich entäußert habe, indem er Knechtsgestalt annahm und in seinem Auftreten wie ein gewöhnlicher Mensch erfunden wurde. Darum ist die Bedeutung der Worte: „Er hielt das Gottgleichsein nicht für einen Raub" durch den Kontext dahin bestimmt: Christus prunkte nicht mit dem Gottgleichsein, trug es nicht zur Schau. Gut Joh. Olearius (Universa theol., p. 579): Christus non velut rapinam ostentavit deiformitatem. Treffend legt dies auch Wolf in seinen Enrao z. St. dar. — Die Aussagen εν μορφή ϑεον υπάρχων und το είναι ΐοα ϑεψ sind natürlich begrifflich verschieden, aber sachlich identisch, da der Apostel mit dem letzteren Ausdruck den ersteren wieder aufnimmt oder, genauer gesagt, den letzteren für den ersteren einsetzt. Der Gedanken fortschritt liegt in dem ούχ άρπαγμόν ήγήσατο;  Christus befand sich in göttlicher Gestalt, trug sie aber nicht zur Schau. Das „Gottgleichsein” bezeichnet ebensowenig wie die „Gestalt Gottes" das göttliche Wesen, sondern die göttliche Erscheinungsform, die für Christum nach seiner menschlichen Natur, in der ja die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig wohnte, die normale Erscheinungsform gewesen wäre, wenn nicht stattgefunden hätte, was Paulus mit den Worten beschreibt: „Das Gottgleichsein achtete er nicht als einen Raub, sondern äußerte sich selbst, indem er Knechtsgestalt annahm und in Menschengleiche einging. — In den drei erklärenden Partizipialsätzen μορφήν δονλου λαβών, εν όμοιώματι άνϑρώπων γενόμενος και οχήματι εύρεϑε'ις ώς άνϑρωπος bringt der Apostel voll zum Ausdruck, daß Christus durch die Selbstentäußerung allerdings und wirklich wie ein gewöhnlicher Mensch sich gebärdet hat. — Zu εαυτόν εκένωσεν; κενοϋν findet sich außer an unserer Stelle noch Röm. 4, 14; 1 Kor. 1, 17; 9, 15; 2 Kor. 9, 3 und heißt entleeren, abtun, zunichte machen. Die Bedeutung macht an keiner der genannten Stellen Schwierigkeit, weil sie jedesmal durch den Zusammenhang klar bestimmt ist. Röm. 4, 14: Wenn die vom Gesetz Erben sind,  κεκενωται ή πίστις, so ist der Glaube entleert oder abgetan (Luther: „so ist der Glaube nichts"), weil Werke und Glaube in der Rechtfertigung sich gegenseitig aufheben. 1 Kor. 1, 17 warnt der Apostel vor dem Evangeliumpredigen mit klugen Worten, damit nicht das Kreuz Christi κενωϑή, zunichte gemacht werde, weil kluge Worte und Christi Kreuz sich nicht vertragen. 1 Kor. 9, 15 will der Apostel lieber sterben, als daß ihm jemand seinen Ruhm, den Korinthern das Evangelium umsonst gepredigt zu haben, κενώσή, zunichte mache. Genau so ist κενοϋν 2 Kor. 9, 3 von dem Ruhm des Apostels in bezug auf die Liebestätigkeit der Korinther gebraucht: ΐνα


327  >          [English ed. ~ 291]

μη το καύχημα ημών το υπερ υμών κενωΰή. So ist auch in der Philipperstelle die Bedeutung von χενοϋν durch den Zusammenhang festgestellt. Es kommt nichts daraus an, ob man εαυτόν κενοϋν sich entleeren, sich entäußern oder äußern, sich zunichte machen, se evacuare, se exinanire, se inanem reddere etc. übersetzt, da durch die negative und positive Näherbestimmung genau angegeben ist, in welcher Hinsicht Christus sich entleerte, entäußerte oder vernichtigte. Es steht, wie oben bereits gesagt wurde, kein Wort da weder von der halben oder ganzen Ablegung der Gottheit noch von der Annahme der menschlichen Natur, sondern das εαυτόν εκένωοεν bestand darin, daß JEsus Christus, der in göttlicher Gestalt sich befand, dieses Gottgleichsein nicht zur Schau trug, sondern statt dessen Knechtsgestalt annahm, in die Menschengleiche einging und daher auch vom Publikum in seinem Gebaren als ein bloßer Mensch, nicht als Gottmensch, erfunden wurde. Er wurde so „erfunden” (εύρεβείς), weil er sich durch das εαυτόν εκένωοεν so darstellte. Das αχήματι εύρεϋ·εΙς άς άνθρωπος war in dem Maße der Fall, daß es dem Publikum möglich war, Christum trotz seiner Wunder für Johannes den Täufer, Elias, Jeremias oder der Propheten einen zu halten. Hätte er sich nicht entleert, sondern sein Gottgleichsein wie auf dem Berge der Verklärung gebraucht, so wäre das nicht möglich gewesen. Und erst recht wäre nicht möglich gewesen die Klimax der Selbstentäußerung, die im Knechtsdienst (Metzer: „Handlung") hervortritt, V. 8: εταπείνωοεν εαυτόν γενόμενος υπήκοος μέχρι θανάτου, θανάτου δε αταυροϋ. Richtig Meyer: „Das Verhältnis [des εταπείνωοεν] zu εκένωοεν ist klimaktisch, nicht aber, als ob Paulus die Selbstentäußerung V. 7 nicht mit als Selbsterniedrigung angeschaut, sondern sofern erstere in dem schmählichen Tode JEsu den Charakter der ταπείνωσις auf die evidenteste Weise kundtat. — Gut sagt Luther zu dem εταπείνωοεν εαυτόν: „Das ist: über das, daß er die Knechtsgestalt damit beweisete, daß er ward wie ein Mensch und ließ es sich gehen wie einem Menschen, tat er noch ein übriges und ward weniger denn alle Menschen, ließ sich herunter und diente allen Menschen mit dem höchsten Dienst, daß er sein Leib und Leben für uns gab, . . . dazu solchen Tod [trug], der der allerschmählichste war, nämlich am Kreuze, ... als ein Erzbube über alle Buben, darin er auch verlor die Gunst, Dank und Ehre seiner angenommenen Knechtsgestalt, die er beweiset hatte, daß er also gar zunichte ward. Aber das alles tat er wahrlich nicht, daß wir es würdig wären oder verdient hätten, denn wer wollte solches Dienstes einer solchen Person würdig sein? sondern daß er dem Vater gehorsam würde” (γενόμενος υπήκοος). (St. L. XII, 475.) Luther sagt von dieser Philipperstelle: „O welche Worte find es, die an diesem Ort St. Paulus redet, als er freilich an keinem Ort redet. Er muß recht entbrannt, fröhlich und lustig, gewesen sein. Wir können es uns nicht versagen, noch die folgenden Worte Luthers hierher zu setzen, in denen Luther ausführt, daß die Erniedrigung Christi im Gehorsam gegen Gottes Willen geschah und also Gottes Herz gegen die Menschheit offenbart: „Hier schließt St. Paulus mit einem Wort den Himmel aus und räumt uns ein, daß wir in den Abgrund göttlicher Majestät sehen und


328  >          [English ed. ~ 291292]

schauen den unaussprechlichen gnädigen Willen und Liebe des väterlichen Herzens gegen uns, daß wir fühlen, wie Gott von Ewigkeit das gefallen habe, was Christus, die herrliche Person, für uns tun sollte und nun getan hat. Welchem sollte hier sein Herz nicht vor Freuden zerschmelzen? Wer sollte hier nicht lieben, loben und danken und wiederum auch nicht allein Knecht werden aller Welt, sondern gern weniger und nichtiger denn nichts werden, so er sieht, daß ihn Gott selbst also teuer gemeinet hat und seinen väterlichen Willen an seines Sohnes Gehorsam so reichlich ausschüttet und beweiset. . . . O wieviel sind jetzt Prediger des Glaubens, die da meinen, sie wissen alles, und haben von diesen Sachen noch nie nichts gerochen noch geschmeckt! O wie bald werden sie Meister, die noch nie sind Jünger worden! Sie schmecken es nicht, darum können sie es auch nicht geben und bleiben unnütze Schwätzer.” (A. a. O., 476.)

Irrige Auffassungen der Erniedrigung Christi. ^

Abzuweisen ist erstlich die Auffassung, wonach die Erniedrigung mit der Menschwerdung sachlich identisch gesetzt wird. Auch rechtgläubige Lehrer haben die Menschwerdung eine Erniedrigung im Sinne von Herablassung (έηίδοσις) genannt.726) Denn allerdings schließt es eine wunderbare Herablassung in sich, daß der majestätische Gott eine menschliche Natur in seine Person aufnimmt. Aber hier handelt es sich um die Erniedrigung, die die Schrift in Gegensatz zu der nachfolgenden Erhöhung stellt. Und wie die Erhöhung nicht in der Entmenschung oder Ablegung der menschlichen Natur besteht, so besteht auch die Erniedrigung nicht in der Menschwerdung oder in der Annahme der menschlichen Natur, sondern darin, daß der Sohn Gottes ein niedriger Mensch wurde, das heißt, nach seiner menschlichen Natur die μορφή δούλου annahm, wiewohl ihm die μορφή ϑεον zu Gebote stand. Strong bemerkt daher mit Recht: “We may dismiss, as unworthy of serious notice, the view that it [the nature of humiliation] consisted essentially in the union of the Logos with human nature; for this union with human nature continues in the state of exaltation.”727) Daher fordern auch die lutherischen Lehrer mit Recht, daß man Menschwerdung und Erniedrigung unterscheide, wiewohl sie zeitlich zusammenfallen. Diese Unterscheidung ist so gewiß richtig, so gewiß mit der Erhöhung die Erniedrigung, aber nicht das Menschsein Christi aufgehört hat.

Zum andern ist die modern-kenotische Auffassung der

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726) Zitate bei Gerhard, De pers., § 293.

727) Systematic Theology p. 701.


329  >        Irrige Auffassungen der Erniedrigung Christi.  [English ed. ~ 292–293]

Erniedrigung abzuweisen. Das Wesen dieser Auffassung besteht darin, daß sie in verschiedener Weise und in verschiedenem Grade die Gottheit Christi reduziert. Entstanden ist sie, wie wiederholt erinnert wurde, aus der Befürchtung, daß eine nicht reduzierte Gottheit notwendig einen so starken Druck auf die Menschheit ausüben würde, daß die Menschheit darunter ersticken müsse, und von einer „echt menschlichen Entwicklung Christi" nicht mehr die Rede sein könne. Um den Druck der Gottheit zu erleichtern und der menschlichen Natur Lebens- und Entwicklungsluft zu sichern, erleichtern die Kenotiker die Gottheit. Die einen unter ihnen, die Semikenotiker, lassen.den Sohn Gottes seine göttlichen Eigenschaften, die eine Wirkung auf die Welt in sich schließen (Allmacht, Allwissenheit, Allgegenwart), ablegen, während andere, die Pankenotiker, um den Druck noch mehr zu erleichtern, den Sohn auch sein göttliches Ich in ein menschliches Ich umsetzen lassen.728) Gegen diese modern-kenotische Fassung der Erniedrigung Christi ist vor allen Dingen zu sagen, daß sie der geschichtlichen Wirklichkeit widerspricht. Was die Kenotiker — die ganzen und die halben — an Christo als abwesend notieren, das schreibt die Schrift Christo in seinem Erdenleben zu. Es zeigt sich auch hier wieder, daß die Tatsachen sich nicht nach dem menschlichen Denken richten. Was erstlich das ewige göttliche I ch Christi betrifft, so nimmt Christus dasselbe im Stande der Niedrigkeit sehr nachdrücklich für sich in Anspruch. Als die Juden sein Ich auf noch nicht fünfzig Jahre reduzieren wollten, bezeugt Christus ihnen: „Ehe denn Abraham ward, bin ich."729) Und was die auf die Welt wirkenden göttlichen Eigenschaften betrifft, so sagt Christus sehr nachdrücklich Allmachtswirkung auf die Welt im Stande der Niedrigkeit von sich aus. Als die Juden ihn gesetzwidriger Sabbatarbeit anklagten, belehrt er sie dahin: „Mein Vater wirket bisher, und ich wirke auch."730) Mit der welterhaltenden Wirkung ist natürlich auch die göttliche Allgegenwart in der Welt ausgesagt. Wo Gott wirkt, da ist er auch.731) Auch die göttliche Allwissenheit ist in Christo im Stande der Erniedrigung; denn er lehrt

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728) Thomasius, Delitzsch, Luthardt usw. — Geß, v. Hofmann, Frank. Vgl. die ausführliche Darstellung unter „Unio personalis und christologische Aufstellungen der Neuzeit", S. 114 ff. Ferner Note 175: von Öttingen gegen v. Hofmann und Frank.

729) Joh. 8, 58.        730) Joh. 5, 17.

731) Ps. 139, 7. 8; Apost. 17, 27. 28.


330  >          [English ed. ~ 293–294]

auf Erden nicht „von der Erde", sondern aus göttlichem Wissen.732) So ist die kenotische Lehre von abgelegten göttlichen Eigenschaften und von einem „umgesetzten" göttlichen Ich als eine schriftwidrige, das heißt, der geschichtlichen Wirklichkeit widersprechende, dogmatische Fiktion und Konstruktion zu bezeichnen. — Aber die moderne Kenosis widerspricht nicht nur der in der Schrift berichteten Wirklichkeit, sondern gerät auch in Gegensatz zur Vernunft oder der natürlichen Gotteserkenntnis, weil nicht nur die Heilige Schrift, sondern auch die natürliche Gotteserkenntnis einen unwandelbaren Gott lehrt. Zwar haben Heiden, die sich für weise hielten, die δόξα des unvergänglichen Gottes in ein Bild gleich dem vergänglichen Menschen verwandelt,733) aber das haben sie getan, insofern sie die natürliche, durch die Werke der Schöpfung vermittelte Gotteserkenntnis durch Ungerechtigkeit unterdrückten (την αλήθειαν εν αδικία κατέχοντες).734) Mit Recht haben auch neuere Theologen darauf hingewiesen, daß die moderne Kenosis schon an der Tatsache der Unveränderlichkeit Gottes scheitere.735) — Die moderne Kenosis zerstört endlich auch die christliche Lehre von der heiligen Dreieinigkeit. Wie es nicht drei Exemplare, sondern nur ein Exemplar des göttlichen Wesens gibt, so gibt es auch nicht drei Exemplare der göttlichen Allmacht oder der göttlichen Wirkung auf die Welt, sondern nur eine göttliche Allmacht. Wenn nun die Kenotiker die göttliche Allmachtswirkung des Sohnes Gottes im Stande der Niedrigkeit leugnen, so leugnen sie konsequenterweise damit auch die Allmacht des Vaters und des Heiligen Geistes, oder sie müssen drei Allmächtige, drei HErren und drei Götter lehren.736) Ausdrücklich schreibt Christus sich auch im Stande der Erniedrigung wie die numerische Einheit des Wesens,737) so auch die numerische Einheit der Allmachts

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732) Joh. 1, 18; 3, 31. 32. Auch läßt sich nicht aus „besonderem menschlichen Tiefblick erklären, was uns Joh. 1, 48 ff.; 2, 23 ff.; 4, 17 ff.; 11, 14; Matth. 21, 2; 14, 13; 9, 2 ff. berichtet wird.

733) Röm. 1, 22. 23.

734) Röm. 1, 18—20. Vgl. die Ausführung gegen das genus ταπεινωτικόν S. 253 ff.

735) S. 101, Note 175. Loofs, RE.3 X, 263.

736) Vgl. Athanasianum; Müller, S. 30 f. Mit dem „Riß in die Trinitätslehre infolge der modernen Kenosis hat es seine Richtigkeit. Loofs, RE.3 X, 263.

737) Joh. 10, 30: Εγώ και ό πατήρ εν έσμεν.


331  >        Irrige Auffassungen der Erniedrigung Christi.  [English ed. ~ 294]

wirkung mit dem Vater 738) sowie das unveränderte hypostatische Verhältnis zum Vater 739) zu.

Ungehörig berufen sich die Kenotiker auf Schriftstellen, nach welchen Christo in den Tagen des Fleisches auf sein Gebet vom Vater gegeben wird, wie Joh. 11, 41. 42: „Vater, ich danke dir, daß du mich erhöret hast. Doch ich weiß, daß du mich allezeit erhörest"; Luk. 22, 42. 43: „Vater, willst du, so nimm diesen Kelch von mir; doch nicht mein, sondern dein Wille geschehe. Es erschien ihm aber ein Engel vom Himmel und stärkete ihn.” Diese und Parallele Schriftaussagen gehen auf Christum nach seiner menschlichen Natur und kommen zu ihrem vollen Recht bei der Festhaltung der Schriftlehre vom Nichtgebrauch der in seiner menschlichen Natur wohnenden göttlichen Herrlichkeit. Insofern nämlich Christus nach seiner menschlichen Natur die göttliche Herrlichkeit nicht gebraucht, erbittet und nimmt er während dieser Zeit von Gott wie jeder andere Mensch. Dies Bitten und Nehmen gehört zu dem Verzicht auf den Gebrauch der göttlichen Herrlichkeit und zu dem Eingehen in die Menschengleiche, εν όμοιώματι άνϑρώπων γενόμενος και σχήματι ενρηϑεις ώς ανϑρωπος. So kommen bei der alten Kenosis, die im Verzicht auf den Gebrauch der göttlichen Majestät nach der menschlichen Natur besteht, die Schriftstellen, welche vom Bitten und Nehmen handeln, zu ihrem vollen Recht. Hingegen werden die neuen Kenotiker der Reihe von Schriftaussagen nicht gerecht, welche Christum im Stande der Niedrigkeit im Besitz sowohl des göttlichen Ich als auch der auf die Welt wirkenden Eigenschaften zeigen. Auch liegt auf der Hand, daß durch die Kenosis, die im Verzicht auf den Gebrauch der göttlichen Herrlichkeit besteht, der „echt menschlichen Entwicklung” und einem „wahren Menschenleben" der genügende Raum verschafft ist. Wo kein Gebrauch der göttlichen Allmacht stattfindet, da gibt es Flucht, Müdewerden, Hungern, Leiden und Sterben. Wo kein Gebrauch

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738) Christus begründet Joh. 5, 19 die Tatsache, daß er nichts von sich selber tun kann, mit der Tatsache, daß ihm eadem numero actio mit dem Vater zukommt: α γάρ αν εκείνος πoiῃ, ταντα καί ό νιος ομοίως ποιεί. Wenn Keil zu Joh. 5, 19 bemerkt, daß JEsus „gottgleiches Wirken" von sich aussage, so ist das nicht genau geredet. Nach dem Kontext sagt Christus nicht bloß gottgleiches, sondern mit dem Vater identisches Wirken von sich aus.

739) Joh. 10, 38: εν έμοί δ πατήρ, κάγώ εν τω πατρί Joh. 14, 10: εγω εν τω πατρί, καί δ πατήρ εν εμοί.  Joh. 1, 18: ο ων εις τον κόλπον τον πατρός. Die Beziehung auf den Stand der Erhöhung (Meyer) ist hier eingetragen.


332  >          [English ed. ~ 294–295]

der göttlichen Allwissenheit stattfindet, da gibt es Zunehmen an Weisheit,740) Schlafen,741) Nichtwissen des Jüngsten Tages 742) und Nichtwissen der Notwendigkeit des Sterbens.743) Über den Einwurf, daß es in bezug auf die der menschlichen Natur mitgeteilten göttlichen Eigenschaften keine Unterscheidung zwischen κτήσις und χρήσις geben könne, wurde schon früher das Nötige gesagt.744) Wir erinnern noch einmal an die verständigen Worte von Böhl: „In welcher Weise diese Selbstentäußerung und Selbsterniedrigung begreiflich zu machen ist — das anzugeben sind wir außerstande. Das Bekenntnis, nichts zu wissen, ist hier die höchste Weisheit. . . . JEsus Christus, die ewige Weisheit, wendete diese Weisheit nicht an. Rationell erklären läßt sich das nicht; wir können nicht angeben, wie er die Allwissenheit verleugnen und sozusagen vergessen konnte. Aber daß er sie nicht anwandte, steht historisch fest."745) Auch Hase hält den Semikenotikern vor: „Wenn die wiedergeborne Orthodoxie zwar die Grundgedanken der Kirche festhält — göttliche und menschliche Natur wesentlich verschieden und nur in dieser einen Persönlichkeit vereinigt —, aber, auf Vernunftgründe gegen die communicatio idiomatum hörend als ihre Fortbildung, über sie hinaus will, so bewirkt sie auf Kosten der göttlichen Natur . . . die irdische Lebenseinheit des Gottmenschen. Es geht nun einmal über alle menschliche Vernunft, wie der, welchen das Weltall nicht beschloß, sich in den Schoß einer Jungfrau verschließen, und das mit dem Allwissenden eins gewordene Menschenkind sich menschlich entwickeln konnte."746)

Wenn wir zusammenfassen wollen, so hat die lutherische Lehre, nach welcher die Erniedrigung im Nichtgebrauch der göttlichen Herrlichkeit nach der menschlichen Natur besteht, die folgenden guten Eigenschaften: 1. Sie stimmt völlig mit der Schrift, das ist, mit der geschichtlichen Wirklichkeit; 2. sie läßt die Gottheit Christi un

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740) Luk. 2, 52.        741) Matth. 8, 24. 25.        742)  Mark. 13, 32.

743) Matth. 26, 39.        744) S. 178 f. 180 ff.

745) Dogmatik, S. 337 s. Freilich schwankt Böhl unsicher hin und her. Er sagt auf der folgenden Seite: „Wir brauchen die göttliche Natur nicht als ein dogmatisch Gewußtes zu JEsu wahrer menschlicher Natur hinzuzuaddieren.” Daß Christus um seine göttliche Natur auch im Stande der Niedrigkeit „dogmatisch" wußte, bezeugen die Evangelien durchweg. Er weiß: „Ich und der Vater sind eins, Joh. 10, 30. Er weiß sich als ό νιος τον ϑεον τον ζώντος, Matth. 16, 13 ff., als ό νίος τον ϑεον, Matth. 26, 63. 64.

746) Hutt. red,, § 97, 200; bei Meusel III, 753.


333  >        Irrige Auffassungen der Erniedrigung Christi.  [English ed. ~ 295]

angetastet und braucht nicht einen Gott zu erdenken, der einen Teil seiner göttlichen Eigenschaften ablegt oder gar sein göttliches Ich in ein menschliches Ich verwandelt; 3. sie läßt die Menschheit Christi voll und ganz zur Geltung kommen, da Christus beim Nichtgebrauch seiner göttlichen Herrlichkeit (ήσνχάζοντος τον λόγον) diese besitzt, als besäße er sie nicht, und daher im Leben und Sterben ganz in die Menschengleiche eingeht. Daß hiermit nur die in der Schrift berichteten Tatsachen zur Darstellung kommen, aber über das Wie oder die Möglichkeit der Tatsachen kein Aufschluß gegeben wird, darüber sind sich sowohl das Bekenntnis 747)) als auch die lutherischen Theologen 748) völlig klar. Aber auch die Semikenotiker und die Pankenotiker stehen schließlich vor einem unerklärlichen Geheimnis. Jene behalten nach Wegdekretierung der auf die Welt wirkenden göttlichen Eigenschaften noch immer das göttliche Ich des Sohnes Gottes und damit die unbegreifliche Tatsache, wie Gott und Mensch ein Ich bilden können. Diese, wie alle Leugner der „Zweinaturenlehre", sind außerstande, wie Ritschl bekennt, die Entstehung einer so einzigartigen Person, wie sie in Christo geschichtlich in Erscheinung getreten ist, zu erklären. Das Opfer der halben, beziehungsweise ganzen Gottheit Christi ist, auf die Begreiflichkeit der geschichtlichen Person Christi gesehen, umsonst gebracht.749) 

Schriftwidrig wäre es endlich auch, wenn man die Erniedrigung als eine bloße Verbergung (κρνψις) und nicht auch zugleich als einen wirklichen Verzicht (κένωσις) auf den Gebrauch der göttlichen Herrlichkeit auffassen wollte. Will man sich nicht in die Verwirrung hineinziehen lassen, die an diesem Punkte in dem kryptisch-kenotischen Streit herrschte und auch aus der Dogmengeschichte nicht verschwunden ist, so ist zunächst nachdrücklich herauszustellen, in welchem doppelten schriftgemäßen Sinne von einer „Verbergung" der göttlichen Herrlichkeit im Stande der Erniedrigung geredet werden muß. Neuere Dogmengeschichtler reden oft so, als ob die Ausdrücke „Verbergung", „Heimlichhaltung", die die Konkordienformel vom Stande der Niedrigkeit gebraucht, „Doketismus” und einen unsachlichen Kompromiß zwischen „Schwaben und Sachsen" verrieten. Wenn die Schrift sagt, daß Christus in der Niedrigkeit durch göttliche Akte, zum Beispiel durch die Verwandlung des Wassers in Wein, seine göttliche Herrlichkeit offenbarte

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747) Müller. S. 680, § 30; 684 f., 8 51. 52. 53; 687, § 60; 696, § 96.

748) Chemnitz, De duabus nat., c. 33, p. 217.        749) Vgl. S. 133.


334  >        Die Lehre von Christo.  [English ed. ~ 295–296]

(έφανέρωσεν),750) so lehrt sie damit, daß Christi göttliche Herrlichkeit — von diesen sporadischen Offenbarungsakten abgesehen — im Niedrigkeitsstande verborgen, verhüllt oder heimlich gehalten war. Mit andern Worten: Es ist Schriftlehre, daß der Besitz (κτήσις) der göttlichen Herrlichkeit während des Erdenlebens Christi in der Regel verborgen war. Aber wir müssen noch einen Schritt weiter gehen. Schauen wir auf Christum bei dem gelegentlichen Gebrauch seiner göttlichen Herrlichkeit, wie bei der Verwandlung des Wassers in Wein und bei der Stillung des Sturmes, so gewahren wir, daß Christus auch bei diesem gelegentlichen Gebrauch nicht von göttlicher Herrlichkeit durchstrahlt war wie auf dem Berge der Verklärung, sondern in Knechtsgestalt, εν όμοιώματι ανθρώπων και σχήματι ενρεϑεις ώς άνθρωπος, vor den Menschen dastand. So war auch der gelegentliche Gebrauch (χρήσις) der göttlichen Herrlichkeit immer noch durch die Knechtsgestalt verborgen oder verdeckt. Die Knechtsgestalt verbarg den Gebrauch der göttlichen Herrlichkeit in dem Maße, daß es Böswilligen möglich war, Christi Wunder als ein Resultat satanischer Einwirkung darzustellen.751) Die Herrlichkeitsgestalt auf dem Berge der Verklärung schauten nur drei Jünger, und diesen wurde noch Schweigen bis nach der Auferstehung auferlegt.752) Es gibt also nach der Schrift im Niedrigkeitszustande nicht bloß einen verhüllten Besitz, sondern auch einen verhüllten Gebrauch (occulta usurpatio) der göttlichen Majestät. Es haben daher auch nicht nur Luther und die Schwaben, sondern auch Chemnitz und die Sachsen die Ausdrücke „Verbergung” und „Heimlichhaltung" zur Beschreibung des status exinanitiouis gebraucht. Derselbe Sprachgebrauch ist daher auch ohne „Kompromiß" in die Konkordienformel übergegangen, wenn sie sagt, daß Christus die göttliche Herrlichkeit, die er seit seiner Empfängnis hatte, „im Stand seiner Erniedrigung heimlich gehalten und nicht allezeit, sondern, wann er gewollt, gebraucht hat”.753) Hierauf in neuerer Zeit hingewiesen zu haben, ist ein Verdienst Franks.754) Abzuweisen ist'es aber, wenn jemand die Erniedrigung so auffassen wollte, als ob Christus auf den vollen Gebrauch seiner göttlichen Majestät nicht wirklich verzichtet, sondern diesen vollen Gebrauch nur verheimlicht oder verborgen

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750) Joh. 2, 11.        751) Matth. 12, 24 ff.

752) Matth. 17, 9.        753) Müller, S. 680, § 26.

754) Theol. der F. C. III, 217 f.


335  >        Irrige Aussassungen der Erniedrigung Christi.  [English ed. ~ 296–297]

habe. Die Auffassung wurde in Widerspruch treten zu der geschichtlichen Wirklichkeit der Knechtsgestalt, wie sie in der Schrift beschrieben ist und zur Ausrichtung der Erlösung auf dem Wege der satisfactio vicaria nötig war. Deshalb lehnten gerade auch die Tübinger in dem kryptisch-kenotischen Streit den vollen Gebrauch der göttlichen Majestät für den Stand der Erniedrigung ab mit der Begründung, daß bei vollem Gebrauch der göttlichen Majestät Christi Leiden und Sterben und überhaupt das ganze Erlösungswerk unmöglich gewesen wäre.755) Nach der Darstellung der Schrift war Christus nicht bloß scheinbar, sondern wirklich arm, hat er nicht bloß scheinbar, sondern wirklich an Weisheit zugenommen, hat er nicht bloß scheinbar, sondern wirklich etliche Dinge zuzeiten nicht gewußt, wurde er nicht bloß scheinbar, sondern wirklich an Gebärden als ein Mensch erfunden, wurde er nicht bloß scheinbar, sondern wirklich gefangen, ans Kreuz geschlagen und getötet. Alle diese geschichtlichen Zustände und Ereignisse des Erdenlebens Christi schließen einen nicht bloß scheinbaren, sondern wirklichen Verzicht auf den vollen Gebrauch der göttlichen Herrlichkeit ein. Gerade auch Luther weist hier jeden Schein und bloße Verhüllung sehr energisch ab, wenn er in bezug auf Mark. 13, 32 bemerkt: „Ist nicht not hier die Glosse: ,Der Sohn weiß nicht, das ist, er will's nicht sagen. Was tut die Glosse? Die Menschheit Christi hat eben wie ein anderer heiliger natürlicher Mensch nicht allezeit alle Dinge gedacht, geredet, gewollt, gewirkt.” 756) Ebenso die Konkordienformel,wenn sie sagt, daß Christus „wahrhaftig (revera) an aller Weisheit und Gnade bei Gott und den Menschen zugenommen; darum (quare) er solche [ttliche] Majestät” (die er „allerwegen gehabt") „nicht allezeit, sondern wann es ihm gefallen, erzeiget (exercuit), bis er die Knechtsgestalt, und nicht die Natur, nach seiner Auferstehung ganz und gar hingeleget und in den völligen Gebrauch, Offenbarung und Erweisung der göttlichen Majestät gesetzet”.757) — Ebenso ist es sachlich nicht zutreffend, wenn in dem kryptisch-kenotischen Streit die Tübinger als Vertreter einer bloßen Verhüllung (sola κρύψις) dargestelltwerden. Schon Calov hat sich in dieser Beziehung der Tübinger angenommen. Calov sagt: „Die Herren Tübinger bekennen in Amica admonitione super decisione Saxonica, p. 70, daß Christus des vollen Ge-

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755) Calov, Syst. VII, 625.        756) St.        L. XII, 155.

757) Müller, S. 546, § 16.


336  >        Die Lehre von Christi.  [English ed. ~ 296–297]

brauchs der Majestät sich entäußert habe (se evacuasse), die Entäußerung sei nicht bloß eine Verhüllung (κρύψις). Sie stellen es p. 60 in Abrede, daß sie Christo nach der menschlichen Natur im Stande der Erniedrigung den vollen Gebrauch der göttlichen Majestät ohne jede Zurückziehung (absque ulla retractione) zuschreiben. . . . Denn aus diese Weise (sagen die Württemberger) wäre Christus schon von der Empfängnis an offenbar und in Herrlichkeit erhöht gewesen, hätte er die Gewalttaten von seiner menschlichen Natur abgehalten, und so hätte er weder leiden noch sterben können, wozu er doch in die Welt gekommen war."758) Daß es sich in dem kryptisch-kenotischen Streit noch um andere Dinge als den vollen Gebrauch der göttlichen Herrlichkeit im Stande der Erniedrigung handelte, wird aus dem folgenden Abschnitt klar werden.759)

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758) Syst. VII, 624 sq.

759) Es mag hier auch im Gegensatz zu landläufigen irrigen und halbwahren Darstellungen daraus hingewiesen werden, daß auch Schwaben wie Brenz und Andrea jeden bloßen Schein in bezug auf die Zustände und Ereignisse des irdischen Lebens Christi abgewiesen und einen wirklichen Nichtgebrauch der göttlichen Herrlichkeit im Stande der Niedrigkeit gelehrt haben. Brenz sagt: Christus ward gleich wie ein anderer Mensch.’ So heißt es deshalb, nicht als ob Christus nicht ein wahrer Mensch gewesen wäre, der aus einem Leibe und einer vernünftigen Seele besteht, sondern weil er nach der Weise der Menschen allerlei menschliche Schwachheiten an sich nahm: er wurde geboren, wuchs, nahm zu an Körperkraft und am Verstände, er bedurfte Speise und Trank, er hungerte, dürstete, saß, ging von Ort zu Ort. Er hätte nach der göttlichen Gestalt, die er hatte, sogleich von der Menschwerdung an nicht nur in einem himmlischen Leibe, der weder Speise noch Trank noch der örtlichen Bewegung bedurfte, sich sehen lassen, sondern auch die höchste Weisheit zur Schau tragen und in der Sprache der Engel reden können. Aber weil es die Zeit der Erniedrigung war, so wollte er gleich wie ein anderer Mensch werden und den menschlichen Schwachheiten unterworfen sein. . . . Geboren zu Bethlehem, hatte er keinen ehrenvollen Platz in der Herberge, sondern er wurde in den Stall verwiesen und in eine Krippe gelegt; ganz arm wanderte er umher und hatte nicht, da er sein Haupt hinlegte; zu Kranken gerufen, kam er wie ein Diener zum Herrn; er wusch der Jünger Füße, was ein Sklavendienst ist. Von den Obersten gefangen, empfing er viel Streiche wie ein Knecht. Was braucht's viel Worte? Iesaias nennt ihn einen Knecht aus des himmlischen Vaters Befehl.” (De divina maiestate etc., p. 82; bei Frank III, 337 f.) Ferner sagt Brenz: „Seine Eltern brachten zu seiner Lösung nur ein Paar Turteltauben dar. Sie flohen mit ihm nach Ägypten und zogen ihn groß durch die Arbeit ihrer Hände. Alle diese Dinge gehören zum Knechtsstand (sunt servilia). Herangewachsen, hatte er keine Herrschaft (dominationem), sondern wurde anderer Menschen Diener. Er wanderte von Flecken zu Flecken, um das Evangelium zu predigen; er heilte der Menschen Krankheiten und wusch der Jünger Füße.


337  >        Der kryptisch-kenotische Streit.  [English ed. ~ 296–297]

Der kryptisch-kenotische Streit. ^

Zu Anfang des 17. Jahrhunderts (1619—1627) wurde innerhalb der lutherischen Kirche zwischen den Tübinger und Gießener Theologen ein Streit über den Stand der Erniedrigung geführt.760)

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Das heißt wahrlich ein Knecht sein und nicht ein Herr. . . . Weil er der menschgewordene Sohn Gottes war, so hätte er auch nur himmlische Eigenschaften des Geistes und Leibes brauchen können, nämlich daß er im Geiste keine Traurigkeit, keine Furcht, keinen Schmerz empfunden und am Leibe keine Kälte, keinen Hunger, keinen Durst, keine Müdigkeit gefühlt hätte. . . . Aber er wollte um des Heils der Menschen willen den Menschen gleich werden, jedoch ohne Sünde. Deshalb hungerte er, dürstete er, vergoß er Schweiß, fror er, empfand er Schmerz und Traurigkeit, war er allen Übeln unterworfen und daher auch dem Tode.” (Expl. in epist. ad Phil. zu Kap. 2, 7.) Ebenso sagen die Schwaben in ihrer „Erklärung" vom Jahre 1565 von Christo im Stande der Erniedrigung: Christus „hat nicht alles gewußt, nicht alles gesehen, nicht alles gehört, nicht alles getan, obwohl die Kraft Gottes, darein er durch die persönliche Vereinigung gesetzt, unendlich und unumschrieben ist. — Also auch, da er wahrhaftig am Kreuz gestorben und im Grab gelegen, hat er mit seinen leiblichen Ohren nichts gehört, mit seinen leiblichen Augen nichts gesehen, mit seiner Zunge nichts geredet, noch auch sonst, was seine Majestät vermochte, getan, und hat dennoch der Sohn Gottes diesen Leib nicht verlassen, sondern persönlich mit ihm vereinigt geblieben und durch seinen Tod jetzt allein unsere Erlösung — dazu denn auch der Gehorsam, daß er dem Vater in der Knechtsgestalt gehorsam blieb, gehört — und damals sonst nichts in ihm wirken wollen, denn daß er seinen Leib erhalten, daß er die Verwesung nicht gesehen. ... Gleicherweise, wenn ein Mensch schläft oder entzückt wird, so liegt sein Leib da, sieht, höret und redet der Mensch wahrhaftig nichts, er versteht nichts, weiß nichts um sich selbst noch andere Leute, solange er schläft, und bleibt doch ein wahrhaftiger, ganzer, persönlicher und vernünftiger Mensch; denn sein Leib und Seele sind beieinander, obgleich die Seele die obenerzählte Wirkung . . . keine im Schlaf hat”. (Bei Thomasius, Christi Person und Werk 2 II, 368.)

760) Tübinger: Lukas Osiander, Melchior Nikolai, Theodor Thummius. Gießener: Balthasar Mentzer, Justus Feuerbyrn. Verlauf des Streites und die Streitschriften bei Walch, Bibi, theol. II, 653 sqq.; deutsch: Religionsstreitigkeiten der ev.-luth. K. 12, 206 ff. Einige Streitschriften: Lukas Osiander, De Christi hominis apxid omnes creaturas praesentia divina universali, 1620; Thummius, Ταπεινωσιγραφία sacra, 1624; Justus Feuerborn, Κενωσιγραφία χριστολογική, 1627. Darstellung der Geschichte des Streites von seiten der Gießener in Mentzers Necessaria et insta defensio etc., 1624. Dagegen von seiten der Tübinger: Thummius, Acta Mentzeriana, hoc est, iusta et necessaria defensio contra primam partem iniustae et non necessariae defensionis Balthasaris Mentzeri, 1625. Auf Anordnung des Kurfürsten Johann Georgs von Sachsen erschien Solida verboque Dei et libro concordiae christianae congrua Decisio quattuor illorum inter aliquos theologos A. C. nuperrime controversorum capitum etc., 1624; auch deutsch, 1624. Ob Hoe


338  >        Die Lehre von Christi.  [English ed. ~ 297]

Beide Teile, auch die Gießener, erklärten festhalten zu wollen, daß Christo im Stande der Niedrigkeit nach der menschlichen Natur der Besitz (κτήσις) der göttlichen Majestät zukam. Die Gießener gehören also nicht in eine Klasse mit modernen Kenotikern wie Thomasius, die Christo im Stande der Niedrigkeit den Besitz der „relativen" göttlichen Eigenschaften nach der göttlichen Natur, und somit auch nach der menschlichen, absprechen. In dem Streit zwischen den Tübingern und Gießenern wurde vornehmlich darüber verhandelt, wie tpeit Christo nach der menschlichen Natur, der Gebrauch (χρήσις) der göttlichen Herrlichkeit zukomme, die seiner menschlichen Natur durch die unio personalis mitgeteilt war. Wenn gewöhnlich gesagt wird, daß die Gießener für eine wirkliche Entäußerung (κένωσις) des Gebrauchs, die Tübinger für eine bloße Verbergung (κρύψις) des Gebrauchs eingetreten seien, so ist damit der Sachverhalt sehr ungenau beschrieben.761) Weil die Tübinger eine Zurückziehung (retractio) der göttlichen Herrlichkeit bei der Ausrichtung des hohepriesterlichen Amtes aus. Erden, also in bezug aus die Ausrichtung des Erlöseramtes oder zur Leistung der satisfactio vicaria, lehrten, so lehrten sie so weit auch nicht eine bloße Verbergung (κρύψις), sondern einen wirklichen Verzicht (κένωσις) aus den Gebrauch der göttlichen Majestät. Thummius beschreibt die retractio ausdrücklich als ein Zurückziehen des Gebrauchs der Allmacht, retrahere exercitium omnipotentiae.762) Die eigentliche Differenz betras das königliche Amt Christi. Wenn nun in bezug aus diese Differenz die Frage so gestellt wurde: „Ob der Gottmensch Christus im Stande der Niedrigkeit nach seiner Mensch-

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von Hoenegg oder Höpfner der Verfasser sei, war schon zu Walchs Zeiten streitig. Der teilweise allerdings recht schwachen Decisio setzte Thummius eine Amica admonitio super decisione etc., 1624, entgegen, wogegen sich die Sachsen in Necessaria et inevitabili apologia etc., 1625, verteidigten. Der Ingolstadter Jesuit Laurentius Forerus suchte über diesen Streit unter den Lutheranern in der Schrift Bellum ubiquitisticum, vetus et novum, 1627, zu spotten; dieselbe Schrift erschien deutsch unter dem Titel: „Alter und neuer Katzenkrieg von der Ubiquität", 1629. Dem Jesuiten antwortete Andreas Keßler in Solida et modesta responsione ad bellum ubiquitisticum Foreri, 1629.

761) Auch Philippis Darstellung (IV, 1, S. 280 ff.) ist ungenau.

762) Baumgarten, Streitigkeiten II, 314. Die Tübinger gebrauchten auch den Ausdruck „Entleerung", evacuatio, und beschrieben diese näher als evacuatio reflexiva, usus interni divinae maiestatis in iis rebus, quae opus redemptionis hominum impedire potuissent, pofitib als voluntaria praestatio obedientiae activae et passivae, cum poenarum nostrarum appropriatione. (Decisio Sax., p. 81; Baumgarten III, 488.)


339  >        Der kryptischkenotische Streit.  [English ed. ~ ]

heit den Kreaturen gegenwärtig gewesen sei und das ganze Universum' regiert habe"763) so ist in bezug aus die so gestellte Frage weder mit Ja noch mit Nein zu antworten, sondern aus Teilung der Frage zu dringen. Es ist entschieden festzuhalten, daß Christus in statu exinanitionis auch nach der Menschheit den Kreaturen gegenwärtig war (praesentia Christi secundum humanitatem apud omnes creaturas etiam in statu exinanitionis). Selbstverständlich nicht nach der sichtbaren, räumlichen Weise, wie er zu Bethlehem in der Krippe und zu Jerusalem im Tempel war, sondern nach der „dritten", „übernatürlichen, göttlichen Weise", nach welcher er mit Gott einePerson ist. Es darf nie vergessen werden: Weil die Menschheit Christi in die Person des Sohnes Gottes ausgenommen ist, so ist sie eo ipso überall dort, wo die Person des Sohnes Gottes ist. Es gibt nach der Menschwerdung des Sohnes Gottes, also auch im Stande der Erniedrigung, keinen Sohn Gottes außerhalb seiner menschlichen Natur (extra carnem). Diese Tatsache ist mit dem Begriff der Menschwerdung gegeben, δ λόγος σαρξ εγένετο, und kommt noch besonders nachdrücklich darin zur Aussage, daß in der menschlichen Natur Christi als ihrem Leibe die ganze Fülle der Gottheit wohnt.764) Wo wir den Sohn Gottes — auch im Stande der Erniedrigung — in seinem Sein in der Welt hinsetzen, da müssen wir ihn innerhalb seiner Menschheit (intra carnem) bleiben lassen, es sei denn, daß wir die unio personalis in eine bloße unio mystica oder sustentatio umsetzen, das heißt, ausgeben wollten. Diese Wahrheit, nämlich die Gegenwart Christi bei den Kreaturen nach der Menschheit auch im Stande der Niedrigkeit, bringt die Konkordienformel in den bekannten Worten Luthers zum Ausdruck: „Nun Christus ein solcher Mensch ist, der übernatürlich mit Gott eine Person ist, und außer diesem Menschen kein Gott ist,765) so muß folgen, daß er auch nach der dritten, übernatürlichen Weise sei und sein möge allenthalben, wo Gott ist, und alles durch und durch voll Christus sei, auch nach der Menschheit, nicht nach der ersten, leiblichen, begreiflichen Weise, sondern nach der übernatürlichen, göttlichen Weise. . . . Und wo du einen Ort zeigen

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763) So Balthasar Mentzer in Necessaria et iusta defensio. Opp. II, 1319; bei Gieseler III, 2, 328.

764) Joh. 1, 14; Kol. 2, 9.

765) Wen dieser Ausdruck befremdet, der denke an Kol. 2, 9.


340  >        Die Lehre von Christo.  [English ed. ~ ]

ürdest, da Gott wäre und nicht der Mensch, so wäre die Person schon zertrennet. . . . Nein, Gesell, wo du mir Gott hinsetzest, da mußt du mir die Menschheit mit hinsetzen; sie lassen sich nicht sondern und voneinander trennen; es ist eine Person worden und scheidet die Menschheit nicht von sich.” 766) Zweierlei Leute nur können von ihrem falschen Standpunkt aus die praesentia Christi apud creaturas secundum humanitatem leugnen. Erstlich die Reformierten, insofern sie den Sohn Gottes auch nach seiner Menschwerdung nicht weniger außerhalb als innerhalb seiner menschlichen Natur sein lassen 767) und damit die unio personalis fahren lassen. Sodann die modernen Kenotiker, weil diese aus den wunderlichen Gedanken gekommen sind, daß der Sohn Gottes nach seiner göttlichen Natur seine Weltstellung preisgegeben oder sich von den Kreaturen durch Ablegung der Allmacht, Allwissenheit und Allgegenwart zurückgezogen habe. Denn war der Sohn Gottes im Stande der Niedrigkeit minus Weltstellung, speziell minus Allmacht und Allgegenwart, nach seiner göttlichen Natur, so konnte er selbstverständlich auch die in seine Person ausgenommene menschliche Natur nicht den Kreaturen gegenwärtig setzen. Wer aber mit dem Extra Calvinisticum und der modernen Kenosis unverworren bleiben will, der darf die Wahrheit, daß Christus im Stande der Niedrigkeit auch nach der Menschheit den Kreaturen gegenwärtig war, weder leugnen noch an derselben herumdeuteln. Insofern dies innerhalb der lutherischen Kirche im kryptisch-kenotischen Streit und auch später geschah, blieb man hinter Schrift und Bekenntnis zurück. Man geriet auch in Widerspruch mit sich selbst, sofern man doch die unio personalis festhalten und das Axiom bekennen wollte, worin dem reformierten Irrtum gegenüber die unio personalis zum Ausdruck kommt: Neque caro extra λόγον, neque λόγος extra carnem.768)

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766) Müller, S. 693, § 83. 84.        767) Das Extra Calvinisticum.

768) Das Richtige haben von den späteren Theologen Calov (Syst. VII, 619. 624), Scherzer (Syst., 237 sqq.), Hollaz (De pers., qu. 58); ebenso C. F. W. Walther (Baier III, 62. 63). — Daß die praesentia ad λόγον oder die unio personalis sich nicht von der praesentia ad creaturas scheiden lasse, kann man an Gerhard sehen. Gerhard wiederholt auch die Redeweise, daß die persönliche Vereinigung der Naturen an sich kein Verhältnis zu den Kreaturen setze, da die persönliche Vereinigung auch denkbar sei, wenn man sich die Kreaturen als nicht vorhanden vorstelle. Sobald aber Gerhard daran geht, die persönliche Vereinigung oder praesentia ad λόγον zu beschreiben, bringt er in seine Beschreibung sofort die Gegenwart bei den Kreaturen hinein. Er sagt (De pers., § 218): „Weil Christi Fleisch sogleich im ersten Moment der Inkarnation in die Person


341  >        Der kryptisch-kenotische Streit.  [English ed. ~ ]

Der andere Teil der Frage, ob Christus schon im Stande der Niedrigkeit auch nach seiner Menschheit das ganze Universum regiert habe, ist mit Nein zu beantworten, wenn der Sinn der Frage der ist, ob die Menschheit Christi im Stande der Niedrigkeit schon in demselben Grade wie im Stande der Erhöhung, also plena maiestatis usurpatione, an der Weltregierung beteiligt war, nur  mit dem Unterschiede, daß das, was in der Niedrigkeit heimlich (latenter) sich vollzog, im Stande der Erhöhung nach außen hin offenbar wurde. Weil aber an diesem Punkt in dem kryptischkenotischen Streit und darüber hinaus Versehen nach beiden Seiten hin vorliegen, so gilt es, die Weltstellung Christi nach der menschlichen Natur vor und nach der Erhöhung auf Grund der Schrift zu beschreiben.  

Auch im Stande der Niedrigkeit kommt Christo nach der menschlichen Natur eine Weltstellung zu. Erstlich insofern, als Christi in der Niedrigkeit vollbrachte Wunderwerke sich durch seine menschliche Natur vollzogen. Wenn Christus Wasser in Wein verwandelte, den Sturm stillte, die Fische ins Netz trieb. Tote auferweckte, so war das sicherlich eine gewaltige Machtwirkung auf Welt und Natur. Diese Machtwirkung aber vollzog sich nicht außerhalb, sondern innerhalb seiner menschlichen Natur und insofern durch dieselbe. Und zwar war das ein „durch", nicht wie bei Wunder tuenden Propheten und Aposteln, wie die Reformierten lehren,769) sondern ein „durch", wobei die menschliche Natur Christi instrumentum per-

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des Logos erhoben und mit ihm persönlich geeint wurde, so ist nach geschehener Inkarnation weder der Logos außerhalb des Fleisches noch das Fleisch außerhalb des Logos, und daher ist der Logos nie und nirgends von seinem Fleische getrennt, noch das Fleisch vom Logos gesondert, sondern, wo” (nämlich in der Welt) „du den Logos hinsetzest, dort” (nämlich in der Welt) „mußt du auch das Fleisch hinsetzen, damit nicht eine nestorianische Zertrennung der aus beiden Naturen bestehenden Person eingeführt werde, wie der selige Luther in dem Buch ,Daß diese Worte „Das ist mein Leib" noch feststehen redet.” Zugegeben, daß man sich die Kreaturen bei der unio personalis wegdenken könne, so darf man doch bei dem Wegdenken nicht vergessen, daß trotzdem die Kreaturen da find und da bleiben, und der Sohn Gottes nicht bei einer weggedachten Welt, sondern bei einer tatsächlich existierenden Welt eine menschliche Natur in seine Person ausgenommen und damit überall dort bei den Kreaturen hingesetzt hat, wo seine Person ist. Kurz, es liegt ein bloßes Spielen mit Worten vor, wenn spätere Dogmatiker im Gegensatz zu Luther und der Konkordienformel von der sogenannten praesentia intima die praesentia apud creaturas trennen wollen. Dies weisen Scherzer und Hollaz klar nach.

769) Die ausführliche Darlegung S. 288 ff.


342  >        Die Lehre von Christo.  [English ed. ~ 297–299]

sonaliter coniunctum, instrumentum σννεργον, bloß instrumentum αεργον war.  Hierin stimmen alle lutherischen Lehrer überein. Dies wollte auch die Decisio Saxonica festhalten, wenn sie betonte, daß Christus im Stande der Erniedrigung seine Wunder „secundum utramque naturam", also auch nach der menschlichen Natur, getan habe.770) Aber bloß die nur gelegentliche göttliche Machtwirkung in den Wundern Christi, sondern auch die andauernde und ununterbrochene göttliche Welterhaltung und Weltregierung (continua et incessans conservatio et gubernatio mundi), die Christus in der Niedrigkeit von sich aussagt: „Mein Vater wirket bisher, und ich wirke auch",771) vollzog sich nicht außerhalb, sondern innerhalb seiner menschlichen Natur und in dem Sinne auch durch die menschliche Natur. Wie es kein Sein des Sohnes Gottes außerhalb der menschlichen Natur im Stande der Niedrigkeit gibt, so gibt es auch keine göttliche Wirkung, also auch keine Welterhaltung und Weltregierung des Sohnes Gottes im Stande der Niedrigkeit, außerhalb seiner menschlichen Natur. Auch die christliche Kirche versteht das. Wenn sie singt: „Er ist ein Kindlein worden klein, der alle Ding' erhält allein", so meint sie das nicht als bloße Redeweise, das heißt, sie bezieht die Erhaltung aller Dinge nicht bloß auf die göttliche Natur mit Ausschluß der menschlichen oder mit Ausschluß des Kindes, sondern sie läßt an diesem Werk auch das „Kindlein klein" teilhaben. Und dies ist die Wahrheit an der Redeweise der Tübinger, daß auch das Kindlein in der Krippe die Welt regiert Habe. Es ist als eine. Entgleisung der Decisio Saxonica zu bezeichnen, wenn sie die Worte Christi: „Mein Vater wirket bisher, und ich wirke auch" nur auf die einzelne Handlung (particulare opus) der Heilung des Bethesdakranken und nicht auf die dauernde Wirkung in der Welt beziehen will.772) Die Decisio

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770) Decisio Saxonica, p. 53: Extra omnem aleam dubitationis versatur, quod eiusmodi miracula Christus secundum utramque naturam fecerit. (Vgl. Calov VII, 629.)

771) Joh. 5, 17.

772) Decisio, 1. c. — Das Richtige hat Calov getroffen (Biblia Illust., zu Joh. 5, 17): Cum prius illud de Patre explicetur semper operante inde a creatione usque in hunc diem conservando res conditas, omnino etiam hoc posterius de Filio, utpote de quo idem eadem ratione offertur similiter iutelligendum erit, neque tantum ad miracula restringendum Sabbato edita, aut de imitatione exempli Patris explicandum, sed de identitate ope


343  >        Der kryptisch-kenotische Streit.  [English ed. ~ 297]

setzt sich dadurch in Widerspruch nicht nur zum Kontext,773) sondern auch zu ihrer eigenen Bekämpfung des Extra Calvinisticum. Jede Lehre, nach welcher der Sohn Gottes Werke wirkt außerhalb seiner menschlichen NatUr, ist außerhalb der Schrift und der lutherischen Lehre gelegen.

Hier erhebt sich nun aber mit Macht die Frage nach dem Unterschied der Stände. Wenn jede Machtwirkung, also auch die Machtwirkung auf die Welt im Stande der Niedrigkeit, sich innerhalb und in dem Sinne auch durch die menschliche Natur vollzog, wie unterscheidet sich dann noch der Stand der Erhöhung von dem Stand der Erniedrigung? Es ist zu sagen: Dem Stande der Erhöhung gehört eigentümlich und unterscheidend an die sessio ad dextram, das heißt, eine göttliche Allmachtswirkung durch die menschliche Natur in dem Grade oder in der Fülle, daß die menschliche Natur dadurch die plena usurpatio maiestatis divinae hat, von der göttlichen Herrlichkeit völlig durchstrahlt und auf den Herrscherthron in Welt und Kirche gesetzt ist (inthronisatio Christi secundum humanam naturam). Hierher gehören die oft bei Chemnitz wiederkehrenden Darlegungen, in denen der Unterschied der Stände dahin bestimmt wird, daß die Gottheit ihre Majestät im Stande der Niedrigkeit weniger oder unvollständig, im Stande der Erhöhung mehr oder vollkommen in die angenommene menschliche Natur einströmen oder zur Geltung kommen läßt.774) Das „mehr" oder „vollständig" für den Stand

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rationis, quia una est operandi potentia, una operatio Patris et Filii, quod ex hoc loco Veteres contra Arianos evicerunt.

773) V. 19: "A γάρ αν εκείνος ποιῃ, ταντα καί ό νιος ομοίως ποιεΐ.

774) Es genügt, hierüber Kap. 33 in „De duabus naturis" nachzulesen, wo es zum Beispiel heißt: Exinanitio Phil. 2. non significat privationem, ablationem, despoliationem . . . plenitudinis divinitatis, quae in Christo corporaliter habitavit ab ipso momento conceptionis, sed respicit usum seu usurpationem eius, quod scilicet infirmitate tecta non semper tempore exinanitionis in humana natura Christi luxerit et per eam plene ac manifeste se exseruerit, virtutem enim divinam praesentem et corporaliter inhabitantem ab operatione in humanitate et per humanitatem Christi paulisper retrahens et retinens . . . permisit naturales proprietates et reliquas assumptas infirmitates quasi solas in humana sua natura praevalere, praedominari et se exserere. Ferner: In illa natura, in qua divinitas λόγον propter hypostaticam unionem super omnia excellentissimo modo lucere et operari debebat, gloriam, potentiam et operationem suam tempore exinanitionis quasi infirmitatibus tectam occultavit et ab opere, sicut Ambrosius loquitur, retraxit, ut tantum naturales proprietates et infirmitates.


344  >        Die Lehre von Christo.  [English ed. ~ 297–298]

per Erhöhung besteht in dem Gesetztsein zur Rechten Gottes. Es war daher nicht schriftgemäß geredet, wenn die Tübinger und vorher schon Brenz Christo nach der menschlichen Natur die sessio ad dextram Dei schon im Stande der Niedrigkeit zuschreiben wollten.775) Das „Im-Himmel-Sein” (esse in coelo) kommt Christo auch schon im Stande der Niedrigkeit zu.776) Das „Sitzen zur Rechten" hingegen gehört nur dem Stande der Erhöhung an.777) Denn wie die

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in assumta carne inesse et praedominari viderentur, idque non tantum externa facie coram hominibus, verum etiam coram ipso Deo. . . . Per sessionem vero ad dextram Dei ingressus est in plenariam et manifestariam usurpationem et ostensionem eius potentiae, virtutis et gloriae Deitatis, quae tota plenitudine personaliter in assumta natura ab initio unionis habitavit, ut nunc non amplius, sicut in exinanitione, se contineat, retrahat et quasi lateat, sed ut in assumta, cum assumta et per assumtam humanam naturam plene, manifeste et gloriose exserat, (p. m. 216—218.) Ebenso Hollaz (De statu exin., qu. 110): Christus communicatam carni suae maiestatem divinam non semper eodem modo exseruit, sed a conceptione usque ad mortem et sepulcrum eiusdem plenum usum retraxit et inhibuit, vivificatus autem ad dextram Dei eandem plene usurpavit. Ex quo oritur duplex Christi status..

775) Melchior Nikolai (bei Quenstedt II, 560): Christum secundum humanam naturam iam inde a primo conceptionis momento sedisse ad dextram Dei Patris, non quidem modo gloriose maiestatico, sed sine illo et sub forma servi. Ebenso redet Brenz in seinem Katechismus: Quod attinet ad humanitatem Christi, consedit quidem ipsa rei veritate ad dextram Dei, quam primum Verbum caro factum est. Una enim est persona, Deus et homo, revelatione autem et glorificatione non ante dicitur ad dextram Dei consedisse, quam resurrexit a mortuis et ascendit ad coelum. (Catechismus. Viteb. 1594, p. 189.)

776) Daß es durchaus schriftgemäß sei, Christo im Stande der Niedrigkeit auch nach der menschlichen Natur ein Sein im Himmel zuzuschreiben, wurde bereits ausführlich nachgewiesen (S. 231 ff.). Wenn Quenstedt die Redeweise: „Christus sei schon damals in den Himmel aufgestiegen, als er in Gott ausgenommen wurde" in der Antithese unterbringt (II, 560), so ist das nicht korrekt. Aber dies Sein im Himmel im Niedrigkeitsstande ist nicht gleichbedeutend mit der sessio ad dextram Dei. Diese Bedeutung gewinnt es erst durch die betreffende Näherbestimmung wie 1 Petr. 3, 22: εv δεξιά τον ϑεοΰ πορενϑε'ις είς ονρανόν κτλ.

777) Luther (St. L. VII, 2104): „Nach seiner Ausfahrt hat er” (Christus nach der Menschheit) „angesangen, da” (zur Rechten Gottes) „zu sitzen. Zuvor hat die Menschheit da nicht gesessen.” Calov: Docet Scriptura, Christum non a primo conceptionis momento, ut Domini Wuertembergici volebant, sed in ascensione demum ad dextram Dei exantlatum esse, Mare. 16, 19; Eph. 1, 21; 4, 10. At quid aliud sessio ad dextram Dei quam plenissimum illud in coelo et terra dominium importat? (Systema VII, 626.)


345  >        Urteile über den kryptisch-kenotischen Streit.  [English ed. ~ 298]

menschliche Natur Christi bei den vorübergehenden Wunderwirkungen (opera particularia), zum Beispiel bei der Stillung des Sturmes, in Knechtsgestalt blieb, so blieb sie auch in Knechtsgestalt und unverklärt bei ihrer Teilnahme an der Weltregierung, die nach Joh. 5, 17 schon im Stande der Niedrigkeit statthatte. Die Worte Joh. 17, 5: „Nun verkläre mich (δόξασόν με) du, Vater, bei dir selbst mit der Klarheit (τῃ δόξῃ), die ich bei dir hatte, ehe denn die Welt war" handeln von einer Verherrlichung, die erst durch die Erhöhung eintritt. Zugleich ist an. dieser Stelle die Verherrlichung als eine solche beschrieben, die sich nicht bloß auf ein Offenbarwerden nach außen bezieht,  auch auf den Zustand der menschlichen Natur selbst geht. Nun erst wird die menschliche Natur Christi in der Fülle von der göttlichen Herrlichkeit durchdrungen und durchstrahlt, daß sie, unter völliger Beseitigung der Knechtsgestalt, auf den Thron der Weltherrschaft gesetzt ist. Dies scheinen auch die Schwaben gemeint zu haben, wenn sie, wie Brenz, zu „revelatione" hinzusetzen: et glorificatione: „Der Offenbarung und Verherrlichung nach wird von Christo das Sitzen zur Rechten Gottes nicht eher ausgesagt, als bis er von den Toten auferstanden und gen Himmel gefahren war.” 778) Aber ihre Redeweise, daß Christo schon in statu exinanitionis die sessio ad dextram Dei zukomme, war nicht schriftgemäß und hat zu Verwirrungen bei ihnen selbst und noch mehr bei andern Anlaß gegeben.

Urteile über den kryptisch-kenotischen Streit. ^

Was ist von dem kryptisch-kenotischen Streit zu halten? Der streitbarste und ohne Zweifel scharfsinnigste Theolog des 17. Jahrhunderts, Calov, urteilt: „Vielleicht differierten die Herren Gießener und die Herren Tübinger nur in der Redeweise” (fortassis modo loquendi tantum differebant).779) Dies Urteil begründet er so: „Jene [die Gießener] behaupteten, Christus habe im Stand der Entäußerung sich wahrhaft entäußert, aber nur hinsichtlich des Gebrauchs der göttlichen Herrlichkeit;780) diese aber [die Tübinger]

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778) Vgl. Calov VII, 625.        779) Syst. VII, 618 sq.

780) Die Gießener behaupteten auch, daß sie das Allenthalben sein Christi nach der menschlichen Natur im Stande der Erniedrigung (propinquitatem carnis Christi ad creaturas substantialem) nicht leugnen wollten. Sie wollten es aber nicht Allgegenwart nennen. (Vgl. Scherzer, Syst., S. 233.)


346  >        Die Lehre von Christo.  [English ed. ~ ]

stellten nicht in Abrede, daß Christus sich wahrhaft entäußert habe,781) sondern ihre Behauptung ging dahin, daß Christus die allgemeine Herrschaft im Himmel und auf Erden verborgen geführt habe,782) was unbeschadet der Orthodoxie von den Herren Gießenern so weit zugegeben werden konnte, daß die κτήσις oder der Besitz der göttlichen Herrlichkeit verborgen gewesen sei und auch nicht hinsichtlich der χρήσις oder des Gebrauchs sich überall und ununterbrochen kundgegeben habe.783) Sie hätten meiner Ansicht nach sich leicht einigen können, wenn sie sich in der Hitze des Streites nur recht verstanden hätten. Denn daß Christus göttliche Allmacht und Allwissenheit der Potenz nach (actu primo) besessen habe, leugneten die Herren Gießener nicht; ebenso leugneten sie nicht, daß Christus diese Eigenschaften tatsächlich (actu secundo) gebraucht habe, wenn auch nicht so vollkommen und immerwährend, besonders wenn von den Herren Gießenern die Allgegenwart im Stande der Erniedrigung hinsichtlich des Ungetrenntseins von den Kreaturen (quantum ad άδιαοτασίαν) zugegeben wurde.” Calovs Ausführungen über den Stand der Erniedrigung gehören zu den Teilen seiner Dogmatik, die die Spuren der Flüchtigkeit an sich tragen, während Quenstedt demselben Gegenstand eine sehr ausführliche und sorgsame Bearbeitung gewidmet hat.784) Aber Calovs unvollständige Behandlung des Streites ist doch sachlicher und unparteiischer als die Quenstedts. Calov tadelt einerseits an den Württembergern, daß sie wider die Schrift von einem Sitzen zur Rechten Gottes a primo conceptionis momento rebeten;785) andererseits hält er den Gießenern vor, daß man „unbeschadet der Orthodoxie" auch von einem verborgenen Gebrauch der göttlichen Majestät in bezug auf die allgemeine Weltregierung reden könne. Freilich hätte Calov auch in seiner Dogmatik 786) ausdrücklich auf die Entgleisung der Gießener Hinweisen sollen, wenn diese Joh. 5, 17 („Mein Vater wirket bisher, und ich wirke auch") nicht auf die allgemeine Welt-

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781) Die Tübinger sagten, Christus habe sich in Wahrheit entäußert oder entleert in all den Dingen, die das Erlösungswerk, nämlich die Leistung der obedientia activa und passiva, hätten hindern können. (Banmgarten, Streitigk. III, 488.)

782) Die Tübingen beriefen sich dafür mit Recht auf Joh. 5, 17.

783) Das Versehen der Gießener bestand nur darin, daß sie den Versuch machten, das έργάζεοϑαι nur auf die Wunderheilung zu beziehen.

784) Systema II, 476 sqq. 557 sqq.        785) L. c., p. 626.

786) Vgl. seine Ausführung zu Joh. 5, 17 in seiner Biblia Illustrata.


347  >        Urteile über den kryptisch-kenotischen Streit.  [English ed. ~ ]

regierung beziehen oder doch Christi menschliche Natur davon ausschließen wollten. Calov weist schließlich mit Recht auch darauf hin, daß das, was die „Decisio Saxonica" als Hauptstreitpunkt aufstellte, von den Württembergern nicht geleugnet wurde.787) — Auch Gerhards Ausführungen in der Dogmatik über den kryptisch-kenotischen Streit sind sehr reserviert gehalten.788) Er wollte auch einer Verurteilung der Tübinger nicht zustimmen.789)

Was das Urteil neuerer Theologen betrifft, so sehen die meisten in dem Streit der Tübinger und Gießener einen Beweis dafür, „daß es so nicht weiter gehen konnte", das heißt, daß Man in der Christologie die alten Pfade verlassen und ein Neues Pflügen müsse. Semikenotiker wie Thomastus behaupten, die Kenosis der Württemberger und der Gießener gehe nicht weit genug. Die Kenosis des Gebrauchs der göttlichen Eigenschaften nach der menschlichen Natur müsse zu einer Kenosis des Besitzes der wirkenden göttlichen Eigenschaften nach der göttlichen Natur fortgebildet werden. Nur so sei ein wahrhaft Menschliches Leben Christi auf Erden denkbar. Die Pankenotiker halten diese Fortbildung für unzureichend und fordern, daß auch das göttliche Ich des Sohnes Gottes der „Lenkbarkeit" als Versöhnungsopfer dargebracht werde durch Umsetzung des göttlichen Ich in ein menschliches Ich. Die neueren Unitarier wollen mit den Metamorphosen der Gottheit, die die Kenotiker annehmen, nichts zu tun haben. Sie sehen aber in dem kryptisch-kenotischen Streit eine Bestätigung ihrer Forderung, mit der „Zweinaturenlehre” uberhaupt zu brechen, den Menschen Christus eigenpersönlich existieren zu lassen und die „Gottheit" Christi darin zu finden, daß Gott in dem Menschen Christus nur in „einzigartiger", „absoluter" Weise „gewirkt" oder „sich offenbart" habe.790) Daß alle diese Fortbildungsversuche in Widerspruch treten zu der geschichtlichen Wirklichkeit, wie sie in der Schrift bezeugt vorliegt, glauben wir genugsam dargetan zu haben. Wir unsererseits sehen in dem kryptisch-kenotischen Streit einen Beweis für die Tatsache, daß Lutheraner mit schlechtem Erfolg sich bemühen, in der Christologie und speziell auch in der Ständelehre uneinig zu sein, solange sie auf der gemeinsamen biblisch-lutherischen Basis bleiben wollen. Diese Basis ist die unio personalis von Gott und Mensch in Christo, das heißt, die Tatsache, daß dem

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787) L. C., p. 624. 625 .        788) Loci, De pers., ß 218. 316.

789) Wagenmann, RE. 2 VII, 644.     790) Ritschl, Harnack, auch Seeberg.


348  >        Die Lehre von Christo.  [English ed. ~ 298-300]

Sohne Gottes nach der Menschwerdung kein Sein und kein Wirken außerhalb seiner menschlichen Natur (extra carnem) zukommt, und somit das Extra Calvinisticum in jeder Beziehung abzuweisen ist. Wenn Lutheraner dennoch uneins werden, so kann dies nur daher kommen, daß sie infolge der persönlichen Erregung, die ein Streit leicht erzeugt — Calov sagt: „propter aestum disputationis" —, die eigene rechte Position in diesem oder jenem Punkte aus den Augen verlieren. Dies war bei den Gießenern und bei den sächsischen „Decisores" sowie bei späteren Theologen der Fall, wenn sie a) Christi praesentiam apud creaturas secundum humanitatem teils leugneten, teils doch nicht Allgegenwart nennen wollten, b) Neigung zeigten, Christum nach der menschlichen Natur von der Welterhaltung und Weltregierung ganz auszuschließen (regnavit mundum non mediante carne). Beides taten sie im Widerspruch mit der eigenen Lehre von der unio personalis, wonach dem Sohne Gottes nach der Menschwerdung kein Sein und keine Wirksamkeit außerhalb seiner Menschheit (extra carnem) zukommt, im Widerspruch Mit der eigenen Verwerfung des Extra Calvinisticum und im Widerspruch mit ausdrücklichen Schriftaussagen.791) Dies war der Hauptanstoß, den die Tübinger an der Stellung der Gießener nahmen.792) Freilich vollzogen die Gießener sofort eine teilweise Selbstkorrektur durch das Zugeständnis, daß Christus ohne Zerstörung seiner Knechtsgestalt solche Eingriffe in das Reich der Natur und die Weltregierung, wie sie in den Wundern Christi (der Speisung der Fünftausend, der Stillung des Sturmes usw.) vorliegen, auch nach der menschlichen Natur vollzogen habe. Die Absicht war auf beiden Seiten eine gute. Die Gießener waren bestrebt, die Niedrigkeit oder Knechts-

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791) Joh. 3, 13; 5, 17.

792) Über die Tendenz der Stellung der Tübinger spricht sich Thummius im Jahre 1625 am Ende einer kleinen Schrift so aus: „daß hierdurch der Schuldigkeit nach gesucht und erhalten wird, daß er [der liebe Heiland Christus] sowohl im Stand seiner Erniedrigung als Erhöhung bei allen Kreaturen in der Person ganz und in allen seinen Amtsverrichtungen unzertrennt verbleibe, belieben diese Lehre also beschaffen, daß sich darunter kein Nestorianer, Jesuit, Calvinist . . . noch einiger anderer Schwärmer . . . aufhalten und verbergen kann, als ist am sichersten, man unterlass' alles unnötige Skrupulieren, Forschen und Disputieren, gebe Christo JEsu die Ehr' und verbleibe bei jetzt gewiesener Einfalt, damit die Schwachen im Glauben nicht geärgert, die Widersacher nicht erfreuet, und das Band des Friedens mit so hohem Abbruch der Kirche Gottes nicht allerdings ausgelöst und zerrissen werde”. (Kurzer und einfältiger Bericht etlicher strittigen Fragen usw. Tübingen 1625, S. 16.)


349  >        Urteile über den kryptisch-kenotischen Streit.  [English ed. ~ 299300]

gestalt Christi zu wahren. Nur verloren sie aus den Augen, daß wir Menschen nur auf Grund der Schriftaussagen bestimmen können, wieviel Gebrauch der göttlichen Majestät sich mit der Selbstentäußerung oder Knechtsgestalt verträgt. Andererseits waren die Tübinger bestrebt, die unio personalis auch im Stande der Erniedrigung zu wahren. Sie traten mit Recht dafür ein, daß dem Sohne Gottes nach seiner Menschwerdung weder ein esse noch ein operari außerhalb der Menschheit zukommt. Aber sie waren nicht berechtigt, aus der unio personalis zu folgern, daß Christo die sessio ad dextram Dei schon im Stande der Erniedrigung zukomme, da die Schrift das Sitzen zur Rechten Gottes Christo erst im Stande der Erhöhung zuschreibt.

Wer den Streit angefangen habe, fällt für die Sache selbst wenig ins Gewicht. Baumgarten sieht die Schuld auf seiten der Tübinger, die mit ihrer Lehre von der „Verbergung" der göttlichen Majestät im Stande der Niedrigkeit den Widerspruch der. Gießener hervorgerufen hätten.793) Aber wir dürfen nicht vergessen, daß die „Verbergung" der göttlichen Majestät im Stande der Niedrigkeit durch die Konkordienformel doctrina publica in der lutherischen Kirche war,794) und zwar nach dem Vorgänge von Luther und Chemnitz. Wenn wir auf den seit 1619 öffentlich gewordenen Streit sehen, so urteilt Wagenmann 795) historisch richtiger, daß dieser Streit durch Balthasar Mentzer von Gießen veranlaßt wurde, und zwar durch eine Äußerung über die Allgegenwart Gottes. Mentzer hatte nämlich im Streit mit den Reformierten sich dahin geäußert, daß die Allgegenwart Gottes nicht als ein Allenthalben sein (adessentia simplex), sondern stets als ein Allenthalbenwirken (omnipraesentia operativa) zu definieren sei. Mentzer widersprachen zunächst seine eigenen Kollegen, die Gießener Theologen J. Winkelmann und J. Gisenius. Der Streit wurde auf Betreiben des Landgrafen Ludwig von Hessen durch die Erklärung beigelegt, daß Wesen und Wirkung der göttlichen Allgegenwart nicht zu trennen seien. Da hätte die Sache ruhen können. Aber Mentzer war nicht befriedigt. Er wandte sich um ein Gutachten an den Kanzler der Universität Tübingen, Matthias Hafenreffer. Hafen

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793) Theol. Streitigk. II, 313 f.

794) Müller, 680, § 26: „Welche Majestät er ... im Stand seiner Erniedrigung heimlich gehalten."

795) RE. 2 VII, 641 f.


350  >        Die Lehre von Christo.  [English ed. ~ ?]

reffer scheint Bedenken gehabt zu haben, sich mit der Sache zu befassen. Er ließ sie fast zwei Jahre liegen. Aber Mentzer wiederholte sein Gesuch um ein Gutachten. Und nun kam ein Gutachten, das gegen Mentzer ausfiel. Auch das Stuttgarter Konsistorium hatte dem Wunsche Ausdruck gegeben, D. Mentzer möchte die geplagte Kirche mit solcher „Neuerung" verschonen. Es folgten noch theologische Korrespondenzen. Aber bald wurde die Sache in öffentlichen Streitschriften behandelt. Beide Teile behaupteten, daß der andere zuerst in die Öffentlichkeit gegangen sei. Die Tübinger widersprachen sowohl der Definition Mentzers, daß die Allgegenwart Gottes stets als wirkende Allgegenwart aufzufassen sei, als auch dem Schluß, den Mentzer aus seiner Definition zog, daß Christo nach der Menschheit im Stande der Niedrigkeit göttliche Allgegenwart nicht zukomme. Sie hielten Mentzer vor, daß er mit seinen Behauptungen die unio personalis als Grund (fundamentum) der Allgegenwart Christi nach der Menschheit beiseiteschiebe und so gegen die unio personalis verstoße. Dieselben Fragen tauchen dann wieder in der „Decisio Saxonica" auf, die die Fragen schon in den Titel ausgenommen hat.796) Was ist von diesen Fragen zu halten? Die Frage, ob die göttliche Allgegenwart als göttliches Allenthalbensein (omnipraesentia, adessentia simplex) oder als göttliches Allenthalbenwirken (omnipraesentia operativa) zu definieren sei, enhält einen falschen Gegensatz. Es ist zu sagen: Überall, wo Gott wirkt, da ist Gott auch. Gott wirkt nie in absentia.797) Was das Wirken des allgegenwärtigen Gottes auf die Kreaturen betrifft, so ist auf Grund der Schrift zu sagen: Überall, wo Gott ist, da wirkt er, oder läßt er sein Wirken ruhen (retrahit, suspendet operationem) nach seinem Wohlgefallen (quando voluit). Wir können auf Grund der Schrift nicht sagen, daß Gott, wo er ist, auch in

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796) Solida verboque Dei et libro Concordiae christianae congrua Decisio quatuor illorum . . . controversorum capitum principaliorum de vera descriptione et fundamento praesentiae Dei eiusque Filii Iesu Christi apud creaturas, nec non de incessante et plenario dominio Christi secundum humanam naturam in statu humiliationis, et quid humiliatio, exinanitio et evacuatio Christi sit. In der deutschen Ausgabe: „Von eigentlicher Beschreibung, auch vom Hauptgrund der Gegenwart Gottes und seines Sohnes JEsu Christi bei den Kreaturen, ingleichen von der stetwährenden und völligen Regierung Christi nach seiner menschlichen Natur im Stand der Erniedrigung, und was die Erniedrigung und Äußerung Christi sei."

797) Ps. 139, 7—10; Apost. 17, 27. 28. Gegensatz gegen einige Reformierte. Vgl. Baier, ed. Walther, II, 23.


351  >          [English ed. ~ 297]

jeder Hinsicht wirken müsse. Freilich wirkt Gott stets insofern, als die Kreaturen allein durch Gottes Wirken in Existenz und in ihrer natürlichen Tätigkeit erhalten werden.798) Uber in anderer Hinsicht schreibt die Schrift Gott auch ein Ruhen oder ein Suspendieren der Wirkung, ein ήσυχάζειν, zu. Gott war bei den Kanaanitern in allen ihren Missetaten stets gegenwärtig. Er läßt aber seine strafende Allmachtshand ruhen, weil nach seinem göttlichen Urteil die Missetat der Amoriter noch nicht voll war.799) Gottes strafendes Wirken vollzog sich erst, als Gottes Zeit gekommen war. Das gilt auch von Gottes Wirken in Erzeigung seiner Güte. „Wenn du ihnen gibst, so sammeln sie; wenn du deine Hand auftust, so werden sie mit Gut gesättiget. Verbirgst du dein Angesicht, so erschrecken sie."800) Dies Ruhen und Wirken hat nach der Schrift, wie sonderlich Chemnitz treffend darlegt, auch statt bei der ganz einzigartigen Verbindung von Gott und Mensch in Christo. Ein und dieselbe ganze Fülle der Gottheit war in Christi menschlicher Natur leibhaftig vor und nach der Erhöhung. Aber in der Niedrigkeit offenbarte sich die Gottheit durch Wirkung in der menschlichen Natur nur teilweise und zeitweilig, während im Stande der Erhöhung die Gottheit Christi in seiner menschlichen Natur ununterbrochen und völlig zur Wirksamkeit und somit auch zur Offenbarung kommt. Chemnitz sagt, daß Christus in der Niedrigkeit „die gegenwärtige und leibhaftig einwohnende göttliche Kraft von der Wirksamkeit (ab operatione) in der menschlichen Natur und durch dieselbe ein wenig zurückzog und zurückhielt (paulisper retrahens et retinens), so daß sie Vor Gott und Menschen durch Schwachheit verhüllt war (infirmitate tecta), während sie im Stande der Erhöhung voll, offenbar und in Herrlichkeit zur Wirksamkeit kommt (plene, manifeste et gloriose se exserit)”.801) In bezug auf die Allgegenwart Christi nach der menschlichen Natur kommt daher die Sache so zu stehen: Weil die Gottheit Christi von der Menschwerdung an nicht außerhalb, sondern innerhalb der Menschheit als ihrem eigenen Leibe wohnte, so setzte sie auch von der Menschwerdung an die Menschheit ohne jegliche Ausdehnung überall dort gegenwärtig, wo sie (die Gottheit) war. So kommt Christo auch im Stande der Niedrigkeit nach der

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798) Apost. 17, 28. 25; Ps. 104.        799) 1 Mos. 15, 16.

800) Ps. 104, 28. 29.

801) De duabus nat., c. 33, p. 216—218.


352  >  [English ed. ~ 297–298??]

Menschheit nicht eine bloß gedachte und mögliche (potentielle), sondern wirkliche und wesentliche (essentielle) Allgegenwart zu. Das ist die Lehre der Konkordienformel, wenn sie sagt, daß von der Menschwerdung an „alles durch und durch voll Christus sei, auch nach der Menschheit, nicht nach der ersten, leiblichen, begreiflichen Weise, sondern nach der übernatürlichen, göttlichen Weise”. Die Konkordienformel fügt auch hinzu, daß durch die Leugnung dieser Wahrheit die Menschwerdung des Sohnes Gottes oder die unio personalis aufgehoben werde.802) Christi Überall sein nach der Menschheit ist daher auch für den Stand der Erniedrigung durchaus festzuhalten. Was aber die Wirkung oder Betätigung oder Offenbarung der göttlichen Majestät in der menschlichen Natur und durch die menschliche Natur Christi betrifft, so gibt es hierin nach der Schrift ein Minus und Plus, nämlich eine teilweise und zeitweilige Wirkung oder Betätigung oder Offenbarung im Stande der Niedrigkeit 803) und eine völlige und andauernde Wirkung oder Betätigung oder Offenbarung im Stande der Erhöhung.804) So Luther, Chemnitz und die Konkordienformel, wie aus den beigebrachten Zitaten hervorgeht. Einen falschen Gegensatz enthält auch die Frage, die schließlich die Kernfrage in dem kryptisch-kenotischen Streit war, nämlich die Frage, ob das eigentliche und nächste Fundament (fundamentum proprium et proximum) der Allgegenwart Christi nach der menschlichen Natur die unio personalis sei oder Gottes Wille und Wohlgefallen oder die Erhöhung zur Rechten Gottes. Dieser Gegensatz zwischen unio personalis einerseits und Gottes Willen, Gottes Verheißung, Erhöhung von seiten Gottes usw. andererseits hätte nur dann einen Sinn, wenn bei der Menschwerdung des Sohnes Gottes etwa nur ein Drittel der Fülle der Gottheit in die menschliche Natur eingegangen wäre. Weil es aber feststeht, und auch die Gießener festhalten wollten, daß die ganze Fülle der Gottheit in der menschlichen Natur Christi leibhaftig wohnt, so steht auch fest und mußte auch von den Gießenern festgehalten werden, daß der Wille Gottes, die Verheißung Gottes sowie die Erhebung zur Rechten Gottes nicht ein Fundament außerhalb und neben der unio personalis oder der ganzen Fülle der Gottheit sei, die in Christi menschlicher Natur schon von der Empfängnis an leibhaftig wohnte. In der

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802) Müller, 692, § 81—83.        803) Joh. 2, 11; 1, 14: 5, 17.

804) Luk. 24, 26; Joh. 17, 5; Eph. 1, 20—23; Matth. 25, 31.


353  >  [English ed. ~ 299–300]

Einheit dieser Faktoren — Fülle der Gottheit, Gottes Wille, Gottes Kraft und Wirkung — ist es begründet, daß die Schrift die Auferweckung Christi von den Toten nicht nur der Herrlichkeit des Vaters zuschreibt,805) sondern auch sagt, daß Christus sich selbst auferweckt und das Leben aus eigener Macht wieder an sich genommen habe.806) Deshalb schärft Chemnitz fast bis zum Überdruß ein, daß alles, was Christo nach der Menschheit durch den Willen Gottes und speziell auch durch die Erhöhung gegeben wurde, ihm nicht „anderswoher und von außen” (aliunde et ab extra), sondern nur durch die unio personalis zukomme. Von denen, die anders lehren und das, was Christo nach der Menschheit gegeben ist, aus einer andern Quelle als der unio personalis ableiten wollen, urteilt Chemnitz: evertunt unionem personalem, sie stoßen die persönliche Vereinigung um. Er gebraucht in bezug auf diesen Punkt die harten Worte: „Kein Mensch von gesunden Sinnen (nemo sanus) wird sagen, daß die Erhöhung und Verherrlichung der menschlichen Natur von außen oder anderswoher als aus der persönlichen Vereinigung gekommen sei” (ab extra vel aliunde quam ex hypostatica cum Deitate unione accessisse).807) Chemnitz gebraucht diese harten Worte, weil der Annahme einer andern Bezugsquelle als der unio personalis die Vorstellung zugrunde liegen müsse, daß es noch ein Höheres und Größeres gebe als die ganze Fülle der Gottheit, die doch von der Empfängnis an in der menschlichen Natur leibhaftig gewohnt habe. Und wie Chemnitz, so kennt auch die Konkordienformel nur die unio personalis als Fundament alles dessen, „was gesagt wird von der Majestät Christi nach seiner Menschheit" im Stande der Erhöhung und Erniedrigung. Vier aufeinanderfolgende Paragraphen, die die göttliche Majestät Christi nach der menschlichen Natur in beiden Ständen beschreiben, beginnen mit den Worten: „Um dieser persönlichen Vereinigung willen, „propter hanc hypostaticam unionem”.808) Es befremdet zunächst, daß man so bald nach der Konkordienformel im Ernst die Frage aufstellen konnte, ob Christi Allgegenwart nach der menschlichen Natur in der unio personalis oder in dem Willen Gottes oder in dem Sitzen zur Rechten Gottes ihr fundamentum proprium habe. Diese aufgestellten falschen Gegensätze erklären sich nur daher, daß den Gießenern und den sächsischen Dezisoren teilweise in den Hinter

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805) Röm. 6, 4.        806) Joh. 2, 19—23; 10, 18.

807) De duab. nat., c. 33, p. 216.      808) Müller, 679, § 23—26.


354  >        Die Lehre von Christo.  [English ed. ~ 300–301]

grund getreten war, was es um die Menschwerdung des Sohnes Gottes und die unio personalis sei. Aber so wird es in der christlichen Kirche gehen bis ans Ende der Tage. Es wird dabei bleiben, daß sowohl im Leben der einzelnen Christen und Theologen als auch im Leben der Kirche als Gemeinschaft die göttliche Wahrheit immer wieder von neuem erworben und erkämpft werden muß, und zwar gegen Widerspruch von innen und außen.

Es sollten auch noch einige Worte darüber gesagt werden, daß nach der Ansicht neuerer Theologen der kryptisch-kenotische Streit mit einer Art Naturnotwendigkeit über die Kirche hereingebrochen ist. Man erklärt den Streit für eine natürliche Folge der Tatsache, daß christologische Gegensätze, die vor der Konkordienformel zwischen den Schwaben und den Sachsen, besonders zwischen Brenz und Chemnitz, Vorlagen, nicht zum Austrag gekommen seien, und daß auch die Konkordienformel nur einen Kompromiß darbiete.809) Auf diese „Gegensätze" wurde schon früher hingewiesen. Hier sei an bereits Erwähntes nochmals erinnert, und noch nicht Erwähntes hinzugefügt. Gerade die hauptsächlichsten jener „Gegensätze sind ersonnen, wie schon Frank klar nachgewiesen hat.810) Es ist keine schwäbische Eigentümlichkeit, von einer Verbergung oder Heimlichhaltung der göttlichen Majestät im Stande der Niedrigkeit zu reden. Vielmehr werden diese Ausdrücke von dem „Sachsen" Chemnitz in De duabus naturis durchgehends gebraucht, und sie sind deshalb auch ohne Kompromiß in die Konkordienformel übergegangen. Und Schwaben und Sachsen konnten wahrhaftig nicht umhin, die Entäußerung oder Erniedrigung als Nichtgebrauch oder Heimlichhaltung der göttlichen Majestät zu beschreiben, wejl sie beiderseits darin einig waren, daß Christus nach der menschlichen Natur von der Empfängnis an göttliche Majestät besessen habe.811)

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809) Luthardt, Dogmarik, 11. Aufl., S. 225; Dorner, Glaubensl.2 II, 341; Loofs, RE.3 X, 261; Nitzsch, Dogm., ed. Horst Stephan, 1912, S. 520. Dorner a.a.O.: „Kein Wunder, daß die nur beschwichtigten Gegensätze in dem Streit zwischen den Tübingern und Gießenern wieder auseinandergingen."

810) Theol. d. Konkordienf. III, 210 ff.

811) Wenn man von Gegensätzen zwischen Chemnitz und Brenz redet, so sollte man nicht ganz vergessen, wie Chemnitz selbst sich über diesen Punkt ausgesprochen hat. Polykarp Leyser berichtet: „In quam sententiam” (es handelte sich um die praesentia generalis, das heißt, um die Allgegenwart Christi nach der Menschheit bei allen Kreaturen) „Dr. Chemnitius den 28. Dezember Anno 1582 in conventu zu Quedlinburg gesagt hat, welches ich ex ore ipsius ausgezeichnet: daß ich sagen solle, Brentius habe hierin geirrt und es nicht verstanden: für dem


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Ebenso ist es keine sächsische Eigentümlichkeit, das Verhältnis zwischen Gottheit und Menschheit in Christo als Wirkung der Gottheit in der Menschheit und durch die Menschheit aufzufassen. Auch Luther faßt die Menschheit als „Handgezeug", das heißt, Instrument, der Gottheit. Daß Luther das Verhältnis zwischen der göttlichen und der menschlichen Natur „starr physisch" sich gedacht habe, ist eine dogmengeschichtliche Fiktion. Ferner: Wenn Dorner meint, Chemnitz sei von den Schwaben nur vergewaltigt worden, weil er sich zu der Lehre, „daß die Menschheit von Anfang an im Besitz der göttlichen Eigenschaften gewesen sei", von den Schwaben nur habe „drängen" lassen.812) so ist zu sagen: Nach allem, was wir von Chemnitz überhaupt wissen, hat Chemnitz nie eine andere Lehre gehabt als die, daß in Christi Menschheit von allem Anfang an die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig wohnte. War so in diesen ausschlaggebenden Punkten kein Gegensatz zwischen Schwaben und Sachsen vorhanden, so lag auch kein Anlaß zu einem Kompromiß in der Konkordienformel vor, und man kann insofern auch den Streit der Tübinger und Gießener nicht auf das Konto der „unbeschwichtigten Gegensätze" in der Konkordienformel schreiben.' Man muß im Gegenteil sagen, daß der Streit der Tübinger und Gießener unnatürlich war, wenn wir ihn vom lutherischen Standpunkt aus, den beide mit Ernst festhalten wollten, beurteilen. Die Tübinger folgerten aus dem Besitz der göttlichen Majestät im Stande der Erniedrigung ihre Redeweise, daß Christo auch schon im Stande der Niedrigkeit das Sitzen zur Rechten Gottes zukomme, und die Gießener folgerten aus der Erniedrigung oder der „Knechtsgestalt" Christi, daß Christo im Stande der Niedrigkeit nach der menschlichen Natur keine Teilnahme an der Welterhaltung und Weltregierung zukommen könne. Beide handelten unlutherisch. Was im einzelnen einerseits mit dem Besitz der göttlichen Majestät, andererseits mit der Knechtsgestalt gegeben ist und mit diesen Begriffen sich verträgt, das lassen sich Lutheraner von der Schrift selbst sagen. Das ist der lutherische Grundsatz, den die Konkordienformel so gewaltig einschärft.813) Durch Nichtbeachtung dieses von beiden Seiten anerkannten Grundsatzes gerieten die Tübinger in

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Fürwitz wird mich Gott wohl behüten, denn auch Lutherus in scriptis dialecticis dessen gedacht.” (Rechtmeyer, Braunschweigische Kirchen-Historie V, Beil. zu Kap. I, S. 16.)

812) Glaubenslehre II, 341.        813) Konkordienf. Müller, 685, § 52. 53.


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Gegensatz zu den Schriftstellen, die das Sitzen zur Rechten Gottes nach der Menschheit erst mit der Erhöhung anfangen lassen, und die Gießener gerieten in Gegensatz zu den Schriftaussagen, welche Christum im Stande der Niedrigkeit und nach der Menschheit von dem Wirken der Gottheit, insonderheit auch von der Welterhaltung und Weltregierung (Joh. 5, 17), nicht ausschließen. Außerdem wurden beide Teile inkonsequent. Die Tübinger schränkten das Sitzen zur Rechten Gottes im Stande der Niedrigkeit doch wieder sehr bestimmt ein. Sie lehnten “plenarium et universalem usum acceptae maiestatis in statu humiliationis" ausdrücklich ab mit der Begründung, daß der plenarius usus die stellvertretende Genugtuung unmöglich gemacht und die nachfolgende Erhebung in die Herrlichkeit schon in das Erdenleben verlegt haben würde.814) Auch die Gießener schränkten ihre Behauptung, daß eine Teilnahme an der Weltregierung seitens der menschlichen Natur sich mit der Knechtsgestalt nicht vertrage, sehr bedeutend ein. Es geschah dies dadurch, daß sie die Wunder Christi, und zwar auch solche Eingriffe in das Weltregiment wie die Stillung des Sturmes, durch die menschliche Natur sich vollziehen ließen, ohne zu behaupten, daß hierdurch die Knechtsgestalt auf bloßen Schein reduziert worden sei. Die Gießener wollten nur die Teilnahme der menschlichen Natur an der Joh. 5, 17 erwähnten ununterbrochenen göttlichen Wirkung auf die Welt ablehnen. Und in der Art und Weise, wie die „Decisio Saxonica" hier argumentiert, liegt eine sehr bedenkliche Inkonsequenz vor. Die „Decisio" führt nämlich gegen die Tübinger aus, daß Christi Teilnahme an der Weltregierung nach der Menschheit das ganze Erdenleben Christi, insonderheit das Von-Gott-Verlassensein und sein Leiden und Sterben, auf einen bloßen Schein reduzieren würde. Es kommen in der Ausführung Worte vor wie diese: „Der Höchste möge solchen Schein verhindern!"815) Bekanntlich machte auch Zwingli Luther darauf aufmerksam, daß Luther Dinge miteinander verbinde, die sich unmöglich miteinander vertrügen. Zwingli suchte mit einem ziemlichen Aufwand von Rhetorik dem Publikum im allgemeinen und Luther im besondern klar zu machen, daß das „Sein im Himmel” (esse in coelo), das Luther Christo nach der Menschheit schon im Stande der Niedrigkeit zu-

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814) Calov, Syst. VII, 625.

815) Decisio Saxonica, p. 40 (bei Calov VII, 627): Prohibeat Altissimus eiusmodi simulationem!


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schrieb,816) sich nicht zum Erdenleben Christi schicke, sondern es in einenbloßen Schein verwandele. Christus habe auf Erden nachweislich gegessen und geschlafen und sei sogar gestorben. Alle diese Dinge aber schickten sich ganz offenbar nicht für ein Sein im Himmel. Luther antwortete mit der deductio ad absurdum, daß die genannten Dinge sich noch viel weniger zu dem Sein in Gott, das heißt, zu der Tatsache schickten, daß de Menschensohn mit Gott eine Person bildete, weil nach aller menschlichen Berechnung die persönliche Einheit mit Gott für Essen, Schlafen, Leiden und Sterben keinen Raum lasse. Gebe man aber das Größere zu, das persönliche Sein in Gott, so sei es töricht, das Geringere, das Sein im Himmel, nicht zugeben zu wollen. So hätte nach dem Vorgang Luthers auch die „Decisio Saxonica" sagen sollen: „Höher und größer ist, daß die Menschheit Christi in Gott, ja mit Gott eine Person ist, denn daß sie teil hat an der Erhaltung und Regierung der Welt. Hebt das Größere die Knechtsgestalt nicht auf, so auch nicht das Geringere.” So wäre die „Decisio" auch der Umdeütung von Joh. 5, 17 überhoben gewesen. Kurz, der kryptisch-kenotische Streit war, vom lutherischen Standpunkt aus betrachtet, nicht eine Naturnotwendigkeit, sondern unnatürlich. Als eine Naturnotwendigkeit erscheint dieser Streit nur den neueren Theologen, die es für eine Ausgabe der Theologie halten, das kündlich große Geheimnis der Menschwerdung Gottes „erkenntnismäßig", das heißt, der menschlichen Vernunft begreiflich, darzustellen, und deshalb teils fordern, daß an der Gottheit Christi eine Beschneidung vorzunehmen sei, teils daraus dringen, daß die ganze „Zweinaturenlehre" aufgegeben werde. In diesem selbstgesteckten Ziel der modernen Theologie Positiven und negativen Geschlechts wurzelt die Klage über das „Unfertige" der Konkordienformel nebst dem Bedauern, daß die Lutheraner weder in dem kryptisch-kenotischen Streit noch auch später sich entschließen konnten, die alten Pfade zu verlassen, das heißt, die alte Kenosis zur modernen Kenosis fortzubilden oder die „Zweinaturenlehre” uberhaupt auszugeben.

Das durch den Streit der Tübinger und Gießener angerichtete Ärgernis war allerdings ein großes. Reformierte und Römische spotteten. Sie sahen, ähnlich wie die neueren Theologen, in dem Streit einen tatsächlichen Beweis, daß es mit der lutherischen Christologie „so nicht weitergehen könne”. Aber einfallendes Ärgernis

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816) Auf Grund von Joh. 3, 13. St. L. XX, 965 f. Vgl. oben 232 f.


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gehört in hervorragendem Maße zur Lebensgeschichte der christlichen Lehre von der Person Christi. Man denke an die ärgerlichen Vorkommnisse bei den Kirchenversammlungen im vierten und fünften Jahrhundert. Adolf Harnack kann es sich nicht versagen, im Interesse seines Unitarismus auf diese allerdings ärgerlichen Dinge in seinen Vorlesungen über „Das Wesen des Christentums" hinzuweisen.817) D. Walther pflegte zu sagen: Der Teufel wollte durch Anrichtung von Ärgernissen das gottselige Geheimnis „Gott ist geoffenbaret im Fleisch" verächtlich machen. Selig ist, der sich nicht ärgert!

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817) Wesen des Christentums, S. 79. [What Is Christianity, p. 134  – see here, p. 122-125]